Endstation Bali - Ulla Neumann - E-Book

Endstation Bali E-Book

Ulla Neumann

4,4

Beschreibung

Dora, Charlotte, Anita und Erika, vier Frauen zwischen 63 und 80 Jahren, gründen eine Alters-WG in Dora de Boers Haus in Meersburg am Bodensee. Nach ihrer Devise 'entweder fatalistisch auf das Ende warten oder etwas tun', planen sie eine vorgesehene Berlin- Reise kurzerhand in eine Bali-Reise um. Gut gelaunt starten die vier Freundinnenin ihr Abenteuer und tauchen ein in magische Welten. Nach und nach schlägt die Stimmung um. Im Schatten der Vulkane kommt es dann zum großen Knall. Nach Meersburg zurückkehren werden am Ende nur noch zwei der vier Freundinnen.

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Über dieses Buch

Vier Frauen im Alter zwischen 63 und 80 Jahren leben als Alters-WG in Dora de Boers Haus in Meersburg am Bodensee zusammen. Dora, Charlotte, Anita und Erika – höchst unterschiedliche Charaktere – gehen damit ein Experiment ein, von dem sie nicht wissen, wie es ausgeht. Doch preiswert Kochen, Meditieren, Spazierengehen und einem Pferdeschänder auf die Spur kommen, was Charlottes Neffe, den Kriminalkommissar Walter Schmieder alarmiert aufschrecken lässt, genügt ihnen eines Tages nicht mehr. Sie wollen nicht nur fatalistisch auf ihr Ende warten, sondern etwas unternehmen – und planen eine Reise. Zunächst steht Berlin auf dem Plan, dann New York.

Letztlich lautet das Ziel Bali mit Abstechern nach Taiwan und auf die Insel Gili. Den Ausschlag gibt nicht nur Doras Neugier auf fernöstliche Religionen und Kulturen, sondern auch, dass Erikas Tochter mit Enkelin in Australien lebt und ein lang ersehntes Treffen so leichter zu realisieren ist.

Voller Vorfreude und gespannt auf Unbekanntes stürzen sich die vier Frauen, die sich trotz mancher Reibereien inzwischen untereinander angefreundet haben, in die Vorbereitungen. Auf ihrer Reise tauchen sie ein in magische Welten, in den Spagat von Göttern und Dämonen, sie bestaunen zauberhafte, manchmal auch bedrohlich wirkende Landschaften, genießen eine wohlschmeckende Küche, saugen wissbegierig fremdländische Sitten und Gebräuche auf, begegnen aber auch mancherlei gewöhnungsbedürftigem Getier – sogar auf ihrem Hotelgelände direkt neben einem Reisfeld.

Doch nach und nach schlägt die Stimmung um, die Streitigkeiten nehmen zu. Letztlich kommt es im Schatten der Vulkane zum großen Knall. Der anfangs lässig hingeworfene Satz »Es gibt Schlimmeres, als auf Bali zu sterben« bekommt eine ganz neue Bedeutung. Nach Meersburg kehren schlussendlich nur zwei der vier Freundinnen zurück.

Ulla Neumann hat vor mehr als zwanzig Jahren Entwürfe für balinesische Holzschnitzer gemacht. Bei ihren Besuchen hat sie beeindruckende Momente erlebt und Einblicke in familiäres und ursprüngliches dörfliches Leben gewonnen. Sie ist von der Insel und den Menschen fasziniert. Regelmäßig reist sie nach Bali. 2003 erschien ihr Bali-Kinderbuch. Ihr Reise-Krimi »Endstation Bali« erweitert das Spektrum ihrer vier bisher bei Oertel + Spörer erschienenen Regionalkrimis »Eiskalt«, »Zutritt verboten«, »Der Dachläufer« und »Altweibersommer«.

Ulla Neumann

Endstation Bali

Eine Kriminalgeschichte

Oertel+Spörer

Dieser Reise-Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder

verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig

und nicht beabsichtigt.

© Oertel+Spörer Verlags-GmbH+Co. KG 2016

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.

Titelbild: © ktianngoen0128, Fotolia

Umschlaggestaltung: Oertel+Spörer Verlag

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-88627-694-3

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www.oertel-spoerer.de

Für Sabine

Im Mittelalter hätten sie mindestens eine von ihnen als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder im See ertränkt«, flüsterte Walter Schmieder seiner Frau Anne zu.

»Ja, aber welche?«, fragte sie kaum hörbar.

Es war ein ungemütlicher, kalter und feuchter Novembertag. Ein Tag wie die Tage zuvor. Keine Sonne, nur ab und zu Nieselregen aus einem Himmel, der wie eine graue Decke ohne Risse und Löcher über dem Bodensee hing. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Im Geäst des kahlen Esskastanienbaumes waren zwischen braunen Stachelkugeln vier Rabenkrähen dabei, sich lautstark für die Nacht einzurichten.

Walter und Anne waren auf dem schmalen Trampelpfad, der dicht am Ufer des Bodensees entlang die Grundstücke der befreundeten Nachbarn verband, unfreiwillig Beobachter der vier dunklen Frauengestalten geworden. Die Frauen saßen hinter bodentiefen Fenstern bei Kerzenlicht um ein flackerndes Kaminfeuer. Drei von ihnen meditierten scheinbar, während die Vierte trockene Maronischalen ins Feuer warf, die wie kleine Igel aussahen. Aus den stachligen Kugeln stoben Minifeuerwerke. Bevor sie in Flammen aufgingen, ließen sie einen gespenstischen Schein über die Frauengesichter huschen und Charlottes kurze, rote Haare wie einen Heiligenschein aufleuchten.

»Beim letzten Vollmond haben sie wieder das Haus ausgeräuchert«, flüsterte Anne.

Sie fasste ihren Mann bei der Hand und zog ihn weiter. Es war ihr peinlich, dass sie voyeuristisch die Frauen beobachteten.

Der Pfad war vom ständigen Regen aufgeweicht und bei jedem Schritt schmatzte der Matsch unter ihren Schuhsohlen. Charlotte, Walters Tante, die Frau die das Kaminfeuer schürte, hatte sie entdeckt und winkte grüßend zu ihnen hinaus. Dora, die Hausherrin, Anita und Erika, die wie Charlotte momentan Mitbewohnerinnen waren, spähten daraufhin ebenfalls in den Garten. Der schwarze Kater, der auf Charlottes Schoß saß, sprang auf und lief zur Terrassentür. Dora öffnete sie ihm und er schloss sich Walter und Anne an, die auf dem Weg zu seinem richtigen Zuhause waren.

Grolls, ein älteres Ehepaar, das ebenfalls eines der Häuser direkt am Seeufer bewohnte, waren verreist. Walter hatte versprochen, während ihrer Abwesenheit ein Auge auf das Haus und die Katze zu haben.

Nachdem Walter und Anne die grüne Grundstücksgrenze des im Moment verwaisten Anwesens überschritten hatten, flüsterten sie nicht mehr. Während der Kater ihnen folgte, war er immer wieder stehen geblieben und hatte angewidert eines seiner Vorderpfötchen geschüttelt. Walter machte einen Rundgang um das Haus. Mit ihm, dem Kriminalhauptkommissar, hatten Grolls einen kompetenten Aufpasser. Anne füllte währenddessen die Futterschüssel des Katers, der sich darauf stürzte, als ob er seit Tagen hungerte. Sie ließen die Rollläden herunter und knipsten, bevor sie sich auf den Rückweg machten, das Licht im Flur an. Das Haus sollte bewohnt erscheinen.

Zu ihrem eigenen Haus zurück staksten Walter und Anne wieder den schmalen, nassen Uferweg entlang. Dora de Boers Wohnzimmer war nun hell erleuchtet und die vier Frauen liefen hin und her. Vermutlich waren sie mit den Vorbereitungen für ihr Abendessen beschäftigt.

»Die haben sich nicht gesucht und doch gefunden.« Anne betonte das Nicht. Es war ironisch gemeint. »Ich frage mich, was sie aneinander finden. Deine Tante und Dora kann ich ja noch verstehen, aber die immer polternde Anita und die stille Erika, wie passt das zusammen? Der große Knall ist bei denen doch schon vorprogrammiert.«

»Es ist doch nur eine momentane Zweckgemeinschaft«, beschwichtigte Walter. »Charlotte hat gesagt, sie wollen ausprobieren, ob sie in einer Wohngemeinschaft finanziell günstiger zurechtkommen und ob sie überhaupt noch in der Lage sind, in einer Gemeinschaft zu leben. Außer Erika leben die anderen drei Frauen doch schon seit Jahren allein. Sie haben auch höchstens ein Jahr Zeit für diesen Versuch. Doras Immernoch-Ehemann Alexander, von dem sie seit über 20 Jahren getrennt lebt, steht in Basel nun seit vier Jahren ›Gewehr bei Fuß‹ und drängt auf eine Generalsanierung des Hauses. Er ist schließlich auch nicht mehr der Jüngste. Dora hat ihm nach dem Auszug ihres Sohnes noch ein Jahr Stillhalten abgerungen. Länger wird er sich aber nicht mehr hinhalten lassen. Bis dahin müssen die Frauen wissen, wie und wo ihr Leben weitergehen soll.«

Vor seiner Frau zwängte Walter seinen 1,96 Meter langen Körper durch die Kirschlorbeerhecke, die ihr Grundstück von Dora de Boers Garten trennte. Dabei holte er sich einen nassen Bauch. Ein Bewegungsmelder erfasste sie und beide blinzelten in die plötzliche Helligkeit.

»Ich finde es bewundernswert«, sagte Anne, »was diese Frauen aus ihrer Situation machen. Sie müssen sich jeden Euro, den sie ausgeben, gut überlegen. Deiner Tante Charlotte geht es doch wenigstens so. Dora hatte es als Hebamme auch nicht leicht und die letzten Jahre, die sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr gearbeitet hat, fehlen ihr doch bei der Rente. Sie hat ja auch nicht umsonst den Herzinfarkt gehabt. Von Erika und ihrem Schicksal mit dem Krebs will ich gar nicht reden. Die Ausnahme scheint mir Anita mit ihrem Schweizer Bankkonto zu sein. Aber was da drauf ist, ist ein Geheimnis. Und mit über 72 ist die Arbeit im Sommer auf Mallorca auch in einer angeblich gut gehenden Modeboutique kein Honigschlecken. Mir kommt alles, was Anita so erzählt, etwas zu großspurig vor.«

»Sie haben wenig Geld, aber du darfst nicht vergessen, jede wohnt im eigenen Haus. Auch wenn es nicht gerade groß und dazu sehr alt ist wie das von Charlotte«, erwiderte Walter.

»Aber davon abbeißen können sie nicht«, setzte Anne nach.

Walter legte einen Arm um seine Frau. Er sagte nichts mehr und kraulte sich mit der freien Hand seinen grau melierten Schnauzer. Sie schauten noch eine Weile in Richtung des in der Dunkelheit verschwundenen Seeufers. Kleine Wellen verursachten beim Auslaufen ein leises Plätschern. Als Walter bemerkte, dass Anne fröstelte, zog er sie zum Haus.

Charlotte, mit über 80 die Älteste der Probe-WG, hatte an diesem Abend gekocht. Gut musste es sein und gleichzeitig sollte es nicht viel kosten. Es gab Gemüsesuppe mit Kräutern aus Charlottes Heimat, der Provence, gewürzt wie eine Bouillabaisse, serviert mit gerösteten und mit scharfer Mayonnaise bestrichenen Baguettescheiben.

»Soll ich morgen Pellkartoffeln mit Kräuterquark machen?«, fragte Erika.

Sie bildete mit Dora, die ebenfalls die 65 noch nicht erreicht hatte, die jüngere Hälfte des Quartetts.

Die Frauen hatten den Ehrgeiz, jeden Tag ein vollwertiges Essen auf den Tisch zu bringen, das im Durchschnitt nicht mehr als einen Euro pro Person kosten sollte.

Jede von ihnen gab am Anfang des Monats einen festen Betrag in die Haushaltkasse. Charlotte, Erika und Anita bezahlten Miete an Dora. Außerdem hatten sie eine »Reisekasse« angelegt. Sie hatten sich vorgenommen, sich noch einen kleinen Traum zu erfüllen. Sie planten eine gemeinsame Reise und hielten bereits nach Schnäppchen Ausschau. Zusammen wollten sie von Friedrichshafen aus nach Berlin fliegen oder vielleicht sogar einmal nach Paris. Charlotte hatte dort lange gelebt.

Das Wohngemeinschaftsexperiment lief erst den dritten Monat. Erika war vier Wochen später dazugekommen. Sie und Dora waren Freundinnen seit ihrer Meersburger Kindergartenzeit.

Nachdem Erikas Mann Klaus sie vor die Wahl gestellt hatte, mit ihm und seiner 26 Jahre jüngeren Geliebten Mila das Haus, das sie seit ihrer Hochzeit als Familienpension betrieben, zu teilen oder auszuziehen, war sie weinend bei Dora aufgetaucht. Diese hatte Erika in die Arme genommen, einen Beruhigungstee gekocht, ihr ohne viel zu reden eine ausgiebige Fußreflexzonen-Massage mit Lavendelöl verpasst und dann ihr Gästezimmer angeboten.

»Was werden die Leute sagen?«, jammerte Erika.

»Da musst du durch. Lass sie reden. Über mich haben sie auch geredet und heute ist das doch Schnee von gestern.«

Dora sagte es ohne Bitterkeit.

Erika hatte in ihrem schwarzen Smart zwei Koffer und ihr Sparbuch mitgebracht.

Sie hoffte immer noch, dass die Tür zwischen ihr und ihrem Mann noch nicht ganz zugefallen war, was die anderen drei Frauen überhaupt nicht verstehen konnten.

»Ich würde an deiner Stelle sofort zu einem Anwalt gehen und ihn aus dem Haus werfen lassen«, sagte Anita empört, etwas zu laut und unsensibel wie immer.

Dora griff beschwichtigend ein:

»Jetzt lass ihr mal Zeit. So einfach ist das nicht mit dem Rauswerfen. Die heute schöne Pension oben in Riedetsweiler ist immerhin aus dem Elternhaus von Klaus entstanden.«

Anita mochte noch nicht aufgeben:

»Vielleicht fällt uns ja etwas ein, wie wir ihn auf die eine oder andere Art loswerden!«, sagte sie verschwörerisch und bewegte dabei energisch säbelartig eine Handkante vor ihrem Hals.

Dora konnte nur mit dem Kopf schütteln und sagte zu Erika:

»Früher oder später wirst du schon einen Anwalt brauchen, und wenn es nur mal für eine Beratung ist.«

Dora dachte an die Zeit von vor drei Jahren, als Erika an Brustkrebs erkrankt war und sehr unter der Chemobehandlung gelitten hatte. Damals hatte Klaus Mila eingestellt. Sie sollte Erika entlasten. Mila übernahm nach zwei Jahren auch Erikas Platz im Bett von Klaus. Zuerst mochte Erika es nicht glauben. Irgendwann konnte sie dann nicht länger ihre Augen vor dem, was sich da abspielte, verschließen. Sie stellte ihren Klaus nach bald 40 Jahren Ehe vor die Entscheidung:

»Mila oder ich.«

Daraufhin stellte Klaus Erika vor die Entscheidung:

»Mich und Mila, oder wenn du das nicht erträgst, musst du eben gehen.«

Und Erika war zu Dora gegangen und in ihr Gästezimmer eingezogen.

Sechs Wochen zuvor war, wie jedes Jahr, Anita aus Mallorca eingeflogen. Eigentlich wollte sie nur ein paar Tage bleiben. Wie immer war sie über Basel mit Laptop, Tablet und Smartphone auf dem neuesten technischen Stand zu Besuch gekommen. Nachdem sie die leere, aber halb möblierte Wohnung im ersten Stock entdeckt hatte, überlegte Anita, eventuell den Winter am Bodensee zu verbringen. Doras Sohn Andreas, der bis vor Kurzem dort gewohnt hatte, war mit seiner neuen Liebe, der Nachfolgerin seiner Mutter als Hebamme, Kerstin Fischer und deren Tochter Annika in eine der Terrassenwohnungen am Sonnenbühl eingezogen.

»Willst du die Wohnung nicht wieder vermieten? Brauchst du, nachdem du von deiner Tante geerbt hast, die Miete nicht mehr?«, fragte Anita sehr direkt.

Das klingt neidisch, dachte Dora. Sie waren durch die Räume geschlendert, in denen nur noch die Möbel standen, die Andreas – oder vielleicht doch eher Kerstin – nicht mehr haben wollten.

»Die Miete könnte ich schon brauchen, aber jetzt ist Alexander mit seinem Umbauvorhaben nicht mehr zu bremsen. Er ist Mitbesitzer des Hauses. Und er hat das Geld, um seine Hausträume mit dem ausgebauten Dachgeschoss und einer Glasfront zum See zu verwirklichen.«

Dora wehrte sich seit Jahren gegen dieses Vorhaben. Nur, langsam sah sie ein, dass etwas geschehen musste. Das noch von ihrem Großvater stammende mehr als 100 Jahre alte Haus war wirklich sanierungsbedürftig, die ständigen kleinen Reparaturen waren nur Flickwerk. Außerdem entsprach die Wärmedämmung nicht dem Stand heutiger Anforderungen.

Als die zwei Frauen danach über den Dachboden gingen und Anita die Möbel von Doras im letzten Jahr verstorbener Tante Hortense entdeckte, richtete sie total begeistert verbal die einen Stock tiefer liegende verwaiste Wohnung ein. Auf der Treppe nach unten fragte sie dann:

»Hat Alexander im Moment keine Freundin oder nennt er sie Lebensabschnittspartnerin? Was machst du denn, wenn er dann womöglich mit einer von seinen blonden Schnecken hier einziehen will?«

Doras grün gesprenkelte Augen funkelten und sie dachte, du lernst es auch nicht mehr. Sie öffnete ihre Wohnungstür und sagte nichts.

Einen Tag später fragte Anita ihre Freundin Dora direkt, ob sie in der Zeit, in der die obere Wohnung nun doch leer stand, nicht für ein paar Monate dort einziehen könne.

»Ich überlege, ob ich auf meine alten Tage wieder nach Deutschland zurückkommen soll. Ach, weißt du, die Winter mit Schnee sind hier doch so herrlich. Ich vermisse das wirklich. Schließlich bin ich auch nicht mehr die Jüngste und je länger ich auf Mallorca lebe, desto öfter habe ich das Gefühl, dass wir Ausländer doch nur geduldete Gäste sind. Richtig dazugehören werden wir nie!« Sie fügte dann noch schnell hinzu: »Ich werde dir natürlich Miete zahlen.«

Zur selben Zeit war Charlotte Mayer, die ihren Wohnsitz in Frankreich in der Provence hatte, bei ihrem Neffen Walter Schmieder und seiner Frau Anne, Doras Nachbarn, zu Besuch. Charlotte und Dora hatten sich schon vor zwei Jahren angefreundet. Die zwei Frauen hatten beide ein Problem mit dem Herzen. Charlotte waren nach einem Herzinfarkt zwei Bypässe in einer Klinik in Toulon gelegt worden und Dora nach einem Infarkt zwei Stents im Klinikum in Friedrichshafen.

Anita und Charlotte, die beide aus der Modebranche kamen, hatten sich bei Dora kennengelernt und angefreundet. Rein optisch waren Anita und Charlotte völlig verschieden. Anita war 1,75 Meter groß, kräftig aber nicht dick, eher sportlich. Wenn sie ihr hellbraun gefärbtes, naturgewelltes Haar nicht offen trug, flocht sie es zu einem dicken Zopf im Nacken. Sie bevorzugte klassische, sportlich elegante Designerkleidung, die sie angeblich auch in ihrer Boutique in Port de Sóller auf Mallorca verkaufte. Charlotte dagegen war ein ein bisschen mehr als 1,50 Meter großes, kleines Zirkuspferdchen mit streichholzlangen, feuerroten Haaren, die sie mit viel Gel meist igelig in Form brachte. Sie liebte bei ihrer Kleidung kräftige Farben. Anne, die Frau ihres Neffen, genierte sich manchmal, wenn Charlotte in ihrem Alter noch hippieartig durch Meersburg schlenderte. Selbst im Sommer mit den vielen Touristen fiel sie auf. Und im Winter, wenn die Einheimischen mehr unter sich waren, wurde dem Paradiesvogel noch neugieriger hinterhergeschaut.

Charlotte war die 800 Kilometer von der Provence bis Meersburg in ihrer weinroten, alten Charleston-Ente angereist. Ursprünglich wollte sie nur zwei Wochen bleiben. Da die Wohnung in Doras Haus leer stand und Anita sich überlegte, den Winter probeweise in Deutschland zu verbringen, beschloss auch Charlotte, ihren Aufenthalt zu verlängern. Dora erklärte sich viel zu schnell bereit, den zwei Frauen die Wohnung zu vermieten. Als sie ihrer Freundin Rose, die zwei Häuser weiter ebenfalls am Seeufer wohnte, davon erzählte, schüttelte diese den Kopf.

»Oh Dora, du hast mal wieder mit dem Herzen entschieden und deinen Verstand ausgeschaltet. Wie konntest du nur dazu einwilligen. Der Ärger ist doch schon vorprogrammiert.«

»Wir stehen doch alle drei vor der Wahl: Entweder führen wir unser Leben im gewohnten Trott so weiter – und wer weiß schon wie lang noch? Oder wir nehmen nochmals eine Veränderung in Angriff«, rechtfertigte sich Dora. Und wie zur Entschuldigung fügte sie noch hinzu: »Vielleicht ist es ganz gut für mich, wenn ich eine Weile gezwungen bin, mit anderen zu leben. Ich lerne dabei vielleicht auch, mit meiner ständigen Angst vor der Demenz besser umzugehen.«

Wenn Dora damals gewusst hätte, was sich aus dieser Entscheidung entwickeln würde, hätte sie Charlotte und Anita vermutlich schreiend aus ihrem Haus gejagt.

Die zwei so grundverschiedenen Frauen bezogen das Stockwerk über Dora in dem Haus am See. Sie richteten es sich gemütlich ein mit Möbeln und Hausrat von Doras verstorbener Tante Hortense, die auf dem Dachboden und in der Garage herumstanden.

Es war ein schöner, klarer Altweibersommertag. Die Berge standen direkt vor der Haustür und Anita sagte:

»Vom Höchsten herunter müsste man heute ewig weit sehen. Kommt, lasst uns einen Ausflug machen. Ich lade euch, sozusagen als verspäteten Einstand, zum Abendessen im ›Mohren‹ in Limpach ein.«

Nach etwas mehr als einer halben Stunde Autofahrt glaubten sie sich im Himmel. Die Welt lag ihnen bis weit in die Schweiz hinein zu Füßen. Als es zu dämmern begann und kühler wurde, nahmen sie Anitas Einladung zum Abendessen gerne an. Später, beim Verlassen des Lokals, gestand Anita bedauernd, dass sie die heimatlichen Wildgerichte schon manchmal auf ihrer Insel vermisse.

Dora hatte außer dem Hausrat ihrer Tante auch etwas Geld geerbt. Sie hätte jetzt endlich die finanziellen Mittel gehabt, um einen lang gehegten Traum zu verwirklichen. Sie hätte für einige Monate nach Indien reisen und sich mit ayurvedischen Heilmethoden beschäftigen können. Bereits während ihrer Zeit als Hebamme hatte sie dieses Thema interessiert, aber Dora glaubte, nie genug Geld und Zeit dafür erübrigen zu können. Die Indien-Reise würde sie dann eben ein Jahr später machen. So wie es aussah, war ihr Immernoch-Ehemann Alexander fest entschlossen, ihr gemeinsames Haus vollkommen um- und auszubauen. Da wäre es vielleicht keine schlechte Idee, während der heißen Bauphase längere Zeit zu verschwinden. Dora fragte sich manchmal, warum Alexander so versessen darauf war, das Haus umzubauen. Er besaß doch in Basel ein Penthouse. Beabsichtigte er am Ende, auf seine alten Tage wieder nach Meersburg zu kommen? Wollte er zurück in den Schoß der Familie? Dora wollte sich diese Situation nicht vorstellen. Alexander war so ruhelos und hatte öfter wechselnde, junge, meist blonde Freundinnen. Dora träumte davon, den Rest ihres Lebens ohne Hektik, mit genügend Zeit für sich und ihre Interessen verbringen zu können. Alexander war da nicht eingeplant.

Das Zusammenleben mit ihren drei Freundinnen war nicht gerade ein Schritt in diese Richtung. Sie war es gewohnt, allein zu leben. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte.

Normalerweise ließ sie tagsüber das Radio leise im Hintergrund laufen. Wenn Nachrichten kamen, hörte sie genauer hin. Als ein regionaler Nachrichtensprecher von einem neuen Fall von Pferdeschändung zu berichten begann, drückte Anita den Ausknopf und sagte:

»Also das muss ich mir nicht auch noch antun.«

Dora dachte, es werden keine einfachen Monate werden. Dazu sind wir zu verschieden. Sie wusste, dass Reibereien unausweichlich bevorstanden.

Als beruhigend empfand sie, dass das Experiment höchstens ein Jahr dauerte. Alexander würde schon dafür sorgen. Ihr selbst stand eine neue Erfahrung bevor. Ob eine gute oder eine schlechte, das stellte sich erst am Ende heraus.

Gegessen und aufgeräumt wurde jeden Abend gemeinsam. Anita hatte einen Putz- und Spülbeckentick. Sie gab nicht eher Ruhe, bis die Edelstahlspülen auf beiden Stockwerken fleckenlos poliert glänzten. Keine der Frauen traute sich, danach noch Wasser in einer der Küchen zu holen, sondern sie gingen dazu ins Badezimmer, um nicht Anitas Unmut auf sich zu ziehen.

Es war auch Anita, die eines Abends bei einem Glas Wein das Gespräch auf das Reisen brachte und unvermutet den Satz fallen ließ:

»Hat keine von euch Lust, mal für ein paar Tage nach New York zu fliegen?«

Die Frauen sahen sich erstaunt an. Sie hatten in ihren Träumen an Berlin, vielleicht noch an Paris gedacht. Aber New York?

»Warum New York?«, fragte Dora verwundert:

»In unserem Alter muss die Frage doch eher lauten: warum nicht New York?«, antwortete Anita etwas genervt.

Sie träumte schon lange von New York. Dora war schon einmal mit ihrer Tante Hortense dort gewesen. Ihre Tante hatte sie damals zu dieser Reise eingeladen. Das war, nachdem Doras Mann wegen eines lukrativen Angebots der Pharmaindustrie nach Basel gezogen war und sich später auch von ihr getrennt hatte, ohne jemals die Scheidung einzureichen.

»New York ist teuer, laut und anstrengend. Für das, was eine Woche New York kostet, können wir drei Wochen oder noch länger auf Bali verbringen«, sagte Dora zögernd.

»Bali, die Insel der Götter und Dämonen«, spottete Anita. »Wie kommst du denn auf Bali? Was willst du denn auf Bali? Ausgerechnet du mit deinem Herzproblem. Wenn du dort einen Herzinfarkt bekommst, bist du tot, bevor du in einem vernünftigen Krankenhaus ankommst!«

»Ich glaube, es gibt Schlimmeres, als auf Bali zu sterben«, sagte Erika leise.

»Ich war noch nie auf Bali und noch nie in New York«, meinte Charlotte. »Ich könnte mir beides interessant vorstellen. Aber lasst uns doch einfach mal so tun, als ob wir uns so etwas leisten könnten und die verschiedenen Flug- und Hotelpreise im Internet recherchieren.« Sie schaute dabei aufmunternd in die Runde und herausfordernd auf Anita. »Entweder New York oder Bali! Mein Gott, wie lange ist es her, dass ich solche Zukunftspläne gemacht habe. Aber wenn ich mir vorstelle, dass wir uns zusammen in ein Abenteuer stürzen, da bekommt das Wort Zukunft doch wieder Bedeutung. Wir haben ein Ziel.«

Charlottes braune Augen hatten plötzlich ein gewisses Funkeln. Anita, Dora und Erika nickten mehr oder weniger begeistert.

»Wir müssen ja auch nicht alle zusammen ein Ziel ansteuern. Hauptsache, wir haben Spaß beim Planen«, ergänzte Charlotte.

»Ich bin für New York zuständig«, rief Anita.

»Und ich kümmere mich um Bali«, sagte Dora.

»Ich dachte, wir fliegen nach Berlin«, warf Erika ein.

Ihre Augen wurden dabei ganz groß. Ihr Sohn wohnte in Berlin. Sie war noch nie bei ihm gewesen. Ihre Tochter lebte seit fünf Jahren in Australien. Auch sie hatte sie noch nie besucht. Ihr Mann Klaus verreiste nicht so gern. Außerdem war es mit der Familienpension auch nicht einfach, Ferien zu organisieren.

»Warum willst du denn verreisen? Schöner als am Bodensee ist es auch woanders nicht«, sagte Klaus immer.

Damit war für ihn dieses Thema erledigt. Weiter als bis nach Stuttgart und München war Erika in ihren 63 Lebensjahren noch nicht gekommen. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass es am Bodensee wirklich sehr schön war.

»Wenn Bali oder New York am Ende unerschwinglich für uns ist, können wir immer noch eine Woche in Berlin und später vielleicht auch noch mal zwei Wochen in meinem Haus in der Provence Ferien machen«, bot Charlotte an.

Anita sprach keine Einladung für Mallorca aus. Charlotte kannte die finanzielle Situation der Freundinnen nicht so genau. Sie hatte bemerkt, dass Dora und Erika sehr auf ihr Geld achteten. Anita dagegen redete manchmal, als ob Preise für sie keine Rolle spielten. Es war auch Anita, die einen Abend ohne ein Glas Wein als ungemütlich und unnötige Entbehrung empfand. Die andern drei Frauen tranken genauso gern einen frisch aufgebrühten Tee aus den Gartenkräutern, die Dora auf dem Dachboden trocknete. Dora stellte die Mischung jedes Mal neu zusammen. Je nachdem wie sie aufgelegt waren mit beruhigender oder aufmunternder Wirkung. Und wenn eine der Frauen ein gesundheitliches, kleineres Problem hatte, wusste Dora immer ein Kraut, das half. Nur für Erikas Kummer war ihr noch nichts Wirkungsvolles eingefallen.

Anita schien die nächsten Tage mit ihrem Laptop verwachsen zu sein, nie war sie ohne anzutreffen. Sie saß im Wohnzimmer und surfte stundenlang im Internet. Sobald eine der anderen Frauen den Raum betrat, musste sie sich die neuesten Entdeckungen anhören und ansehen. Deswegen traf sich der Rest der WG meist in Doras Küche. Jeden Abend beim Abendessen gab es dann den neuesten New-York-Recherchen-Tagesbericht. Vier Tage später lag die Zusammenstellung eines Reiseprogramms mit Flugzeiten und Preisen ausgedruckt neben jedem Teller. Für acht Tage in einem Drei-Sterne-Hotel in Manhattan mussten sie pro Person einschließlich Flug und sonstigen notwendigen Ausgaben mit wenigstens 2000 Euro rechnen. Das Taschengeld käme noch dazu. Anita hatte die Video-Filme »New York, New York« und »Sex and the City« organisiert. Sie forstete das Fernsehprogramm nach Dokumentar-Filmen über Amerika durch, und wenn sie etwas entdeckte, wurde das für alle zum Pflichtprogramm.

Dora konnte nicht mehr mit ansehen, wie Erika litt. Sie bat ihre Stief-Enkelin Annika, ihr Skype auf dem Computer einzurichten. Annika war die fast 17-jährige Tochter von Kerstin, der neuen Lebensgefährtin ihres Sohnes Andreas. Sie hätte ohne Weiteres die Enkeltochter von Charlotte sein können. Sie war genauso zart gebaut und ihre Haare waren ebenso auffällig leuchtend rot gefärbt. Wenn Dora ein Problem mit ihrem PC hatte, wusste Annika Rat. Sie kam und half gern, Dora genoss es, mit ihr zusammen zu sein. Annika war sehr sportlich. In Ahausen hatte sie reiten gelernt. Sie liebte Pferde. Dora fand die Tiere schön, aber viel zu groß, als dass sie näheren Kontakt gewünscht hätte.

Annika war an diesem Nachmittag völlig aufgelöst gewesen. Eines ihrer Lieblingspferde war zwei Tage zuvor von einem Pferdeschänder verletzt worden und musste operiert werden. Es würde vielleicht nie mehr den Menschen vertrauen.

»Kannst du mir sagen, was im Kopf eines solchen Typen vorgeht?«, fragte sie Dora mit Tränen in den Augen.

Beim nächsten gemeinsamen Spaziergang der vier Frauen sagte Charlotte nicht ohne Hintergedanken:

»So langsam kenne ich die Straßen und Wege am See entlang ganz gut. Was haltet ihr davon, wenn wir mal das Hinterland um Annikas Pferdehof ablaufen?«

Dora grinste vielsagend. Sie hatte von ihrem Nachbarn Walter Schmieder interessante Geschichten über Charlottes Amateur-Detektiv-Erfahrungen gehört.

»In diese Richtung habe ich auch schon gedacht«, sagte Dora.

Erika versicherte ohne jeden Hintergedanken:

»Da kenn ich mich ganz gut aus.«

Nur Anita war nicht begeistert.

»Ich find’s am See schöner. Aber wenn ihr meint?«, sagte sie.

Am nächsten Tag zwängten sich die vier Frauen in den Mini. Dora parkte in Pferdehofnähe und die Frauen stiefelten zusammen zu einem ersten Erkundungsmarsch los. Charlotte hatte ihre kleine Kamera eingesteckt und machte Fotos.

Dank Annika konnte Erika nun mit ihrer Tochter Gabi in Australien nicht nur sprechen, sie konnte sie und das Enkelkind Klein-Nora auch sehen. Als Erika ihrer Tochter erzählte, dass sie und ihre Freundinnen eine Reise nach New York oder vielleicht nach Bali planten, sagte Gabi spontan:

»Oh, das hört sich doch gut an. Kommt doch nach Bali, dann können wir uns dort treffen. Bali ist nur vier Flugstunden von hier entfernt.«

Von diesem Moment an war Erika für die Bali-Reise und drängte nun Dora, auch einen Reiseplan zu entwickeln. Den billigsten Flug, den Dora entdeckte, bot China Airlines an, er ging über Taiwan. Er dauerte allerdings fast 13 Stunden von Frankfurt bis Taipeh und von dort aus nochmals gut fünf Flugstunden nach Denpasar auf Bali. Erika war noch nie geflogen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es war, so lange im Flugzeug auf einem Platz sitzen zu müssen. Aber für drei Wochen auf Bali müssten sie am Ende mit nicht mehr Geld rechnen als für acht Tage in New York. Und sie würde ihre Tochter und Enkelin treffen können.

Erika war ganz klar für Bali, egal wie lange sie im Flugzeug sitzen musste. Dora zog es auch eher nach Südostasien. Charlotte konnte sich noch nicht entscheiden. Anita hoffte, dass wenigstens Charlotte mit ihr nach New York fliegen würde, wenn sich Dora und Erika nicht von Bali abbringen ließen. Anita lieh sich in der Bibliothek einen Bildband über New York aus und Erika fand einen über Bali. Nachdem sie an zwei Abenden hintereinander Amerika-Videos angeschaut hatten, brachte Dora den Film »Eat Pray Love« nach Hause. Im Film spielten Bali und Indien eine Rolle. Am nächsten Abend gab es auf »Arte« eine Dokumentation über die Geschichte Amerikas und ihre verschiedenen Gründerväter. Als der Sprecher sagte, dass einer dieser Männer an einem Zitruskern gestorben sei, machte Dora die Bemerkung: »Wie kann denn das passieren? Wie kann man nur so blöd sein?« Es entbrannte eine lautstarke Debatte zwischen den Frauen, über verschiedene Möglichkeiten zu ersticken. Das Reiseziel trat plötzlich in den Hintergrund.

Dora war vor 25 Jahren einmal in Taipeh gewesen. Sie und ihr Mann hatten auf einer Japan-Reise dort einen Zwischenstopp eingelegt. Durch Zufall waren sie damals bei einer Stadtrundfahrt ins »Grand Hotel« geraten. Majestätisch thronte es auf einer Anhöhe über der Stadt. Dora hatte noch nie zuvor ein Gebäude gesehen, das sie so beeindruckt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie fast andächtig in der hohen Empfangshalle mit der prächtigen Treppe und den rot lackierten, mit Gold verzierten mächtigen Säulen auf ihre Weiterfahrt gewartet hatte. Sie glaubte sich in einen chinesischen Palast, in ein vergangenes Jahrhundert versetzt.

Dora googelte das Hotel im Internet. Es wirkte immer noch sehr beeindruckend. Nur mal so zur Information sah sie sich die Preise an. Das billigste Doppelzimmer war umgerechnet für 180 Euro zu haben. Das wären 90 Euro für jede von ihnen. Diese günstigen Zimmer hatten allerdings einen Haken. Es handelte sich um innen liegende Zimmer ohne Fenster. Auf Kreuzfahrtschiffen gab es das ja auch und die Reisenden wohnten teilweise drei Wochen in einer solchen Innenkabine. Wenn sie wenigstens eine Nacht in Taipeh einplanten, wäre die Flugreise nicht so lang und sie hätten mit der Stadt noch ein zusätzliches Abenteuer. Die Innenzimmer waren so schön wie die Zimmer mit Aussicht. Sie könnten ja eine Stadtrundfahrt für die Sehenswürdigkeiten einplanen und in der Nacht waren sie sicher so müde, dass ihnen die Aussicht sowieso egal wäre.

»Es ist nicht anzunehmen, dass auch nur eine von uns nochmals in ihrem Leben die Möglichkeit haben wird, dorthin zu kommen«, sagte Dora.

Charlotte stimmte, nachdem sie das Hotel im Internet ausgiebig besichtigt hatte, für die Bali-Reise, plädierte aber dafür, wenigstens zwei Nächte in Taipeh zu verbringen. Anita rutschten die Mundwinkel nach unten und sie wurde schweigsam. Erika war, seit sie die Möglichkeit sah, ihre Tochter auf Bali zu treffen, alles recht. Sie hatte ausreichend Geld auf ihrem mitgebrachten Sparbuch. Charlotte war es ebenfalls möglich, den Betrag aufzubringen. Sie beschloss, 2000 Euro von ihrem für ihre Beerdigung zurückgelegten Geld abzuzweigen.

»Meine Grabstelle habe ich schon. Ich glaube, ich brauche mir jetzt nicht den Kopf zu zerbrechen, was nach meinem Tod ist. Das sollte doch das kleinste Problem in meinem jetzigen Leben sein. Die Gelegenheit, diese Reise zu machen, werde ich mir nicht entgehen lassen. Wann komme ich denn sonst noch mal nach Taiwan? Tod bin ich dann noch lang genug.«

Dora konnte dank ihrer verstorbenen Tante Hortense diese Summe ebenfalls lockermachen. Auf Anitas Entscheidung Bali oder New York mussten sie noch warten.

Einmal in der Woche, meistens mittwochs, kümmerte sich Dora um die alte Frau Kohler, die auf der anderen Straßenseite ein Stück den Berg hinauf mitten in den Reben wohnte. Viktoria Kohler war seit einem Schlaganfall vor bald 15 Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen. Bei schlechtem Wetter massierte Dora ihr die Füße. Wenn es das Wetter zuließ, nahm Dora sie auf einen größeren Spaziergang mit. Jetzt, da sie zu viert waren, kamen auch die Freundinnen mit. Abwechselnd schoben sie den Rollstuhl. Hagnau war neben der Birnau ein beliebtes Ziel. Wenn am See dichter Nebel herrschte, fuhren sie nach Heiligenberg hinauf. Dort oben schien die Sonne und der See war unter einer dicken, weißen Decke verschwunden. Es war ein erhabenes Gefühl, über der Welt zu schweben und bis hinüber zum Gipfel des Säntis zu sehen und unter sich nichts als Wolken.

Bei Rose, ihrer besten Meersburger Freundin, witzelte Dora:

»Ich komm mir vor wie der Rattenfänger von Hameln. Nur ziehe ich keine Kinder, sondern alte Frauen hinter mir her.«

Bis dahin hatte es Dora immer für dumm gehalten, wenn Rentner vom Rentnerstress redeten. Jetzt empfand sie es manchmal auch schon so. Immer war jemand da, der etwas von ihr wollte. Obwohl zwischenzeitlich drei Autos sich den Platz im Hof versperrten, erwarteten Anita, Erika und Charlotte, dass es Dora war, die irgendwohin fuhr. Sei es zum Mehl kaufen in die Mühle nach Neufrach, weil sie sich angewöhnt hatten, ihr Brot selbst zu backen, oder nach Markdorf ins Wirtshaus, um einmal im Monat einen Film anzusehen.

Nachdem Annika von einer weiteren Attacke des Pferdeschänders berichtet hatte, beschlossen die vier Frauen, manchmal auch mit Frau Kohler im Rollstuhl, ihre Wanderungen rings um den Ahauser Pferdehof auszuweiten.

»Vielleicht hält es den Täter ja ab, wenn mehr Leute unterwegs sind. Und wer weiß, vielleicht entdecken wir ja eine Spur!«

Dora reckte ihre mit dem Alter sichtlich etwas größer gewordene Schnüfflernase in die Luft.

Eines Abends nach dem Essen brach Anita ihr Schweigen. Sie hatte gekocht, Curry mit Esskastanien von Doras Baum, auf Bandnudeln und Brokkoligemüse. Einstimmig wurde sie dafür gelobt und Erika und Dora fragten nach einem kleinen Nachschlag. Anita räusperte sich mehrere Male, bevor sie zu sprechen anfing:

»Ich habe mir das mit New York gründlich überlegt. Ich könnte ja mit einer Reisegruppe aus Ulm zusammen fliegen.« Und dann kam ein langes »Aaaaber«, gefolgt von: »Wenn ich mir den Gesundheitszustand von euch dreien so ansehe, ist es einfach unverantwortlich, euch alleine verreisen zu lassen. Ihr braucht jemanden, der auf euch aufpasst und im Notfall sich auch kümmert. Also, ich opfere mich und komme mit.«

Die Bali-Fraktion klatschte spontan Beifall. Dora schlug vor, nach Weihnachten die Flüge zu buchen, um noch den günstigen Preis für Frühbucher zu bekommen. Als Reisezeit wählten die Frauen den Mai.

In der Adventszeit hatten sie mit dem Besuch der verschiedenen Weihnachtsmärkte fast so etwas wie Stress. Wenn die Meersburger Knabenmusiker ein Konzert gaben, waren sie natürlich auch unter den Zuhörern. Als Höhepunkt ihrer Adventsaktivitäten kauften sie sich an einem Sonntag ein Baden-Württemberg-Bahn-Ticket und fuhren von Friedrichshafen aus nach Stuttgart zum dortigen Weihnachtsmarkt. Auf der Fahrt im Zug erinnerte Erika die Freundinnen mal wieder an ihre Obsession, die überall mögliche Rücken- und Beckenbodengymnastik. Niemand protestierte. Alle zwangen brav ihren Bauchnabel in Richtung Wirbelsäule, kniffen die Pobacken und ihre Schließmuskeln zusammen und grinsten sich an.

Sie schmückten das Haus weihnachtlich und Erika animierte die Freundinnen zum gemeinsamen »Plätzlebacken«. Danach duftete es auf zwei Stockwerken verführerisch nach Vanille und Zimt.

In der Woche vor Weihnachten verschwand Anita für drei Tage nach Basel, um ihre Schweizer Bank und eine dort lebende Freundin zu besuchen. Sie brachte für alle Schokoladen-Stängeli und Mini-Marzipangemüse mit, das bei den Frauen Erinnerungen an ihre Kindheit weckte.

Den Heiligen Abend verbrachten sie zusammen. Sie bereiteten gemeinsam ein Raclette vor. Zum Nachtisch gab es ein Ananas-Mango-Sorbet, sozusagen als Einstimmung auf die Reise in die Tropen. Sie hatten verabredet, sich gegenseitig nur kleine Geschenke zu machen. Alle wünschten sie sich Reiseliteratur. Um noch überraschen zu können, holten sie sich in der Buchhandlung Rat. Die Buchhändlerin achtete darauf, dass keine doppelten Käufe vorkamen.

Zur Christmette fuhren Dora, Erika und Charlotte nach Baitenhausen hoch. In der kleinen Barockkirche feierten sie, die unter dem Jahr keine großen Kirchgänger waren, eine an ihre Kindheit erinnernde besinnliche Stunde. Anita kam nicht mit. Sie hatte beschlossen, keine Kirche mehr zu betreten. Den Grund nannte sie allerdings nicht.

Am Morgen hatte Erika mit ihrer Tochter Gabi in Australien geskypt und einen Tipp für ein Hotel auf Bali bekommen. Das Hotel war nicht sehr groß. Es bestand aus einzelnen, mit traditionellen Materialien gebauten Häusern, die höchstens zwei Etagen hatten. Es gab einen L-förmigen Pool. Das Hotel lag in einem exotischen Garten neben einem Reisfeld und doch nur 200 Meter von der Hauptstraße entfernt. Gabi hatte dort bereits einmal Ferien verbracht. Die schönen Häuser im balinesischen Stil hatten große Zimmer mit Bad. Und sie kosteten weniger als 50 Euro pro Nacht für zwei Personen mit Frühstück und Nachmittags-Tee. Die Anlage befand sich allerdings nicht am Meer, sondern in Ubud, einem Kultur- und Kunsthandwerker-Zentrum, eine gute Autostunde von der Süd-Küste entfernt. Nach dieser Empfehlung stürzte sich Anita auf Google-Earth und suchte die Hotelanlage. Was die Frauen sahen, gefiel ihnen. Selbst Anita fand wenig, um zu meckern. Sie sagte allerdings etwas zu großspurig:

»Ich habe das ganze Jahr das Meer vor der Haustür und einen eigenen Pool. Ich muss das in meinen Ferien nicht auch noch haben.«

Am ersten Weihnachtsfeiertag war Dora bei ihrem Sohn Andreas und Kerstin, seiner Lebensgefährtin, eingeladen. Annika, Kerstins Tochter, war über Weihnachten nach Berlin zu ihrem Vater geflogen.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag luden Charlottes Neffe Walter und seine Frau Anne alle vier Frauen zum Mittagessen ein. Anne hatte vor, eine Pute mit Äpfeln und Kastanien zu füllen.

»Wenn ich das für zwei Personen mache, müssen wir eine Woche lang dasselbe essen. Ihr müsst also ordentlich Appetit mitbringen«, sagte Anne, als sie den Frauen die Einladung überbrachte.

Als sie dann zusammen um den Tisch saßen, fragte Anne interessiert nach den bald vier Monate alten WG-Erfahrungen.

»Ich bin ernsthaft am Überlegen, ob ich mein Haus und mein Geschäft auf Mallorca nicht verkaufen und hierher ziehen soll«, sagte Anita.

»Für mich ist das Gemeinschaftsleben eine große Umstellung«, meinte Dora diplomatisch. Und für sich dachte sie: Hoffentlich überlebe ich das Experiment ohne weiteren Herzinfarkt.

Erika äußerte sich nicht. Charlotte sagte hingegen:

»Mein altes Provence-Haus fehlt mir schon. Ich glaube, ich muss demnächst nach Carcès fahren und nach ihm sehen. Aber ich freu mich auf Taiwan und Indonesien. In meinem Alter hat man nicht mehr viele solcher Ziele.«

An Silvester war der Himmel blau, die Luft so lau wie an einem schönen Herbsttag. Der See präsentierte sich dunkelblau mit kleinen, weißen Schaumkrönchen auf den Wellen und die Alpen türmten sich mit weißen Zipfelmützen direkt am Schweizer Seeufer auf. Es herrschte Föhn. Die Tische an der Promenade unter den kahlen Ästen der Platanen waren fast alle besetzt. Farbige Decken über den Knien machten das Bild noch bunter und die Wärme, die von Heizstrahlern ausging, vermittelte etwas Mittelmeer-Flair.

Die Frauen beschlossen, sich zwischen Kurz- und Tagesurlaubern einen Kaffee aus der Haushaltskasse zu genehmigen. Drei bestellten sich einen Cappuccino und sahen sich stumm an, als Anita einen Kaffee mit Kirsch verlangte. Anschließend bummelten sie wie Touristen durch das noch weihnachtlich geschmückte Meersburg. Als die Sonne irgendwo in der Schweiz verschwand, es kälter wurde und zu dämmern begann, machten sie sich auf den Heimweg. Anita und Erika hatten vor, asiatisch zu kochen. Anita beherrschte das Essen mit den Stäbchen perfekt und die anderen drei wollten üben. Dora und Charlotte sägten in der Zwischenzeit in der Garage getrocknetes Schwemmholz für das Kaminfeuer.

Zur Vorspeise gab es Tempura aus verschiedenen Gemüsesorten, dazu ein Mango-Chutney. Als Hauptgang hatte Anita das klassische Hühnchen süß-sauer ausgewählt, mit wenig Fleisch dafür mit viel Gemüse auf Reis. Der Reis klebte nicht. Es war zu mühsam, die einzelnen Körner mit den Stäbchen aufzusammeln, sodass sie dann doch wieder Gabeln und Löffel zum Essen benutzten.

Zum Nachtisch wurde ein Fruchtsalat aus Litschis und Mango serviert, unter den Dora noch leicht gefrorene Johannisbeeren mischte, die sie im Sommer geerntet hatte.

Charlotte erzählte eine Geschichte über ihr 350 Jahre altes Turm-Haus:

Vor zwei Jahren waren Walter und Anne zu Besuch in das provenzalische Dorf gekommen, in dem sie seit mehr als 20 Jahren lebte. In der Nacht zuvor hatte Charlotte einem Handwerker, der sie über ein Jahr lang tyrannisiert hatte, mit einem Akkubohrer Schrauben in die Reifen seines Mercedes versenkt. Genau in dieser Nacht hatte sie einen Herzinfarkt erlitten und war in eine Klinik in Toulon gekommen. Dieser besagte Handwerker hing dann eines Morgens tot von ihrem Dach. Und ausgerechnet ihr Neffe Walter, der deutsche Kriminalist, der gerade zu Besuch im Dorf weilte, entdeckte ihn.

Charlotte schilderte dies alles sehr anschaulich. Außerdem hatten sie bereits die zweite Flasche Riesling geleert. So dramatisch und fast unglaublich die Geschichte war, Dora, Erika und Anita brachen in hemmungsloses Gelächter aus.

Dora hatte gerade noch einen Löffel Obstsalat in den Mund geschoben und die Früchte noch nicht gekaut und nicht geschluckt. Beim Luftholen mit offenem Mund atmete sie eine Johannisbeere ein. Die blieb in ihrer Luftröhre stecken und ließ sich nicht abhusten. Je mehr sie versuchte, den Fremdkörper auszuhusten, um so mehr musste sie einatmen. Mit jedem Atemzug schien die Beere ein Stück weiter in die Lunge hineingezogen zu werden.