Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Biberach an der Riss: Ein brutaler Gewalttäter, ein argloses Opfer – und mittendrin mal wieder Ludwig Hirschberger. Wer dachte, der pensionierte Profiler habe seine Zukunft bereits hinter sich, muss umdenken: Das sonst so liebenswerte Wiener Schlitzohr zeigt sich in diesem Krimi von einer anderen, perfiden Seite: Um die Frau aus den Fängen des skrupellosen Verbrechers zu befreien, wird Hirschberger zum Psychoterroristen und gräbt tief in der Vergangenheit des Mannes. Dabei gelangen grausame Details ans Licht. Das beschauliche Oberschwaben wird zur Spielwiese eines teuflischen Gangsterdramas.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 268
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Uli Herzog
stammt aus Biberach. Jahrzehntelang arbeitete er für eine international renommierte Werbeagentur, zunächst als Junior-Kontakter in Ravensburg, später als Geschäftsführer der Niederlassung in Wien. 2001 kehrte er nach Oberschwaben zurück und war bis zu seiner Pensionierung 2012 für einen Zeitungsverlag in Friedrichshafen, Biberach und Ravensburg tätig. Heute lebt Uli Herzog in Altshausen. »Endstation Biberach« ist nach »Mord am Schützensamstag« und »Frauenduft« sein dritter Krimi mit dem pensionierten Fallanalytiker und Wahl-Wiener Ludwig Hirschberger, der sich besonders gerne in vertrackte Fälle in Oberschwaben verbeißt.
Uli Herzog
Endstation Biberach
Ein Oberschwaben-Krimi
Oertel+Spörer
Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.
© Oertel+Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2019Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Elga Lehari-ReichlingSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-96555-039-1
Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de
Für meine EnkelLuis, Laurens, Emilia und Leander,Quelle meiner Lebensfreude
Prolog
Es dämmerte schon am Grauensee im niederösterreichischen Waldviertel. Die Stille wirkte fast gespenstisch.
Da zerbarst mit einem satten Laut der filigrane Schädel.
»Sauberer Schlag, Respekt! Jetzt ist er tot. Und jetzt packen wir ein, bevor noch die weiße Engelmacherin kommt und uns holt«, rief Wolfgang feixend aus.
»Wollen wir ihn nicht gleich hier schon gründlich ausweiden und saubermachen? Ich hab extra mein Filetiermesser mitgebracht, daheim muss man immer danach diese Riesensauerei wieder wegmachen«, erwiderte Franz.
»Nein, es wird langsam dunkel und Nebel zieht auf, außerdem haben wir heute sowieso einen Superfang gemacht, der hier wiegt sicherlich zwei bis drei Kilo.«
Tatsächlich zog der Nebel um diese Jahreszeit schon früh am Abend auf; schließlich war es März und hin und wieder gab es sogar noch Nachtfrost.
Stolz hielt Wolfgang den soeben geangelten Karpfen in die Höhe.
Die weiße Engelmacherin war eine Frau, die vor der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Bedrängnis geratenen Frauen half, einen Abort herbeizuführen, nur in den seltensten Fällen mit medizinischen Methoden, von sterilem Umfeld und entsprechender Nachsorge ganz zu schweigen. So kam es schon einmal vor, dass die Engelmacherin bei einem Abort gleich zwei Engerln fabrizierte. Neben dem Ungeborenen wurde auch aus der Mutter ein Engerl.
Und so handelte eine dieser Schauergeschichten des Grauensees von der weißen Frau, die nächtens auf der kleinen Insel im See erscheint. Wehklagend, weil ihre Opfer sie jede Nacht quälten. Zwar kannten die beiden Fischer niemanden, der die weiße Frau jemals gesehen oder gehört hatte, die alten Frauen in den Dörfern rund um den See aber erzählten von früher, als die Frau noch regelmäßig erschienen war. Und deswegen sei es auch verboten, die Insel zu betreten.
Das einzige, was daran stimmte, war die Tatsache, dass man die Insel tatsächlich nicht betreten durfte. Das aber hatte die Forstverwaltung der Bezirkshauptmannschaft Drosendorf nur deshalb angeordnet, weil sie die Insel als natürliches Biotop erhalten wollte. Als Refugium für Tiere, die sich hier in völlig unberührter Natur frei bewegen konnten, ohne von Menschen gestört zu werden.
Eine weitere Schauergeschichte handelte von Strudeln und Untiefen im See, gar ein Nachkomme des Ungeheuers vom Loch Ness soll hier schon gesichtet worden sein.
Ein Grund mehr, sich an die Verordnung zu halten.
Auch die beiden Fischer hielten sich strikt an dieses Verbot. Nicht, dass sie Angst vor der weißen Frau oder gar einem See-Ungeheuer gehabt hätten. Nein: Wenn von den Fischern jemals einer beim Betreten der Insel erwischt würde, wäre er seine Fischerlizenz los. Und auf die wollten sie am ertragreichen Grauensee auf gar keinen Fall verzichten.
Warum sich diese Gerüchte so hartnäckig hielten, konnte niemand so genau sagen. Meistens wurde man mit der lapidaren Bemerkung abgespeist, dass der See nicht umsonst Grauensee heiße. Dabei hätte ein Blick auf die alte Landkarte genügt, die im Sitzungssaal des Bezirksamtes in Drosendorf hing. Die Karte stammte aus dem Jahr 1784 und dort stand: »zum graven Theych«, also zum grauen Teich. Der Name hatte also nichts mit dem Grauen an sich zu tun, sondern mit der Farbe des Sees, welcher sich angesichts der häufig hier vorkommenden Nebel oft grau gebärdete. Vor allem morgens und während der Dämmerung wies er oft eine dunkelgraue Färbung auf.
Dass allerdings ein paar Monate später tatsächlich ein Grauen hier entdeckt werden würde, konnten die beiden Fischer natürlich nicht vorausahnen.
Sie wunderten sich allerdings über ein buntes Stück Stoff, das an die Insel angeschwemmt worden war.
»Komm, das sehen wir uns an«, meinte Wolfgang neugierig.
»Ich weiß nicht«, wandte Franz ein. »Man darf doch gar nicht auf die Insel, das ist doch verboten.«
»Wer sagt denn etwas von auf die Insel. Wir fahren einfach dahin und holen den Fetzen ab.«
»Na gut, wenn du meinst.«
Die beiden setzten sich in ihr Ruderboot und fuhren zu der kleinen Insel. Mit dem rechten Ruder schnappte sich Wolfgang das Teil und hob es ins Boot hinein.
»Scheint ein Kopftuch oder Halstuch zu sein. Auf jeden Fall elegant. Das nehme ich mit. Könnte ich ja in die Putzerei bringen und meiner Frau schenken.«
»Alter Geizkragen. Womöglich schenkst du ihr es zum Geburtstag.«
»Wieso eigentlich nicht? Ist eine gute Idee.«
Plötzlich entdeckte Wolfgang etwas.
»Du, da war einer auf der Insel.«
»Wie kommst denn da drauf?«, fragte sein Freund.
»Schau her, diese Spur.« Wolfgang zeigte auf eine Schleifspur, die direkt am Uferbereich des kleinen Inselchens zu sehen war. »Das ist eindeutig ein Boot gewesen.«
»Dann wird’s aber Zeit, dass wir hier abhauen. Sonst meint der Revierförster noch, wir wären das gewesen, und dann haben wir den Schlamassel.«
»Jaja, alter Angsthase«, meinte Wolfgang lachend, steckte das Seidentuch in seine Ausrüstungstasche und bedeutete seinem Freund, ja Stillschweigen zu bewahren, indem er den Zeigefinger auf seine Lippen legte.
Gabi Maurer kam etwas bedrückt von ihrem Kaffeekränzchen nach Hause in ihre Wohnung in der Biberacher Memelstraße. Dr. Gernot Heubl, ihr Lebenspartner, mit dem sie nun gut ein Jahr zusammen war, erwartete sie schon und fragte sie, wie es denn gewesen sei.
»Eigentlich wie immer«, antwortete Gabi, »aber da ist etwas, was mir große Sorgen bereitet und was ich unbedingt mit dir besprechen muss.«
»Na, dann schieß los«, antwortete der Wiener, der vor Jahresfrist so plötzlich wie vehement in ihr Leben getreten war.
»Du kennst doch Elvira, meine Freundin vom Kaffeekränzchen?«
»Ja«, sagte Gernot, obwohl er die Elvira nicht genau zuordnen konnte. Ihm waren die Damen von Gabis Kaffeekränzchen eher wurscht.
»Ja, also, die hat eine Tochter. Diese hat seit ein paar Wochen einen neuen Freund, den sie bei sich wohnen lässt. Und jetzt ist der Elvira aufgefallen, dass ihre Tochter in jüngster Zeit immer öfter seltsame Verletzungen hat. Fragt Elvira ihre Tochter, woher diese kommen, sagt sie entweder, sie habe sich gestoßen, sei die Leiter heruntergefallen, zufällig eine Treppenstufe hinabgestürzt oder aber sie habe sich den Kopf irgendwo angeschlagen. Nachdem ihrer Tochter so was früher nie passiert ist, kommt Elvira das inzwischen schon mysteriös vor«, berichtete Gabi mit besorgtem Tonfall.
»Oh«, erwiderte Gernot, der seit fünf Jahren pensionierte forensische Psychiater beim Wiener Innenministerium, »da sollten die Alarmglocken schrillen. Nein, da müssen sie sogar schrillen.«
»Denke ich auch«, meinte Gabi, »deswegen wollte ich dich fragen, ob du da nicht mal ein bisschen helfen könntest.«
»Häusliche Gewalt, liebe Gabi, ist ein Anzeigedelikt«, belehrte Gernot. »Wenn die Tochter von der Elvira keine Anzeige erstattet, gibt es da leider überhaupt keine Möglichkeit, um zu intervenieren. Ich würde vorschlagen, die Sache weiter zu beobachten. Wenn diese Verletzungen nicht aufhören, schalt’ mer den Wiggerl ein.«
»Den Ludwig?«, frage Gabi mit einigem Unverständnis.
Ludwig Hirschberger, ebenfalls pensioniert, allerdings schon ein paar Jährchen länger als Gernot, war Fallanalytiker bei der Wiener Kripo gewesen. Als gebürtiger Biberacher hatte er vor Jahresfrist Gabi und Gernot unfreiwillig zusammengebracht und war demzufolge über die Liaison der beiden wenig begeistert. Erst seit ihm Gernot verdeutlicht hatte, dass Ludwig die Situation selbst verschuldet hatte, war er einigermaßen besänftigt. Ludwig hatte Gernot damals nach Biberach geholt, um ihm in einem vertrackten Fall zu helfen. Bei dieser Gelegenheit hatte Gernot die Situation ausgenutzt und Ludwigs erste Liebe Gabi bezirzt. Mit Erfolg, was Ludwig überhaupt nicht passte, weil er sich selbst Chancen ausgerechnet hatte.
»Genau den«, meinte Gernot. »Der Ludwig ist erstens zaach wie ein Lederriemen, zweitens ein Hund und drittens seit knapp einem Jahr Vorsitzender bei der A.g.A.«
»Erstens weiß ich nicht, was die A.g.A. ist, zweitens nicht was ›zaach‹ ist, drittens ist der Ludwig kein Hund und viertens kommt der bestimmt nicht nach Biberach. Und wenn, dann ganz sicher nicht zu uns«, sagte Gabi im Brustton der Überzeugung.
Gernot Heubl war sichtlich überrascht.
»Was, du wusstest nicht, dass der Pie…, äh, der zaache, also der zähe Wiggerl bei der A.g.A. ist? Und du weißt noch nicht einmal, was die A.g.A. ist? Da sieht man wieder einmal, wie fortschrittlich wir Ösis doch sind. Die A.g.A. ist eine wunderbare Einrichtung und heißt ›Angehörige gegen Angst‹.«
»Und was macht diese A.g.A.?«
»Wenn zum Beispiel ein Angehöriger wie deine Freundin das Gefühl hat, jemand ist Opfer häuslicher Gewalt geworden, und wenn das Opfer Angst hat, sich überhaupt gegenüber jemandem zu äußern, dann können besorgte Angehörige, es sind meistens Mütter oder Schwestern, die A.g.A. beauftragen, sich darum zu kümmern. In Ausnahmefällen wenden sich auch Kolleginnen der Opfer an diesen Verein. Die A.g.A. untersucht zunächst einmal sehr sensibel den Fall. Wenn ihre Leute dann allerdings den Verdacht bestätigen können, rücken sie sowohl dem Täter als auch dem Opfer gewaltig auf den Pelz.«
Heubl war völlig in seinem Element und sprach weiter:
»Die A.g.A. besteht zu 90 Prozent aus pensionierten Kriminalern, denen fad ist. Und der Wiggerl ist einer von denen. Übrigens der mit Abstand erfolgreichste!«
»Der Lude macht so was?«
»Ja, du kennst ihn ja. Wenn der sich in etwas hineinverbeißt, ist der wie ein Pitbull. Da lässt der nicht mehr locker. Deshalb sag ich ja, der ist ein Hund.«
»Du kannst aber den Ludwig nicht einfach einer Gefahr aussetzen«, meinte Gabi.
»Mach dir um den mal keine Sorgen, der kann sich wehren.«
»Vergiss nicht, der wird bald 70. Der Jüngste ist er also nicht mehr!«
Gernot grinste.
»I mechat jedenfalls ned raafat werdn mit eahm.«
»Jetzt redest du wieder in deinem Wiener Kauderwelsch, das versteht doch kein Mensch«, monierte Gabi.
»Ich würde jedenfalls nur höchst ungern mit ihm raufen«, übersetzte der Wiener.
»Der Ludwig war in seiner Jugend nie ein Raufbold, hatte nie eine Schlägerei und war auch sonst höchst friedliebend.« Gabi wirkte richtig empört.
»Stimmt, der ist auch heute noch kein Raufbold, aber trotzdem sehr wehrhaft. Kannst du dich noch erinnern, als wir im vorigen Jahr die Entführungsfälle am Bodensee aufgeklärt haben und der Ludwig ganz nebenbei noch einen Doppelmörder überführt hat?«
»Ja klar kann ich mich erinnern.« Für Gabi war es, als sei es erst gestern gewesen.
»Aber was dir der Pief…, äh, der Ludwig damals nicht erzählt hat, war, dass ihn dieser Riesenkerl und gefährliche Verbrecher Bruno Beehr völlig unvermittelt angegriffen hatte. Dass dieser Zwei-Meter-Koloss plötzlich hinter ihm stand und ihn erwürgen wollte!«
»Um Gottes willen, davon hat er mir nie erzählt«, sagte Gabi geschockt.
»Tja, und als die anderen Beamten sofort mit entsicherter Waffe in den Raum stürzten, fanden sie diesen lebensgefährlichen Mörder, diesen Psychopathen reglos und röchelnd auf dem Boden liegen. Mit einem einzigen Schlag niedergestreckt von deinem ach so wehrlosen Wiggerl. Ich rate keinem, sich mit dem anzulegen!«
Gabi war sprachlos, so etwas hätte sie bei Ludwig nie vermutet. Sie hatte ihn für einen reinen Schreibtischtäter gehalten, so wie Gernot, ihren neuen Lebenspartner. Im Grunde genommen war Ludwig auch ein Schreibtischtäter, er hatte allerdings alle Selbstverteidigungskurse, die das Ministerium angeboten hatte, erfolgreich absolviert. Ganz im Gegensatz zu Gernot. Der forensische Psychiater hatte sich vor solchen Lehrgängen, so gut es ging, immer gedrückt.
»Also, lass den mal ruhig diesen Job mit Elviras Tochter machen, der ist mit allen Wassern gewaschen«, meinte Gernot.
Zwei Wochen später – Sabines »Unfälle« hatten nicht aufgehört, sondern waren eher häufiger und vor allem schlimmer geworden – fand Gernot, dass es nun an der Zeit sei, Ludwig einzuschalten.
Wenigstens das Telefonat übernahm Gernot. Für Gabi wäre es hochnotpeinlich gewesen, hätte sie ihren Jugendfreund anrufen müssen.
Der wunderte sich zunächst auch sehr, dass sich sein früherer Kollege und Freund bei ihm meldete. Als Gernot am Telefon die Probleme von Elviras Tochter näher schilderte, war der Biberacher Fallanalytiker auch als Vorsitzender der A.g.A. sofort elektrisiert und versprach, umgehend zu kommen. Allerdings nur, wenn Gernot Heubl für die Kosten aufkomme. Ludwig bekam zwar eine höchst auskömmliche Beamten-Pension, war aber lange nicht so vermögend wie Heubl, der von einer weitläufigen Tante, die er nur flüchtig gekannt hatte, ein beachtliches Vermögen geerbt hatte, dieses aber wie seinen Augapfel hütete. Ludwig war überzeugt, dass noch nicht einmal Gabi wusste, wie reich Gernot in Wirklichkeit war.
»Also Aktensau, ich komme. Du holst mich in Altenrhein ab!«
Ludwig nannte Gernot gerne die »Aktensau«. Zu diesem Spitznamen war der forensische Psychiater gekommen, weil er Akten mit einer abartigen Geschwindigkeit lesen und sich diese phänomenal gut merken konnte. Auch nach Jahrzehnten konnte er noch wichtige Sätze wörtlich zitieren.
»Geh, muss das der Flieger sein, kannst net mit der Kraxn kommen?«
Da war er wieder, der alte Geiz des Dr. Heubl.
»Willst jetzt, dass i komm? Auf jeden Fall mach ich das nicht mit meinem eigenen Wagen.«
»Geh leck mi in Oasch.«
Das war zwar einigermaßen ordinär, störte Ludwig aber überhaupt nicht, denn das bedeutete bei Gernot Zustimmung, wenn auch nur widerwillig. Aber Ludwig kannte den alten Grantler lange genug, um seine flapsigen Bemerkungen richtig einzuschätzen. Außerdem war Heubl ihm noch etwas schuldig.
Schon am nächsten Tag kamen Gernot und Gabi an den kleinen schweizerischen Flughafen Altenrhein am Bodensee, um Ludwig dort abzuholen.
Auf dem Rückweg nach Biberach wurde noch Rast in Eichenberg eingelegt, einem Ort auf dem Pfänder-Rücken, oberhalb von Lochau mit einer geradezu atemberaubenden Aussicht über den Bodensee. In der Tat: Auch an diesem Tag lag ihnen das Schwäbische Meer azurblau zu Füßen, schimmerten die Schweizer Berge im Süden und ganz am Ende vom Obersee konnten sie am Horizont die Spitze des Konstanzer Münsters erahnen, während sich im Vordergrund die Inselstadt Lindau frech in den See hineinpflanzte und die Bucht von Bad Schachen sich wie ein Foto aus einem Reisekatalog anfügte. Auch Wasserburg, Langenargen mit dem Schloss Montfort und – etwas im Dunst gelegen – Friedrichshafen waren im Hintergrund zu erkennen. Von dort flog ein mächtig wirkender Zeppelin gerade Touristen über den See. Auf der linken Seite war die Stadt Bregenz zu sehen, dahinter der Rohrspitz, die unglaublich lange, künstlich in den See gebaute Rhein-Mündung, vor dem Flugplatz Altenrhein, auf dem Ludwig kurz zuvor gelandet war, und etwas weiter entfernt Rorschach am schweizerischen Bodenseeufer.
Aber Ludwig, der es sichtlich genoss, seine ursprüngliche Heimatregion in aller Pracht wiederzusehen, wurde bald daran erinnert, dass er nicht wegen der traumhaften Sicht hinunter auf den Bodensee hierhergekommen war.
Während des Mittagessens in einem vornehmen Lokal schilderten Gabi und Gernot ihm den Fall der Sabine ganz genau. Während Gabi noch immer das Gute im Menschen suchte, ahnten die beiden ehemaligen Kriminalbeamten, was hier gespielt wurde. Und beiden war klar: Hier war Gefahr im Verzug. Und zwar erkennbar große Gefahr. Ihre beruflichen Erfahrungen und vor allem Ludwigs Erlebnisse als freiwilliger Mitarbeiter der A.g.A. in Wien signalisierten ihnen, dass hier sofortiger Handlungsbedarf bestand.
Das hinderte Heubl jedoch nicht, beim Verlassen des österreichischen Lokals noch ein Loblied auf seine Heimat zu singen.
»Das ist Österreich, Freunde. In seiner ganzen Pracht.«
»Na ja«, meinte Ludwig, »früher klang das auch mal anders.«
Er spielte dabei auf Bemerkungen Heubls auf die Vorarlberger an. Die hatte der Psychiater während ihrer gemeinsamen Dienstzeit immer als »Gsiberger« beschimpft.
Auf der Weiterfahrt nach Biberach lieferte Gernot Heubl dem Fallanalytiker weitere Informationen.
»Der Freund von der Sabine ist übrigens ein Wiener.«
»Ach was, so ein Zufall. Aber wie wir beide wissen, gibt’s da auch genügend schaurige Menschen. Hast in deinem Gedächtnis schon nachgekramt? Ist dir der Kerl bekannt?«, stieg Ludwig gleich in den Fall ein.
»Leopold heißt er, mit Vornamen. Mehr ist nicht bekannt. Und mir ist nie ein Leopold in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt untergekommen, jedenfalls nicht bis zum Juni 2013, als ich meine Pension angetreten habe.«
»Ich brauche dringend ein Bild von dem Kerl. Kann mir die Mutter von dieser Sabine eines besorgen?«, fragte der Profiler voller Tatendrang.
»Ist schon erledigt«, meinte Heubl, »ich hab’s sogar schon vergrößern lassen, damit du es rumzeigen kannst. Darum geht’s dir doch, oder?«
»Klar, diese Typen handeln meistens nicht zum ersten Mal so rabiat. Und nie, ich betone, nie sagen die Opfer gegen diese Grobiane aus. Viel zu verängstigt sind sie. Deshalb haben wir auch die A.g.A. gegründet.«
»Der Gernot hat mir schon von diesem Verein erzählt«, meinte Gabi. »Seid ihr denn damit erfolgreich?«
»Inzwischen schon. Anfangs gab es riesige, fast unlösbare Probleme, die beinahe zum Verbot geführt haben, aber nachdem die Presse immer positiver über uns geschrieben hat und in der Nachrichtensendung ›Zeit im Bild‹ einige Male von unseren Erfolgen berichtet wurde, ging’s immer besser.«
»Komisch, dass es bei uns so was nicht gibt!«, wunderte sich Gabi.
»Ihr hier in Deutschland könnt alles, außer – gscheite Institutionen gründen«, spottete Gernot.
»Ja, und zwischenzeitlich ist es so, dass wir fast unseren Namen ändern müssten. Inzwischen rufen uns sogar schon Nachbarn an, wenn ihnen Ungewöhnliches auffällt, was in Richtung häusliche Gewalt gehen könnte.« Ludwig sprach nicht ohne Stolz über den von ihm mitbegründeten Verein.
»Aber da habt ihr es doch sicher mit unzähligen Denunzianten zu tun?«
»Klar, aber nach ein bis zwei Besuchen merke ich, was Sache ist«, erläuterte Ludwig.
»Weißt du, Gabi, der Wiggerl sieht es den Menschen an, wenn sie ihre Partner schlagen und treten«, sagte Gernot grinsend.
»Und du siehst das tatsächlich?«, fragte Gabi und sah Ludwig dabei ungläubig an.
»Natürlich. Nur ein Beispiel: Neulich war ich in Kärnten ein paar Tage im Urlaub. Als ich am Abend im Speisesaal gegessen habe, fiel mir ein Ehepaar aus Leipzig auf. Ich erkannte sofort, dass der Typ seine Frau schlägt. Daraufhin habe ich mich später vor das Zimmer des Paares postiert und alsbald festgestellt, dass dieser Kerl seine Frau verprügelte. Ich habe an die Tür geklopft und dem Mann unmissverständlich klargemacht, dass ich sofort die Polizei hole, wenn er nicht aufhört. Danach war Ruhe.«
»Und dann?« Gabi war richtig neugierig geworden.
»Schon am nächsten Morgen sind die beiden abgereist. Überhastet sogar. Ich habe mich aber noch geoutet als der, der an die Zimmertür gepoltert hatte, und habe der Frau mein Kärtchen gegeben von der A.g.A. Ich habe sie aufgefordert, im Wiederholungsfall zur Polizei zu gehen und dem Mann ein Näherungsverbot auferlegen zu lassen, habe dann aber nie mehr etwas gehört.«
»Einfach abgehauen?«
»Ja klar. Ich kann die Polizei zwar rufen, aber anzeigen kann ich den Mann nicht, das kann nur das Opfer machen. Aber wenn ich nur energisch genug auftrete, erreiche ich oft schon vieles. Dieses energische Auftreten mögen die meisten dieser Kerle nämlich gar nicht.«
»Und woran siehst du das, dass jemand seine Frau schlägt?«
Ludwig überlegte kurz, was er sagen sollte.
»Wenn ich das so schnell erklären könnte. Es ist, ganz ehrlich gestanden, eher ein Bauchgefühl. Neben unseren analytischen Fähigkeiten benötigen wir Profiler manchmal eine gehörige Portion Bauchgefühl, um bei unseren oft sehr vertrackten Fällen weiterzukommen. Es sind meistens nur Kleinigkeiten. Manchmal Blicke, manchmal Handbewegungen und manchmal auch der Gesamteindruck eines Menschen«, erklärte Ludwig.
»Du meinst wohl eines Mannes!«, empörte sich Gabi.
»Oh nein, Menschen. Du täuschst dich sehr, wenn du glaubst, nur Frauen seien häuslicher Gewalt ausgesetzt; das können durchaus auch Männer sein, die zum Opfer werden. Aber: Diese Fälle sind natürlich viel seltener. Letztlich bin ich dank dieser teils angeborenen, teils erworbenen Fähigkeiten zum A.g.A.-Handelnden geworden.«
»Und das machst du in Wien immer?«, bohrte Gabi weiter.
»Nicht täglich, aber relativ oft.«
»Und wenn jetzt so ein Kerl dich mal bedroht, was machst du dann?«
»Das ist sogar der Idealfall. Dann kann nämlich ich die Koll…, äh, die Polizei rufen.«
»Und außerdem kennt er a paar wirklich guate Tricks, der Piefke«, mischte sich Gernot Heubl ein.
Ludwig checkte genau in dem Hotel ein, aus dem man ihn vor über 20 Jahren einmal hinausgeworfen hatte. Am Schützenfest, als er selbst fälschlicherweise unter Mordverdacht geraten war. Doch das focht ihn heute nicht mehr an. Das Hotel hatte er wegen seiner günstigen Lage gezielt ausgesucht.
Er hatte sich vorgenommen, mit dem Fahrrad zu fahren, denn zuerst musste er die ganze Situation beobachten. Dabei war es wichtig, zunächst selbst nicht erkannt zu werden. Diese Erfahrung hatte Ludwig bei seinen zahlreichen Einsätzen für die A.g.A. gemacht. Deshalb lieh er sich Gabis Fahrrad aus. Dass es ein Damenrad war, störte ihn dabei nicht, trug dies doch zu seiner Tarnung bei. Eher störte es ihn, dass es sich um ein E-Bike handelte. Gerne hätte er mehr für seine Fitness getan, war sich aber seiner Faulheit bewusst. Den Hilfsmotor würde er wohl immer dann einschalten, wenn ihm ein Berg oder der Wind Mühe bereiteten.
Am nächsten Morgen kam die Mutter von Sabine Grässle, dem vermeintlichen Opfer, zu Gabi, um Ludwig zu treffen. Ludwig war überrascht, dass er die schlanke Seniorin in ihrem großkarierten, bunten Kleid sogar kannte. Er hatte sie wie die anderen Damen von Gabis Kaffeekränzchen vor gut einem Jahr bei einem gemeinsamen Ausflug auf die Insel Mainau kennengelernt. Elvira Grässle schilderte ihm beredt, was sie beobachtet hatte: Dass ihre Tochter Sabine, seit sie mit diesem Herrn Leopold zusammen sei, immer öfter Blutergüsse habe. Sie sei unglücklich gestürzt oder habe sich den Kopf angehauen, sage sie ihrer Mutter dann immer. Die hielt dies freilich für eine Lüge.
»Das ist ihr früher nie passiert, erst seit dieser Kerl bei ihr eingezogen ist.«
Alleine schon bei diesem Satz schrillten bei Ludwig die Alarmglocken.
»Kennen Sie diesen Leopold?«
»Nicht genau«, meinte Elvira Grässle, »bis vor ein paar Wochen, als Sabine noch solo war, war ich mindestens alle drei Tage bei ihr. Wir sind regelmäßig zum Einkaufen gegangen, haben am Wochenende lange Wanderungen unternommen und haben gelegentlich mit ihren türkischen Nachbarn im Garten zusammengesessen. Aber seit sich dieser Leopold bei ihr eingenistet hat, will sie mich gar nicht mehr in die Wohnung lassen. Und dabei sollte es nur vorübergehend sein. Er wohnt eigentlich in Ulm, arbeitet aber hier in Biberach. Und damit er nicht jeden Tag hin- und herfahren muss, hat ihm Sabine angeboten, bei ihr unterzukommen.«
»Ist er schon hier gemeldet?«
»Keine Ahnung, aber sein Auto hat noch eine Ulmer Nummer.«
Alles, was Elvira Grässle schilderte, nährte in Ludwig den Verdacht, dass es sich tatsächlich um häusliche Gewalt handelte. Es erstaunte ihn jedes Mal aufs Neue, wie schnell es diesen Typen immer wieder gelang, sich bei ihren Opfern einzuladen. Aber aus seiner Arbeit in der A.g.A. wusste er, dass diese Männer zumeist einen ungewöhnlichen Charme dabei entwickelten, ihre Opfer zu umgarnen. Meistens besaßen sie ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen. In Ludwig wuchs die Überzeugung, dass dies auch in diesem Fall gegeben war.
»Frau Grässle, seien Sie versichert, dass ich Ihrer Tochter helfen werde, sollte sie tatsächlich meine Hilfe benötigen.«
»Das ist großartig, Herr Hirschberger, jetzt bin ich viel ruhiger, weil ich weiß, dass Sie sich der Sache annehmen. Übrigens: Der Herr Leopold ist aus Wien.«
»Gernot hatte es mir schon gesagt. Woher wissen Sie das?«
»Ganz am Anfang, als mir die Sabine den Herrn Leopold vorgestellt hatte, hat er es mir gesagt.«
»Und seinen Nachnamen kennen Sie nicht?«
»Nein, jetzt, wo Sie das sagen, fällt mir das erst auf!« Elvira Grässle wirkte plötzlich überrascht.
Auch dieses Phänomen war Ludwig bestens bekannt. Diesen Typen gelang es immer wieder, alles von ihren »Freundinnen« zu erfahren, aber von sich selbst gar nichts preiszugeben.
»Kennen Sie seine Autonummer?« Ludwig wollte so viele Informationen wie möglich einsammeln.
»Nur, dass es UL für Ulm hat.«
»Welche Marke? Wissen Sie das?«
»Ja, es ist ein Audi, ein dunkler Audi.«
Ludwig notierte sich die Adresse von Sabine Grässle. Sie wohnte in der Uhlandstraße auf dem Galgenberg. Diese Straße kannte Ludwig, ein Schulfreund hatte früher dort in der Nähe gewohnt.
»Es ist ein Reihenhäuschen. Sie hat es von der Schwester meines verstorbenen Mannes geerbt. Die hatte Krebs.«
Ludwig wollte sich noch am selben Tag ein Bild machen. Er musste die Autonummer notieren und herausfinden, um wen es sich überhaupt handelte. Und er würde in Wien Erkundigungen über diesen Mann einholen. Vielleicht lag ja schon Einschlägiges gegen ihn vor. Das war sogar sehr wahrscheinlich. Denn meistens waren es Wiederholungstäter, mit denen es Ludwig da zu tun bekam.
Elvira Grässle hatte ihm nach dem Gespräch außerdem ein Foto ihrer Tochter, des mutmaßlichen Opfers, überreicht. Es zeigte eine junge, lebenslustige Frau. Eine dunkelhaarige, zierliche Person, ihrer Mutter nicht unähnlich. Sie trug auf dem Foto einen dunkelblauen Hosenanzug, der sie fast knabenhaft wirken ließ, hätte sie ihr Haar nicht zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Und er würde zu Gerlinde Lüscher gehen und sie über seinen neuen »Fall« in Kenntnis setzen. Wenn der Mann die Polizei rief, wollte er sich wenigstens bei ihr abgesichert haben. Gerlinde Lüscher war als Kommissarin im Biberacher Revier für Kapitalverbrechen zuständig. Durch frühere Fälle war Ludwig mit ihr bestens bekannt und hatte ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zu ihr aufgebaut.
Zuerst rief Ludwig bei seiner ehemaligen Dienststelle in Wien an. Sein Nachfolger, ein Magister Thomas Egger, war ein waschechter Kärntner, der Ludwig richtig ans Herz gewachsen war. Seine Ernsthaftigkeit imponierte ihm und um seine Lebensfreude beneidete er ihn.
»Servus Thomas.«
»Hallo Chef, was treibst denn schon wieder?«
Obwohl Ludwig schon neun Jahre »Pensionist« war, nannte ihn Egger immer noch seinen Chef, denn er hatte immer noch eine große Hochachtung vor seinem Mentor von einst. Ludwig hatte ihn in die Praxis eingeführt, ihm höchst einfühlsam beigebracht, welche Inhalte, die man auf der Universität und in unzähligen Kursen gelernt hatte, für die tägliche Arbeit wichtig waren und welche nicht. Über die Jahre hatte sich so eine wunderbare Männerfreundschaft zwischen den beiden entwickelt.
Meistens, wenn Ludwig ihn wie jetzt anrief, brauchte er irgendwelche Informationen für die A.g.A. Thomas Egger hielt diese Institution für einen absoluten Segen und unterstützte diesen Verein, wo immer er konnte und soweit es ihm die gesetzlichen Vorgaben erlaubten. Dass er Ludwig manchmal auch darüber hinaus Informationen zukommen ließ, brauchte ja niemand zu wissen. Auf Ludwigs tausendprozentige Diskretion konnte er sich sowieso verlassen.
»Hör, Thomas, ich befasse mich gerade in meiner Geburtsstadt Biberach mit einem Fall häuslicher Gewalt. Nachdem der Delinquent wahrscheinlich aus Wien stammt, werde ich dich wohl in den nächsten Tagen kontaktieren.«
»Hast du nähere Daten?«
»Noch nicht, ich fange gerade erst mit dem Fall an. Der Mann, dessen Identität ich noch nicht genau kenne, hat sich bei der Tochter einer Bekannten einlogiert und die Bekannte fürchtet, dass er ihrer Tochter gegenüber immer gewalttätiger wird.«
»Alles klar, Chef, ich stehe Gewehr bei Fuß und warte auf deine Nachricht.«
Anschließend begab sich Ludwig auf die Biberacher Polizeidienststelle. Gerlinde Lüscher kam gleich auf Ludwig zu und umarmte ihn.
»Hallo Ludwig, so eine Überraschung, was führt dich denn nach Biberach?«
»Na, ja, wenn du mir keine Fälle mehr lieferst, hole ich mir halt selbst welche«, antwortete der ehemalige Fallanalytiker und lachte dabei.
Er erzählte Gerlinde von seiner Tätigkeit bei der A.g.A., was die Kommissarin sofort fesselte.
»Mann, so eine Organisation sollte es bei uns auch geben«, meinte sie. »Ich werde das gleich mal dem Dr. Bellmann vorschlagen.« Sie meinte den Leitenden Oberstaatsanwalt Dr. Rüdiger Bellmann. »Warte, der ist ja gerade im Hause. Der freut sich bestimmt, wenn er dich sieht.«
Beide gingen ein Stockwerk nach oben, wo Bellmann über einer Akte brütete.
»Ja, da schau an, der Herr Hirschberger besucht uns. So eine Freude.«
Bellmann war nicht das, was man eine einfache Persönlichkeit nannte, hatte aber zu Ludwig ein sehr gutes Verhältnis. Schließlich war der ehemalige Wiener Profiler nicht ganz unbeteiligt am Aufstieg des Saarländers gewesen. Vor Jahresfrist konnte beispielsweise eine mysteriöse Entführungsserie am Bodensee und ein Doppelmord dank der großen Mithilfe von Ludwig aufgeklärt werden. Ludwig hatte die Lorbeeren nach dem Fahndungserfolg gönnerhaft dem Leitenden Oberstaatsanwalt überlassen.
»Heute will der Ludwig mal was von uns«, begann Gerlinde das Gespräch. Sie erklärte Bellmann, dass Ludwig Gründungsmitglied der A.g.A. sei, und beschrieb ihm die Tätigkeit dieser Organisation.
»Ja und der Dr. Heubl hat gemeint, im Bekanntenkreis von Frau Gabi Maurer gebe es einen Fall, um den ich mich kümmern sollte. Nachdem es die A.g.A. aber hier gar nicht gibt, wollte ich Sie vorher in jedem Fall informieren.«
Ludwig erinnerte sich noch gut, dass man beim Oberstaatsanwalt ohne Umschweife auf den Punkt kommen sollte.
»Wie immer sehr korrekt, unser lieber Freund. Aber sagen Sie mal, diese A.g.A., das ist ja eine ganz tolle Organisation, das könnten wir hier auch ganz gut gebrauchen. Sie wissen ja, wie sehr uns die Hände gebunden sind und wir nichts, aber auch gar nichts unternehmen können, wenn so ein Opfer nicht von sich aus Anzeige erstattet.«
»Was es aber aus Angst meistens nicht tut«, ergänzte Ludwig, »und so sind es meistens die Angehörigen, die sich bei der Polizei melden, die aber nicht aktiv werden kann. Deswegen heißt unser Verein auch ›Angehörige gegen Angst‹, was den Tatsachen ziemlich entspricht.«
»Und was tun Sie da genau?«
Dass der Leitende Oberstaatsanwalt diese Frage stellen würde, hatte Ludwig erwartet.
»Zuerst beobachten, die Situation in Augenschein nehmen, überprüfen, ob sich die Angst der Angehörigen als berechtigt herausstellt. Was nicht immer der Fall ist. Hin und wieder rücken wir aus und dann stellt sich heraus, dass nur eine Schwiegermutter ihren ungeliebten Schwiegersohn loswerden will. Wenn wir aber feststellen, dass die Angst berechtigt ist, zeigen wir Präsenz.«
Ludwig dozierte wieder einmal.
»Präsenz? Wem gegenüber?«, fragte Bellmann neugierig nach.
»Dem Delinquenten gegenüber. Er soll das Gefühl bekommen, dass er unter Beobachtung steht, dass wir wissen, was er tut.«
»Wie stelle ich mir das vor?«, bohrte der Staatsanwalt weiter.
»Das beginnt damit, dass wir vor dem Haus Wache beziehen. Wenn wir dann den Eindruck bekommen, es tut sich etwas in der Wohnung, gehen wir schon einmal zur Tür und klingeln. Dabei ziehen wir die Schraube nach jedem Vorfall an, kommen auch mal zu zweit oder zu dritt und steigen dem Mann ordentlich auf die Zehen.«
»Und danach?«
»Wenn sich diese Maßnahme als unwirksam herausstellt, nehmen wir zum Opfer selbst Kontakt auf. Meistens tun wir das, wenn es gerade einmal alleine zu Hause ist, sofern wir Einlass finden. Dann informieren wir das Opfer über alle Möglichkeiten, die wir ihm anbieten können, und versuchen natürlich, es zur Anzeige zu überreden. Dem Delinquenten gegenüber werden wir immer renitenter. Wir schreien den schon mal auf offener Straße an, werfen ihm vor, dass er seine Frau schlage. Dabei hoffen wir, dass er uns anzeigt, weil dann die Angelegenheit aktenkundig wird und von Amts wegen untersucht wird.«
»Interessant«, unterbrach Dr. Bellmann.
»Der nächste Schritt ist, dass wir an die Arbeitsstelle des Täters gehen und mit Kollegen über den Mann reden. Die geben sich meistens völlig überrascht und glauben uns zunächst gar nicht, dass ihr liebenswerter Kollege zu solch einer Tat fähig ist.«
»Poh, das finde ich gut. Richtig gut.« Bellmann war beeindruckt.
»Wir gehen auch mal in das Stammbeisl, äh, in die Stammkneipe des Täters und erzählen dort, mit welchem Typ es die anderen Gäste zu tun haben. Immer mit der Hoffnung verbunden, dass wir wegen Verleumdung angezeigt werden.«
»Und dabei überschreitet ihr nie die Grenze?«, fragte Gerlinde dazwischen.
»Ganz ehrlich? Hin und wieder schon. Aber der A.g.A. gehören ja nicht nur ehemalige Kriminalbeamte an, sondern auch pensionierte Staatsanwälte und Richter, da sind wir eigentlich immer auf der sicheren Seite.«
»Ein faszinierender Verein!«, fabulierte der Leitende Oberstaatsanwalt. »So was müsste es bei uns auch geben. Und jetzt wurden Sie für solch einen Fall nach Biberach geholt?«
»Ja genau. Und bevor ich meine Arbeit aufnehmen werde, wollte ich Sie vorher darüber in Kenntnis setzen.«
»Gute Idee, Herr Hirschberger, sehr gute Idee. Bei Ihnen weiß ich, dass Sie sich nie über Ihre Rechte hinwegsetzen würden. Deshalb kann ich getrost auf eine Belehrung verzichten«, meinte der wieder tadellos gekleidete Staatsanwalt. Und an Gerlinde gewandt: »Frau Lüscher, Sie unterstützen den Herrn Hirschberger im Rahmen Ihrer rechtlichen Möglichkeiten, so gut Sie es können.«
Ludwig war hochzufrieden. Das war ganz genau das, was er sich erhofft hatte. Grünes Licht von den Behörden. Dass ihm sogar noch Unterstützung angeboten wurde, war natürlich die Krönung des Ganzen.
»Aber Sie halten uns schon auf dem Laufenden«, ermahnte ihn der Oberstaatsanwalt.
»Ehrensache und Selbstschutz«, antwortete Ludwig.