Vermisst: Gold-Finger aus Ravensburg - Uli Herzog - E-Book

Vermisst: Gold-Finger aus Ravensburg E-Book

Uli Herzog

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Beschreibung

In seinem Winterdomizil Valle de Taurito auf Gran Canaria wird der Ravensburger Gold- und Schmuckhändler Samuel Finger vermisst. Er gilt als äußerst seriöser Geschäftsmann, als kunstsinniger Mensch und generöser Sponsor von Sport und Kultur. Die Ermittlungen der spanischen und deutschen Behörden laufen ins Leere: Kein Mensch hat eine Ahnung, wo sich Gold-Finger, wie er in Ravensburg genannt wird, aufhalten könnte. Seine Schwester Judith, einzige Angehörige, wendet sich verzweifelt an Kommissarin Gerlinde Lüscher, die aber nicht in den Fall eingreifen darf. Aber sie gibt Judith einen Rat: “Wenn es Einen gibt, der herausfinden kann, wo sich Ihr Bruder aufhält, dann ist das Ludwig Hirschberger”. Der nimmt den Auftrag an und entdeckt, dass der seriöse Ravensburger Geschäftsmann gar nicht so seriös ist: Er verkauft über Liechtenstein und Las Palmas Hehlerware in alle Welt und kommt dabei der “ehrenwerten Gesellschaft” zu nahe. Ludwig geht der Sache auf den Grund und findet alles über Samuel Finger und seinen Verbleib heraus. Dafür zahlt er jedoch einen hohen Preis.

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Uli Herzog

Oberschwabe durch und durch, arbeitete 30 Jahre in Wien als Geschäftsführer einer Werbeagentur. Noch als aktiver Fußballer wurde er zum Pressewart seines Vereins gewählt und musste 1984 die Festschrift zum 75-Jährigen des Vereins verfassen. Dabei entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Doch erst nach seiner Verrentung wurde sein erster Kriminalroman »Mord am Schützensamstag« 2015 veröffentlicht. Es folgten »Frauenduft« und »Endstation Biberach«.

»Vermisst: Gold-Finger aus Ravensburg« ist sein vierter Krimi mit Ludwig Hirschberger, einem pensionierten Top-Fallanalytiker, als privater Ermittler. Die Covid-19-Jahre hat Herzog in diesem Krimi bewusst ignoriert. »Das Leben mit diesem Virus soll nicht auch noch dort stattfinden, wo man die Menschen ablenken, unterhalten möchte«, sagt er.

Herzog lebt in Altshausen im Herzen Oberschwabens. Seine Hobbys sind neben dem Schreiben seine vier Enkel und das Radeln durch die Weite seiner oberschwäbischen Heimat. Gerade im Winter macht er gerne Urlaub auf der Insel Gran Canaria, deren Klima er besonders schätzt.

Sein Krimi-Held Ludwig Hirschberger hat zwar denselben Lebenslauf wie sein Erfinder, ist aber ein ganz anderer Mensch. »Mir fehlt sein Hang zum Workaholic und seine unglaubliche Souveränität«, so der Autor Uli Herzog.

www.krimi-uli-herzog.de

Uli Herzog

Vermisst: Gold-Finger aus Ravensburg

Ein Oberschwaben-Krimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2021

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.Titelbild: Johannes Volz

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Elga Lehari-Reichling

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-111-4

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Für Gela, weil sie mit mir seit fast 50 Jahren durch dick und dünn geht.

Prolog

Samuel Finger ließ die feine Goldkette noch einmal prüfend durch seine Finger gleiten. Heute musste er damit fertig werden. Schließlich hatte er es den Einsteins versprochen. Sie waren vor ein paar Jahren von Buchau weggezogen. Und jetzt saßen sie selbst auf gepackten Koffern. Beiden Paaren war es irgendwie zu eng geworden im kleinen Städtchen am Federsee. Die Einsteins bereuten ihren Umzug nach Ulm nicht. Die Fingers zog es genau in die entgegengesetzte Richtung: nach Ravensburg.

Gerade waren Hermann Einstein und seine Ehefrau Pauline zu Besuch in Buchau, wo noch einige Verwandte von ihm lebten. Und wie immer nutzten sie die Gelegenheit, sich mit den befreundeten Fingers zu treffen. Pauline, die gebürtige Cannstatterin, schwärmte vom urbanen Leben in Ulm. Das Goldkettchen hatte Pauline Einstein noch vor ihrem Wegzug zur Reparatur vorbeigebracht. Immer und immer wieder hatte Samuel Finger sie vertrösten müssen.

»Weißt du, liebe Pauline, es ist mir schon sehr unangenehm, dass du so lange hast warten müssen. Aber ich musste den kaputten Verschluss erst in St. Petersburg besorgen. So einen Verschluss können nur die Petersburger Juweliere herstellen.«

»Ja, ich weiß, Samuel. Im Grunde genommen muss ich ja froh sein, dass du überhaupt Verbindungen nach St. Petersburg hast, sonst hätten wir das Kettchen gar nicht so schön restaurieren können«, meinte Pauline Einstein.

Samuel fragte sich, ob es mutig war oder etwas leichtsinnig, dass die hochschwangere Pauline in ihrem Zustand die beschwerliche Reise nach Buchau auf sich genommen hatte.

Dass sie schon im März 1879 einen Jungen zur Welt bringen würde, der einmal als größtes Genie in die Weltgeschichte eingehen sollte, konnte Pauline Einstein an diesem Tag noch nicht ahnen.

»Wann werdet ihr nach Ravensburg aufbrechen?«, wandte sie sich an Samuel und seine Frau.

»Erst im Mai, dann wird der Laden am Gespinstmarkt fertig werden.«

»So schade, dass wir uns jetzt noch weniger sehen werden. Dass ihr nicht nach Ulm geht, bedauern der Hermann und ich sehr.«

»Weißt, Paulinchen, in Ulm gibt’s so viele Goldschmiede, da möchten wir uns vielleicht nicht durchsetzen können, die Hannah und ich. Da haben wir in Ravensburg die viel besseren Chancen. Und außerdem ist der Bodensee nicht weit weg. Du weißt ja, wie sehr die Hannah und ich das Wasser lieben. Wir können mit der Eisenbahn an den See fahren, wann immer wir Zeit haben. Bald ist sie ja ganz durchgängig fertig, die Eisenbahn. Dann könnt auch ihr nach Friedrichshafen fahren und wir können uns am Schabbes immer treffen.«

»Na ja, so ganz überzeugt bin ich von dem modernen Zeug ja noch nicht. Im Gegensatz zu meinem Hermann. Der freut sich schon auf die Bahnfahrt von Biberach nach Ulm.«

Als Samuel Finger im Mai nach Ravensburg zog, war seine Hannah ebenfalls schwanger. Sie würde ihm einen Sohn zur Welt bringen. Auch er würde Samuel heißen.

Sein Geschäft am Gespinstmarkt, welches er »Gold-Finger« nannte, damit die Leute sofort wussten, dass sie es mit einem Goldschmied zu tun hatten, lief sehr gut. Samuel Finger war ein sehr geschickter und beliebter Fachmann. Bald schon konnten sie ihr Geschäft an den belebten Marienplatz verlegen.

Im Februar 1880 kam der Sohn Samuel der Zweite auf die Welt. Zur Taufe fuhren die Fingers nach Laupheim, zur größten jüdischen Gemeinde in Oberschwaben. Auch die Einsteins kamen mit ihrem kleinen Sohn Albert zu der Feier.

Samuel Finger jr. erwies sich als würdiger Nachfolger seines Vaters. Das Geschäft blühte und die Familie Finger erarbeitete sich einen gewissen Wohlstand. Sogar die schwierige Zeit nach dem Schwarzen Freitag 1929 überstand das Geschäft. Seine Cleverness bewahrte Samuel Finger auch vor der »Arisierung« seiner Firma in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Er verkaufte kurz nach Hitlers Machtergreifung die Firma an Elvira Marschall, seine treueste Angestellte. Diese stellte wiederum Samuel Finger ein – bis zum Jahr 1938. Danach emigrierten die Fingers nach den USA, wo sie einmal mit Albert Einstein zusammentrafen. Obwohl ihre Eltern früher befreundet waren, kannten sich Albert Einstein und Samuel Finger nicht. Auch Buchau kannte Albert Einstein nicht. Noch nicht einmal an Ulm konnte er sich genau erinnern. Hermann Einstein hatte es dort genauso nicht allzu lange ausgehalten und war nach München gezogen.

1948 kamen die Fingers nach Ravensburg zurück und übernahmen das Geschäft wieder von Elvira Marschall, so wie es vor dem Kriege vereinbart war. Und ab sofort hieß es wieder »Gold-Finger«.

Wiederum war es der Sohn, er hieß natürlich ebenfalls Samuel, der die Firma erfolgreich voranbrachte. Neben dem Goldschmiedebetrieb führte Samuel auch wertvolle Uhren und Silberbesteck im Sortiment.

Dieser Samuel Finger – nennen wir ihn Samuel den Dritten – ließ sich Zeit mit dem Heiraten. Und er ließ sich Zeit mit dem Nachwuchs. Zuerst bekam er eine Tochter, welche er Judith taufen ließ, danach folgte im Jahr 1974 ein Sohn. Dieser hieß selbstverständlich Samuel und übernahm, wie es schon Vater und Großvater getan hatten, das Gold- und Schmuckgeschäft in Ravensburg. Noch immer prangte das Firmenschild »Gold-Finger« am Geschäft, wenn auch zwischenzeitlich in modernerer Version. Vorbei war die Zeit der leuchtenden Neon-Buchstaben, als die Städte mit bunten Werbeschriften an den Häusern ihren neu erarbeiteten Wohlstand in den 60er- und 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts demonstrierten.

Judith Finger-Pascher befreite ihre Pflanzen im Vorgarten vom Schnee, sie wartete darauf, dass ihre Nachbarin von der samstäglichen Jogging-Runde zurückkam. Sie wollte sie unbedingt sprechen. Sorgenvoll blickte sie in die Zukunft. Ihr Bruder Samuel war seit mehreren Wochen verschwunden. Einfach weg. Dabei war es nie seine Art gewesen, so mir nichts, dir nichts von der Bildfläche zu verschwinden.

Wie in jedem Jahr war er auf seine Insel im Atlantik geflüchtet, bevor im November die Nebel des nahen Sees in das Schussental hineinmäanderten. Nebel und Kälte waren aber gar nicht das, was Samuel Finger liebte. Schon als Kind hatte er keine Freude am Skifahren. Wenn seine Schulfreunde ins nahe Allgäu oder nach Vorarlberg fuhren und jede freie Minute nutzten, um die Skihänge hinunterzurasen, sehnte Samuel Finger immer den Sommer herbei.

Seit Samuel Finger seinen untrüglichen Geschmack an seine Kundinnen vermittelte, florierte das Geschäft derart gut, dass sich der Gold- und Schmuckhändler aus Ravensburg eine Residenz auf Gran Canaria leisten konnte. In Taurito, nahe Puerto de Mogán, dem »Venedig des Atlantiks« genannten ehemaligen Fischerdorf, besaß er in einem Appartementhaus eine Dreizimmerwohnung, die auf Spanisch traditionell aber »apartemento«, also Appartement, genannt wurde. Und immer, bevor die Nebel die kalten Tage ankündigten, verließ Samuel Finger seine oberschwäbische Heimat und flog in die warmen Gefilde des Atlantiks.

»Ruft mich an, wenn die Forsythien blühen«, pflegte er immer zu seiner Schwester und ihrer Familie zu sagen, um damit anzudeuten, dass er frühestens im April zurückkommen wollte.

Das Geschäft führte solange die Familie Marschall. Jene Marschalls, deren Vorfahren schon treuhänderisch die Firma während des Zweiten Weltkriegs geführt hatten.

Und jetzt war ihr Bruder auf der Insel verschwunden. Einfach so. Kein Mensch wusste, wo er sich aufhalten könnte. Alle Versuche der spanischen Polizei und der deutschen Behörden, ihn aufzuspüren, waren ergebnislos verlaufen.

Judith hatte aber den Eindruck gewonnen, als ob die Behörden die Sache nicht mit dem erforderlichen Nachdruck verfolgten. Es gebe überhaupt keine Spuren, hieß es. Es war nicht in sein Appartement eingebrochen worden, es seien keine Hinweise auf ein Verbrechen gefunden worden und keinem der Nachbarn oder Mitbewohner des Appartementhauses sei etwas aufgefallen. Und die Touristen, die sich zu der Zeit seines Verschwindens in Taurito aufgehalten hatten, hätten die Insel längst wieder verlassen.

Judith Finger wollte sich damit nicht abspeisen lassen. Niemand kannte ihren Bruder so gut wie sie. Niemand hatte eine Ahnung von dem, was er auf der Kanareninsel so trieb. Nur sie, Judith Finger-Pascher, die Busunternehmerin aus Ravensburg.

Das Geld aus der Erbschaft ihrer Eltern hatte sie sofort dazu benützt, um mit ihrem Mann, Gerhard Pascher, ein Busunternehmen aufzubauen. Gerhard war schon ihre Sandkastenliebe gewesen. Dass seine Eltern nicht so begütert waren wie ihre, störte sie nie. Im Gegensatz zu ihren Eltern. Eine Finger mit einem Automechaniker verheiratet? Das ging gar nicht. Dass sich ihr Mann zusätzlich auch noch als Busfahrer verdingte, um seiner Frau einen besseren Lebensstandard zu ermöglichen, ignorierten ihre Eltern. Als beide Elternteile innerhalb eines Jahres starben, nahm sie die gesamte Erbschaft mit Ausnahme des Familienschmucks und investierte sie in ein kleines Busunternehmen.

Die dunkelhaarige, große und schlanke Frau, die stets gepflegt auftrat und sich den geerbten Schmuck ihrer Vorfahren sehr geschmackvoll anlegte, hatte im Gegensatz zu ihrem Bruder, der immer braun gebrannt war, einen sehr bleichen Teint, aus dem eine schmale Hakennase hervortrat, die aber genau der Nase ihres Bruders glich. Auch die schmale Oberlippe teilten beide Geschwister. Judith Finger-Pascher trug am liebsten ein hellgraues Kleid mit grünen Borten. Sie wirkte immer sehr elegant. Eine Jeans würde sie nie im Leben tragen, obwohl heutzutage völlig normal, nicht aber bei Judith.

Ihr Bruder hatte keine Probleme damit, dass sie nicht »standesgemäß« heiratete, wie ihre Eltern ständig anmerkten. Er verstand sich mit Gerhard prächtig und ließ die beiden ihren Sommerurlaub gerne in seiner Ferienwohnung verbringen, sofern überhaupt Zeit dafür da war. Auch hatte Samuel verfügt, dass ihre Tochter Jasmin sein gesamtes Vermögen erben würde.

Samuel Finger war ledig und alleinstehend. Er galt landauf, landab als Eigenbrötler. Schon früh hatten sich junge Mädchen für Samuel interessiert, über belanglose Flirts war es aber bei ihm nie hinausgegangen. Judith hatte bald bemerkt, dass ihr Bruder anders veranlagt war.

Samuel wurde in der Familie schon sehr stark vermisst, denn in wenigen Wochen würde er ihrem Busunternehmen lukrative Aufträge vermitteln, so wie in den vergangenen Jahren auch. Im beginnenden Herbst, wenn die Skifahrer und die Fasnet ihre Busse noch nicht benötigten, war ihr Unternehmen sehr auf die Reisen ihres Bruders angewiesen. Genauso in den Weihnachtsferien, wenn keine Schüler zu transportieren waren, und in der Zeit zwischen der Fasnet und der Rückkehr ihres Bruders im April. Auch da hatte sie einige Fahrten für ihn durchzuführen.

Und die benötigte ihr Unternehmen bald und dringend.

»Frau Lüscher, Sie sind doch bei der Kripo.«

Judith hatte ihren Mut zusammengenommen und ihre Nachbarin angesprochen, die als Hauptkommissarin die Kripo in Biberach leitete.

»Ja, ich bin bei der Kripo, Frau Pascher«, sagte sie zu der Ehefrau des Busunternehmers Gerhard Pascher. »Aber Sie wissen, dass ich Ihnen bei der Suche nach Ihrem Bruder nicht helfen kann. Nicht helfen darf. Hier sind die Kollegen vom Landeskriminalamt, dem LKA, zuständig und die arbeiten ganz bestimmt sehr eng mit den spanischen Behörden zusammen.«

Jeder wusste vom Fall Samuel Finger. Der Ravensburger Juwelier war seit einigen Wochen verschwunden. Wie immer verbrachte er den Winter auf Gran Canaria. Eines Tages kam er dort, so berichtete seine Nachbarin Mariana, von einer Geschäftsreise nach Las Palmas, der Inselhauptstadt, nicht mehr zurück. Alle Bemühungen der spanischen Behörden, Samuel Finger zu finden, blieben bisher erfolglos. Auch in Ravensburg, wo man ihn zunächst vermutete, war er nirgends wieder gesichtet worden.

Dass Gerlinde Lüscher schon in den nächsten Tagen nach Ravensburg versetzt werden würde, verschwieg sie der Frau allerdings. Sie war ja nicht befugt, Dienstgeheimnisse auszuplaudern. Und bevor die Pressestelle die Nachricht nicht freigegeben hatte, durfte sie auch niemandem etwas davon erzählen. Außer ihrem Mann natürlich.

Judith Finger-Pascher befürchtete, dass der Fall ihres Bruders zu den Akten gelegt würde, und war dementsprechend verzweifelt.

»Hören Sie, Frau Lüscher, ich würde es mich etwas kosten lassen, wenn weiter in dieser Angelegenheit ermittelt würde. Auch privat ermittelt würde.«

Dass sie das Angebot ihrer Nachbarin natürlich nicht annehmen konnte, war ganz klar. Aber es brachte Gerlinde Lüscher auf eine Idee:

»Also, ich kann so etwas natürlich nicht machen. Aber vielleicht wüsste ich Ihnen einen Mann, der Ihnen womöglich weiterhelfen kann. Er ist zwar schon etwas älter, aber er ist ein ehemaliger Profiler. Und er war ziemlich erfolgreich. Wenn der sich in den Fall Ihres Bruders verbeißt, lässt er nicht mehr locker, bis er ihn gelöst hat. Er wohnt zwar in Wien, stammt aber aus Biberach und ist mit den Gepflogenheiten in Oberschwaben bestens vertraut.«

»Und der würde das machen?«

»Keine Ahnung. Ich müsste ihn mal fragen. Wenn Sie wollen, rufe ich ihn an. Sie müssen ihn aber privat engagieren und auch bezahlen.«

»Wie viel würde das kosten?«

»Das müssen Sie ihn selbst fragen. In solche Dinge mische ich mich nicht ein. Wenn es Ihnen recht ist, rufe ich ihn an und gebe ihm Ihre Telefonnummer. Dann können Sie sich selbst mit ihm auseinandersetzen.«

»Oh ja, das wäre sehr nett von Ihnen, Frau Lüscher.«

Das gab ihr wieder Hoffnung. Von einem Profiler hatte sie schon ein paar Mal im »Oberland-Kurier« gelesen. War das nicht der, der vor ungefähr zwei Jahren einen Mord in der Nähe von Aulendorf vereitelt hatte? Der soll ein richtig raffinierter Kerl sein, stand damals in der Zeitung, und den Täter so lange in die Enge getrieben haben, bis der Fehler machte, die den Mord dann schließlich verhinderten. Wenn das der war, würde ihr das wieder Hoffnung geben. Denn sie hatte nicht nur Angst um ihren Bruder, sie hatte auch Angst um ihr Unternehmen. Sie und Gerhard waren die Einzigen, die ahnten, dass er in Probleme geraten sein könnte. Und sie war die Einzige, die wusste, warum ihr Bruder unter den Palmen womöglich in Schwierigkeiten gekommen war. Aber sie durfte es niemandem erzählen. Zumindest so lange nicht, solange die Chance bestand, dass Samuel nichts zugestoßen war.

Als Judith am nächsten Morgen den Briefkasten öffnete, um den »Oberland-Kurier« herauszuholen, fiel ihr ein Kuvert von Gerlinde Lüscher auf. Es enthielt die fotokopierte Visitenkarte von Ludwig Hirschberger aus Wien. Auf das Blatt hatte die Kommissarin noch geschrieben, sie habe mit dem Profiler gesprochen und Judith könne ihn anrufen.

Ludwig stammte aus Biberach, war aber seit ewiger Zeit in Wien beheimatet. Auch nach seiner Pensionierung blieb er in der Weltstadt der Musik. Und das, obwohl ihn seine Frau Lea verlassen hatte und ihr gemeinsamer Sohn Marco schon seit Jahren in New York lebte.

Den besuchte Ludwig gerade, und als ihn der Anruf von Judith Finger-Pascher erreichte, befand er sich auf der berühmten Fifth Avenue, um ein paar Reisemitbringsel zu besorgen.

»Ja. Hallo.«

»Guten Tag, sind Sie der Herr Ludwig Hirschberger?«

»Ja.«

»Mein Name ist Judith Finger-Pascher. Ich rufe auf Empfehlung von Frau Gerlinde Lüscher an.«

»Dann kann ich mir denken, um was es geht. Sie suchen einen privaten Ermittler?«

»Ja, ganz genau. Wissen Sie, es geht …«

»Moment, Frau Finger-Pascher, das ist der völlig falsche Moment. Ich bin hier gerade in Manhattan und mache ein paar Besorgungen. Morgen fliege ich nach Wien zurück und melde mich dann bei Ihnen.«

Ludwig wollte hier und jetzt kein Gespräch führen.

»Nein, bitte! Können Sie nicht gleich hierherkommen? Es eilt sehr.« Die Frau wirkte verzweifelt. »Es geht um einen Vermissten-Fall und ist sehr dringend.«

»Also. Gute Frau. Ich rufe Sie heute Abend an. Morgen fliege ich nach Wien zurück. So oder so.«

Das wäre ja noch schöner, dass er sich vorschreiben ließ, wohin er morgen fliegen sollte. Andererseits: Da Gerlinde ihr mit seinem Einverständnis seine Handy-Nummer gegeben hatte, war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Gefahr im Verzug. So gut kannte er die Hauptkommissarin von der Kripo in Biberach nach der langen Zeit schon.

Als er im Appartement seines Sohnes und dessen Familie angekommen war, schien alles auf Ludwigs Rückreise nach Wien programmiert. Manuela hatte seine Wäsche von der Wäscherei bringen lassen. Ludwig nahm die Wäsche mitsamt den Tüten und legte sie in seinen Koffer.

»So sauber bringe ich das sonst nie mehr hin.«

Sein Sohn Marco, seine Enkelin Larissa und seine Schwiegertochter grinsten.

»Hast du Mama ein Geschenk gekauft heute?«

»Aber klar, deswegen war ich ja in der Stadt. Ich habe in Wien ja sonst niemanden mehr, dem ich ein Geschenk mitbringen könnte!«

Ludwig hatte für Lea, seine geschiedene Frau – inzwischen verwitwet, weil ihr neuer Partner vor gut zwei Jahren verstorben war –, einen Kunstkalender besorgt. Er wusste, dass sie diesen Kalender liebte und ihn sich immer zum Jahresende für das Folgejahr besorgte. Nur Ende vergangenen Jahres hatte sie es versäumt und dies gegenüber Ludwig mehrfach bedauert. Auch nach ihrer Scheidung waren Ludwig und Lea Freunde geblieben, und seit Lea verwitwet war, hatten sie die Kontakte wieder intensiviert. Sehr zu Ludwigs Freude. Es wurde sogar schon einmal lose angesprochen, ob Ludwig wieder in das Haus einziehen solle, welches früher einmal ihr gemeinsames Heim gewesen war und eigentlich Ludwig gehörte.

»Kinder, ich muss schnell noch mal telefonieren«, sagte er.

»Nach Wien?«, fragte sein Sohn neugierig.

»Nein, nach Deutschland. Genauer gesagt nach Ravensburg, in der Nähe meiner Heimat. Ich glaube, ich werde dort gebraucht.«

»Du wirst dich wohl nie ganz zur Ruhe setzen, Opi«, sagte seine Enkelin kichernd. »Und wenn du nach Ravensburg gehst, gehe ich mit. Das ist doch die Stadt mit den tollen Spielen. Muss ja ein Paradies dort sein.«

»Ist es auch. Und nicht nur wegen der Spiele.«

Danach rief Ludwig die Nummer an, die er noch auf dem Display hatte.

»Das ist aber nett, Herr Hirschberger, dass Sie sich so schnell wieder melden. Ich mach’s ganz kurz: Mein Bruder Samuel wird seit drei Wochen auf Gran Canaria vermisst. Er hat auf der Insel ein Appartement und verbringt seit Jahren den Winter dort. Eine Nachbarin hat ihn als vermisst gemeldet. Die spanische Polizei und die Guardia Civil haben intensiv nach ihm gesucht, aber überhaupt keine Spur von ihm gefunden. Die glauben, er sei von Gran Canaria aus irgendwohin gegangen, um ein neues Leben zu beginnen. Aber das ist falsch. So etwas würde Samuel nie machen. Er hat ein Schmuckgeschäft in Ravensburg. Das würde er nie im Stich lassen. Nie. Gar nie. Auf gar keinen Fall.«

»Und jetzt soll ich Ihren Bruder suchen?«, fragte Ludwig.

»Ich bitte Sie darum!«

»Sie wissen von Frau Lüscher sicher, welchen Tagessatz und welche Spesen ich verlange?«

»Nein, ich weiß es nicht, aber das Geld spielt keine Rolle. Ich muss wissen, wo Samuel ist.«

Fast schon flehte die Frau ihn an.

»Also gut, ich werde versuchen, meinen Flug von Wien nach Friedrichshafen umzubuchen, und bin morgen bei Ihnen. Schicken Sie mir eine App mit Ihrer genauen Adresse.«

»Vielen Dank, Herr Hirschberger«, rief die Frau mit hörbarer Erleichterung aus.

»Bedanken Sie sich erst, wenn ich ihn gefunden habe.«

Damit war das Gespräch beendet und Ludwig um einen Fall reicher.

»Du bist vielleicht ein Irrsinniger!«, mokierte sich sein Sohn. »Sag mal, hast du vergessen, dass du über 70 bist?«

»70 ist das neue 50, heißt es in den deutschen Medien«, konterte Ludwig.

»Ja, aber nur, weil die das Rentenalter hochsetzen möchten!«

»Opa hat sich aber gut gehalten. Wenn er 20 Kilo abnehmen würde, könnte man ihn glatt für sportlich halten.«

Das war wieder eine Spitze seiner Enkelin gegen seine etwas üppige Figur. Wobei er wirklich mal wieder etwas abspecken könnte. Der neue Fall wäre gerade die richtige Gelegenheit dazu.

»Sag mal, ihr habt doch eine eigene Reiseabteilung bei euch in der Firma. Frag doch mal, was ich anstellen muss, um statt nach Wien heute Abend nach Friedrichshafen zu fliegen«, fragte Ludwig seinen Sohn Marco.

Der hatte längst begriffen, dass weiterer Protest völlig zwecklos war, und rief die Reiseabteilung seiner Firma an.

»Gib mal deine ID vom Ticket.«

»Was?«

Ludwig verstand nur Bahnhof.

»Die Buchstaben- und Zahlenkombination.«

Ludwig gab seinem Sohn das Ticket, welches er sich auf einem DIN-A4-Blatt ausgedruckt hatte. Der teilte den Code seiner Kollegin mit und kurze Zeit später war das Gespräch beendet.

»So du Kiberer. Du kannst es ja nicht lassen. Heute Abend fliegst du von JFK aus nach Frankfurt, steigst gleich nach der Ankunft in den Anschlussflug nach Friedrichshafen und kannst zum Mittagessen bereits ein frisch gefangenes Bodensee-Felchen essen.«

Manchmal kam sogar bei Marco das Wienerische noch durch.

»Klasse. Ich danke dir. Und muss ich da noch was zahlen?«

»Des wirst am Flughafen erfahren!«, raunzte Marco und fügte noch hinzu:

»Ruf wenigstens noch der Mama an und sag ihr, dass du nicht kommst. Die trifft bestimmt schon Vorbereitungen für deine Rückkehr.«

»Geh, könnst des net du für mich machen?«, bettelte Ludwig.

»Auch noch feige, was? Na ja, dann mach ich’s halt heut am Abend.«

»Danke. Vielen Dank.«

Ludwig verabschiedete sich von seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und seiner Enkelin. Danach ließ er sich zum John-F.-Kennedy-Flughafen fahren, um über Frankfurt nach Friedrichshafen zu fliegen.

Glücklicherweise konnte Ludwig fast während des gesamten Fluges nach Frankfurt am Main schlafen. Die Maschine war erstaunlicherweise nur sehr spärlich besetzt und er hatte eine komplette Viererreihe für sich alleine. So hatte er genug Platz, um es sich bequem zu machen. In Frankfurt angekommen bestieg er den viel kleineren Jet des Zubringers an den Bodensee.

Als sich Ludwig mit Judith Finger-Pascher nach der Landung verabredete, schlug er vor, mit ihr einen Spaziergang durch Ravensburg zu machen. Er hatte die Stadt der Türme noch aus den 60er-Jahren in bester Erinnerung. Klar doch, jede Fahrt an den See führte damals unweigerlich in die Stadt, die durch Puzzle und Spiele so berühmt geworden war. Sie trafen sich auf dem Marienplatz, direkt neben dem einstmals so berühmten »Hotel Waldhorn«, welches zu Zeiten eines Albert Boulay zu den Spitzen-Gourmet-Tempeln Deutschlands gehört hatte.

»Als ich früher mit meinen Eltern an den See gefahren bin, sind wir noch mitten durch Ravensburg, sprich direkt über den Marienplatz gefahren.«

»Wie, da gab’s noch keine Umgehungsstraße?«

Judith Finger-Pascher, die als Busfahrerin und -unternehmerin jeden Tag hier durch die Gegend fuhr, konnte sich das irgendwie gar nicht vorstellen.

»Damals gab’s überhaupt noch keine Umgehungsstraßen. Wir sind auch noch in Waldsee direkt am See vorbeigefahren und dann mitten durch die Altstadt durch.«

»Beim heutigen Verkehr wohl kaum denkbar«, resümierte die Schwester des Vermissten.

»Ja und Ravensburg hatte damals sogar noch eine Straßenbahn, die fuhr meines Wissens vom Bahnhof bis nach Baienfurt. Sie sah sehr lustig aus, hatte sie doch verschiedene Anhänger.«

»Ja, mein Vater erzählte mir davon, Mühle hatte er sie genannt.«

Sie schien etwas gedankenverloren. Wenige Schritte später sagte sie:

»Das hier ist unser Geschäft, äh, das Geschäft von Samuel.«

Ludwig konnte ein paar Häuser weiter ein Ladenschild mit Goldprägung und einem dunkleren, ebenfalls in Gold gehaltenen Schriftzug »Gold-Finger« erkennen. Das Geschäft machte auf ihn einen sehr vornehmen Eindruck.

Sie durchwanderten die Altstadt und Ludwig war beeindruckt von der Vielfalt der Geschäfte. Ravensburg machte seinem Ruf, eine Einkaufsstadt zu sein, alle Ehre. Sie gingen gerade in Richtung Obertor, als Judith ihr Leid klagte.

»Wissen Sie, Herr Hirschberger, die Ungewissheit ist das Schlimmste an der Situation. Nicht zu wissen, ob Samuel etwas passiert ist und was, ist unerträglich für mich.«

»Ja, das kann ich sehr gut nachvollziehen. Das ist bei solchen Vermisstenfällen immer das Schlimmste. Besonders schlimm ist es, wenn Eltern ihre Kinder vermissen und keine Ahnung haben, was mit ihnen geschehen sein könnte. Haben Sie denn eine Ahnung, warum Ihr Bruder plötzlich verschwunden ist? Gibt es Anhaltspunkte für mich?«

»Nein, genau das ist es ja. Er war von heute auf morgen weg. Verschwunden. Nicht mehr da. Ohne Vorwarnung, ohne Anzeichen eines Verbrechens oder eines Unfalls«, sagte Judith Finger-Pascher mutlos.

»Und dass er freiwillig ein neues Leben irgendwo auf der Welt führen wollte, dass er zum Beispiel eine neue Frau gefunden hat, dass er ein neues Lebensziel entdeckt hat, das können Sie ausschließen?«, blieb Ludwig hartnäckig.

»Das hat mich die Polizei schon lange gefragt. Wenn er das getan hätte, hätte er sicher sein Geld mitgenommen. Hätte sein Appartement in Taurito aufgeräumt, hätte mir eine Nachricht hinterlassen und hätte vor allem Frau Marschall benachrichtigt.

»Wer ist Frau Marschall?«, hakte Ludwig erstaunt nach.

»Frau Marschall führt sein Geschäft hier in Ravensburg über den Winter. Sie hätte er auf jeden Fall informiert. Wissen Sie, zu den Marschalls haben wir langjährige Beziehungen. Sie gehören fast schon zur Familie.«

»Und wie kamen diese Beziehungen zustande«, fragte Ludwig.

»Die gab’s schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Frau Marschall, eine Ur-Ahne der jetzigen Frau Marschall, hatte bei meinem Großvater gearbeitet. Als unsere Familie, die ja jüdischer Abstammung ist, vor den Nazis fliehen musste, übernahm Frau Marschall treuhänderisch unser Geschäft, sodass es vor der sogenannten Arisierung verschont geblieben ist. Als Großvater nach dem Krieg wieder nach Ravensburg zurückkehrte, haben ihm die Marschalls das Geschäft wieder übertragen und seither arbeitet mindestens ein Familienmitglied der Marschalls im Geschäft mit.«

»Und das ging damals so einfach? Ich war bisher immer der Meinung, die Nazis hätten bestimmt, wer die jüdischen Geschäfte kaufen, sie arisieren durfte«, zweifelte Ludwig.

»Ja, normalerweise schon, aber mein Großvater und auch schon mein Urgroßvater waren sehr großzügige, karitative Menschen. Sie waren sehr angesehen in der Stadt und hatten allerbeste Beziehungen. So war es uns möglich, das Geschäft treuhänderisch an die Marschalls zu verkaufen. Und der Bürgermeister hat sich auch sehr für uns eingesetzt.«

»Hier war doch irgendwo die ›Ranch‹«, meinte Ludwig plötzlich.

Er sprach damit die legendäre In-Disco der 60er-Jahre an, als er selbst noch ein junger Mann gewesen war. Aber die »Ranch« war nicht nur eine tolle Disco gewesen, hier war auch jede Menge Gras konsumiert worden.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, die gab’s zu meiner Jugendzeit nicht mehr.«

Ludwig wurde sich wieder einmal seines Alters bewusst. Dass eine gebürtige Ravensburgerin die »Ranch« nicht mehr kannte, war für ihn unvorstellbar. Wer die »Ranch« nicht kannte, kennt die Welt nicht, dachte Ludwig.

Durch ein kleines Tor gingen sie Richtung Gänsbühl und über den Gespinstmarkt wieder zurück auf den Marienplatz.

»Und Ihr Bruder hat keine Familie, keine Ehefrau, keine Kinder?«

»Nein, Samuel ist ein sehr in sich gekehrter Mensch. Unstet, er hält es nie lange irgendwo aus, ist immer in Bewegung, immer auf Achse. Wissen Sie, ohne Frau Marschall könnte er seinen Laden nie führen. Nach spätestens zwei Stunden muss er raus aus dem Laden.«

»Und auf Gran Canaria fühlt er sich wohl?«

»Oh ja. Er hasst die kalte Jahreszeit. Er braucht die Wärme, braucht das Meer. Jedes Jahr im Oktober geht er auf seine Insel. Und jedes Jahr verabschiedet er sich mit den Worten: ›Ruft mich an, wenn die Forsythien blühen.‹ Dann kommt er wieder nach Hause. Die gelben Hecken und Sträucher sind seine Lieblingspflanzen. Sie sind die Vorboten des Frühlings.«

Judith Finger-Pascher wirkte etwas gedankenverloren.

»Hatten Sie nie Lust, es ihm gleichzutun?«, fragte Ludwig neugierig.

»Oh nein. Ganz und gar nicht. Ich liebe den Winter. Freue mich immer aufs Wochenende, wenn ich die Fahrgäste in die Skigebiete fahren darf. Außerdem muss ich ja die Schulkinder chauffieren. Und die Häs-Träger zu den Fasnetsumzügen fahren. Das ist für uns Hochsaison. Da ist jeder Bus mit Ausnahme der Weihnachtsferien ständig auf Achse.«

Sie muss mit Leib und Seele Busunternehmerin sein, dachte Ludwig.

»Also gut, ich suche Ihren Bruder«, meinte Ludwig. »Mein Tageshonorar beträgt 250 Euro plus Spesen, wobei die Spesen im Ausland natürlich höher sind, das muss Ihnen klar sein. Ich rechne sie aber immer gegen Einzelbeleg ab.«

»Einverstanden.«

Die Schwester wirkte erleichtert.

»Noch was«, hakte Ludwig nach, »jeder von uns beiden hat das Recht, jederzeit auszusteigen. In dem Fall ist das Tageshonorar bis zum Tage meiner Rückkehr nach Wien zu entrichten.«

»Ich hoffe nicht, dass es so weit kommt.«

Judith Finger-Pascher streckte Ludwig die Hand hin. Er nahm sie, drückte sie und besiegelte damit den Vertrag.

»Ich will das Appartement Ihres Bruders in Tauriso bewohnen«, meinte Ludwig noch. »Nicht um Geld zu sparen, sondern weil ich hautnah an ihm dran sein will. Weil ich quasi seinen Atem spüren muss, sein Herz schlagen hören möchte.«

»Auch das ist kein Problem, Herr Hirschberger. Ich werde die Hausverwaltung informieren. Übrigens: Der Ort heiß Taurito, nicht Tauriso.«

»Ich werde mir am Flughafen einen Leihwagen für die Zeit meines Aufenthalts nehmen. Der geht auch auf Spesen. Ich muss ja mobil bleiben.«

Ludwig sah der Frau ins Gesicht.

»Solange es kein Ferrari ist, bitte sehr.«

»Nein, mir genügt auch ein Porsche.«

Ludwig lächelte und signalisierte der Frau damit, dass er sich ganz bestimmt keine Luxuskarosse mieten würde.

»Gibt es noch etwas über Ihren Bruder, das ich wissen müsste?«, fragte er noch nach.

»Nicht dass ich wüsste. Ein Bild von ihm habe ich Ihnen gegeben. Na dann: Gute Reise, Herr Hirschberger. Und finden Sie meinen Bruder. Bitte!«

»I will do my very best«, entgegnete er und wusste, dass er nicht lockerlassen würde, bis er den Aufenthaltsort von Samuel Finger herausbekommen hatte.

»Wie komme ich jetzt von hier am besten auf diese Insel?«, fragte er Samuels Schwester etwas ratlos.

»Ach so, ja. Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder Sie fliegen von Zürich aus oder Sie fliegen von Stuttgart aus nonstop. Die dritte Möglichkeit ist: Sie fliegen von Memmingen nach Teneriffa, machen von dort aus einen kurzen inter-insularen Flug und sind auch dort.«

»Hm, und von Friedrichshafen aus geht es nicht?«

Ein Flug vom Bodensee-Airport wäre ihm natürlich am liebsten gewesen.

»Keine Chance. Die Flüge sind über die ganze Saison hinaus ausgebucht. Außerdem fliegen die nur einmal in der Woche dorthin und die letzte Maschine ist gestern erst geflogen. So lange werden Sie ja vermutlich nicht warten wollen.«

»Nein, tatsächlich nicht. Woher kennen Sie sich denn so gut aus?«

»Wir haben neben unserm Busunternehmen auch noch ein Reisebüro«, klärte ihn die Schwester des Vermissten auf.

»Kein Wunder. Also, dann würde ich Stuttgart bevorzugen. Da kann ich mit der Bahn hinfahren«, sagte Ludwig.

»Ja, aber Sie müssen noch übernachten.«

»Wieso denn das?«

»Ihr Flieger geht morgen früh um sechs Uhr fünf!«

»Na dann auf in den Kampf, Torero«, meinte Ludwig mit einem Lächeln auf den Lippen.

Ludwig machte in Biberach Zwischenstation, um bei Kommissarin Gerlinde Lüscher deren Informationsstand in diesem Vermisstenfall einzuholen.

»Viel kann ich dir nicht sagen Ludwig. Tut mir echt leid«, meinte sie bei diesem Gespräch bedauernd. »Nur dass hier beim LKA ziemlich viel unternommen wurde. Aber irgendwie werden die Stuttgarter Kollegen das Gefühl nicht los, dass uns die spanischen Behörden nicht alles erzählt haben, dass sie Teile ihrer Kenntnisse für sich behalten haben. Das LKA hat es dann sogar über das Bundeskriminalamt in Wiesbaden noch einmal versucht, ist aber auch gegen eine Mauer des Schweigens gelaufen. Irgendein BKA-Beamter meinte, da müsse irgendjemand einen Typ sitzen haben, der das Ganze blockiere.«

Diese Nachricht war nicht gerade das, was Ludwig erwartet hatte, doch damit wusste er nun, dass er sich bei seinen Nachforschungen auf keinen Fall an die spanischen Behörden wenden durfte. Wenn dort ein Maulwurf saß, würden seine Ermittlungen a priori torpediert werden.

Und dann hatte Gerlinde für Ludwig noch eine Überraschung parat:

»Ich werde in ein paar Tagen nach Ravensburg versetzt und übernehme dort ein Kommissariat. Es ist aber noch nicht offiziell.«

»Super«, meinte Ludwig, »dann gratuliere ich dir jetzt mal ganz inoffiziell. Hast du absolut verdient. Gute Arbeit wird eben doch belohnt.«

»Na ja, so ganz unbeteiligt bist du ja nicht an diesem Erfolg«, meinte Gerlinde und spielte auf die Fälle an, bei denen Ludwig in Biberach ein beträchtliches Quantum zur Aufklärung beigetragen hatte.

Danach setzte sich Ludwig wieder in die Eisenbahn und fuhr nach Stuttgart.

Er nahm sein Smartphone und rief Gernot Heubl, den forensischen Psychiater an, der Teil seines Teams in Wien gewesen war und jetzt bei Ludwigs Jugendfreundin Gabi in Biberach lebte.

»Servus Gernot.«

»Servus Wiggerl, bist no in Amerika?«

»Na«, sagte Ludwig. »I bin grad von Biberach mit der Bahn in Richtung Stuttgart unterwegs. I hätt euch gern noch besucht, musste mich aber beeilen, dass ich den Zug noch erwische.«

»Nimmst jetzt scho Fälle in Stuttgart an, du Narr?«, fragte Dr. Gernot Heubl etwas erstaunt.

Ludwig musste grinsen. Das war typisch Gernot.

»Na no net amol in Stuttgart. Es geht noch viel weiter weg. Ich fliege nach Gran Canaria und muss mich dort um einen verschollenen Schmuckhändler aus Ravensburg kümmern.«

»Ein Irrer. Und du glaubst, die warten do auf Ludwig Hirschberger, einen längst pensionierten Fallanalytiker aus Wien. No, die san arm dran!«

»Na, i hab den Auftrag von der Schwester des Schmuckhändlers aus Ravensburg bekommen. Deshalb. Ich melde mich, sobald ich wieder zurück bin. Und grüß mir die Gabi schön.«

»Die grüßt dich au schön, du Irrsinniger. Baba und Servus.«

Eine gute Stunde später erreichte Ludwig die Landeshauptstadt von Baden-Württemberg. Hier in der Nähe hatte er sich die ersten Sporen als Polizist verdient.

Mit der S-Bahn ging’s zum Flughafen, wo er erst nach 22 Uhr eintraf. Da er noch etwas aß, konnte er nicht besonders gut schlafen.

Nach einer sehr kurzen Nacht in einem Flughafenhotel bestieg Ludwig die knallgelbe Maschine der Tuifly. Da die Sicht nicht besonders gut war, zog er es vor, den versäumten Schlaf nachzuholen und träumte von seinen früheren Flügen.

Das Fliegen war etwas sehr Gewöhnliches geworden. Ein Transportmittel, um von A nach B zu kommen, wie Bus und Bahn. Er erinnerte sich daran, als er in den 80er- und 90er-Jahren hin und wieder im Auftrag seines Ministeriums in befreundete Länder fliegen musste, um den gerade dort herrschenden Regierungen – Ludwig nannte sie Regimes – seine Analysekenntnisse zu vermitteln. Fliegen hatte seinerzeit noch etwas Elitäres an sich. Da flog man noch in den eleganten Douglas DC 9, hörte gebannt zu, wenn der Kapitän die Route erläuterte und sich meldete, wenn es irgendwo eine Sehenswürdigkeit zu bestaunen gab, oder er die Passagiere informierte, bevor er die Klappen ausfuhr, damit sie sich nicht ängstigten. Die Piloten waren ausschließlich Männer, das Personal in der Kabine bestand nur aus Frauen. Die Fluggäste, auch meistens männlich, erschienen durchweg im Anzug mit weißem, frisch gebügeltem Hemd und Krawatte. Schwarze Lackschuhe mit genagelten Ledersohlen waren damals noch in großer Mode. Meistens blätterten diese Herren während des Fluges wichtig in irgendwelchen Akten. Ein Laptop war damals noch unbekannt. Nachdem die Sitzplätze eingenommen waren, kam eine freundliche Stewardess und fragte, ob man eine Zeitung haben wolle.

Der Service der Austrian Airlines, der AUA, war in dieser Zeit sprichwörtlich. Als ganz besonderes Highlight hatte Ludwig einmal einen Flug nach Bagdad erlebt: Er durfte auf einem Notsitz im Cockpit mitfliegen, weil ein Freund von ihm auf dieser Maschine Co-Pilot war. Seinerzeit stand die Cockpit-Tür noch offen und Ludwig hatte so den Freund erkennen können. Heute flog dieser als Chefpilot auf dem Airbus A 320 und der Service bei der AUA war auch nicht mehr besser als auf einem anderen Flieger.

Ludwig wachte noch einmal kurz auf, als es über die Costa de la Luz hinweg auf den Atlantik hinausging.

Am Flughafen von Gran Canaria, den er schon kurz nach 9 Uhr Ortszeit in der Frühe erreicht hatte, nahm sich Ludwig einen Leihwagen. Angesichts des schönen Wetters war er geneigt, sich ein Cabrio zu mieten. Doch es war ihm zu teuer. Schließlich war er nicht zum Vergnügen auf diese Insel gekommen. Also mietete er sich ein Fahrzeug der günstigsten Kategorie und bekam einen kleinen Ford. Der Flug hatte gut vier Stunden gedauert. Als Erstes stellte Ludwig seine Uhr um eine Stunde zurück. Er stellte die genaue Anschrift im Navi ein und wunderte sich, dass er auf der Insel eine Autobahn vorfand, die ihn direkt bis nach Taurito führte. Währenddessen stiegen die Temperaturen auf sommerliche 25 Grad. Und das im Januar. Kein Wunder, dass so viele Menschen hierher wollten und ein Sonnenanbeter wie Samuel Finger hier seine Winter verbrachte.

Die Autobahn führte durch eine karge Landschaft, vorbei an einer ganzen Armada von Windrädern, ehe er den Süden passierte, von wo aus er die Touristenorte sehen konnte. Kurze Zeit später erblickte Ludwig sogar die berühmten Dünen von Maspalomas und den Faro, den Leuchtturm. Die Landschaft wurde immer karger, je weiter er in Richtung Taurito fuhr. Die künstlich angelegten Grünflächen der Golfplätze wirkten wie Fremdkörper in der vulkanischen Felslandschaft. Plötzlich entdeckte er – was für ein Kontrast – ein fruchtbares Tal mit Bananenstauden. Arguineguin hieß das Städtchen, ein ziemlich unaussprechlicher Name. Weiter ging es durch viele Tunnels, vorbei an Puerto Rico und danach kam auch schon die Ausfahrt Taurito.

Die Anlage fand Ludwig auf Anhieb. Judith Finger-Pascher hatte ihm erklärt, wie er von der Autobahnabfahrt dorthin kommen würde. Und es handelte sich tatsächlich nur um einen Katzensprung. Gerade so weit, dass man nicht mehr vom Lärm der Autobahn belästigt wurde.

Das Appartementhaus lag direkt an einem Bergrücken. Die einzelnen Appartements waren schräg nach hinten treppenartig in den Fels geschlagen. Die Bauweise passte sich dem Fels an, in den die Anlage gebaut worden war. So kam es, dass die Appartements nicht alle auf einer Ebene lagen, sondern teilweise ein halbes Stockwerk versetzt aneinandergrenzten.

Taurito war eine kleine und überschaubare Ortschaft. Jedoch kein Ort im üblichen Sinn mit einer lebendigen Gemeinschaft von Einheimischen, denn es gab hier nur Hotels und ein paar kleine Geschäfte sowie eine riesige Badelandschaft.