Mord am Schützensamstag - Uli Herzog - E-Book

Mord am Schützensamstag E-Book

Uli Herzog

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Beschreibung

Es herrscht heller Aufruhr in Biberach. Ausgerechnet am Schützenfest, dem wichtigsten Ereignis für die kleine Stadt in Oberschwaben, wird der bekannte Architekt Robert Maurer ermordet. Zunächst scheint alles äußerst mysteriös. Doch die ermittelnde Kommissarin glaubt sehr schnell einen Täter gefunden zu haben: Ludwig Hirschberger. Er ist ein Schulfreund des Opfers. Pikanterweise selbst Kriminalbeamter, der in Wien als Profiler arbeitet. Auch LKA und BKA schalten sich in die Ermittlungen ein. Denn der Täter bediente sich einer Mordmethode, die nur die CIA, der Mossad und diejenigen, die vom KGB übrig geblieben sind, beherrschen. Dennoch gelingt es nicht, den Fall zu lösen. Der frühere Schulfreund des Opfers, der Kriminaler aus Wien, gibt jedoch nicht auf und ermittelt im Geheimen weiter. Nach zehn Jahren findet er den Mörder von Robert Maurer – die Lösung ist verblüffend.

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Seitenzahl: 334

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Über dieses Buch

Voller Vorfreunde macht sich Ludwig Hirschberger, Fall-Analytiker bei der Wiener Kriminalpolizei, auf in seine Geburtsstadt Biberach, einer kleinen, aber wohlhabenden Stadt in Oberschwaben. Die Stadt ist klein, aber das Fest, das er dort besucht, ist groß. Das alljährlich stattfindende Biberacher Schützenfest gehört zu den größten Festen in Süddeutschland. Wichtiger Bestandteil sind die Jahrgänger-Treffen für runde Jahrgänge ab 40 und halbrunde ab 65. Deshalb ist es für Ludwig ein Muss. Anfang des Jahres 50 Jahre alt geworden freut er sich, alte Freunde aus Kindheit und Jugend wieder zu treffen. Doch während der Feier wird der über die Grenzen der Stadt hinaus bekannte Architekt Robert Maurer ermordet. Ludwig selbst gerät ins Fadenkreuz der ermittelnden Kommissarin – und das nicht ohne Grund. Als sich auch noch eine zynische Zeitungsreporterin auf ihn einschießt, wird die Lage prekär.

Erst als LKA und BKA eingreifen, hellt sich die Sache für Ludwig auf: Die Beamten sind überzeugt, dass das Mordopfer durch einen Geheimdienst gemeuchelt wurde, denn die Tötungsart beherrschen nur der CIA, der Mossad und diejenigen, die vom KGB übrig geblieben sind. Doch auch die Geheimdienstexperten können den Mordfall nicht lösen. Er droht, bei den Akten zu landen. Nur Ludwig Hirschberger ermittelt in seinem stillen Kämmerlein in Wien weiter. Er ist von Anfang an überzeugt, dass es sich nicht um eine Geheimdiensttat handelt und führt, allerdings erst zehn Jahre später, den Fall zu einer für alle Beteiligten überraschenden Lösung.

Uli Herzog

stammt aus Biberach und hat als Autor seinen Vornamen Hanns-Ulrich verkürzt. Jahrzehntelang arbeitete er für eine international renommierte Werbeagentur, zunächst als Junior-Kontakter in Ravensburg, später als Geschäftsführer der Niederlassung in Wien. 2001 kehrte er nach Oberschwaben zurück und war bis zu seiner Pensionierung 2012 für einen Zeitungsverlag in Friedrichshafen, Biberach und Ravensburg tätig. »Mord am Schützensamstag« ist sein erster Krimi.

Uli Herzog

Mord am Schützensamstag

Ein Schwaben-Krimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden (Ausnahmen: siehe Anmerkungen).Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2015Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.

Titelbild: Thorsten Müller-SalzsiederUmschlaggestaltung: Oertel + Spörer Verlag, Bettina MehmedbegovićSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-88627-685-1

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Für meine Tochter Mimiweil sie ihrem Namen alle Ehre machtund tatsächlich nie ohne Krimi ins Bett geht

Die Jahrgänger-Feier

Na – na na na na – na na na na na na na

You know, I feel alright. I feel pretty good y’all …

Die Stimme von Wilson Pickett überschlug sich. Sein Hit »Land of 1000 dances« aus dem Jahr 1966 hallte aus den Lautsprechern. Ludwig trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad mit.

Die Westautobahn A1 zwischen Wien und Salzburg war an diesem frühsommerlichen Samstagvormittag wie erwartet stark befahren und er stand häufig im Stau.

»Hier ist der Ö3-Verkehrsfunk: Auf der A1, der Westautobahn in Fahrtrichtung Salzburg, zwischen Sattledt und der Ausfahrt Mondsee Stop-and-go-Verkehr.«

Verdammt, das wird mich eine Menge Zeit kosten, dachte sich Ludwig. So schwierig hatte er sich die Fahrt nach Biberach nicht vorgestellt. Er nahm einen Umweg in Kauf, um über die Inntal-Autobahn nach Passau und von dort aus über Deggendorf nach München zu fahren.

What you want baby I got.What you need you know I gotit

Zwischenzeitlich hatte der Kassetten-Rekorder auf Aretha Franklins Superhit »Respect« gewechselt. Ludwig stimmte sich mit diesen Hits auf die Zeit ein, die er mit seinen Biberacher Freunden verbracht hatte. Viele von ihnen hatte er seit den 68er-Jahren nicht mehr gesehen. Überhaupt: Der letzte Besuch in seiner Heimatstadt lag mindestens drei Jahre zurück. Eigentlich ein Grund, sich zu schämen.

Yeah baby, when you get home now – R-E-S-P-E-C-T

Ludwig Hirschberger wechselte auf die Inntal-Autobahn und fuhr Passau entgegen. Die erste Stadt in der »Piefkei«, wie seine Kollegen zu frotzeln pflegten. Piefkei leitete sich von »Piefke« ab, jenem Schimpfwort für die Deutschen, das in Wien mit großer Vorliebe benutzt wurde. Piefke, das wusste Ludwig ganz genau, war auch sein Spitzname im gesamten Kommissariat des II. Wiener Gemeindebezirks, der Leopoldstadt, in dem er seinen Dienst versah. Wobei ihn dort kaum einer für einen richtigen Piefke hielt – man nannte ihn nur so, weil er aus Deutschland stammte.

She said: ›There is no reason. And the truth is plain to see.‹

Die Musik war zwischendurch etwas ruhiger geworden, als Procol Harums Ballade »A Whiter Shade of Pale« aus den Lautsprechern tönte. Diese Musik erinnerte ihn immer an seine heftige Romanze mit Gabi, die ihm beinahe das Herz gebrochen hatte. Aber das war 1968 und über 30 Jahre her. Ob sie wohl auch kommen würde?

That her face, at first just ghostly – turned a whiter shade of pale …

Klar würde sie kommen, die meisten würden kommen. Ein 50er-Fest in Biberach, das war eine Pflichtveranstaltung! Dort nicht hinzugehen? Ein No-Go!

Poor boy you must knowowowow! Poor boy the life is hard to go …

Poor boy, poor boy you might say yeah, yeah, yeah, yeah – life is very hard to stay …

Die Kassette mit dem Namen »Wild Mix« machte ihrem Namen alle Ehre.

»Schützenfest ist, wann der Papa sentimental wird«, pflegte sein zwischenzeitlich 22-jähriger Sohn Marco zu sagen.

»Dann singt er a Kirchenliadl, legt die Hand aufs Herz und hot Tränen in die Augn, der große Herr Kiberer«, ergänzte er feixend.

»Loß eahm schiassn auf seinem Schützenfest, dees ist sein in tiefster Seele verhaftetes, nie vergehendes Heimweh.«

Auch seine Frau Lea beteiligte sich gerne an den ironischen Attacken ihres Sohnes. Klar, Marco war wie seine Mutter ein waschechter »Weaner«.

»Ihr habt doch überhaupt keine Ahnung. Nur wer ein waschechter Biberacher ist, wird verstehen können, was ein Jahrgänger-Treffen beim Schützenfest bedeutet. Und mit schiassn hot des Fest nix zu tun. Es ist kein Fest, bei dem es ums Schießen geht; vielmehr ist es ein Heimatfest mit einer uralten Tradition. Vermutlich ist es als Dank- und Schutzfest nach Beendigung der Pest im 17. Jahrhundert entstanden.«

Um die Wichtigkeit seiner Aussage zu unterstreichen, geriet Ludwig ins Hochdeutsche. Und dann sagte er, was er in solchen Situationen immer zu sagen pflegte:

»Tja, nach einem solchen Moloch von Großstadt hier kannst auch gar kein Heimweh kriegen. Außerdem hab ich auch nur zweimal im Jahr Heimweh: an der Schütza und an Heiligabend, wenn man in Biberach ’s Chrischtkendle raalot.«

»Komische Menschen, diese Schwaben«, lachte Marco.

»Bist doch selber ein halber, wie der Mozart!«

Womit Ludwig wieder einmal das letzte Wort hatte.

There is a house in New Orleans – they call the rising sun …

Eric Burdon und die Animals drangen gerade aus den Boxen, als Ludwig die deutsch-österreichische Grenze bei Passau passierte.

And it’s been the ruin of many a poor boy …

Er wechselte kurz auf das Radio und wegen der Verkehrsnachrichten auf den Sender Bayern 3, um danach sofort wieder auf Kassette umzuschalten.

Das Überqueren der Grenze hatte einen unschätzbaren Vorteil: Ab sofort konnte er über den Polizeifunk nicht mehr erreicht werden. Hier war Deutschland, hier konnte man ihn nicht mehr zurückholen, mochte der Fall auch noch so dringend sein. Ab jetzt war Urlaub angesagt. Urlaub von Psychopathen, Entführern und Erpressern. Urlaub von der schwarzen Seite der Großstadt an der schönen blauen Donau. Blau, fand Ludwig, sah die Donau sowieso nirgends aus, weder in seiner oberschwäbischen Heimat noch in Wien, wo er seit über 25 Jahren lebte.

Völlig ahnungslos, welche Katastrophe in seiner Geburtsstadt auf ihn wartete, fuhr er weiter in Richtung Westen.

Nach dem Abitur hatte Ludwig die Polizeischule in seiner Heimatstadt besucht. Die Kaserne befand sich auf dem Lindele, der höchsten Erhebung Biberachs. Schon als Teenager war für Ludwig klar: Er würde Polizist werden.

Ludwig hing seinen Erinnerungen nach und landete in seiner Kinderzeit, in den 50er-Jahren. Damals waren die Schutzmänner Biberachs für ihn moderne Winnetous und Old Shatterhands. Außerdem fand er es unheimlich toll, wenn die Polizei in ihrem dunkelgrünen VW Käfer mit Blaulicht und Martinshorn durch die Stadt raste. Und wie jeder Bub in seinem Alter sah er sich im Fernsehen die Kultserie »Isar 12« an, die den Namen einer Münchner Polizeistreife trug.

Einmal wurde er erwischt, als er bei seinem Freund Werner auf dem Gepäckständer des Fahrrads saß und mit seiner Hohner Melodica das Martinshorn nachspielte. Mehr als »In the mood« und »Tom Dooley« konnte er auf seiner Melodica aber nicht spielen.

Ob Werner wohl in diesem Jahr zur Jahrgänger-Feier kommen würde? Bei der 40er-Feier hatte sein Jugendfreund gefehlt. Depressiv sei er, hatte man ihm vor zehn Jahren erzählt.

So don’t worry, cause I’m coming – I’m a soul man …

Das waren unverkennbar Sam and Dave.

Seine Ausbildung konnte Ludwig, wie gesagt, in seiner Heimatstadt Biberach absolvieren. Danach versah er als junger Polizist seinen Dienst in Stuttgart und Murrhardt, einer hübschen klitzekleinen Stadt im Schwäbischen Wald, ehe er auf die Polizeiakademie nach München wechselte.

Give you hope, and be your only boyfriend … I’m a soul man …

Dort lernte er Lea kennen, die als Gast der österreichischen Polizei an dem einjährigen Seminar teilnahm.

Sittin’ on the dock of the bay …

Otis Redding, der bei einem Flugzeugabsturz so tragisch ums Leben gekommene »King of Soul«, war der nächste Interpret.

München, die Stadt, in der er seine Lea kennen- und lieben lernte. Lea, die Starke. Lea, die Eigenwillige und manchmal auch Eigensinnige, die lieber die Liebe ihres Lebens hergegeben hätte, als nach Schwaben zu ziehen. Von wegen Heimweh, pflegte Ludwig ihr immer vorzuhalten.

Watching the ships roll in / and then I watch ’em roll away again, yeah / Sittin’ on the dock …

Also folgte er Lea in die große Stadt an der Donau und gründete mit ihr eine Familie.

Look like nothing’s gonna change …

Beruflich ging’s mit seiner Karriere bergauf. Seit jeher besaß Ludwig ein besonders gutes Einfühlungsvermögen. Schon in der Schule, am Wieland-Gymnasium, überraschte er seine Lehrer, wenn er erstaunlich präzise die Beweggründe für die Untaten der Schüler – und auch die der Lehrer – darlegte.

»Hirschberger, du musst mal Pfarrer werden, dann kannst du den Leuten erzählen, was der liebe Gott gerade denkt.« Ludwig erinnerte sich noch gut an diese unverkennbar ironisch gemeinten Worte seines Klassenlehrers Dr. Hofelder.

»Sie können sich Ihren sarkastischen Neid sparen, Sie werden das nie können«, lautete damals seine recht selbstbewusste, fast überhebliche Antwort.

Manchen war diese Fähigkeit unheimlich, vielleicht bis heute. Ilse Sawazky, die Sexbombe der Klasse, kam Ludwig in den Sinn. Sie hielt ihn damals für einen Hexer und mied jeden Kontakt mit Ludwig, was den allerdings nicht sonderlich grämte, für ihn war Ilse nur entsetzlich dumm.

Klick. Die Kassette sprang aus dem Gerät heraus, Ludwig wechselte sie.

Hey Mister Tambourine Man, play a song for me …

Dieses Lied erinnerte ihn an Elli Pfundstein, seinen unnahbaren Jugendschwarm, als er 14 war. Sie würde er sicher nicht sehen, denn sie war seiner Erinnerung nach ein Jahr jünger und somit nicht bei der Jahrgänger-Feier dabei. Schade zwar, aber er würde genügend andere »Damen seines Herzens« aus den wilden 68ern wiedersehen.

In the jingle jangle morning / I’ll come following you …

Eines Tages – Ludwigs Gedanken sprangen zurück in seinen beruflichen Werdegang – bot ihm sein Chef Magister Bruno Sveda an, an einem der ersten Profiler-Kurse teilzunehmen. Er erwies sich als begabt. Unvergesslich der Moment, als ihm ein weiteres Seminar in den USA im National Center for the Analysis of Violent Crime genehmigt wurde.

Black is black, I won’t my baby back …

Dort beschäftigten sie sich mit seltsamen Verhaltensmustern, die für die Kriminalpolizei nicht nachvollziehbar waren. Ludwig lernte schnell.

Aber jetzt wollte er Beruf und Polizei für ein paar Tage hinter sich lassen. Er freute sich auf diese 50er-Feier, freute sich darauf, seine alte Clique zu sehen und sich wieder einmal mit ihnen auszutauschen.

Von ein paar seiner Kumpel wusste Ludwig, was sie beruflich machten. Da war zum Beispiel Richard Koch aus Warthausen, Gitarrist der Biberacher Beat-Band »Henrys crazy boys«. Dieser Band hätte Ludwig damals als Heranwachsender ach so gerne auch angehört. Allein, es fehlte ihm am Talent. Tom Salerner, Schlagzeuger der Band, versuchte es einmal mit ihm. Als Sänger. Aber schon nach ein paar Minuten gab er entnervt auf. Nicht einmal das anspruchslose »Poor Boy« von den Lords bekam er hin. So blieb Ludwig nur die Rolle des Fans, abgesehen von einigen organisatorischen Tätigkeiten.

Den Gitarristen Richard Koch sah Ludwig dann im Fernsehen wieder – als Fernsehkorrespondent in Kanada! Zuvor hatte er ihn schon oft auf Bayern 3 gehört mit Berichten aus Quebec, aber dass es sich hierbei um seinen Uralt-Kumpel Richard handelte, realisierte Ludwig erst, als er ihn leibhaftig über den Bildschirm flimmern sah.

Aber all dies passte zu Richard. Ihm war die Welt in Oberschwaben immer schon zu klein, zu beengt gewesen. Er wollte hinaus in die große weite Welt. Er war ein Abenteurer, jede Herausforderung suchend und vor keiner Aufgabe kapitulierend.

Lothar Sattler, hatte er gehört, sei ein ziemlich einflussreicher Kommunalpolitiker geworden. Bobby Maurer hingegen war ein bekannter Architekt. Ludwig traf sich ein paar Mal mit ihm in Wien, als er dort für die Uno in der Uno-City Mitte der 80er-Jahre ein Gebäude errichtete.

Bobby Maurer war schon lange mit Gabi verheiratet, Ludwigs erster, wirklich großer Jugendliebe.

Eines Tages trennte sich Gabi von Ludwig. Ein Jahr darauf war sie mit Bobby zusammen, den sie später heiratete. Die Ehe blieb allerdings kinderlos. Warum sich Gabi damals von ihm getrennt hatte, blieb ihm bis zum heutigen Tage verborgen. Rund 30 Jahre waren vergangen und Ludwig fragte sich immer noch nach dem Warum und Weshalb. Auch wenn dies nach dieser langen Zeit und all ihren Turbulenzen natürlich an Bedeutung verloren hatte.

Doch er erinnerte sich noch ganz genau: Sie nahmen an einer Demonstration gegen Kurt-Georg Kiesinger teil. Auf dem Biberacher Marktplatz. Kiesinger hatte zuvor als Bundeskanzler der Großen Koalition die Notstandsgesetze mit großer Gewalt und der satten Mehrheit der beiden größten Fraktionen im Bundestag durchgesetzt.

Kiesinger hielt einen Auftritt in dieser Stadt wohl für ein Heimspiel. Denn im tiefschwarzen Oberschwaben lag der schwärzeste Wahlkreis Deutschlands: Biberach, eine CDU-Hochburg.

Dass sich in Biberach eine ultralinke Gruppe gebildet hatte, davon ahnte, davon wusste der Kanzler nichts und hätte es wohl für einen Scherz gehalten. »Venceremos« nannte sie sich. Leitfiguren waren »Eckes« Leupolz und seine Freundin. Der entscheidende politische Agitator im Hintergrund war allerdings ein Lehrer des Wieland-Gymnasiums.

Diese Venceremos-Gruppe machte an diesem Tag die Wahlkampfveranstaltung für den Bundeskanzler zur Hölle. Ständig sangen sie:

»Schlaf Biberach schlaf, der Kanzler zählt die Schaf.«

Heutzutage, musste sich Ludwig eingestehen, hätte diese verhältnismäßig kleine Gruppe keine Chance, sich auf dem Marktplatz gegen einen Bundeskanzler durchzusetzen. Die Beschallung würde sie um ein Vielfaches übertönen. Aber damals schrieb man das Jahr 1968 und die schalltechnischen Möglichkeiten steckten noch in den Kinderschuhen.

So kam es, dass die herbeigerufene Polizei die eifrigen Sänger abführte und vorläufig festnahm. Auch Ludwig und Gabi. Natürlich gab es keine Handhabe, die Demonstranten länger festzuhalten, sodass Ludwig seine Gabi am späteren Nachmittag nach Hause begleiten konnte. Sie wohnte in der Nähe des Stadions und des Wieland-Gymnasiums, in dem sie beide im selben Jahr ihr Abitur machten.

Es war das letzte Mal, dass er mit Gabi sprechen durfte. Vom nächsten Morgen an kannte sie Ludwig nicht mehr. Er war wie vor den Kopf gestoßen und litt. Vielleicht bekam er ja jetzt in diesen Tagen Aufschluss über das Warum und Wieso?

Bobby würde bei der Feier natürlich dabei sein, Gabi sicher auch. Obwohl, war sie nicht ein Jahr jünger? Bobby schwieg immer beharrlich, wenn Ludwig ihn nach ihr fragte. Auch noch, als Ludwig längst verheiratet und sein Sohn schon auf der Welt war.

Jene Demonstration war die einzige Episode, die Ludwig als Aktivisten der berühmten 68er ausweisen sollte. Im Gegensatz zu manch einem seiner Freunde.

Als Ludwig gegen 14 Uhr endlich in Biberach ankam, stellte er sein Auto in der Tiefgarage bei der Stadthalle ab und ging schnurstracks in sein gebuchtes Hotel. Es lag strategisch äußerst geschickt, sodass Ludwig zu Fuß alles erreichen konnte. Von der Stadthalle, in der das 50er-Fest heute Abend stattfand, war es nur wenige 100 Meter entfernt.

Er legte sich für eine Stunde aufs Bett, schließlich waren die weit über 500 Kilometer nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Immerhin wollte er ja fit sein an diesem Abend, wollte so viel wie möglich mitnehmen.

Alle Jahrgänger des Jahrgangs 1949 sollten sich gegen 16 Uhr auf dem Viehmarktplatz treffen. Erwartungsfroh, aber doch mit etwas gemischten Gefühlen ging er zum Treffpunkt. Doch schon nach wenigen Augenblicken war dieses mulmige Gefühl verschwunden. Überall gab es ein großes Hallo. Sofort schlossen sich alle in den Kreisen zusammen, die sie früher schon gebildet hatten. Es war schon etwas witzig. Sofort erkannte er Lothar Sattler, der – natürlich – den Organisator für seinen Jahrgang gab.

Ludwig meldete sich an, bekam einen Button mit seinem Namen und machte sich auf den Weg zu seinen alten Kumpeln. Überraschenderweise war Elli Pfundstein die erste, die er traf.

»Sag mal, bist du nicht Jahrgang 50?«, fragte Ludwig.

»Danke für das Blümchen, aber wir sind schon derselbe Jahrgang. Das solltest du doch wissen. Wir sind immer in dieselbe Klasse gegangen und sind auch miteinander konfirmiert worden«, antwortete Elli.

»Klar, du hast recht, aber ich neige nun mal dazu, besonders attraktive Frauen etwas jünger zu schätzen. Ich glaube auch nicht, dass meine Frau schon so alt ist, wie sie ist.«

»Du alter Charmeur, immer noch derselbe Süßholzraspler.«

Elli Pfundstein lachte.

»Hast du deinen Mädchennamen behalten oder bist du allein geblieben?«

Diese Frage war Ludwig sofort peinlich.

»Ich war verheiratet, da hieß ich anders. Aber seit acht Jahren bin ich geschieden und habe meinen Mädchennamen wieder angenommen. Bevor du mich weiterfragst, mein Mann hatte eine Jüngere und hat mich verlassen.«

So war sie, das war typisch Elli. Sie hatte eine entwaffnende Offenheit an sich und offenbar nichts davon verloren.

»So ein Vollidiot. So eine Frau wie dich hätte ich nie verlassen.«

Ludwig bemühte sich, empört zu wirken.

»Jetzt trieft’s aber gleich«, lästerte Elli, »ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei der Polizei in Wien nicht auch die eine oder andere Kollegin gegeben hat, die ihrem Kollegen Ludwig schöne Augen gemacht hat. Wer beruflich zwischen Hellseher und Hexenmeister angesiedelt ist, hat doch Chancen …«

»Na ja, du bist ja gut informiert«, schmunzelte Ludwig. »Heißt übrigens neudeutsch und ganz nüchtern ›Fall-Analytiker‹.«

»Typisch Lude, immer ein bisschen Understatement, nur ja nicht angeben. Und, gibt es jetzt tolle Frauen bei der Polizei in Wien?«

»Klar, es gab und gibt hübsche Kolleginnen bei der Polizei in Wien, eine davon habe ich sogar geheiratet. Ich habe einen Sohn und bin sehr glücklich. Seither sind Kolleginnen für mich tabu«, meinte Ludwig zu Elli.

In diesem Augenblick kam Werner Schutz hinzu. Werner war in der Jugend ein richtiger Abenteurer gewesen. Für Frauen hatte es da zunächst einmal keinen Platz gegeben, sodass ihm Elli Pfundstein während seiner Jugend ziemlich egal gewesen war. Dennoch war das Hallo jetzt sehr groß, immerhin hatten sich die Klassenkameraden seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen.

Nach dem Austausch der üblichen Fragen meinte Elli:

»Du bist ganz sicher Junggeselle geblieben, Werner, stimmt’s?«

»Oh nein«, antwortete dieser, »ich bin seit 15 Jahren verheiratet und habe drei Kinder, 14, 13 und elf Jahre alt.«

Werner Schutz erzählte es richtig stolz.

»Und wie bist du zu deiner Frau gekommen?«, fragte Elli neugierig.

»Na ja, eigentlich ist eher sie zu mir gekommen, wenn ich ehrlich bin. Ich war Lehrer im Berufsschulzentrum in Balingen und sie war Referendarin bei mir. Ich hätte es bestimmt beim Beruflichen gelassen, aber Martina hat nicht mehr lockergelassen und so sind wir ein Paar geworden.«

»Potz Blitz, eine bildsaubere Familie hat dich da gefunden«, lachte Elli.

In diesem Moment tauchte im Hintergrund Bobby Maurer auf.

Und obwohl es schon eine kleine Ewigkeit her war, dass Bobby mit Gabi verheiratet war, gab es Ludwig immer noch einen kleinen Stich ins Herz, als er seine Jugendliebe Gabi sah. Außerdem erschrak er. Gabi sah mitgenommen aus. War sie krank? Hatte sie Probleme? Sie wirkte verhärmt. Etwas quälte sie.

Und vor allem: Noch immer ignorierte sie Ludwig. Was immer es damals gewesen sein mochte, das sie dazu bewegt hatte, ihre Beziehung zu beenden, sie hatte Ludwig bis zum heutigen Tage nicht verziehen. Man musste ihr wirklich Schauerliches über ihn erzählt haben damals, dass sie ihm bis zum heutigen Tage nicht vergeben konnte.

Sie hatte ihre Eltern mitgebracht. Im Gegensatz zu ihrer Tochter begrüßten sie ihn. Ihre Tochter Gabi entfernte sich währenddessen und sprach mit Elli Pfundstein und Werner Schutz. Ludwig mochte Gabis Eltern. Und auch sie freuten sich anscheinend, ihn nach so langer Zeit zu sehen.

Die Erinnerung an damals wurde wieder lebendig, Ludwig hing ihr nach.

Als er mit Gabi zusammen war, verbrachte er viel Zeit bei Hutters. Besonders die Süßspeisen Elga Hutters begeisterten ihn. Powidltatschkerln, Apfelstrudel und insbesondere Zwetschkenröster. Köstlichkeiten, die Ludwig später in Wien immer wieder begegneten und an seiner Figur zumindest mitschuldig waren.

Ludwig hatte für Herwig Hutter immer viel Bewunderung übrig. Für den großartigen Sportler und begnadeten Tischtennis-Spieler, der dem nicht unbegabten Ludwig nie eine Chance ließ. Der ihn bei Dauerläufen immer schlecht aussehen ließ, obwohl Hutter damals schon Mitte 40 gewesen sein musste. Klein und drahtig, dabei unglaublich muskulös. Herwig Hutter war Sprinter, Hürdenläufer und Marathonläufer in einer Person. Ein echter Ausdauersportler mit blitzschnellen Reaktionen. Unter dem Training von Gabis Vater verbesserte Ludwig sein Tischtennisspiel derart, dass er im Biberacher Freibad Punkte sammelte, weil er nicht mehr zu schlagen war.

Ludwig und Gabi waren ein Traumpaar. Nur übernachten durfte Ludwig bei den Hutters nie. Gabi dagegen nächtigte sehr oft bei ihm zu Hause, seine Eltern hatten überhaupt kein Problem damit, die bildhübsche und intelligente Gabi bei sich zu Hause aufzunehmen. Im Hause Hirschberger herrschte ein sehr liberales Klima. Herwig Hutter war für ihn ein sportliches Vorbild, aber übernachten in seinem Hause war tabu. Auch für Bobby Maurer, Ludwigs Nachfolger bei Gabi. Bis zu ihrer Hochzeit durfte er nie über Nacht im Hause Hutter bleiben.

Damals, am Tag nach besagter Kiesinger-Demo, wollte Ludwig Gabi besuchen. Aber Herwig Hutter verweigerte ihm strikt den Zugang zum Haus.

»Gabi will dich nicht mehr sehen«, sagte er schroff.

»Das hätte ich aber gerne selber von ihr gehört«, entgegnete Ludwig.

Zu lange war er mit Gabi zusammen, als dass er sich so abspeisen ließ. Zu intensiv, zu innig war ihre Beziehung. Zudem war nichts Außergewöhnliches vorgefallen, was so einen Schritt rechtfertigte, zumindest war sich Ludwig keines Vorfalls bewusst.

»Nein geh, lass dich hier nie mehr blicken«, bekräftigte Gabis Vater.

»Aber ich möchte wenigstens wissen, warum?«

Der Mann, der Ludwig bis dahin immer freundlich und fast väterlich begegnet war, antwortete nur:

»Das weißt du ja wohl selbst am besten!«

Und dann schlug er die Türe zu.

Aus. Vorbei. Er durfte nicht mehr ins Haus der Hutters, das ihm zu einer zweiten Heimat geworden war. Als er Gabi am nächsten Tag sah, schaute sie einfach durch ihn hindurch. So, als ob er überhaupt nicht mehr existieren würde.

Ein Jahr später begann Gabi die Beziehung zu Bobby Maurer. Ludwig war damals schon im Polizeidienst und weg aus Biberach. Und ein weiteres Jahr später heirateten die beiden. Alle Freunde wurden eingeladen – nur Ludwig nicht.

Ludwig erfuhr nie, warum Gabi so plötzlich und unvermittelt mit ihm Schluss gemacht hatte und warum sie sich nie mehr mit ihm unterhalten wollte. Wenigstens sprachen die Hutters heute wieder mit Ludwig.

»Guten Tag, Ludwig, schön dich mal wiederzusehen, hast dich ja ziemlich verändert. Figürlich meine ich.«

Herwig Hutter deutete auf Ludwigs Bauch. Er selber war immer noch so drahtig wie damals. Und er erweckte nicht den Eindruck eines Mannes, der schon jenseits der 70 sein musste. Außer ein paar grauen Haaren an den Schläfen, ein paar Fältchen im Gesicht war dem Mann sein Alter nicht anzusehen. Einfach unglaublich, dachte sich Ludwig, der macht heute noch jedem 20-Jährigen was vor. Kein Gramm Fett, keine Erschlaffung irgendwo zu sehen, das war geradezu beneidenswert.

Auch Elga Hutter gab sich freundlich. Lediglich Gabi war ihm offensichtlich noch so böse, dass sie den Mann, den sie einmal geliebt hatte, nicht mehr kennen wollte. Das hinderte Ludwig aber nicht daran, sich mit ihren Eltern zu unterhalten, er war nicht nachtragend. Vielleicht ergab sich die Möglichkeit, doch noch die Gründe zu erfahren.

Ludwig fiel aber auf, dass es mit Herwig Hutters Gemütszustand nicht zum Allerbesten stand. Irgendwie wirkte er wütend. Er ließ sich zwar nichts anmerken, aber Ludwigs Bauchgefühl sagte ihm, dass dem älteren Herrn etwas nicht passte. Und zwar gewaltig. Hatte es etwas mit ihm zu tun? Missfiel ihm die Ignoranz seiner Tochter nach 30 Jahren? Ludwig hatte keine Ahnung, aber irgendeine Laus war Herwig Hutter über die Leber gelaufen.

Gabis Aussehen stimmte Ludwig nachdenklich. Aus dem fröhlichen Teenager war eine verhärmte Frau geworden. Blass wie eine Wand, mit dicken Tränensäcken unter den Augen wirkte sie wie eine Person, der man Schreckliches zugefügt hatte. Doch Ludwig stand es nicht zu, nach dem Zustand seiner Jugendliebe zu fragen.

»Wohnen Sie immer noch in der Memelstraße, Herr Hutter?«, fragte er ihren Vater.

»Nein, da wohnen wir schon lange nicht mehr. Wir wohnen gar nicht mehr in Biberach, wir sind schon 1984 weggezogen«, ließ Gabis Vater verlauten.

»Und wo wohnen Sie jetzt?«, hakte Ludwig nach.

»Das wirst du nicht kennen. Murrhardt, eine kleine Stadt im Schwäbischen Wald«, antwortete Hutter.

»Oh doch, Herr Hutter, ich kenne Murrhardt. Gut sogar. Ich habe dort 1973 meinen ersten Polizeidienst als normaler Wachtmeister absolviert. Es ist eine wunderschöne kleine Stadt«, schwärmte Ludwig.

»Die Tante von meiner Elga besitzt dort ein Häuschen. Als sie älter wurde, hat sie sich gewünscht, dass wir zu ihr ziehen. Mittlerweile leidet sie an Alzheimer. Deshalb haben wir sie in ein Pflegeheim nach Neu-Ulm gebracht.«

»Wieso nach Neu-Ulm?«, wollte Ludwig wissen.

»Na ja, eine Cousine von meiner Elga war dort im Pflegedienst beschäftigt. Die ist aber letztes Jahr an Krebs gestorben. Und wir finden in der Nähe von Murrhardt keinen Platz für die Tante. Es ist aber nicht so schlimm, die Tante fühlt sich in Neu- Ulm sehr wohl und außerdem erkennt sie uns gar nicht mehr.«

»Aber zum Schützenfest sind Sie natürlich wieder nach Biberach gekommen. Wie lange bleiben Sie denn?«, fragte Ludwig neugierig.

»Wir brechen gleich auf. Wir fahren zurück nach Murrhardt. Wir sehen uns nicht einmal mehr den Umzug an. Ich habe morgen zu Hause etwas zu tun. Und weil ich nicht mehr so gut sehe bei Nacht, muss ich zeitig losfahren, damit ich vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause bin. Meine Elga kann ja nicht Auto fahren.«

Damit verließen Hutters das Treffen der Jahrgänger. Ludwig fiel auf, dass sich die Hutters zwar von Gabi sehr herzlich verabschiedeten, aber Bobby kaum eines Blickes würdigten. Das war schon komisch und entsprach eigentlich nicht dem Naturell der Hutters. Und doch war es nicht abwegig. Schließlich hatte auch Ludwig, als er damals so unbarmherzig abgewimmelt worden war, den Mann von einer anderen Seite kennengelernt.

Jetzt begann der Jahrgänger-Umzug. Manche Teilnehmer wurden wie die Festochsen behängt. Die Anzahl der erhaltenen Präsente war der Gradmesser für die Popularität oder die Beliebtheit der einzelnen Personen. Ludwig, der keine Verwandten mehr in Biberach hatte, bekam nur einen »Umhänger«. Eine Dame, die er gar nicht erkannt hatte, hängte ihm eine Brezel mit einer Schützenwurst um. Er glaubte an eine Verwechslung, freute sich aber trotzdem über das Geschenk und außerdem musste er nun nicht mehr »kahl« durch die Stadt laufen.

Es war schlichtweg umwerfend. Zigtausende säumten die Straßen der Biberacher Altstadt. Die gesamte Innenstadt wirkte wie ein hoffnungslos überfülltes Fußballstadion. Und Ludwig atmete wieder den »Schützenduft« ein. Das ist genau die Stimmung, die nur Biberacher kennen, wenn es in ihrer Stadt wieder »schützelet«, freute er sich in seinem Innersten.

Er kannte zwar nur wenige von den Tausenden an Zuschauern, aber dennoch war er wieder mal »daheim« und fühlte sich glücklich. Schade, dass seine Lea und sein Marco nicht mitgefahren waren. Vielleicht hätten auch sie sich von diesem »Schützenvirus« anstecken lassen.

Ludwig genoss den Marsch durch die Stadt in vollen Zügen. Wie schön musste das erst für diejenigen sein, die die ganze Zeit hiergeblieben waren und die halbe Stadt kannten?

Erst kurz vor der Stadthalle löste sich die Zuschauermenge auf.. Hier wollten die 50er ihr rauschendes Fest feiern, hier würden sie Gedanken, Erlebnisse, freudige und weniger freudige Ereignisse austauschen und sich an die gemeinsame Schulzeit, die gemeinsame Jugend erinnern.

Ludwig hoffte inständig, dass es nicht zu einem Gockel-Treffen ausartete, bei dem jeder allen anderen beweisen musste, was für ein toller Hecht aus ihm geworden war oder welches Mädchen von damals den besten Chefarzt, den berühmtesten Rechtsanwalt oder den reichsten Industriellen geheiratet hatte.

Klar, dass sich in der Stadthalle genau jene Grüppchen bildeten, die in der Schule schon zusammengestanden waren. Die in Biberach Gebliebenen verhielten sich etwas anders: Sie bildeten zunächst eine eigene Gruppe, schließlich hatten sich unter ihnen neue Freundschaften entwickelt. Durch die »Fremden«, wie Ludwig inzwischen einer war, änderte sich die Situation aber bald. Man wollte sich auch mit den ehemaligen Biberachern unterhalten, mit ihnen längst Vergessenes oder Verdrängtes austauschen. Nur die sogenannten »Reingeschmeckten«, jene also, die erst nach der Schulzeit nach Biberach gekommen waren, wirkten ein bisschen isoliert, was aber absolut verständlich war.

Ilse Sawazky, die frühere Sexbombe, suchte sich noch ihr Grüppchen. Ihre Formen waren ausladender geworden, »rubensisch« hatte seine Frau Lea das mal genannt. Überraschenderweise kam sie sofort zu der Gruppe, in der sich Ludwig mit seiner alten Clique befand, obwohl Ilse Sawazky nie enger mit ihr in Berührung gekommen war. Sie wollte gleich einen Achtungserfolg landen und ging frontal Ludwig an:

»Na, du schiebst aber auch eine ordentliche Kugel vor dir her!«, sagte sie mit einem Lächeln zu Ludwig.

»Stimmt«, antwortete er, »und wenn ich mich genau hinter dich stellen würde, würden wir beide einen herrlichen gleichschenkligen Quader abgeben.«

Damit hatte Ludwig natürlich die Lacher auf seiner Seite.

Nur Ilse selbst konnte offenbar damit nichts anfangen. Also half ihr Werner Schutz auf die Sprünge:

»Na, er meint, dass dein Hintern mindestens so groß ist wie seine Kugel!«

Schallendes Gelächter – und die Gruppe war Ilse Sawazky los.

Jetzt erhob sich Lothar Sattler, um die Rede an die Jahrgänger zu halten. Wahrscheinlich hatte der Oberbürgermeister ihm als Jahrgänger gerne den Vortritt gelassen. Der OB sprach bei allen anderen Jahrgängen und hatte genug zu tun an diesem Abend. Lothars Rede war sehr launig. Er beleuchtete die augenblickliche Situation der Stadt. Nicht ohne Stolz, hatte sie doch glänzende Zahlen vorzuweisen.

»Kunststück, bei solchen Unternehmen. Fast keine vergleichbare Stadt hat so viel Gewerbesteuer wie Biberach. Mit vollen Hosen ist leicht stinken«, flüsterte Bobby Maurer.

»Aber so volle Hosen musst du erst mal haben, dass du so stinken kannst«, gab Ludwig zurück und konzentrierte sich auf die Rede von Lothar Sattler.

Er war ein durch und durch guter Stegreifredner, der so manchem Lokalpolitiker in Wien ernsthafte Konkurrenz gemacht hätte. Er hatte eine Stimme wie ein Bass-Sänger aus einer Mozart-Oper und benötigte noch nicht einmal ein Mikrofon.

»Er ist und bleibt ein Angeber«, giftete Bobby Ludwig ins Ohr.

Ludwig nahm keine Notiz davon und genoss die Rede von Lothar Sattler. Der kam nun auf die Jugendzeit zurück.

»Ich möchte behaupten, dass es ein Privileg war, seine Jugend in der Nachkriegszeit zu verbringen. Wir haben Geschichte im Schnelldurchlauf erleben dürfen. Alle von uns haben noch die karge Zeit der 50er-Jahre erlebt. Alle wissen seither, dass ein gut gedeckter Tisch mit all den kulinarischen Genüssen der heutigen Zeit keine Selbstverständlichkeit ist. Alle von uns haben das darauffolgende Wirtschaftswunder erlebt. Wir alle wissen, was es bedeutet, wenn man die Ärmel hochkrempelt und loslegt. Zu welchen Leistungen der Mensch imstande ist. Wir durften die 68er hautnah erleben, manche von uns sogar für eine Nacht im Gefängnis. Wir haben die sexuelle Revolution miterleben dürfen …«

Zwischenrufe unterbrachen ihn: »Hört, hört« und »Das sagt genau der Richtige«. Aber das focht Lothar überhaupt nicht an.

»Und wir haben eine Revolution in der Musik miterleben dürfen. Unsere älteren Geschwister noch den Rock’n Roll, wir aber durften die Beatles und die Rolling Stones erleben. Und vor allem: Wir waren die ersten, die völlig ohne Kriegswirren und ihren direkten Folgen wie Währungsreform und Staatentrennung aufwachsen durften. Ich glaube kaum, dass es wieder einmal eine Generation geben wird, die eine derartig glückliche und turbulente Jugend erleben wird. Vielen Dank!«

Lothar sprach das alles frei, ohne Manuskript. Ludwig war überrascht. Lothar imponierte ihm. Bobby Maurer hingegen, der Lothar Sattler tagtäglich erlebte, der so manchen Strauß mit ihm ausgefochten hatte, der den Werdegang des Lokalpolitikers nicht mit der Distanz wie Ludwig verfolgt hatte, sah das Ganze mit anderen Augen.

»Blabla. Ja, so ist er halt, unser Lothar, der hat sich seit der Schule nicht mehr verändert.«

Man merkte Bobby Maurer die Rivalität an. Hier der renommierte Architekt, da der beliebte und geachtete Lokalpolitiker. Jeder wollte der Bessere sein. Das ist ein Punkt, in dem sich Wien und Biberach überhaupt nicht unterscheiden, dachte sich Ludwig.

Danach gab es Vorführungen verschiedener Gruppen des Schützenfestes, dazwischen Ständchen von Kapellen und Trommlerkorps, bis der Jahrgänger-Ausschuss die Moritaten zur Vorführung brachte. Viele Untaten und viele Missgeschicke wurden wieder hervorgekramt. Das Gelächter war groß.

Natürlich wurde Ludwig oft nach seinem Beruf gefragt, der wohl in der Einschätzung der Leute fast interessanter war als etwa der Beruf des Kommissars. Tja, die meisten ahnten nicht, dass es sich weniger um Gespräche mit Tätern und Opfern handelte, sondern um akribische Puzzlearbeit. Angesprochen wurde er immer noch auf einen Fall, mit dem er über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt geworden war. Mitte der 90er-Jahre hatte er mitgeholfen, einen raffinierten Serientäter zu entlarven, der in Österreich mit Briefbomben zahlreiche Attentate verübt hatte.

»Als Profiler vertraut man darauf, dass Täter am Tatort Spuren hinterlassen, die Aufschluss über ihre Persönlichkeit geben«, versuchte Ludwig, kurz und prägnant eine Job-Beschreibung zu geben. »Aus diesen Spuren ziehen wir dann die richtigen Schlüsse.«

Direkt am Tisch neben ihnen hatte eine Dame Platz genommen, die Ludwig schon während des Umzuges aufgefallen war. Der Begriff Dame war hier so treffend, wie er in einem Lexikon nicht besser erklärt werden könnte: vornehm, elegant, mit einem unaufdringlichen Chic gekleidet, dabei weder versnobt noch gar arrogant wirkend; aber sehr viel Souveränität ausstrahlend.

Und obwohl Ludwig meinte, das Gesicht schon einmal gesehen zu haben, war er sich sicher, dass es sich um eine zugezogene Person handeln musste. An so eine Erscheinung hätte er sich garantiert erinnert. Lothar Sattler würde es wissen.

»Sag mal, Lolo«, flüsterte er dem Lokalpolitiker ins Ohr, »hast du eine Ahnung, wer diese Dame da am Nebentisch ist?«

Lothar prustete fast vor Lachen.

»Was, die kennst du nicht?«, polterte er lautstark los, wie es nun mal seine Art war. »Das ist Laura von Leeven, unsere Klassenkameradin. Sie ist vermutlich die Vermögendste unter den Teilnehmern hier.«

Ludwig war höchst erstaunt. Er hätte Laura von Leeven nie im Leben erkannt, wäre er ihr auf der Straße begegnet. Er war für sein sprichwörtliches und untrügliches Personengedächtnis bekannt, aber dass diese elegante Dame das Mädchen mit dem zerzausten, strohigen Haar, mit den altmodischen und abgetragenen Klamotten sein sollte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen.

Bobby fiel sogar die Kinnlade herab.

»Wer ist das? Die Brunzilla von Prunzinski? Das glaub ich jetzt nicht!«

Laura von Leeven wurde in der Klasse damals spöttisch Prinzessin Brunzilla von Prunzinski genannt, weil sie in jungen Jahren erhebliche Probleme mit ihrer Blase hatte. Oft sprang sie während des Unterrichts auf und rannte zur Toilette. Hin und wieder hatte sie auch einen kleinen Fleck auf ihrem altmodischen Rock, der offensichtlich am Ende des 19. Jahrhunderts groß in Mode gewesen war.

Wie pubertierende Jungs nun mal waren, machten sie sich über Lauras Problem lustig und zogen es ins Lächerliche. Sie ahnten natürlich nicht, wie sehr sie Laura von Leeven damit verletzten, die an ihrer Schwäche genug zu leiden hatte. Bobby tat sich damals bei den Attacken gegen die arme Laura besonders hervor. Ludwig erinnerte sich an eine Klassenfahrt mit der Bahn nach München, als sich Laura in ihr Abteil setzen wollte und Bobby ihr das mit den Worten verwehrte: »Pissnelken haben hier nichts verloren!«

»Mein lieber Scholli, die hat sich aber gemausert«, staunte Ludwig, »und hat sicher eine gute Partie gemacht, wenn sie so vermögend ist.«

Lothar schüttelte den Kopf.

»Sie ist bis dato ledig und hat sich ihr Vermögen selbst verdient. Sie ist Unternehmerin und durch eine Erfindung unermesslich reich geworden.«

»Welche Erfindung hat die denn gemacht?«, wollte Bobby etwas geringschätzig wissen.

»Sie ist Erfinderin und Alleininhaberin von ›Dry Forever‹«, ließ Lothar wissen.

»Das hab ich schon gehört, habe aber keine Ahnung, was das sein soll. Kann mich da mal jemand aufklären?«, fragte Tom Salerner.

Elli Pfundstein musste ob solcher Unwissenheit grinsen.

»Das sind Slip-Einlagen!«

»Was?«

Für den ewigen Junggesellen Tom war das ein Potemkinsches Dorf.

»Na, das sind die Surfbretter, die sich die Weiber in die Unterhose kleben«, sagte Werner Schutz.

Tom Salerner verstand immer noch nur Bahnhof und schüttelte den Kopf. Für ihn war das wieder ein Kapitel nach dem Motto: die Frau, das unbekannte Wesen.

»Manche nennen sie auch Piss-Einlagen«, ergänzte Werner.

Bobby lachte nun richtig laut und sah auffällig zu Laura von Leeven hinüber.

»Das soll mal einer sagen, Not macht nicht erfinderisch.«

Er konnte sich kaum bändigen vor Lachen. Ludwig fand das keineswegs gut, was sich Bobby da erlaubte. Das war unverschämt, unhöflich und zynisch. So benimmt man sich einfach nicht, dachte er sich und wollte schon eingreifen, als Laura sich erhob und an ihren Tisch kam. Selbstbewusst und überlegen ergriff sie das Wort:

»Ja, lieber Robert Maurer, Not macht erfinderisch, da muss ich dir recht geben. Die Idee ist wirklich aus der Not heraus geboren worden. Aber ich war erfinderisch genug, eine Lösung zu finden und damit auch noch meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Erfindungsreichtum würde dir allerdings auch guttun.«

»Ich bin erfindungsreich genug, um Erfolg zu haben, ich musste keine Piss-Einlagen erfinden«, konterte Bobby zynisch.

»Soso, erfindungsreich genug. Und wieso hat dein Büro seit vier Jahren keine Ausschreibung mehr gewonnen? Wieso entwirfst du keine Großprojekte mehr, wieso baust du nur noch kleine Einfamilienhäuschen für Rentner in Biberach?«

Sie blieb im Ton ruhig und dennoch trieb sie Bobby auf die Palme mit diesem Satz.

»Das ist erstens gelogen, zweitens hast du keine Ahnung und drittens geht dich das überhaupt nichts an.«

Bobby stieg die Zornesröte ins Gesicht. So hatte Ludwig den Jugendfreund noch nie erlebt.

Laura blieb die Ruhe in Person und schien völlig gelassen. Jeder der Beteiligten hatte das Gefühl, dass jetzt ihre Stunde kam, dass das die Situation war, auf die sie jahrelang gewartet hatte.

»Mit Punkt drei hast du recht. Es geht mich nichts an. So wenig, wie es dich etwas angeht, womit ich mein Geld verdiene. Zu Punkt eins sage ich, es ist nicht gelogen, und zu Punkt zwei sage ich, dass ich inzwischen genug Ahnung habe. Ich kann’s auch erklären.«

»Da bin ich jetzt aber mal gespannt«, lästerte Bobby.

»Vielleicht sagt dir der Name DF Building ja was?«

Bobby Maurer wurde kreidebleich.

Die souverän lächelnde Laura machte weiter:

»DF Building gehört mir. DF heißt ›Dry Forever‹ und die Firma managt alle Neubauten für ›Dry Forever‹. Weltweit. Dieses Frühjahr haben wir eine Ausschreibung für unser neues Werk in Tuttlingen gemacht. Eine unabhängige Kommission von Architekten, Bauleitern und Ingenieuren hat aus den Bewerbern diejenigen ausgewählt, die sich dann am Wettbewerb beteiligen durften. Weil es sich um das Werk handelt, das meiner Heimat am nächsten liegt, habe ich mich persönlich am Auswahlverfahren beteiligt. Und nicht schlecht gestaunt, dass sich auch ein Architekturbüro Robert Maurer aus Biberach beteiligt hat. Alle Fachleute, ich betone alle, haben gesagt, der Maurer kommt nicht in Frage. Seine Zeit ist vorbei …«

»Das ist eine Unverschämtheit, das lasse ich mir jetzt nicht mehr gefallen, du hältst jetzt sofort deine Klappe!«, brüllte Bobby förmlich.

»Lass sie doch mal, das interessiert mich jetzt wirklich.«

Lothar lächelte süffisant, während er dies sagte.

Laura brachte zur Sprache, was man in Biberachs gewöhnlich gut informierten Kreisen längst hinter vorgehaltener Hand tuschelte. Für Ludwig war das natürlich alles neu und er hatte keine Ahnung.

Laura fuhr fort:

»Ich habe mich daraufhin erkundigt, ob es sich um jenen Robert Maurer handelt, der mit mir in Biberach gemeinsam die Schulbank gedrückt hat und der mich jahrelang ob meiner Blasenprobleme gegängelt hat. Und siehe da, er war’s.«

»Und da hast du ihn natürlich gerne über die Klinge springen lassen, stimmt’s?«, fragte Lothar.

»Im Gegenteil. Ich habe darauf bestanden, dass das Büro Maurer zum Wettbewerb eingeladen wurde. Ich wollte mir nämlich nicht vorwerfen lassen, einen Bewerber aus persönlichen Gründen abzulehnen. Im Gegensatz zu manch anderem hier am Tisch bin ich weder rachsüchtig noch unverschämt und schon gar nicht nachtragend.«

»Und, hast du mitgemacht?«, wollte Tom Salerner von Bobby wissen.