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Ein Mörder, ein Phantom, zwei schräge Vögel: Im neuen Krimi von Uli Herzog kommt der pensionierte Fall-Analytiker Ludwig Hirschberger an seine Grenzen. In einer mysteriösen Entführungswelle am Bodensee verschwinden sieben Frauen. Die meisten der Opfer tauchen später in Biberach auf – körperlich unversehrt, aber ohne jegliche Erinnerung an das Geschehen. Für die Ermittler steht schon bald fest: Der Entführer muss über exzellente Ortskenntnisse verfügen. Stammt er gar aus dem beschaulichen Biberach? Das Unfassbare geschieht: In Überlingen verschwinden zwei weitere Frauen. Diesmal kennt der Täter keine Gnade. Die Polizei ermittelt fieberhaft. Doch Ludwig Hirschberger verfolgt eine ganz andere Spur. Nach seinem Erstlingserfolg „Mord am Schützensamstag“ nimmt Uli Herzog seine Leser in atemloser Geschwindigkeit mit auf eine Verbrechertour durch Oberschwaben.
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Uli Herzog
stammt aus Biberach. Jahrzehntelang arbeitete er für eine international renommierte Werbeagentur, zunächst als Junior-Kontakter in Ravensburg, später als Geschäftsführer der Niederlassung in Wien. 2001 kehrte er nach Oberschwaben zurück und war bis zur seiner Pensionierung 2012 für einen Zeitungsverlag in Friedrichshafen, Biberach und Ravensburg tätig. Heute lebt Uli Herzog in Altshausen.
»Frauenduft« ist nach »Mord am Schützensamstag« sein zweiter Krimi mit dem pensionierten Fallanalytiker und Wahl-Wiener Ludwig Hirschberger, der sich besonders gerne in vertrackte Fälle in Oberschwaben und am Bodensee verbeißt.
Uli Herzog
Frauenduft
Ein Bodensee-Oberschwaben-Krimi
Oertel+Spörer
Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.
© Oertel+Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2017Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: ©fotolia, lassedesignenGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Elga Lehari-ReichlingSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-88627-798-8
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Für meine Tochter Alexandraweil sie neben ihren vielen anderen Büchernauch gerne mal einen Krimi liest.
Ludwig Hirschberger, pensionierter Fallanalytiker der Wiener Kriminalpolizei, staunte nicht schlecht über das Angebot, das ihm da ins Haus geflattert kam: »Culturus«, ein kleiner, aber feiner Fernsehsender aus München, hatte ihn zu einer Gesprächsrunde eingeladen. Obwohl die Zuschauerzahlen dieses Senders meistens nur im fünfstelligen Bereich lagen, kannte Ludwig ihn sehr gut. Er schätzte dessen qualitativ anspruchsvolles Programm.
Besonders mochte er die Sendereihe Ereignisse, die uns bewegten. Und genau für eine deren Folgen war er eingeladen worden. Mit von der Partie waren Johnny Breitleder, ein Serienmörder aus Wien, der mehrere Prostituierte auf bestialische Weise getötet, der Schauspieler Emilio Ehstatt, der in einer Verfilmung Johnny Breitleder gespielt und – last, not least – Ludwig Hirschberger, der den Serienmörder damals zur Strecke gebracht hatte. Gastgeberin und Moderatorin war die reizende Elena Bingerl, die durch alle Sendungen dieser Reihe führte.
Erfreut über die Abwechslung seines Pensionistendaseins, wie man in Österreich zu sagen pflegt, nahm der gebürtige Schwabe die Einladung an. Schließlich lag München nicht allzu weit von seiner Geburtsstadt Biberach entfernt.
Zuvor aber musste er sich noch einen neuen Anzug für die Sendung kaufen. Ludwig rief Lea an, seine geschiedene Ehefrau, mit der er immer noch freundschaftlich verbunden war, und bat sie um Hilfe bei der Suche nach einem passenden Outfit. Lea hatte viel mehr Geschmack als Ludwig. Und so fuhr Ludwig mit einem nagelneuen Anzug im Gepäck mit seinem Auto nach München.
Das Fernsehstudio lag in Ismaning, nordöstlich von München. Einmal mehr erfreute er sich an den Neuerungen der Technik. Das Navi führte ihn schnurstracks an die richtige Adresse. Eigentlich war ein Navigationsgerät im Jahr 2016 ja keine Neuerung mehr, aber Ludwig legte sich immer so ziemlich als Letzter eine technische Innovation zu.
Am Nachmittag gab es eine Vorbesprechung. Ludwig war gespannt auf Breitleder, den er seit seiner Gerichtsverhandlung nicht mehr gesehen hatte, und natürlich auf Emilio Ehstatt, den berühmten Schauspieler. Auch interessierte es ihn, ob Elena Bingerl wirklich so hübsch war, wie sie auf dem Bildschirm rüberkam.
In der Tat, auch ohne Maske war die Moderatorin eine bildhübsche Person. Nur war sie noch viel zierlicher, als Ludwig sie sich vorgestellt hatte. Auch Emilio Ehstatt wirkte in seinen Filmen wesentlich größer als in Wirklichkeit.
Johnny Breitleder hätte er auf der Straße nicht wiedererkannt. Der Mann war in der Haft stark gealtert. Zwei Justizbeamte führten ihn in Handschellen in den Besprechungsraum hinein.
Ludwig erwartete, dass ihm Breitleder äußerst feindselig gegenüberstehen würde, immerhin hatte er damals im Gerichtssaal den Richter, den Staatsanwalt und Ludwig mit dem Tode bedroht. Umso mehr überraschte Ludwig die freundliche Art, mit der ihn Breitleder begrüßte.
»Na, keine Mordgedanken mehr gegen mich?«, fragte Ludwig.
»Absolut nicht, Herr Hirschberger, Sie können völlig beruhigt sein. Wissen Sie, im Nachhinein betrachtet, bin ich Ihnen sogar dankbar. Sie haben mich von einer großen Last befreit. Wer weiß, wie viele Frauen ich noch umgebracht hätte, zwanghaft umgebracht hätte, wären Sie mir nicht auf die Schliche gekommen. Glücklicherweise habe ich heute diesen Zwang nicht mehr.«
»Hat Ihnen die Sterilisation geholfen?«
»Auch, aber viel entscheidender waren die Gespräche mit dem Doktor Heubl. Der hat ganz tief in meinem Kopf diesen Dämon entfernt.«
Ob Breitleder das ernst meinte, konnte Ludwig im Augenblick natürlich nicht feststellen.
»Was, der Doktor Heubl hat Sie damals therapiert? Das wusste ich gar nicht mehr!«, reagierte er überrascht.
Dr. Gernot Heubl, der frühere forensische Psychiater beim Innenministerium, inzwischen ebenfalls pensioniert, war ein nicht nur beruflich verbundener Freund Ludwigs und hatte ihn vor allem mit seinem enormen Faktengedächtnis, dem ungeheuer raschen Tempo des Aktenstudiums, seiner Kombinationsgabe und seinen ungewöhnlichen Verhörmethoden beeindruckt.
»So meine Herren«, sagte Elena Bingerl, »ich werde Sie jetzt mal über den heutigen Abend informieren. Sie wissen, dass es sich um eine Livesendung handelt. Normalerweise hat die Sendung zwischen 50000 und 80000 Zuschauer, manchmal mehr, manchmal weniger. Heute Abend erwarten wir aber wesentlich mehr Zuschauer, was wir Ihnen zu verdanken haben, Herr Ehstatt.«
So einen prominenten Gast konnte Elena Bingerl normalerweise in ihrem Programm nicht begrüßen. Da der bekannte Schauspieler teilnahm, hatte sich die Presse in Deutschland, Österreich und der Schweiz ausführlich mit dem Thema des heutigen Abends beschäftigt, weshalb mit weit mehr als 100000 Zuschauern gerechnet wurde. Vielleicht würde sogar der bisherige Rekord von 141500 gebrochen.
»Nach Ihrer persönlichen Begrüßung«, erklärte die Moderatorin, »wird ein kleiner Dokubeitrag über die Taten von Herrn Breitleder gesendet, damit auch die jüngeren Zuschauer wissen, worum es geht. Schließlich liegen die ersten Taten schon zwanzig Jahre zurück.«
»Aber ich möchte schon den Beitrag vorher sehen«, forderte Breitleder in durchaus höflichem Tonfall.
»Selbstverständlich«, sagte die Moderatorin.
Gemeinsam sahen sie sich die Dokumentation an und schnell kamen Ludwig wieder die Bilder der ermordeten Prostituierten in den Sinn. Außer ihm, den zuvor ermittelnden Beamten, den Entdeckern der Opfer und natürlich Johnny Breitleder hatte niemand die Leichen gesehen. Das war wohl der Grund, mutmaßte Ludwig, warum Breitleder unbedingt den Film ansehen wollte, bevor er über die Bildschirme flimmerte. Aber er konnte beruhigt sein. Der Film enthielt keinerlei Bilder der von ihm so grauenvoll zugerichteten Opfer.
Der Abend kam und die Sendung begann. Das Studio erinnerte Ludwig ein wenig an die Kultsendung des ORF, Club 2, die während der 70er- und 80er-Jahre ausgestrahlt worden war und in deren besten Zeiten die Popikone Nina Hagen einen denkwürdigen Auftritt hatte.
Zu Beginn der Sendung stellte Elena Bingerl die Teilnehmer vor und erklärte, in welchem Zusammenhang sie zu dem Ereignis standen. Danach wurde der Film gezeigt, ehe als Erster Johnny Breitleder zu Wort kam. Er bekannte offen und ehrlich, dass er damals gar nicht anders habe handeln können, als diese Frauen zu ermorden. Es sei wie eine innere Stimme gewesen, die ihm das befohlen habe. Anschließend schilderte Emilio Ehstatt, welche Mühe er habe aufwenden müssen, um sich in die Psyche des Täters hineinzuversetzen. Zuletzt war Ludwig an der Reihe. Er wurde als der Profiler vorgestellt, der den Serienmörder schließlich entlarvt hatte.
»Zunächst einmal«, begann Ludwig, »möchte ich betonen, dass das Wort Profiler nicht ganz richtig ist. Ich war Fallanalytiker bei der Wiener Kriminalpolizei. Profiler kommt aus den Vereinigten Staaten und bezeichnet nur einen Teil unserer Tätigkeit. Daneben muss ich darauf hinweisen, dass ich es ganz bestimmt nicht alleine war, der Herrn Breitleder zur Strecke gebracht hat. Ich war zwar der Leiter der OFA, also der Abteilung Operative Fallanalyse, aber in so einem OFA-Team arbeiten viele Spezialisten mit. Erst deren Zusammenspiel ermöglicht eine professionelle Fallanalyse.«
»Dann erzählen Sie uns einfach mal, wie Sie oder Ihr Team an den Fall herangegangen sind«, forderte ihn die Moderatorin auf.
»Zunächst hatten wir es ja nur mit den Fällen in Österreich zu tun. Man versucht, aus den Akten der Kriminalpolizei den Modus Operandi herauszufinden.«
»Stopp, das müssen Sie unseren Zuschauern erklären, was ein Modus Operandi ist.«
»Das ist die Art der Herangehensweise des Täters. Wir untersuchen die Vor-Tathandlung, die eigentliche Tathandlung und die sogenannte Nach-Tathandlung. Wenn ich jetzt im Einzelnen erklären müsste, um was es sich dabei genau handelt, würde das sicher die Sendezeit sprengen. Ich begrenze mich daher auf das Wesentliche. Wenn dieser Modus Operandi in wesentlichen Teilen bei verschiedenen Verbrechen übereinstimmt, sprechen wir von einer Serientat und dann suchen wir nach weiteren möglichen Straftaten mit übereinstimmendem Modus Operandi.«
»Und da wurden Sie vermutlich schnell fündig«, warf die Moderatorin ein, während Johnny Breitleder und Emilio Ehstatt interessiert zuhörten.
»Ja, wir fanden Fälle in Tschechien, Ungarn, Kroatien und Deutschland. Von da an wussten wir, dass wir es mit einem international agierenden Täter zu tun hatten.«
»Wie kamen Sie drauf, dass ich in Wien wohnte?«, fragte Breitleder neugierig. »Ich hätte doch auch in Tschechien oder Deutschland zu Hause sein können!«
»Das war uns relativ schnell klar. Wir haben nämlich einen Kreis um alle Tatorte gezogen und im Zentrum dieses Kreises, ganz genau in der Mitte, lag Wien. Also vermuteten wir von Anfang an, dass Sie in Wien beheimatet sind.«
»Vermutet, aber nicht gewusst!«, beharrte der Täter.
»Da haben Sie völlig recht. Aber die Fallanalyse arbeitet auch mit Vermutungen, Hypothesen und subjektiven Wahrnehmungen. Würden wir nur nach den Fakten arbeiten, bräuchten uns ja die Polizisten nicht. Und im Gegensatz zur Kripo, die in allerhöchster Eile handelt, arbeiten wir mit dem Faktor Zeit. Die Zeit ist der Feind der Kripo, aber unser Freund.«
»Das müssen Sie mir schon näher erklären«, mischte sich der Schauspieler ein.
»Sehen Sie, Herr Ehstatt, die meisten Morde werden in den ersten 24 bis 36 Stunden nach der Tat aufgeklärt. Das heißt, während dieser Zeit läuft die Maschinerie der Kripo auf Hochtouren. Erst wenn in einem Fall eine schnelle Aufklärung nicht mehr möglich ist, wird die OFA eingeschaltet. Und wir arbeiten ohne jeglichen Zeitdruck, können Akten sehr präzise studieren, können sie mit anderen Fällen vergleichen. Wir können die Ergebnisse der Spurensicherung, der Leichenbeschauer, der Einschätzung eines forensischen Psychiaters genauestens untersuchen und versuchen, Dinge miteinander zu verknüpfen, was in der Hektik der ersten Tage nicht stattfinden kann. Ich will mich aber nicht zu sehr verzetteln. Jedenfalls gingen wir davon aus, dass der Täter ein in Wien wohnhafter Mann sein musste, der eine intensive Reisetätigkeit ausübte. Wir vermuteten, dass unser Delinquent entweder ein Geschäftsmann, ein Handlungsreisender oder ein Monteur auf Montage war, der in einem bestimmten Umkreis tätig war. Dieser Umkreis war durch unseren Kreis klar skizziert.«
»Sie meinen den Kreis, den Sie um die Tatorte gezogen haben?«, fragte Ehstatt.
»Ja klar!«, sagte Ludwig. »Danach beginnt das Aktenstudium. Man bedient sich ähnlich gelagerter Fälle, national und international, und versucht, aufgrund von Täterabgleichen herauszufinden, wie alt die Täter sind, aus welchem sozialen Hintergrund sie stammen und ob sie irgendwelche psychischen Auffälligkeiten aufweisen. Dann wird untersucht, ob das Umfeld irgendetwas wahrgenommen hat. Die Pathologen vergleichen die Fälle genauso intensiv wie die forensischen Psychiater, die ja ebenfalls zu einem OFA-Team gehören. Am Schluss dieser hier nur ganz kurz angerissenen Tätigkeiten versuchen wir, ein Täterprofil zu erstellen, welches wir der Soko, also der Sonderkommission, übergeben. Wegen des Ausdrucks Täterprofil werden wir von manchen auch Profiler genannt.«
»Wozu führte das im Falle Breitleder?«, hakte die Moderatorin nach.
»Nun, ich bin natürlich nicht befugt, Einzelheiten aus den Untersuchungsergebnissen hier breitzutreten, aber so viel kann ich sagen: Nach unserer Analyse wurde die Soko nach Wien verlegt und ihr gehörten ab sofort auch Kriminalbeamte der angrenzenden Länder an. Als Nächstes haben wir festgestellt, dass der Täter aus gehobenem sozialem Milieu stammen musste, was Einfluss auf die Fahrzeugmarke und die jeweils genutzten Hotels hatte. Wir gingen davon aus, dass der Täter in den jeweiligen Städten mindestens in Vier-Sterne-Hotels abgestiegen war, dass er mit den Damen vorher vermutlich in nicht ganz billigen Restaurants zum Essen war, dass es sich bei seinem Auto eher um eine Nobelmarke handelte. Daneben konnten wir sein Alter auf 40 bis 45 Jahre eingrenzen. Die Summe dieser Ergebnisse und noch ein paar weitere Daten, über die ich hier nicht sprechen möchte, führte die Soko dann relativ schnell zu Herrn Breitleder.«
»Wie haben Sie die Situation damals empfunden, Herr Breitleder?«, wandte sich Elena Bingerl nun an ihn.
»Ich?«, fragte Johnny Breitleder. »Ich war total überrascht, als die Polizei eines Tages bei mir auftauchte. Ich hätte nie gedacht, dass die mich jemals als Täter entlarven. Ich war doch so vorsichtig. Habe versucht, keine Spuren und möglichst keine DNA zu hinterlassen. Natürlich hatte mein Sperma DNA-Spuren hinterlassen, aber die hatte mich gar nicht entlarvt, die war lediglich der endgültige Beweis für die Staatsanwaltschaft und den Richter. Entlarvt haben mich eindeutig Herr Hirschberger und sein Team.«
Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu:
»Und das war auch gut so, das möchte ich heute im Rückblick eindeutig betonen. Man hat nicht nur unzählige Frauen vor dem gleichen Schicksal wie die Opfer bewahrt, man hat auch mich aus diesem entsetzlichen Zwang befreit.«
»Spüren Sie das oder wissen Sie das?«
Die Moderatorin wollte es genau wissen.
»Beides. Sehen Sie, heute kann ich Ihnen ganz locker gegenübersitzen, ohne mögliche Hintergedanken. Vor meiner Behandlung durch Doktor Heubl wäre ich Ihnen gegenübergesessen und hätte nur zwanghaft überlegt, wie ich Ihrer habhaft werden könnte, wie ich Sie in einen Hinterhalt locken kann. Ich hätte keinen anderen Gedanken fassen können als diesen.«
»Hört sich schaurig an, um Gottes willen!«
Elena Bingerl schien richtiggehend geschockt und schwieg.
Der Schauspieler Emilio Ehstatt nutzte die Situation und wandte sich Ludwig zu.
»Herr Hirschberger, wenn Sie dann in eine Soko kommen, übernehmen Sie dann gleich die Leitung?«
»Überhaupt nicht. Im Gegenteil, wir sind gar nicht Teil dieser Soko, wir sind nur deren Berater. Von außen kommende Berater.«
»Wie muss ich mir das vorstellen?«
»Stellen Sie sich einen Industriebetrieb vor«, entgegnete Ludwig, »dort gehen ja auch verschiedene Beraterfirmen ein und aus. Unternehmensberater, Finanzberater, Werbeberater und so weiter. Die bieten der Firma eine Beratung an, aber die Firma entscheidet letztlich selbst, ob sie die Beratung annehmen will oder nicht. So ist das auch in unserem Fall: Die Soko entscheidet, ob sie das von uns erstellte Täterprofil, ob sie die von uns gemachten Analysen übernehmen.«
»Und im Falle von Herr Breitleder hat die Soko Ihren Rat offensichtlich befolgt«, stellte Emilio Ehstatt fest.
»Das kann man so sagen.«
Nun schaltete sich wieder die Moderatorin ein.
»Haben Sie auch Fälle erlebt, in denen man sich Ihrer Analysen nicht bedient hat, Herr Hirschberger?«
»Und ob! Zu Beginn meiner Tätigkeit als Fallanalytiker mehr, später, nachdem die OFA-Teams schon etliche Erfolge nachweisen konnten, weniger.«
Dem Schauspieler war dies jedoch zu allgemein, er fragte:
»Gab es auch Fälle, wenn man Ihrem Rat nicht gefolgt war, dass man dann – und ich meine genau deswegen, weil man Ihren Analysen nicht gefolgt ist – den Täter nicht zu fassen bekommen hat?«
»Nicht zu fassen bekam – oder erst viel später durch einen Zufall gefasst hat. Ja, diese Fälle gibt es natürlich. Es gibt im Übrigen einen sehr prominenten Fall hier in Deutschland.«
»Welchen?«, fragten die anderen drei Teilnehmer gleichzeitig.
»Die ganzen NSU-Morde«, sagte Ludwig, »schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt wiesen die deutschen Kollegen die Soko aufgrund ihrer Analysen darauf hin, dass es sich um Taten mit rechtsradikalem Hintergrund handeln müsse.«
»Und was ist dann passiert?«
Sogar Johnny Breitleder interessierte sich dafür.
»Nichts, leider gar nichts in dieser Richtung. Die Soko ging trotz der Beratung mit bestem Wissen und Gewissen weiter davon aus, dass es sich um mafia-ähnliche Morde innerhalb des Migrantenkreises handelt. Mit den Folgen, die sich ja dann leider ergeben haben.«
»Unfassbar, fürchterlich!«, empörte sich Emilio Ehstatt.
Doch Ludwig nahm seine Kollegen in Schutz.
»Irren ist menschlich, Herr Ehstatt, wenn ein Arzt oder sagen wir mal ein Chirurg eine falsche Entscheidung trifft, gibt es auch Tote. Und die Kripobeamten, das kann ich mit Fug und Recht behaupten, haben sich die Entscheidung ganz sicher nicht leicht gemacht, sie waren nur einfach aufgrund ihrer Ermittlungen felsenfest vom Gegenteil überzeugt. Ich glaube, man kann ihnen nicht einmal einen Vorwurf daraus machen. Und eines dürfen Sie mir glauben: Niemand hadert mit dieser Entscheidung heute mehr als meine Kollegen!«
»Braucht man eigentlich intuitive Fähigkeiten für Ihren Job?«, fragte die hübsche Moderatorin interessiert.
»In erster Linie sind schon logische, analytische Fähigkeiten gefragt. Vor allem: verknüpfende Intelligenz. Das ist in erster Linie Aktenstudium. Das bedeutet eigentlich büffeln wie in der Schulzeit. Aber es gibt auch Fälle für uns, bei denen es anders ist: in denen es keine Fakten gibt, es eigentlich nichts zu analysieren gibt, wir de facto gar nichts haben außer dem Opfer und dem Tatort. Dann schaden intuitive Fähigkeiten auf jeden Fall nicht. Auch hier möchte ich mit einem Beispiel dienen: Ein Kollege, Doyen der deutschsprachigen Fallanalytiker, arbeitete ursprünglich als Polizist am Innsbrucker Hauptbahnhof. Durch präzise Beobachtungen konnte er im Laufe der Zeit die Menschen auf dem Bahnsteig ziemlich genau analysieren. Er konnte aus ihren Bewegungen und ihrem Gehabe mit hoher Wahrscheinlichkeit die Automarke erraten, die sie fuhren, konnte in vielen Fällen auf die richtige Zigarettenmarke tippen und vor allem: Er konnte aufgrund der Verabschiedungszeremonie auf dem Bahnsteig fast immer voraussagen, ob vor dem Bahnhof schon der Liebhaber oder die Liebhaberin wartete. Dieses intuitive Talent war natürlich eine ideale Voraussetzung für diesen großartigen Fallanalytiker.«
Danach wechselte die Moderatorin das Thema. Von nun an entwickelte sich ein höchst unterhaltsamer und spannender Dialog zwischen Emilio Ehstatt und Johnny Breitleder. Der Schauspieler schilderte, wie er sich in die Psyche des Mörders eingelesen und eingelebt hatte. Und Breitleder attestierte Ehstatt eine grandiose Leistung, er habe sich in diesem Film weitgehend wiedererkannt.
Dieses Zwiegespräch nahm fast die restliche Sendezeit in Anspruch. Die beiden sammeln beim Publikum viel mehr Punkte als ich, weil sie über emotionale Dinge sprechen können, während ich hier nur trockenen Stoff preisgebe, dachte Ludwig etwas resigniert. Doch dann fasste er einen Entschluss: Sollte sich die Möglichkeit ergeben, wollte auch er noch ein emotionales Bonmot zum Besten geben. Und die Möglichkeit ergab sich bald.
»Eines wollte ich Sie noch fragen, Herr Hirschberger«, wandte sich Emilio Ehstatt ganz am Schluss der Sendung noch einmal an Ludwig, »haben Sie Johnny Breitleder jemals verhört?«
»Eigentlich«, begann Ludwig, »sollte ich mit Ihnen gar nicht mehr sprechen, Herr Ehstatt.«
»Wieso, habe ich Ihnen denn etwas getan?«, fragte der Mime und runzelte dabei die Stirn.
»Ja und ob«, entgegnete Ludwig Hirschberger, »Sie haben meine erste Geliebte erschossen!«
Emilio Ehstatt schmunzelte. Zu oft war ihm dieser Vorwurf schon gemacht worden. Souverän sagte er:
»Ich weiß, wen Sie meinen, Winnetous Schwester Nscho-tschi, von der reizenden Madeleine Servier ganz besonders in Szene gesetzt. Was glauben Sie, wie oft ich schon mit diesem Vorwurf konfrontiert worden bin. Hunderttausende Heranwachsende haben sich in dem Film ›Winnetou 1‹ in das Indianer-Mädchen verliebt. Und ich als Gangster musste sie erschießen. Es brach, heute würde man sagen, ein wahrer Shitstorm über mich herein, und wie Sie sehen, verfolgt mich das heut selbst nach über fünfzig Jahren noch.«
Danach war die Sendung zu Ende, bevor Ludwig die Frage des Schauspielers überhaupt beantworten konnte.
Kurz darauf kam der Programmdirektor mit hochrotem Kopf herein.
»Unvorstellbar, geil, klasse: 250000 Zuschauer, damit hätte ich nicht mal in meinen kühnsten Träumen gerechnet. Vielen Dank Elena, vielen Dank meine Herren!«, rief er überschwänglich aus.
»Na ja, der Löwenanteil liegt schon bei Herrn Ehstatt«, meinte Ludwig, »ohne ihn hätte wir niemals so viele Zuschauer gehabt.«
Ludwig hatte noch gar nicht registriert, dass er gerade von einer riesigen Menge Menschen gesehen worden war. Und was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte: Diese Sendung würde ihn nach langen Jahren pensionsbedingter Abstinenz wieder in einen Fall verwickeln.
Für Sie habe ich übrigens einen dringenden Anruf, Herr Hirschberger«, meinte der Programmdirektor einige Zeit später, als Ludwig gerade den Sender verlassen wollte, »eine Kommissarin Gerlinde Lüscher von der Kriminalpolizei in Biberach möchte Sie sprechen.«
»Gerlinde Lüscher? Nie gehört.«
Ludwig konnte sich auf sein Namensgedächtnis normalerweise verlassen. Dass er die Dame kannte, war ihm in diesem Moment allerdings noch nicht bewusst.
»Geben Sie mir die Nummer bitte?«
Der Programmdirektor überreichte Ludwig einen Zettel mit einer Handynummer. Und er solle sofort anrufen, schärfte er ihm noch ein.
Der Wahl-Wiener hielt die Rückrufbitte zunächst für eine Falle, in die ihn eine Journalistin locken wollte. Viel zu oft war ihm dies in den vergangenen Jahren passiert, weshalb er direkt bei der Polizei in Biberach anrief und Kommissarin Lüscher verlangte.
»Tut mir leid, Frau Hauptkommissarin Lüscher hat das Haus heute schon lange verlassen. Sie können sie morgen Vormittag wieder erreichen«, erwiderte ihm der diensthabende Beamte.
»Frau Lüscher hat mir folgende Handynummer gegeben, ist die noch aktuell?«
Ludwig las dem Beamten die Telefonnummer vor, die ihm der Programmdirektor zuvor gegeben hatte.
»Das ist nach meinem Kenntnisstand die Handynummer der Hauptkommissarin, Herr Hirschberger.«
Offensichtlich hatte es im Biberacher Kommissariat einen Personalwechsel gegeben, denn als er im Jahr 2009 zuletzt mit der Polizei in seiner Geburtsstadt zu tun hatte, hieß die Kommissarin noch Linde Schwegler. Aber Ludwig war neugierig geworden und rief die Nummer an.
Die Hauptkommissarin meldete sich prompt.
»Gerlinde Lüscher, guten Abend.«
»Hirschberger hier, Ludwig Hirschberger, Sie wollten mich ganz dringend sprechen, Frau Lüscher?«
»Ah, guten Abend Herr Hirschberger. Vielen Dank für Ihren Rückruf. Das ist ganz toll, dass Sie das so schnell nach der Fernsehsendung machen. Übrigens, eine ganz tolle Sendung und Sie haben unseren Berufsstand glänzend vertreten!«
»Danke«, erwiderte Ludwig, »aber jetzt verraten Sie mir mal, wer Sie sind und was Sie von mir wollen. Ich kenne Sie ja gar nicht!«
»Doch, doch, Sie kennen mich schon. Allerdings unter meinem Mädchennamen Linde Schwegler. Wir hatten 2009 im Mordfall Robert Maurer miteinander zu tun.«
Ludwigs Tonfall wechselte augenblicklich und wurde sehr viel freundlicher und verbindlicher.
»Ach, Sie sind das. Na klar kenne ich Sie noch. Wäre ja noch schöner. Ich konnte nur mit Ihrem neuen Namen so gar nichts anfangen. Sie haben sich ja sogar einen neuen Vornamen zugelegt.«
»Nein, ich hieß immer schon Gerlinde. Nur bei meinem Mädchennamen hörte sich Linde Schwegler besser an, fand ich. Aber Linde Lüscher hat mir gar nicht gefallen, deshalb verwende ich wieder meinen korrekten Vornamen«, erklärte die Kommissarin.
»Was kann ich denn für Sie tun, Frau Lüscher?«
»Wir haben einen ganz vertrackten Fall hier. Genauer gesagt sind es sogar sieben Fälle. Die haben aber nach unserer Einschätzung alle miteinander zu tun.«
»Na, dann erzählen Sie mal.«
Hirschberger war neugierig geworden.
»Am Bodensee sind insgesamt sieben Frauen entführt und für längere Zeit festgehalten worden. Dabei erstrecken sich die Tatorte nahezu auf den gesamten deutschen Uferbereich des Sees.«
»Davon habe ich gehört«, meinte Ludwig, »aber wieso sind Sie in Biberach damit konfrontiert? Der Bodensee gehört doch nach meinen Informationen zu einem ganz anderen Polizeipräsidium als Biberach.«
»Ja, das stimmt schon, das ist richtig. Aber fünf dieser Frauen wurden in Biberach wieder freigelassen, deshalb sind wir in den Fall oder, besser gesagt, in diese Fälle involviert. Wir gehen nämlich davon aus, dass der Täter sehr wahrscheinlich ein Biberacher ist.«
»Aha – und ich soll Ihnen jetzt helfen, den zu finden.«
»Ganz genau, ich bitte Sie darum.«
»Eigentlich helfe ich Ihnen immer ganz gerne, ich hab’s Ihnen ja damals versprochen. Aber wieso haben Sie denn nicht eine OFA vom LKA angefordert?«, fragte Ludwig etwas verwundert.
»Selbstverständlich habe ich das gemacht, aber die vom Landeskriminalamt sind alle in der Salafistenszene und bei den Neonazis unterwegs. Außerdem haben wir ja gar keine Todesopfer«, klagte Gerlinde Lüscher.
»Und jetzt soll ich alter Mann euch die Kohlen aus dem Feuer holen?«, fragte Ludwig und musste dabei lachen.
»Ja, bitte. Ich habe während der Sendung gesehen, dass Sie immer noch der Alte sind und immer noch topfit. Da habe ich mir gedacht: Mensch, der Herr Hirschberger, der könnte vielleicht weiterhelfen!«
Ludwig, der in Wien gerne mal wieder an Fällen beteiligt gewesen wäre und dem es manchmal ganz schön langweilig war, brauchte nicht lange zu überlegen.
»Tja, wenn mich so eine charmante Dame so nett um Hilfe ersucht, kann ich ja wohl schlecht Nein sagen.«
»Klasse«, freute sich die Kommissarin.
»Aber wie ist das mit Ihren Vorgesetzten? Sind denn die damit einverstanden, dass Sie plötzlich einen pensionierten österreichischen Fallanalytiker auf Ihren Täter ansetzen?«
»Ich werde gleich morgen früh den Sti…, äh, den Leitenden Oberstaatsanwalt Doktor Bellmann fragen, ob er einverstanden ist.«
»Den kenne ich ja noch vom Mordfall Maurer her«, erinnerte sich Ludwig.
»Richtig, der war damals als ganz junger Staatsanwalt zu uns gekommen.«
»Hat aber offensichtlich mächtig Karriere gemacht«, stellte Ludwig fest, »habe ich aber auch nicht anders erwartet.«
»Mensch, dann kennt der Sie ja auch noch. Umso besser. Unter welcher Nummer darf ich Sie morgen früh anrufen, Herr Hirschberger?«
Ludwig gab ihr seine Handynummer und fuhr danach in seine Pension. Ein Luxushotel konnte sich der kleine Sender für seinen Wiener Gast nicht leisten. Aber das machte Ludwig gar nichts aus. Auf solche Dinge hatte er noch nie großen Wert gelegt. Und seit seiner Pensionierung schon gar nicht mehr.
Die junge Frau an der Rezeption hatte die Fernsehsendung offenbar nicht gesehen, denn sie erkannte Ludwig nicht. Sie gab ihm seinen Zimmerschlüssel und Ludwig legte sich gleich ins Bett. Er war hundemüde und schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen nahm er das nicht sehr üppige, aber wohlschmeckende Frühstück in seiner Pension ein. Als ein Paar an einem anderen Tisch tuschelte und dabei immer wieder zu ihm herübersah, ahnte Ludwig, dass diese Gäste die Sendung offenbar gesehen hatten.
Die Empfangsdame kam mit einem Telefon zu Ludwig und fragte, ob er für eine Frau Lüscher zu sprechen sei.
»Lassen Sie sich bitte ihre Nummer geben. Ich rufe sie nach dem Frühstück sofort zurück.«
Das wäre ja noch schöner. Ludwig hasste es, wenn Menschen während der Mahlzeiten telefonierten. Die Marotte mancher Manager und vieler junger Leute immer und überall zu telefonieren, dabei fast nur Belangloses auszutauschen und gleichzeitig sich wichtigtuerisch in Szene zu setzen, hielt Ludwig für dekadent. Er würde sein Frühstück nie für Bagatellen unterbrechen, niemals, so viel Kultur musste sein.
Nachdem er in aller Ruhe zu Ende gefrühstückt hatte, ließ er sich von der Rezeption die Telefonnummer von Gerlinde Lüscher in Biberach geben.
»Sorry, Herr Hirschberger, dass ich Sie beim Frühstück gestört habe«, begann Gerlinde Lüscher, der der frühe erste Anruf offenbar peinlich war, das Gespräch.
»Na, Sie können ja nichts dafür, dass ich verschlafen habe. Normalerweise bin ich um diese Zeit schon längst fertig mit frühstücken. Haben Sie mit Doktor Bellmann gesprochen?«
»Ja, habe ich. Und er ist einverstanden, aber nur unter der Voraussetzung, dass Sie rein auf Kostenersatz kommen!«
»Nichts anderes habe ich von einer deutschen Behörde erwartet.«
Ludwig lachte ins Telefon. Dass er kein Honorar bekommen sollte, war ihm völlig egal. Er hatte wieder einen Fall. Die Eintönigkeit des Pensionistendaseins war erst mal unterbrochen. Das war ihm wichtiger als ein paar Euro Beratungshonorar auf seinem Konto.
»Ich packe meine sieben Zwetschgen zusammen und fahre sofort nach Biberach«, beeilte sich Ludwig zu sagen, »und Sie brauchen mir sehr wahrscheinlich noch nicht einmal ein Hotelzimmer bezahlen. Ich habe nämlich noch ein Angebot, das ich wahrscheinlich wahrnehmen werde.«
Ludwig spielte auf seine Jugendliebe Gabi Maurer an, die ihm vor einigen Jahren einmal angeboten hatte, bei ihr zu übernachten, nachdem Ludwig nach zehn Jahren den Mord an ihrem Ehemann Robert Maurer aufgedeckt hatte.
»Ich kann mir schon denken, wo. Bestimmt wohnen Sie wieder bei Lothar Sattler, Ihrem alten Schulfreund«, zeigte sich die Kommissarin gut informiert.
»Gut geraten, aber leider falsch. Der hat inzwischen wieder Familie und da würde ich nur stören. Ich werde, sofern alles klappt, solange bei Frau Maurer wohnen.«
»Auch gut«, meinte Gerlinde Lüscher, »in dem Fall darf ich ja bald mit Ihnen rechnen. Sollen wir Sie vom Bahnhof abholen?«
»Nein, ich bin mit dem Auto hier. Ich werde in knapp drei Stunden bei Ihnen aufkreuzen, Frau Kommissarin.«
Ludwig legte auf und rief sofort bei seiner Jugendliebe an.
»Hallo Gabi, hier spricht der Ludwig aus Wien.«
»Na so eine Überraschung. Gestern noch der große Fernsehstar und heut ruft er bei einer alten Rentnerin und Witwe an. Wie komme ich zu der Ehre, Ludwig?«
Gabi, seine große Jugendliebe, die vor vielen Jahren von einem Tag auf den anderen Schluss mit ihm gemacht hatte. Die sogar nicht einmal mehr mit ihm geredet hatte, bis er den Mord an ihrem Ehemann und seinem Jugendfreund aufklärte. Und quasi als Nebeneffekt erfahren musste, dass sie ihre Beziehung zu Ludwig nur deshalb beendet hatte, weil sie einer abscheulichen Lüge ihres Vaters aufgesessen war.
»Am besten, ich falle gleich mit der Tür ins Haus, Gabi. Ich würde gerne auf dein großzügiges Angebot zurückkommen, das du mir vor ein paar Jahren gemacht hast, und dich fragen, ob es noch gilt, dass ich einige Tage bei dir wohnen kann.«
Ludwig war offenbar tatsächlich mit der Tür ins Haus gefallen, denn Gabi wirkte sichtlich überrascht.
»Was treibt dich nach Biberach? Das Schützenfest ist doch schon vorbei!«, sagte Gabi ironisch.
»Na ja, ein alter Mann braucht eine gewisse Vorlaufzeit. Bis zur nächsten Schützen!« Ludwig musste selbst über seinen Scherz lachen. »Nein, im Ernst«, fuhr er fort, »die Arbeit ruft mich nach Biberach. Die Kripo hat mich um Mitarbeit bei den Entführungsfällen vom Bodensee gebeten. Und so einen interessanten Fall kann ich wohl schlecht ablehnen.«
Ludwig bat Gabi, die ihm natürlich zusagte, bei ihr vorübergehend wohnen zu können, anschließend noch um Diskretion. Er wollte nicht, dass man in Biberach Aufhebens um seine Person machte. Außerdem wusste er nicht, ob es der Kommissarin recht war, dass in seiner Heimatstadt publik wurde, den pensionierten Fallanalytiker aus Wien in den Fall eingeschaltet zu haben.
Nach dem Telefonat mit Gabi checkte Ludwig aus und fuhr sofort los. Sein Navi führte ihn nördlich an München vorbei direkt zur Autobahn 96 Richtung Memminger Kreuz. Er wunderte sich, wie sehr der Verkehr auf der Autobahn 96 zugenommen hatte. Früher, als sie noch eine Schnellstraße gewesen war, hatte er auf ihr einigermaßen entspannt fahren können. Heute wies sie ein Verkehrsaufkommen wie die Wiener Südost-Tangente auf. Aber es war ja zwischenzeitlich sowieso alles anders als früher. Nur wenn man sich längere Zeit irgendwo nicht mehr aufgehalten hatte, fielen solche Veränderungen extrem auf. Und so war es schon nach 13 Uhr, als Ludwig endlich in Biberach bei Gabi ankam.
Gabi lebte nicht mehr in der Villa, die sie mit Robert Maurer zu seinen Lebzeiten bewohnt hatte. Sie war vielmehr nach dem Tod ihrer Mutter und einige Jahre später dem Selbstmord ihres Vaters in das schmucklose Haus ihrer Eltern in der Memelstraße gezogen, in eine komfortable Fünfzimmerwohnung mit zwei Bädern.
In unmittelbarer Nähe vom Liebherr-Wohnhochhaus und dem Fußballstadion verströmten die Gebäude zwar immer noch den spröden Charme des Baustils der 60er-Jahre. Da sie aber ständig renoviert und verbessert worden waren, konnte Ludwig selbst hier den Wohlstand seiner Geburtsstadt spüren.
Gabi begrüßte ihn herzlich und erfreut.
»Na, dass du so lange Zeit nach meinem Angebot noch davon Gebrauch machen würdest, hätte ich nicht mehr gedacht«, sagte sie dann aber mit leicht spöttischem Unterton.
Ludwig hatte ihr zur Begrüßung einen Strauß mit Gerbera besorgt. Auf der Suche nach einer Blumenhandlung war ihm erneut aufgefallen, wie sehr sich seine Geburtsstadt verändert hatte, seit er von ihr weggezogen war. Dort, wo er die Blumengeschäfte in Erinnerung hatte, gab es keine mehr.
Gabi hatte einen köstlichen Marmorkuchen gebacken und dazu einen kräftigen Kaffee gekocht.
»Seit ich vor ein paar Jahren in der Nähe von Wien war, weiß ich, dass ihr den Kaffee viel stärker trinkt als wir«, erläuterte sie.
»Das ist wohl wahr, aber dieser hier kann es mit jedem Kaffeehaus in Wien aufnehmen«, machte Ludwig der Hausherrin Komplimente. »Ich finde es ganz toll, dass ich hier bei dir wohnen darf. Ich hätte auch bei Lothar Sattler unterkommen können, aber der hat ja inzwischen nochmals eine Familie gegründet und da wollte ich nicht stören.«
»Ganz ehrlich: Mich wundert, dass das so lange funktioniert mit dem Lolo. Der war doch noch nie ein Familienmensch. Und seine Laster sind ja sprichwörtlich«, lachte Gabi, die auf den unsteten Lebenswandel des ehemaligen Politikers anspielte.
»Ich weiß es. In einem Telefonat prahlte er einmal damit, dass ihn seine Jelena auf den Pfad der Tugend zurückgebracht habe.«
»Und, glaubst du ihm das?«
»Ich denke eher an einen Spruch von François de La Rochfoucauld: ›Wenn die Laster uns verlassen, schmeicheln wir uns mit dem Wahn, wir hätten sie verlassen.‹ Auch an Lothar Sattler ist die Zeit nicht spurlos vorübergegangen.«
»Und deine Laster?«, fragte Gabi neugierig.
»Meine Laster? Mhm. Schwer zu sagen. Mir fehlen da die Möglichkeiten zur präzisen Einschätzung. Seit mich meine Lea verlassen hat, hat es wenige Möglichkeiten für Laster gegeben.«
»Du hängst wohl noch sehr an ihr?«
Ludwig fragte sich, was Gabi wohl mit dieser Frage bezwecken wollte.
»Ja, in gewisser Weise schon. Genauso wie ich damals jahrelang nicht fassen konnte, dass du mich so grundlos verlassen hattest.«
»Ich weiß. Lug und Trug und eine Mauer des Schweigens haben auch mich damals leiden lassen. Ich kann bis heute nicht begreifen, wie ein Vater seinem eigenen Kind so etwas antun kann. Aber lassen wir das. Wir haben es ja seinerzeit ausführlich diskutiert.«
Gabi schien tief in ihre Gedanken versunken.
»Ja, und auch das ist schon wieder sieben Jahre her. Wir werden alle nicht jünger, liebe Gabi.«
»Aber jetzt erzähle mir mal, was dich dieses Mal nach Biberach verschlagen hat.«
»Du kannst dich doch sicher noch an die Assistentin der Kommissarin von damals erinnern, als dein Mann ermordet aufgefunden wurde, die Frau Schwegler. Die hat in der Zwischenzeit geheiratet und heißt jetzt Lüscher. Sie bearbeitet den Fall mit den sieben entführten Frauen am Bodensee und hat mich um Mithilfe gebeten.«
»Ich weiß. Die meisten Frauen wurden dann an verschiedenen Orten in Biberach freigelassen. Mysteriös, unheimlich, mich fröstelt, wenn ich daran denke.«
»Weil man die Frauen in Biberach freigelassen hat, geht die Polizei davon aus, dass der Täter ein Biberacher ist oder zumindest schon lange hier lebt. Die Stellen, wo man sie gefunden hat, lassen nämlich auf eine ziemlich gute Ortskenntnis schließen.«
»Aber was ich nicht verstehe, warum fragt sie dich? Ich meine, du bist 67 Jahre alt, pensioniert und nicht mehr im aktiven Polizeidienst tätig. Wie kommt die auf dich?«
»Ganz einfach: Die hat mich wie du in dieser Fernsehsendung gesehen mit dem Emilio Ehstatt zusammen und hat sich meiner erinnert. Ich habe schließlich vor sieben Jahren den Mordfall an deinem Mann aufgeklärt. Und da zurzeit alle OFA-Teams in Baden-Württemberg anderweitig beschäftigt sind, hat sie mich um Mitarbeit gebeten.«
»Was bitte ist denn ein OFA-Team?«
»Entschuldige Gabi, da bin ich mal wieder in mein Fachchinesisch gerutscht. Das ist eine Abteilung, die sich mit der operativen Fallanalyse beschäftigt. Immer, wenn die Spurenlage der alltäglichen Polizeiarbeit unzureichend ist, schaltet man heutzutage eine OFA ein. Und weil ich früher in Wien ein solches Team geleitet habe und jetzt unendlich viel Zeit habe, dachte die Frau Lüscher, ich könne ihr womöglich helfen«, erklärte Ludwig.
»Da hast du eine schöne Mammutaufgabe vor dir. Da kann ich mich wohl auf einen längeren Aufenthalt einrichten?«
»Nein, ich hoffe, recht bald eine professionelle Fallanalyse machen zu können, damit ich dir nicht allzu lange zur Last falle.«
»Nein, nein, so war das nicht gemeint. Von mir aus kannst du ein halbes Jahr dableiben. Als einsame Witwe freut man sich, männlichen Besuch in seinen vier Wänden zu haben. Meine Freundinnen von unserem Kaffeekränzchen werden sowieso total eifersüchtig sein«, sagte Gabi kichernd.
Kaffeekränzchen, so etwas wäre Gabi früher sicher nie in den Sinn gekommen. Aber Ludwig wusste aus eigener, bitterer Erfahrung, wie froh man als Alleinstehender im fortschreitenden Alter war, wenigstens zwischendurch mit anderen Menschen reden zu können.
Gleich nach seinem Einzug bei Gabi machte er sich auf den Weg zur Kommissarin. Diese erwartete ihn schon mit großer Ungeduld und Spannung.
»Oh, Sie haben sich aber kaum verändert, Herr Hirschberger, seit wir uns das letzte Mal 2009 gesehen haben. Obwohl, wenn ich Sie mir genauer anschaue, ein paar Pfunde weniger sind es schon geworden!«
Gerlinde Lüscher wusste offenbar, wie man mit alternden Herren umgehen musste. Hocherfreut über das Kompliment – wann hatte er zum letzten Mal eines bekommen? – meinte Ludwig zur Kommissarin:
»Ganz genau zwölf Kilo sind es. Zumindest vor meiner Abreise war das so.«
In der Tat fühlte Ludwig, dass sich seine Spannkraft durch die Gewichtsreduktion drastisch erhöht hatte.
»Aber bevor wir anfangen mit unserer Arbeit: Ich finde, wir sollten uns duzen. Dieses förmliche Sie hindert uns doch nur bei der Arbeit. Ich bin der Ludwig.«
»Und ich die Gerlinde«, sagte die Kommissarin ziemlich erleichtert und schloss Ludwig kurz in die Arme.