Endstation Demenz-WG? - Anonyma - E-Book

Endstation Demenz-WG? E-Book

Anonyma

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Beschreibung

Statt Hartz IV in die Pflege. Diesen Weg nahm die Autorin dieses Buches. Ohne Vorbereitung kam sie in eine Welt, in der Menschenwürde nichts gilt, in der Pflegekräfte verschlissen und Pflegebedürftige ruhig gestellt werden. Sie erlebte Gewalt, Vernachlässigung, Mobbing und Gleichgültigkeit. Zwei Jahre arbeitete die Autorin, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, auf einer Demenz-WG. Sie wurde Erfüllungsgehilfin in einem rigiden System: unfreiwillig, verzweifelt und hilflos. Die Autorin ist keine Pflege-Expertin, keine examinierte Fachkraft, sondern nur eine Pflegehelferin, die nachlässig vermittelt und rücksichtslos ausgebeutet wurde. Sie klagt nicht an, sie stellt lediglich fest, was ihr widerfahren ist. Ein weiteres Plädoyer für eine andere Art der Pflege in Deutschland. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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Anonyma

Endstation Demenz-WG?

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Endstation Demenz-WG?

Zwei Jahre als Pflegehelferin

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89993-317-8 (Print)ISBN 978-3-8426-8462-1 (PDF)ISBN 978-3-8426-8500-0 (EPUB)

Die Autorin wurde aus der Arbeitslosigkeit heraus als Pflegehelferin vermittelt. Zwei Jahre lang arbeitete sie in einer Demenz-WG. Die Erfahrungen dieser zwei Jahre prägten sie nachhaltig.

© 2014Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden. Alle Angaben erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Autoren und des Verlages. Für Änderungen und Fehler, die trotz der sorgfältigen Überprüfung aller Angaben nicht völlig auszuschließen sind, kann keinerlei Verantwortung oder Haftung übernommen werden. Die im Folgenden verwendeten Personen- und Berufsbezeichnungen stehen immer gleichwertig für beide Geschlechter, auch wenn sie nur in einer Form benannt sind. Ein Markenzeichen kann warenrechtlich geschützt sein, ohne dass dieses besonders gekennzeichnet wurde.

Umschlaggestaltung:

Michael Fröhlich, Hannover

Titelbilder:

Chariclo; Peter Atkins –

fotolia.com

Satz:

PER Medien+Marketing GmbH, Braunschweig

Druck:

Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza

Vorwort

Der Begriff »Endstation« im Buchtitel weckte in mir verschiedene Assoziationen: Einerseits erschien mir das Bild einer ausweglosen Sackgasse, andererseits auch die Vorstellung vom Ende einer Reise – endlich angekommen! Beim Lesen des Textes wurde mir schnell klar, dass wohl ersteres gemeint war. Die Autorin schildert in drastischen Bildern ihre Erlebnisse in einer sogenannten Demenz-Wohngemeinschaft, eine von einem ambulanten Pflegedienst betreuten Wohngruppe von Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Die Erfahrungen in der Wohngemeinschaft sind geradezu körperlich nachzuempfinden, gehen mitunter buchstäblich unter die Haut. Insoweit bestätigen sie unser aller Vorurteile über die Altenpflege in Deutschland: mehr oder weniger lieblos, mit zu wenig und schlecht ausgebildetem Personal ausgestattet, werden alte pflegebedürftige Menschen verwahrt.

Nur Vorurteile? Die Pflege alter Menschen leidet in Deutschland nach wie vor unter einer Reihe von unzureichenden Rahmenbedingungen – trotz vieler Errungenschaften des Sozial- und Gesundheitssystems. Angefangen bei dem mangelnden gesellschaftlichen und politischen Interesse, über die fehlende Anerkennung der Pflegeberufe (vor allem durch adäquate Bezahlung!), bis zu einer zunehmenden Kommerzialisierung des Gesundheits- und Pflegesektors. Als wäre dies nicht alles bereits schlecht genug, erleben wir derzeit – und wohl auch zukünftig – einen eklatanten Mangel an Menschen, die bereit und in der Lage sind, einen Pflegeberuf auszuüben.

Die Auswirkungen all dieser Rahmenbedingungen findet man in dem beschriebenen Mikrokosmos der Demenz-Wohngemeinschaft wieder: Einen offenkundig an Profitmaximierung interessierten ambulanten Pflegedienst, der primär schlecht oder gar nicht ausgebildete Hilfskräfte für die Pflege und Betreuung einsetzt, und diese nicht in der notwendigen Anzahl.

Also alles zum Verzweifeln? Ich meine nicht. Denn gerade in den letzten beiden Jahrzehnten hat die Altenpflege in Deutschland enorme Fortschritte gemacht – vor allem konzeptionell. Nach jahrzehntelanger Orientierung an Krankenhäusern, hat man – nicht zuletzt gefördert durch alternative Pflegeangebote, wie zum Beispiel Wohngemeinschaften – die Wohnlichkeit in Pflegeheimen (wieder) entdeckt. Kleinere Wohneinheiten – gerade für Menschen mit Demenz –, mehr Einzelzimmer und Präsenzkräfte auf den Etagen, sind heutzutage keine Einzelfälle mehr. Auch die Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz sind – wenn sie gut gemacht sind – eine segensreiche Alternative zur Pflege zu Hause oder im Pflegeheim. Leider konstatieren wir aber in den letzten Jahren eine Entwicklung bei den Wohngemeinschaften, die wenig Anlass zur Freude bietet. Waren es anfänglich vor allem die an Qualität orientierten Pflegedienste, die gemeinsam mit Angehörigen und rechtlichen Betreuern solche Wohngemeinschaften ins Leben gerufen hatten, sind es heute zunehmend solche, die Menschen mit Demenz als lukrative Zielgruppe entdeckt haben und häufig weder über Erfahrungen noch über geeignetes Personal verfügen, um die Menschen in den Wohngemeinschaften entsprechend zu versorgen.

Fast gänzlich auf der Strecke geblieben ist der ursprüngliche Ansatz der Wohngemeinschaften, ein nutzergesteuertes Konstrukt zu sein, bei dem der ambulante Dienst als Gast auftritt und die WG-Mitglieder die wesentlichen Teile des Alltagslebens selbst bestimmen. Kritisch betrachtet handelt es sich z. B. bei Berliner Pflege-Wohngemeinschaften zu 90% (Prof. Dr. Thomas Klie) um Kleinstheime, die allerdings weitgehend unreguliert und unkontrolliert ihre Dienste auf dem Pflegemarkt anbieten.

Zudem ist beispielsweise der WG-Markt in Berlin mittlerweile überhitzt: Es herrscht ein Überangebot an WG-Plätzen und ein dramatischer Mangel an geeigneten Mitarbeitern, um die vielen Wohngemeinschaften personell adäquat auszustatten. Was das in Berlin und anderswo bedeutet, wird in diesem Buch deutlich. Umso mehr hervorzuheben ist der Einsatz der Mitarbeiter in solchen WG’s, wie sie hier geschildert werden, die – häufig auf sich allein gestellt – bis an die Grenzen ihrer körperlichen und seelischen Belastungsgrenzen arbeiten.

Wie gut die Versorgung in einer Wohngemeinschaft sein könnte, blitzt immer mal wieder in kleinen Episoden auf: Wenn zufällig einmal zwei Kollegen mit einem hohen fachlichen und ethischen Anspruch zusammen Dienst haben und erkennbar wird, wie die demenzkranken Bewohner aufblühen, sobald ausreichend motiviertes und mit sozialer Kompetenz ausgestattetes Personal vorhanden ist. In solchen Momenten wird deutlich, was Endstation auch bedeuten könnte: Einen Ort gefunden zu haben, wo man behütet alt werden kann und in einer würdigen Umgebung auch sterben darf.

Es muss einiges passieren, damit Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz (wieder) das werden, was sie vorgeben zu sein: Orte, an denen die Bewohner die »Herren im Haus« sind, an denen sich der Pflegedienst mit Respekt und Kompetenz bewegt und die Einnahmen aus der Pflege und Betreuung zum höchstmöglichen Teil, in Form von ausreichender Personalausstattung, an die Bewohner zurückgibt.

Nach nunmehr 17-jähriger Erfahrung mit dieser Wohnform glaube ich nicht mehr daran, dass der Markt dafür sorgt, dass ausreichende Qualität bei Pflege-Wohngemeinschaften gewährleistet werden kann. Ob Profitinteresse, Naivität oder Überschätzung der eigenen Fähigkeiten dafür verantwortlich sind, kann den sorgebedürftigen WG-Bewohnern letztendlich egal sein. Ihr Interesse ist es, vernünftig und liebevoll versorgt zu werden. Wenn dies offenkundig vielen Anbietern nicht gelingt, müssen Qualitätsstandards vonseiten der Kostenträger und Aufsichtsbehörden etabliert und durchgesetzt werden, die speziell auf Pflegewohngemeinschaften für Menschen mit Demenz zugeschnitten sind. Das würde nicht nur zukünftig einen besseren Schutz für die Bewohner bedeuten, sondern auch für die Mitarbeiter in den Wohngemeinschaften die Chance beinhalten, unter erträglicheren Rahmenbedingungen ihre harte Arbeit zu verrichten.

Wenn unsere Gesellschaft aber auch in Zukunft ihre alten Mitmenschen von geschulten und motivierten Menschen versorgen lassen will, wird sie um höhere Investitionen in die Altenpflege nicht herum kommen. Eine Beitragssteigerung von 1% im Rahmen der letzten Pflegereform, des Pflegeneuausrichtungsgesetzes – was für ein Wortungetüm! –, kann da nur als schlechter Witz erscheinen.

Die Mehrzahl der Menschen in Deutschland – davon bin ich überzeugt – wird eine Mehrbelastung durch einen höheren Pflegeversicherungsbeitrag akzeptieren, zumal das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, für jeden erkennbar und erschreckend real ist. Vielleicht heißt das nächste Buch der Autorin dann ja: »Paradies Demenz-WG«. Das würde ich uns allen wünschen.

Klaus Werner Pawletko,Geschäftsführer »Freunde alter Menschen e. V.«, Berlin

Einleitung

Bevor ich auf Hartz IV angewiesen war, betrieb ich eine kleine Praxis mit physiotherapeutischem und ernährungsmedizinischem Angebot. Ich kümmerte mich um die Organisation, Werbung und Marketing, musste jedoch erkennen, dass die Arbeitszeit und die Verantwortung für mein Personal mehr Kraft forderten, als ich geben konnte. Als alleinerziehende Mutter zweier Töchter stieß ich an meine Grenzen und schloss Ende 2007 meinen Betrieb. Bis dahin verfügte ich über eine abgeschlossene Berufsausbildung im Einzelhandel und ein selbstfinanziertes Fernstudium zur Gesundheitstherapeutin.

Vom Jobcenter gab es flugs ein Angebot. Ich war erfreut und gleichzeitig gespannt, was sich hinter dem Vorschlag verbarg: Die Stellenausschreibung trug den klangvollen Namen »Mobile in Teilzeit«. Ich rief sofort die zuständige Sachbearbeiterin an und erfuhr, dass es sich um eine Arbeitsgelegenheit nach § 16d Satz 2 SGB II mit Mehraufwandsentschädigung handelte. MAE-Kraft könnte man sagen, im Volksmund besser bekannt als »Ein-Euro-Jobber«.

Vier Wochen lang saß ich nun von montags bis freitags mit 15 Damen zwischen 20 und Anfang 50 im Stuhlkreis. Wir verständigten uns in allen möglichen Sprachen, manchmal auch in Deutsch. Wie meine zukünftigen Kolleginnen in der Altenpflege kamen auch einige dieser Damen aus Handwerks-, Gastronomie- oder kaufmännischen Berufen. Viele waren langzeitarbeitslos oder alleinerziehende Mütter wie ich. Frau S., unsere Ansprechpartnerin, erinnerte uns immer wieder daran, dass in den Gesundheits- und Pflegeberufen händeringend nach Mitarbeitern gesucht würde. »Unser Ziel ist, mit Ihnen gemeinsam den ersten Arbeitsmarkt zu erklimmen. Die Aussichten in der Altenpflege sind dafür besonders gut.« Ob wir denn nicht auch in anderen Berufen …? Nein, eigentlich nicht … Ich sah mein Ziel zunächst in Bereichen, von denen ich Ahnung hatte. Doch es kam anders als ich dachte.

Nach wenigen Wochen machte ich mich auf in die Arbeitserprobung. Für 1,50 Euro/Stunde beschäftigte ich nun in einer Tagesstätte jeden Tag bis zu zehn pflegebedürftige Menschen mit geistigen und körperlichen Einschränkungen. Ich machte die Arbeit gern. Die Menschen waren nett und in ihrer ganz eigenen Art sehr faszinierend. Offensichtlich fiel es auch meiner Vorgesetzten auf, dass ich gern zur Arbeit kam. Keine zwei Monate später vermittelte sie mich an einen Pflegedienst, der mich für eine Wohngemeinschaft einteilte. Der erste Arbeitsmarkt hatte mich wieder!

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An meinem ersten Arbeitstag stand ich morgens, kurz vor sechs Uhr vor einer Wohnungstür in der zweiten Etage eines Mehrfamilienhauses und zögerte. Die letzte Nacht hatte ich schlaflos in meiner Küche verbracht. Wie würden die Bewohner auf mich reagieren? Funktionierten alle Absprachen mit meinen Kindern? Die letzten beiden Tage hatte ich versucht, alles zu organisieren, um den Job und meine Kinder unter einen Hut zu bringen.

Ich klingelte entschlossen an der Wohnungstür. Eine Pflegerin öffnete. »Wusste gar nicht, dass heute jemand Neues kommt«, sagte sie knapp. »Klopf beim nächsten Mal gegen die Tür. Aber leise! Man hat Dir doch sicherlich gesagt, dass die Bewohner um diese Zeit noch schlafen.« Ich schüttelte den Kopf – außer der Adresse hatte ich nichts erhalten – und trat ins Foyer. Zwei voll beladene Wäscheständer bildeten den Blickfang. Es roch nach Reinigungsmitteln und feuchter Wäsche. Der Fliesenboden war kalt, die Wände kahl. Etwas zögerlich folgte ich der Frau in die Wohnküche. Ein junger Mann saß dort und stellte sich freundlich vor. »Ich bin Kai1, Dein Teamleiter. »Das«, er zeigte auf die Frau, die mich begrüßt hatte, »ist Bea, Pflegerin hier.« Wir setzten uns auf eine wackelige Eckbank. Kai goss Kaffee ein und Bea erzählte, dass ich die Dienste einer vor Kurzem gekündigten Kollegin übernehmen sollte. »Wir waren schockiert, dass die einfach so gefeuert wurde. Keiner weiß, warum. Aber das ist hier normal.«

In der Wohnküche stand ein großer Esstisch. Eine durchgehende Fensterfront sorgte für ausreichend Licht. Neben der Küchenzeile war eine kleine Tür, offensichtlich eine Abstellkammer. Ich ließ meinen Blick schweifen, trank einen Schluck Kaffee und atmete allmählich ruhiger. Als sich jedoch die Tür zur vermeintlichen Abstellkammer öffnete und ich erstaunt zu Bea sah, sagte sie lapidar: »Jetzt kommt Herr J. und will zur Toilette. Wenn Du da nicht gleich springst, regt der sich sofort auf.« Ein zierlicher Mann schob sich im Zeitlupentempo durch die Tür. Er blinzelte zu uns herüber und robbte, immer schön an der Küchenzeile lang, an uns vorbei. Eine Stimme in mir sagte: »Nun sag doch wenigstens ›Guten Morgen‹«, aber ich bekam keinen Ton heraus. Herr J. schlurfte derweil weiter, in durchnässtem Inkontinenzmaterial, mit herunterhängender Pyjamahose. Mit einer Hand hielt er den Bund seiner Pyjamahose fest. Kai und Bea tranken ihren Kaffee. Offensichtlich war es nicht ernst gemeint, dass man bei Herrn J. »gleich springen« müsse, denn beide ignorierten den alten Mann. Erst als Herr J. es bis in den Flur geschafft hatte, stand Kai seufzend auf und ging hinterher. Auch Bea hatte es jetzt eilig. Sie trank ihren Kaffee aus, verschwand flotten Schrittes im Flur, kehrte kurze Zeit später in Hut und Mantel zurück, griff nach ihrer Tasche und wünschte mir viel Spaß. »Herr M. schleicht bereits im Flur herum«, sagte sie, »hörst Du das nicht?« Tatsächlich war ein eigenartiges Geräusch zu hören. Als würde etwas Metallenes irgendwo gegen schlagen. »Ich habe jetzt Feierabend«, bemerkte Bea. »Herr M. ist mit Vorsicht zu genießen – aber mach’ Dir keinen Kopf und warte lieber auf Kai.« Beiläufig verriet sie mir noch, dass Herr M. ganz gern mal handgreiflich würde, wenn es nicht nach seinem Kopf ginge. Dann verschwand sie.

Zögernd verließ ich den sicheren Hafen der Wohnküche und ging auf den Flur. Im schmalen Lichtkegel einer offenen Tür stand ein Mann. Wahrscheinlich Herr M. Er klopfte mit einer Hand auf seinen Kopf, mit der anderen hielt er irgendetwas fest. Dabei trippelte er auf der Stelle und drehte sich immer wieder um die eigene Achse. Ein Hosenträger seiner Jeans schlug auf den Fußboden. Das war das metallene Geräusch, das ich zuvor gehört hatte. Zwischen Türrahmen und Flur lag etwas auf dem Boden, eine Decke oder ein Kissen, vermutete ich. Herr M. stupste gelegentlich mit dem Fuß dagegen.

Aus dem Badezimmer hörte ich Herrn J. ein lang gezogenes »Meeensch« schreien, kurz darauf ein tröstendes Gemurmel von Kai. Das konnte noch dauern! Also entschied ich mich trotz Beas Warnung, Herrn M. zu begrüßen und mich vorzustellen. Der hatte zwischenzeitlich das Trippeln aufgegeben und sich in meine Richtung in Marsch gesetzt. Je näher er kam, desto besser konnte ich ihn sehen. Er trug nur einen Schuh und ein langes Hemd, an dem er sich die Hände abwischte. Sein Unterleib war nackt. Er war überall mit Kot beschmiert, selbst sein Haar war mehr bräunlich als grau. Was ich vorher für eine Decke oder ein Kissen gehalten hatte, war sein Inkontinenzmaterial, das er offenbar schon mal »gewechselt« hatte.

Ich riss mich zusammen. »Ich bin Anja«, sagte ich. »Kann ich Ihnen helfen?« Mir war angst und bange. Es waren noch keine 30 Minuten vergangen, seit ich angekommen war. Ich hatte keinen Plan, was ich machen sollte. Aber ich musste eine Entscheidung treffen. Herr M. schmierte den ganzen Boden voll. Er schwankte beim Gehen, drohte zu stürzen. Also klopfte ich an die Badezimmertür. Kai guckte raus und sah sofort mein Problem. »Traust Du Dir zu, mit Herrn M. ins andere Bad zu gehen?«, fragte er mich. Ich nickte – was blieb mir übrig? Kai reichte mir noch ein paar Einmalhandschuhe, sagte: »Ich bin gleich fertig«, und kehrte zurück zu Herrn J., der inzwischen lauthals schimpfte.