Endstation Sehnsucht - Malcom Brady - E-Book

Endstation Sehnsucht E-Book

Malcom Brady

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Beschreibung

Die beiden Freunde Claudio Guerrero und Luis Legoas lernen auf einer Kreuzfahrt den kubanischen Musiker Ruben Cadelo kennen. Beeindruckt von dessen Lebensgeschichte entschließen sie sich spontan dazu seine Familie aus Kuba herauszuholen. Bei der Flucht soll ihnen ausgerechnet der schwerkranke Kapitän Efraim Rodriguez helfen, der nach Auskunft seiner Ärzte nur noch ein Jahr zu leben hat. Auf der tropischen Karibikinsel Kuba stellen sich die Dinge zunächst jedoch ganz anders dar und die beiden Freunde genießen das fröhliche Leben auf der Ferieninsel. Durch den Trunkenbold Norberto erfahren sie von der Lage der 1711 mit wertvoller Ladung gesunkenen, spanischen Galeone Santisima Trinidad und es gelingt ihnen sogar einen Teil des Schatzes zu bergen. Doch wie wollen sie die wertvollen Objekte zusammen mit fünf Flüchtlingen aus Kuba herausbekommen? Zumal der zwielichtige holländische Geschäftsmann van Ruid von der Sache Wind bekommen hat und ihnen ganz schön im Nacken sitzt.

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Seitenzahl: 470

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Malcom Brady

Endstation Sehnsucht

Ein Roman aus Kuba

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Impressum neobooks

PROLOG

Sein Auftritt war brilliant, wie immer. Die Besucher der Viking Lounge Bar an Bord des Kreuzfahrtschiffes Marilu spendeten lauten Beifall, bevor sie ihn zu später Stunde in seine Kabine entließen. Drinnen stellte Rubén den Koffer mit der alten Gibson Gitarre in eine Ecke, entledigte sich seiner verschwitzten Kleidung und goss sich Rum in ein Glas, das zusammen mit der Flasche auf einem kleinen Holztischchen stand. Wenige Zeit später setzte er sich auf seine Koje und trank die bernsteinfarbene Flüssigkeit. Danach genehmigte er sich einen Zweiten, bis er spürte, wie die Wirkung des Alkohols ihn benebelte. Mit glasigen Augen beäugte er die halbleere Flasche. Mit zittriger Hand griff er unter sein Kopfkissen. Hier hatte er etwas ganz besonderes versteckt: Seine geheimen biografischen Aufzeichnungen. Mit feuchten Augen schlug er das Notizbuch auf und las die verblassten Buchstaben jener Wörter, die er vor vielen Jahren auf einer alten Schreibmaschine geschrieben hatte. Langsam kam die Erinnerung zurück:

„Los Chicos, macht schnell. Ihr könnt nicht ewig in der Nähe des Hotels herumhängen. Die Alte an der Rezeption ist mal kurz für kleine Mädchen. Ich habe extra für euch das Fenster aufgelassen.“

Es ist der 05. September 1982 und ich bin im Begriff meinen beiden Freunden Valder und Nacho Zugang zum Hotel Camagüey zu verschaffen.

„Bist du dir auch ganz sicher, dass es klappen wird?“, fragt Valder ein wenig unsicher.“ Noch niemals zu vor, hat er auf unerlaubter Weise ein Gebäude betreten, dazu ist das Hotel Camaguey eine Klasse für sich und ausschließlich ausländischen Touristen vorbehalten. „Was wir hier zu suchen haben? Nun, ich selbst habe am Nachmittag beieiner Veranstaltung mit einer Folkloregruppe teilgenommen. Populare, kubanische Musik nennt sich das Ganze. Nicht, das es mir besonderen Spaß bereitet, vor irgendwelchen gelangweilten Touristen „Guantanamera“ zu spielen, aber immerhin bringen solche Veranstaltungen ein extra Trinkgeld. Außerdem geben sie mir die Möglichkeit, mich ganz legal an einem privilegierten Ort aufzuhalten.

„Die Instrumente stehen hinten im Saal. Passt bloß auf, das ihr nichts beschädigt.“

Vorsichtig schleichen wir in den Saal. Tatsächlich, die Instrumente befinden sich noch an jenem Platz, wo sie die Musiker am Nachmittag hatten stehen lassen. Ich schnalle mir die Gitarre um, Valder setzt sich hinter das Schlagzeug und Nachogreift zum Bass.

„Vaya, que bien se siente, wie gut sich das anfühlt. Gib mir mal ein A! Moment. Ja, Klasse. Warte, ich spiele dazu eine Melodie auf der Gitarre...„ Gesagt, getan. Ein Akkord folgt dem nächsten. Am Ende haben wir die Grundmelodie für unseren ersten Song zusammen. Seit Beginn der Musikhochschule, träumen wir davon, eine eigene, professionelle Rockband zu gründen. Sie würde gleichzeitig die erste in Kuba sein. Alles läuft wie am Schnürchen. Die kurze Probe mit den illegal ausgeliehenen Instrumenten kommt uns so umwerfend vor, dass wir beschließen, unseren Song aufzunehmen, und sei es auch nur für die Erinnerung. In jedem Fall ist uns klar, diese Aktion muss wiederholt werden. Eigentlich wollen wir nur Musik machen, aber dazu fehlen uns die Instrumente. Die kann man im Kuba der 80er Jahre nicht einfach in einem Laden kaufen. Es gibt kein Musikgeschäft in Kuba. Wenn überhaupt, dann werden die Instrumente vom Staatverifizierten Musikern zur Verfügung gestellt. Das nennen sie Medios Basicos – Volkseigentum.

Die nächste Möglichkeit an Musikinstrumente heranzukommen ergibt sich ein paar Wochen später in einem Kabarett mit dem Namen Maracas. Doch der Tag fängt schon mal beschissen an. Draußen ist es einfach viel zu heiß.

Die Hitze!

Die Luft ist dick, so dass man sie fast greifen kann. Der schlechte Asphalt klebt einem an den Schuhsohlen fest. Die Sonne steht tief an einem wolkenlosen Himmel. Mir brummt der Kopf. Das Haus steht duldsam in der Hitze. Es hat ihr schon etliche Jahrzehnte widerstanden und wird es auch weiterhin tun. Über der Eingangstür hängt ein bemaltes Schild. Maracas steht drauf. Wir schleichen in den kleinen Saal, kommen uns wieder wir Diebe vor. Valder hätte beinahe den Bass umgestoßen.

„Sei doch vorsichtig, verdammt!“

Ich nehme die Gitarre und greife ein paar Akkorde. Scheiße, die Akustik ist schlecht.

„Das wird nichts heute“, meinte Nacho, der mit dem Tönen des Basses ebenfalls nicht wirklich zufrieden ist. Und wenn etwas schief laufen soll, dann läuft es auch schief.

„Hey, ihr da, was tut ihr denn da?“

„Scheiße, der Direktor, wir sind aufgeflogen!“

Zu unserem Glück ist es aber nicht der Direktor, sondern Yadrian, der Saxophonspieler jener Folkloregruppe, bei der ich Gitarre spiele. Ich versuche ihn zu beruhigen.

„Hör zu Yad, dreh jetzt bitte nicht durch. Wir haben uns nur mal kurz die Instrumente ausgeliehen. Ist ja nichts weiter passiert und außerdem bringt das alles bei dieser beschissenen Akustik hier drinnen, sowieso nichts!“

Yadrian lässt sich beruhigen. Er wird uns nicht verraten. Trotzdem ist die Aktion ein Disaster. Und wir haben doch noch so viel vor..

Tatsächlich behalten wir den Optimismus, den wir benötigten um weiter zu machen. Valder konstruiert ein „Bombo“. Das ist eine alte Holzkiste mit irgendeinem Becken ähnlichen Teller obendrauf. Mit dieser Drum, einer Gitarre und einer Harmonica spielen wir die ersten Songs ein. Das geht so weiter, bis zum November. Dann tritt plötzlich ein Mann in unser Leben, dessen Eigeninteresse uns einen gewaltigen Schritt voranbringen soll. Sein Name ist Lazaro. Er ist irgend so ein Parteifunktionär oder Geschäftsmann, obwohl er sich uns gegenüber zunächst als Komponist ausgibt

„Hey Jungs, ich habe gehört, ihr habt eine Band und schreibt Songs? Was haltet ihr davon, wenn wir mal im Studio des Radiosenders eine Probeaufnahme machen?

„Toll, das wäre gigantisch“, sage ich, obwohl mir der Typ nicht ganz koscher vor kommt. Seine Bedingungen stellt er dann auch umgehend: „Also gut, aber vorher müsst ihr mich bei einem meiner Songs begleiten.“

Das ist es also. Wir sollen für ihn den Background spielen. Nun, warum nicht, wenn wir dafür im Gegenzug auch unser Lied aufnehmen dürfen...?

Wir borgen uns die Instrumente aus dem nahegelegenen Theater. Die Aktion setzt eine große Herausforderung an Intelligenz und organisatorischem Geschick voraus. Wir bemerken sehr schnell, dass der Typ überhaupt nicht singen kann. Nacho springt für ihn ein. Das Lied wird gut, aber unser Song wird besser. Er besteht genau aus jenen Akkorden, die wir bereits im September zusammengebastelt haben. So entsteht am 11 November 1982 die Band „Estudio Rocas“, wie wir sie seit unseren Anfängen auf der Nationalen Kunst und Musikhochschule geplant haben. Die Instrumente für die Aufnahme borgen wir uns aus dem nahegelegenen Theater,Dann kommt der Moment, als ich unser Lied zum ersten Mal im Radio höre. Wow, was für ein Glücksmoment für mich, auch wenn es einer Band von Exil-Chilenen zugeschrieben wird. Eine Tatsache, die unsere Bedeutung in der Öffentlichkeit merklich aufwertet.

Weitere Aufnahmen folgen. Allerdings immer nur an den Montagen. Dann ist das gegenüberliegende Theater geschlossen und die Folkloregruppe, zu der ich nach wie vor gehöre, hat frei. So schleppen wir abends die geliehenen Instrumente zum Radiosender, nehmen unsere Songs auf und bringen sie in der Nacht wieder zurück. Unser Lied wird nun fast täglich im Radio gespielt. Uns fehlt es nicht an ausgeklügelten Taktiken, oder riskanten Strategien, um die von dem politischen System erstellten Hürden zu überspringen. Wir versuchen ständig unser Equipment zu verbessern und übergehen den so cleveren Geschäftsmann, der uns für seine Rechte als Kompositor auch noch prächtig bezahlen lassen möchte. Dafür beziehen wir diesmal die Presse mit ein. In einem von uns glänzend präparierten Artikel erklären wir, keine Rockmusiker zu sein, auch wenn wir natürlich genau das sind. Offiziell spielen wir etwas ganz anderes als das, was auf Englisch von unserem Klassenfeind, den Amerikanern kommt.

Im April 1983 wird Nacho auf Pedro, einem begnadeten Pianisten und Sänger aufmerksam. Uns gelingt es ihn zum mitmachen zu überreden. Von jetzt an sind wir zu viert und ändern den Bandnamen Studio Rocas in Rocas um, denn wir wollen mehr als nur eine Studioband sein. Unser Ziel ist es öffentlich aufzutreten. Mit allem, was uns zur Verfügung steht, stürzen wir uns ins Showgeschäft. Als Proberaum dient uns ab sofort Pedros umgebautes Wohnzimmer, in dem auch das alte Piano steht, das er sich angeschafft hat. Wir verteilen sämtliche Möbel auf die anderen Räume, aber noch fehlt uns das wichtigste, um öffentlich auftreten zu können: Die Erlaubnis, sowie die Anerkennung als professionelle Rockmusiker, durch die lokale Kulturbehörde. Zusammen mit einem Kollegen am Saxofon, nehmen wir sechs weitere Songs auf. Sie werden von den lokalen Radiosendern dankend aufgenommen und fast ununterbrochen gespielt. Das bringt uns einige Pluspunkte ein. Es sind auch die Aufnahmen jener neuen Songs mit denen wir bei der lokalen Kulturbehörde vorsprechen. Das Gespräch verläuft in etwa so:

„Ihr wollt also eine Musikgruppe gründen?“

„Nun ja...“

„Und was spielt ihr?“

„Etwas Elektronisches.“ Die Antwort kommt etwas zögerlich, schließlich wollen wir ja nicht gleich die Katze aus dem Sack lassen.

„Nein, davon haben wir bereits schon eine“, sagt der Beamte und als er unsere enttäuschten Gesichter sieht, fügt er noch schnell hinzu: „Wenn ihr vielleicht etwas anderes spielen wollt...möglicherweise könnte ich da...“

Unglaublich! Nie zu vor sind mir die Auswirkungen einer Planwirtschaft derart vor Augen geführt worden. Aber sollen wir deshalb aufgeben? Mit Sicherheit nicht.

Für den nächsten Anlauf bereiten wir uns besser vor. Diesmal wenden wir uns an einen anderen Beamten, der uns als einen echten Kenner der Materie Musik unter der Hand empfohlen worden ist. Aber in dem Moment, als wir in sein Büro treten, wissen wir, das dem nicht so ist. Der Typ ist dick und rund und scheint sich wohl eher in der Gastronomie auszukennen. Von Musik hat er jedenfalls nicht die leiseste Ahnung.

Wie manche Leute an ihre Posten kommen...

Wie dem auch sei, jedenfalls scheint unser Beamte ein feines Gespür zu besitzen, wie oder durch wen er sich einen Vorteil verschaffen kann. Bei uns erkennt er anscheinend ein gewisses Potential, was ihn dazu veranlasst sich einigermaßen wohlwollend über unsere Musik zu äußern. Es folgen weitere Treffen dieser Art, bei denen fast immer sogenannte Spezialisten zugegen sind. Schließlich bietet man uns an, eine Probevorstellung vor einem erlesenen Publikum zu geben. Danach wird man entscheiden, ob man uns als professionelle Musiker anerkennen kann. Uns steht die nächste Herausforderung an eine unserer größten Fähigkeiten bevor: Das taktieren mit risikoreichen Strategien.

Als Ort des Geschehens wählen wir das Theater „José Luis Tasende“ aus. Dort ist die Akustik allemal besser, als in jenen Kleinbühnen, die uns der Beamte vorschlägt.Trotzdem kostet es uns jede erdenkliche Mühe, ihn davon zu überzeugen. Der gute Manngeht dann auch gleich auf Nummer sicher und überträgt den Event an einen, ihm unterstellten Offizier Namens Ivan. Und dieser Ivan ist eine schier unglaubliche Type, so etwas wie eine perfekte Politmaschine. Er ist wie ein Korken im Wasser, der niemalsuntergeht. Niemals untergehen kann, weil er sich im Wasser nach allen Seiten bewegt und immer auf der Oberfläche schwimmt. Uns gelingt es, den “Korkenmann“ um den Finger zu wickeln. Er tut uns jeden erdenklichen Gefallen, unterschreibt eine Vollmacht nach der anderen. Durch ihn sollen wir den besten, Tontechniker der Stadt bekommen, und dazu das einzige, existierende Mischpult von ganz Camagüey.

Auch wenn die Veranstaltung nicht öffentlich ist, die Mundpropaganda hat wahre Wunder geleistet. Unser Auftritt ist bei meinen Landsleuten bekannt, auch Dank der permanenten Präsentation unserer Songs im Radio. Wir bereiten uns so gut, wir eben können, auf den großen Tag vor. Ein privater Transportunternehmer bringt unser Equipment ins Theater. Sein Name ist Rafael. Er soll von nun an unser ständiger Begleiter sein, sowohl physisch, als auch als Aktiv-Posten auf unserer Ausgabenseite. Und wieder müssen wir uns die Instrumente ausleihen.

Die Anlage steht, der Soundcheck verläuft positiv. Im Hintergrund spielt Musik vom Band.Pedro, Valder, Nacho und ich nehmen die Instrumente in Beschlag. Und dann passiert es:

„Hey Frank, siehst du das auch?“

„Falls du den Rauch meinst, ja den sehe ich. Es riecht auch so verdammt komisch hier drinnen. Scheiße, ich kann fast gar nichts mehr sehen!“

Wir verstehen die Welt nicht mehr. Was ist geschehen? Die Antwort gibt uns der Tontechniker. Das einzig in Camagüey existierende Mischpult ist explodiert. An eine Vorstellung ist an diesem Tag nicht mehr zu denken. Ernüchtert packen wir die Instrumente ein und verlassen das Theater. Einen Tag später läuft die Gerüchteküche von Camaguey auf Hochtouren. Was ist geschehen und wer ist dafür verantwortlich?

Der Schuldige an dem Missgeschick ist schnell gefunden: „Der Korken-Mann.“Doch clever, wie der einmal ist, schiebt er die Schuld dem Tontechniker in die Schuhe. Und der bekommt nun die ganze geballte Wut des Parteiapparates zu spüren. Pannen wie diese, sind in einer Planwirtschaft nicht vorgesehen.

Erst am 29 Februar 1984 dürfen wir wieder ran. Diesmal werden wir von einem Bus abgeholt und direkt ins Theater gebracht. Auch ein neues Mischpult, stellt man uns zur Verfügung. Angeblich soll es das Beste sein, was in der Provinz aufzutreiben ist. Diesmal ist das Theater so voll, wie eine Sardinenbüchse. Wir haben Kultstatus erreicht. Dementsprechend gut drauf, scheinen sich die Besucher zu fühlen.

Die Szenerie kommt uns gespenstisch, fast schon unwirklich vor. Die überwiegend jungen Leute schreien und halten Plakate mit der Aufschrift „Rocas“ in die Höhe. Uns ist bewusst, dass die meisten von ihnen, genauso wie wir auch etwas anderes wollen. Etwas das fetzt und sich von der Volk Musik Kubas abhebt. Sie wollen Rock!

Ivan, der Korken-Mann gibt uns ein Zeichen nach dem anderen. Wir sollen endlich anfangen, bevor das Publikum noch ganz ausflippt. Er sieht aus, wie ein Fußballtrainer am Spielfeldrand. Wir legen los, was das Zeug hält. Zwischendurch versuchen wir die jungen Leute zu beruhigen. Das geht schief. Einige Fanatiker fangen an zu randalieren. Andere drängeln, schreien, flippen aus. Und dann kommt das Ende. Die Sicherheitspolizei marschiert auf. Dem satanistischen Treiben muss umgehend ein Ende bereitet werden. Schließlich sind wir im friedlichen Camagüey und nicht in Los Angeles. Unser Konzert wird abgebrochen, und dass obwohl unsere Texte bloß von Liebe, Leidenschaft und Verlangen handeln und unsere Musik weit entfernt davon ist, was man Hard, oder Acid Rock nennt.

Am nächsten Tag machen in Camagüey wieder seltsame Gerüchte die Runde. Sie erzählen von Drogenkonsum und von Mädchen, die sich in völliger Ekstase die Blusen vom Leib reißen. Unsere Band bekommt ein Image, das nicht gut für sie ist. Zu der fälligen Anhörung vor den Beamten des Kulturamts, gehe ich erst gar nicht. Mir wir ist bewusst, dass wir es verbockt haben. Aber es soll noch schlimmer kommen. Wir haben die Sicherheitsbeamten des Staates Kuba aufgebracht und hören, dass gegen Rocas ein dienstliches Verfahren wegen Erregung öffentliches Ärgernis eingeleitet worden ist. Es ist unbegreiflich, unerhört und unerträglich. Man will uns im Haus der Kultur nicht mehr sehen. Alles scheint zu einem Problem geworden zu sein. Sogar unser Bandname Rocas.

Wir versuchen in die Offensive zugehen, erklären der Obrigkeit, dass wir nur einfache Jugendliche sind und unsere eigene Musik spielen wollen. Eine Musik, mit der sich die junge Generation identifizieren kann und die sie davon abhält, imperialistische Propagandastücke der Yankies an zu hören. Aber unsere Erklärungen finden keine Beachtung. Mehr noch, von nun an haben wir die Sicherheitspolizei auf dem Hals. Sie beobachtet argwöhnisch, ob wir nicht doch noch irgendwo öffentlich auftreten. Mit jedem Tag, der vergeht, wird es für uns immer schwieriger unseren Traum zu verwirklichen...

Es war spät geworden. Rubén klappte das Notizbuch zusammen und machte es sich in seiner Koje bequem. Es dauerte nicht lange, da wurde seine Kabine von einem herzhaften Schnarchen erfüllt.

Kapitel 1

Claudio Guerrero schaute nach Westen in einen frühen Abendhimmel dessen Farbe gerade von türkis blau zu einem satten, rotgestreiften Gelb wechselte. Die Sonne stand schräg über den hohen Pinien, welche sich auf der gegenüberliegenden Seite des Jalontals wie in Öl gemalt aneinanderreihten. Das beruhigende Grün der Landschaft bildete einen reizvollen Kontrast zu dem intensiven Farbenspiel des Himmels. Weiße Fassaden und rote Ziegeldächer bäuerlicher Fincas und großzügige Landhäuser mischten sich wie bunte Farbkleckse darunter und belebten ihre Umgebung, die bereits von den ersten Schatten überdeckt wurde. Nur weiter unten lag das Flussbett noch voll in der Sonne, die sich auf der Oberfläche des klaren Wassers widerspiegelte. Claudio hatte vor einer halben Stunde Benidorm, einer der größten Touristenorte an der Costa Blanca, verlassen und fuhr jetzt auf der anderen Seite des Tals über die Serpentinen zu der kleinen, in die Jahre gekommene Holzbrücke hinab, welche das Flussbett überspannte. Seit er sich den alten, klassischen MG gegönnt hatte, war für ihn diese Route schon längst zu einer privaten Rennstrecke geworden. „El Zapo, der Frosch“, wie er den Wagen wegen seiner Lackierung in Britisch Racing Grün, liebevoll nannte, war als echter Oldtimer bereits durch viele Hände gegangen. Dennoch konnte man seinen allgemeinen Zustand als bestens bezeichnen, was nicht zuletzt mit der sorgsamen Pflege zusammenhing, die  Claudio ihm angedeihen ließ. Der Roadster bedeutete für ihn einen besonderen Genuss und er spürte eine innere Erregung, wie bei einer schönen Frau, wenn er die Kurven eng an der steilen Böschung oder knapp am Abhang nahm, oder wenn es der Verkehr erlaubte, wie die Rennfahrer auf der Ideallinie manövrierte.Diesmal allerdings fuhr er bei offenem Verdeck eher bedächtig, wie um Zeit zu gewinnen, und das hatte einen besonderen Grund: Melba.

Drüben in der Finca am Ende seiner Rennstrecke, wartete sein Freund und langjähriger Weggefährte Luis ungeduldig darauf, dass er ihm jene Dame vorstellte, dieer mit auf ihre geplante Kreuzfahrt in die Karibik nehmen wollte. Es war das erste Mal, dass Luis geneigt war, seinem Freund die Mitnahme einer neuen Eroberung auf eine ihrer Abenteuerreisen zu gestatten. Dabei war ihm die Entscheidung gar nicht leicht gefallen, denn er hielt im Allgemeinen nicht viel von Claudios weiblichen Bekanntschaften. Seine endgültige Zustimmung machte er daher auch von der eigenen Begutachtung der „Prinzessin“, wie Claudio seine neue Flamme nannte, abhängig. Er dachte nämlich nicht im Entferntesten daran, sich eine Emanze oder Mitbewohnerin irgendeiner Kommune an den Hals hängen zu lassen und sich damit die lang ersehnte Reise zu verderben. Wenn sie mir nicht gefällt, dann soll er seine „Prinzessin“ in den „Frosch“ verfrachten und mit ihr weiß Gott wohin fahren, dachte er ein wenig erzürnt über die unverhohlene Vorgehensweise seines Freundes. Bisher waren sie auf ihren gemeinsamen Reisen immer bestens ohne Frauen ausgekommen, auch wenn es hier und da Abenteuer gegeben hatte.

Luis war dreiundvierzig. Ein Alter, in dem sich viele Männer wünschten, ganz einfach stehen zubleiben und nicht mehr zu altern, abersie wollten auch keinen Tag jüngersein, an Erfahrung und Reife. Er war recht groß, schlank und sportlich, hatte dichtes, schwarzes Haar und seine großen, dunklen Augen verrieten Klugheit und Energie. Im Gegensatz zu seinem Freund Claudio wirkte er meistens besonnen und zurückhaltend. Die kleine Ausnahme bildete das goldene Kreuz, welches er an einem Kettchen gut sichtbar durch die beiden oberen geöffneten Knöpfe seines Polohemdes auf seiner Brust baumeln ließ. Das trug man jetzt gerade so in Spanien, ob in der Hauptstadt Madrid, irgendwo am Strand oder im Landesinneren, wo er sich jetzt gerade befand.

Claudio hatte Melba zwei Wochen zuvor in einer kleinen Taverne in Benidorm kennengelernt. Sie war dort zusammen mit einer Freundin aufgetaucht und es war ihm so vorgekommen, als hätte sie sich etwas fehl am Platz gefühlt, unter all den aufgedonnerten älteren Damen, die überwiegend aus England stammten. Vom ersten Augenblick an war er von ihrer Schönheit und von der überlegenen Art, mit der sie sich ihre drängenden Verehrer vom Leibe hielt, fasziniert gewesen. Er hatte sie eine Zeit lang beobachtet, aber kaum gewagt, sie zum Tanz aufzufordern. Später war er umso überraschter, als sie seiner Aufforderung tatsächlich entgegenkam. Sie hatten dem Musiker zugehört und Bier getrunken. Danach hatte sie sich von ihm nach Hause fahren lassen. Nur bis vor die Haustür, wohl gemerkt.Sie wohnte in La Nucia, einem Provinzort von Alicante, ca. 8 km von Benidorm entfernt. Ihre Telefonnummer hatte sie ihm zwar lächelnd verweigert, aber es war nicht schwierig für ihn gewesen, sich die entsprechenden Daten zu verschaffen. Er hatte schließlich das Licht gesehen, welches ein wenig später hinter einem der Fenster eines Wohnblocks in der Neubausiedlung Montebello aufgeleuchtet war, und sich beim Portero nach ihrem Nachnamen erkundigt. Auf seinen Anruf, nur einen Tag später, hatte sie nicht einmal überrascht reagiert und sich sogar bereit erklärt sich wieder mit ihm zu treffen.Wenn auch nur auf einen Kaffee am Nachmittag und dann für eine knappe Stunde. Aber dabei war es nicht geblieben. Sie trafen sich noch weitere Male, zuletzt sogar an einem Abend, wo sie eine Tanzveranstaltung in einem Lokal in der Altstadt von Alicante besuchten. Sie hatten ausgiebig getanzt und sie hatte sich sogar von ihm küssen lassen, aber damit war die Grenze erreicht. Bei den nächsten Treffen kam er nicht mehr voran und es wurde ihm schnell klar, dass er sich bei dieser Klassefrau schon etwas ganz Besonders einfallen lassen musste. Eine Einladung zu ihm nach Hause hatte freundlich aberentschieden abgelehnt.

Von da an hatte er davon abgesehen, sie weiter zu bedrängen. Auf gar keinen Fall wollte er sich wie ein dummer Junge auf die Finger klopfen lassen. Aber andererseits drängte die Zeit. In Kürze wollte er zusammen mit seinem Freund Luis per Kreuzfahrtschiff in die Karibik reisen. Und dann war ihm bei dem Gedanken an die Karibik eine schon beinahe abenteuerliche Idee gekommen:

Was, wenn ich Melba einfach dazu brächte, mit uns zusammen zu verreisen? Natürlich nicht als meine Geliebte, wenigstens nicht sofort, sondern quasi als Reisebegleiterin! Auf den tropischen Inseln werden sich die Dinge dann wie von selbst ergeben. Die atemberaubende Landschaft mit den fröhlichen Menschen, dierhythmische Musik, das besondere Klima und vielleicht eine verträumte Unterkunft werden sie bestimmt einfach umwerfen und dann habe ich leichtes Spiel...

Nachdem Melba sich von Miguel Angel, ihrem Langzeit Verlobten getrennt hatte, um einer überstürzten Heirat zu entkommen, war sie entschlossen, zunächst an ihre eigene Karriere zu denken und sich ganz ihrem Beruf als Computerfachfrau zu widmen. Als Heimchen am Herd an der Seite eines namhaften Rechtsanwaltes zu versauern erschien ihr als nicht gerade erstrebenswert. Allerdings leicht war ihr der Entschluss dann doch nicht leicht gefallen. Sie mochte Miguel Angel noch immer, denn sie hatten viele schöne Jahre miteinander verbracht. Und dann war sie mit Pilar in diese Taverne gegangen und hatte Claudio kennengelernt. Den fand sie interessant und am besten gefiel ihr die Tatsache, dass er sie nicht bedrängte. Dazu regte sie die Hoffnung, dass ihr in seiner Gesellschaft die Loslösung von Miguel Angel leichter fallen würde. Sie wusste, Claudio wollte keine feste Bindung, höchstens mal mit ihr ins Bett steigen,aber dazu gehörten immer noch zwei…

Als er ihr dann überraschenderweise vorgeschlagen hatte, zusammen mit seinem Freund in die Karibik zu reisen, hatte sie zunächst an einen Scherz geglaubt, war aber dann, als sie merkte, dass er es ernst meinte, doch nachdenklich geworden. Er hatte ihr von Luis erzählt und als er dann die Worte: „ganz unverbindlich“ und „rein freundschaftlich“ in den Mund nahm, war für sie der Bann gebrochen.

Hier bietet sich vielleicht die Gelegenheit, mich endgültig von Miguel Angel zu lösen. Außerdem werde ich michauf dem großen Schiff selbstständig bewegen können und muss so den beiden Jungs nicht immer auf der Pelle hängen, dachte sie.

Und wenn das Ganze eine Falle war? So etwas konnte man niemals ausschließen, jedenfalls nicht bei erwachsenen Männern. Auch egal, Claudio scheint ein prima Kerl zu sein und diesen Luis werde ich mir noch genau anschauen und wenn er mir nicht gefällt... na, dann kommt mir eben etwas dazwischen…

Und so war es gekommen, dass sie und Claudio jetzt nach Xalo fuhren, wo sie jenem Luis vorgestellt werden sollte.

„Jetzt dürften sie aber langsam kommen“, sprach Luis in Gedanken zu sich selbst. Ich möchte endlich diese „Prinzessin“ kennenlernen, die mir voraussichtlich die Reise vermasseln wird, denn letztendlich wird wieder alles an mir hängen bleiben, nämlich dann, wenn Claudio seiner neuen Eroberung abtrünnig geworden ist. Noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, hörte er auf der anderen Seite seines Hauses den Wagenschlag des MGs. Aber diesmal war es anders als sonst, wenn sein Freund ihn zu besuchen pflegte, und man schon von weitem den Motor aufheulen und die Reifen in den Kurven quietschen hörte. Auch der laute Hupton, der normalerweise seine Ankunft verkündete war diesmal ausgeblieben. Luis überlegte laut, während er auf die Eingangstür zuschritt: „Hat sie ihm womöglich im letzten Moment noch einen Korb gegeben?“

Doch da standen sie bereits schon in seinem Foyer. Einander eingehakt, lachend, und je mehr sie sich der sonnenüberfluteten Terrasse näherten, umso mehr wuchs seine Verblüffung. Mit offenem Mund starrte er Melba an. Das ist ja unglaublich, dachte er.Sie ist keine Prinzessin, sondern eine Göttin!

Er dachte aber auch: Wie zum Teufel kommt Claudio an so einer Frau?

Natürlich war besagtem der gewisse Ausdruck in den Augen seines Freundes nicht entgangen. Welcher Mann konnte beim Anblick eines so zauberhaften Geschöpfes unbeeindruckt bleiben.

„Das ist Melba Gonzales Martinez“ stellte Claudio die Dame vor. Und zu ihr sagte er: „Melba, das ist mein Freund Luis.“

Sie trat mit einem strahlenden Lächeln auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“

Luis erwiderte ihr Lächeln, während seine Hand einen Tick zu lang auf der ihren ruhte. Eine leichte Röte huschte über ihre Wangen als sie ihre Hand der seinigen entzog.

„Roger hat mir viel von Ihnen erzählt“, log sie, um die Spannung, welche sich spürbar ausgebreitet hatte, zu überspielen. In Wahrheit hatte Roger nur sehr wenig überseinen Freund gesprochen.

„Wir sagen hier alle Du“, erwiderte Luis. „Du möchtest also mit uns in die Karibik reisen?“

„Claudio hat mir die Reise vorgeschlagen und ich habe zugesagt. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass Du einverstanden bist und ich Euch nicht zur Last falle“, entgegnete sie. Das besondere Arrangement, welches sie mit Claudio getroffen hatte, erwähnte sie nicht. Sie würde erst darauf zurückkommen, wenn Claudio sie durch sein Verhalten dazu zwang. Und obgleich sie zuvor nicht ganz sicher war, ob sie ihm nicht doch nachgeben würde, wenn sie erste einmal in der Karibik waren, jetzt rückte dieser Gedanke mit einem mal in weite Ferne…

Claudio wusste, dass er sein Ziel erreicht hatte. Allein die Frage seines Freundes an Melba war schon so gut wie eine Zustimmung. Dennoch aber war ihm nicht mehr ganz wohl bei der Sache. Ihm war ihre leichtes Erröten nicht entgangen, als ihre Hand in der von Luis gelegen hatte. Warum bloß habe ich Melba nicht einfach angeboten, mit mir allein irgendwohin hin zu fahren? Auf die Kanaren zum Beispiel. Da gibt es jede Menge einsame Strände und Buchten. Dort wäre ein Doppelzimmer selbstverständlich gewesen, stattdessen muss ich mir nun das Zimmer an Bord des Kreuzfahrtschiffes mit Luis teilen.

Während letzterer mehrere Flaschen gut gekühltes Mahon Bier aus dem Kühlschrank der Hausbar fischte, waren Melba und er für einen Moment allein auf der Terrasse zurückgeblieben.

„Na, wie gefällt er Dir?“ fragte Claudio mit unüberhörbarem Unterton. Dabei vergrub er die Daumen wie zufällig im Bund seiner Jeans und neigte seinen Kopf leicht zur Seite. Um seine Lippen spielte ein ironisches Lächeln und in den Augen lag etwas Lauerndes.

„Ganz in Ordnung“, sagte Melba kurz und knapp. Sie gab sich den Anschein, als bemerkte sie die Fangfrage überhaupt nicht. Trotzdem huschte erneut eine feine Röte über ihre Wangen, was Claudio abermals nicht entging. In diesem Augenblick kam Luis mit einem Tablett voller Bierflaschen und Gläser zurück auf die Terrasse.

„Lasst uns auf die Karibik anstoßen“, sagte er nachdem er die Getränke vom Tablett genommen hatte. Ein wenig lustlos prostete Claudio seinem Freund und seiner neuen Eroberung zu. Die gesamte Vorfreude war ihm irgendwie vergangen. Was folgte war eine belanglose Konversation, in der sich Luis nach ihren beruflichen Plänen erkundigte.

„Ich bin Computerspezialistin und möchte noch Informatik studieren, oder aber etwas mit Mode machen, dass hat mich schon immer interessiert“, erklärte Melba.

„Da stehen Dir mit ziemlicher Sicherheit überall die Türen offen…“ sagte Luis und dachte an ihr Aussehen und an ihre atemberaubende Figur. Danach wechselte er das Thema und kam auf die Kreuzfahrt zu sprechen. Er erzählte von den Reiseplänen, die er gemeinsam mit Claudio ausgearbeitet hatte. Sie beabsichtigten in der Dominikanischen Republik von Bord zugehen und wollten danach einige der kleineren Inseln besuchen. Antigua, St. Johns, St. Lucia, Barbados, Guadelupe und Tobago. Irgendwann, wenn sie es leid waren, würden sie dann wieder zurück nach Europa fliegen.

Später schlug Luis vor, zum Abendessen ins Restaurant Las Terrazitas zu fahrenund obwohl sie alle in seinem geräumigem SUV Platz gefunden hätten, bestand Claudiodarauf, zusammen mit Melba den MG zu nehmen. Er wollte wenigstens diesen kurzen Augenblick mit ihr alleine sein.

„Du bist mir vorhin ausgewichen, als ich von dir wissen wollte, wie er Dir gefällt“, sagte er, während sie noch vor dem SUV die alte Holzbrücke erreichten.

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass er in Ordnung ist“, erwiderte sie zynisch. „Wolltest Du etwas anderes hören?“

„Glaubst Du, ich habe nicht bemerkt, wie interessiert Du ihn angesehen hast, während er von der Karibik erzählt hat?“

„Lieber Himmel, Du bist vielleicht kindisch! Soll ich vielleicht wegschauen, wenn Dein Freund mit mir spricht?

Es war ihnen anzusehen, dass sie sich gestritten hatten, als sie auf den Parkplatz des Restaurants fuhren und auf Luis warteten. Es war noch verhältnismäßig früh und so konnten sie unter den besten Plätzen auswählen. Der Tisch, den sie sich ausgesucht hatten, bot einen herrlichen Blick über das anliegende Schwimmbad. In der Ferne konnten sie die Berge und sogar das Dach von der Finca sehen. Luis hatte das Grundstück auf dem sie stand vor langer Zeit für kleines Geld erworben und aus dem alten Hausund dem verwilderten Garten mit Liebe und viel Geschick das gemacht, was es heute war: Ein wunderschönes Anwesen, wie es nur wenige im Jalontal zu sehen gab. Aber an all dem konnte sich Claudio an diesem warmen Sommerabend nicht mehr so richtig erfreuen. Das Abendessen fiel mehr als üppig aus und Luis ließ sich nicht lumpen. Überhaupt hatte Claudio seinen Freund selten in einer so ausgelassenen Stimmung erlebt. Was die Anwesenheit einer hübschen Dame nicht alles bewirken konnte…

Melba versuchte die ganze Zeit hinüber sich bewusst unbeteiligt zu zeigen. Was gingen ihr die Eifersüchteleien der beiden Freunde an? Sie dachte an die zaghaften Flirts von Miguel Angel, die ihr nicht wirklich unter die Haut gegangen waren. Sicher, er war damals irgendwie männlicher und reifer gewesen als die gleichaltrigen Jungs in ihrer Klasse und beim ersten Mal hatte sie eigentlich nur herausfinden wollen, wie es war und was sie dabei und danach empfinden würde.

Schon bald merkte sie, dass dies nicht alles gewesen sein konnte. Es war keinesfallsdie großartige Erfüllung gewesen, wovon immer in den Liebesromanen, die sie heimlich gelesen hatte, die Rede war. Auf jeden Fall nicht mit Miguel Angel. Und nun war sie an diese beiden Freunde geraten und war im Begriff ein ungewisses Abenteuer einzugehen.

„Wir bringen Dich selbstverständlich nach Hause“, sagte Luis und riss sie damit aus den obigen Gedanken. Der Protest seines Freundes und dessen Angebot, Melba in seinem kleinen Sportwagen heim zu fahren, schmetterte er entschieden ab.

„Du hast mehr getrunken als es für dich gut ist und Melba würde es sicher nicht gut bekommen, wenn Du mit dem tiefliegenden Wagen über die Schlaglöcher donnerst!“

Damit war die Transportfrage geklärt.

„Hast Du Lust morgen wieder vorbeizukommen“, fragte Luis beim Abschied. „Eigentlich wollte ich mit Claudio nach Benidorm fahren“, stammelte sie, „aber wenn Du meinst…?“

„Ihr wollt doch wohl nicht wie all die anderen am morgigen Feiertag in einer langen Blechlawine dahin kriechen, wo ich hier die schönste Naturlandschaft direkt vor der Haustür habe!“

Kurzum, Melba stimmte seinem Plan zu, obgleich sie wusste, dass es nicht in Claudios Interesse war. Er wollte viel lieber mit ihr alleine sein, mit ihr ausgehen und sich beneiden lassen. Mit einer Wut sondergleichen im Bauch versuchte er am späten Abend seinen Oldtimer in die Garage seines Freundes zu fahren und dabei geschah es dann: Auf der sandigen Auffahrt rutschte der „Frosch“ hinten weg und prallte mit dem hinteren Kotflügel gegen die Garagenmauer. Diesmal hatte er es zu weit getrieben.

„So ein verdammter Mist!“ fluchte er laut vor sich hin. „Das hat mir gerade noch gefehlt!“ Er brachte den abgewürgten Motor wieder in Gang und setzte den Wagen ein paar Meter zurück um von der Mauer freizukommen. Danach sah er sich den entstandenen Schaden an, murmelte etwas von ein paar hundert Euro und stellte den geschundenen MG so dicht an die linke Wand, dass man die Blessuren nicht auf den ersten Anhieb erkennen konnte. Jetzt war es aber wirklich Zeit für ein kühles Bier. Genervt legte er sich in die große Hängematte die Luis über seine Veranda gespannt hatte und sagte noch zu seinem Freund: „ So ein Scheißtag heute! Ich bin müde und komme mir reichlich überflüssig vor.“

Ohne eine Antwort abzuwarten schlief er augenblicklich ein.

Als Melba die Wohnung betrat, schliefen ihre Eltern bereits. Es war schon nach Elf. Die Stunden mit Claudio und Luis waren ihr wie im Flug vergangen. Auf ihrem Nachttisch lag eine Notiz ihrer Mutter: „Miguel Angel hat angerufen. Er erwartet deinen Rückruf in der Kanzlei. Schlaf gut!

Was kann der so spät in der Nacht noch von mir wollen?, fragte sie sich und wieso ist er überhaupt noch in seinem Büro? Zudem habe ich ihm doch deutlich zu verstehen gegeben, dass es vorbei ist! Instinktiv wählte sie die Nummer der Kanzlei. Miguel Angel meldete sich bereits nach dem ersten Freizeichen. Er schien auf ihren Anruf gewartet zu haben.

„Hola, hier ist Melba, bitte entschuldige meinen späten Anruf, aber ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Was gibt es denn?“

Sie bemerkte das Zögern in seiner Stimme.

„Eigentlich wollte ich dir nur etwas sagen, aber sicher ist es dafür jetzt viel zu spät?“

„Ach Miguel Angel“, sagte sie mit gähnender Stimme. „Hast du denn alles vergessen, was ich dir beim letzten Mal gesagt habe?“

Ist ja schon gut. Ich denke es ist besser, wenn wir ein andermal darüber reden“, und damit hatte er auch schon aufgelegt. Melba hielt verblüfft den Hörer in der Hand. Was war denn das jetzt? Dann eben nicht! Damit war das Thema Miguel Angel wenigstens für diese Nacht für sie erledigt. Und trotzdem lag sie noch lange wach ohne den erlösenden Schlaf zu finden. Der Gedanke an die bevorstehende Reise hatte sie aufgewühlt und dazu spürte sie noch immer die sanfte Berührung der männlichen Hand, die mehr gesagt hatte als viele Worte….

Ist es wirklich richtig, dass ich Claudios Einladung angenommen habe? Immerhin scheint er ebenfalls große Erwartungen an unser Zusammensein zu hegen.

Noch ehe sie eine Antwort auf ihre Frage gefunden hatte, war sie eingeschlafen.

„Hast Du schon mit Miguel Angel gesprochen?“, lautete die neugierige Frage ihrer Mutter am nächsten Morgen beim Frühstück.

„Ja, das habe ich in der Tat…“ Melbas Antwort klang gelangweilt. „Allerdings habe ich nicht herausbekommen was er eigentlich von mir wollte und ehrlich gesagt, es ist mir auch ziemlich egal. Ich fahre heute wieder nach Xalon.“

„Zu diesem Abenteurer? Willst Du mir Deinen neuen Freund nicht endlich vorstellen?“

Darauf war Virginia vorbereitet.

„Den Eltern stellt man nur jemanden vor, wenn sich aus einer Freundschaft etwas Ernstes entwickelt, oder etwa nicht? Das ist aber zwischen mir und Claudio nicht der Fall. Wir sind nur gute Freunde. Bist Du nun zufrieden?“

Ihre Mutter wollte etwas erwidern, doch mitten in ihren Kommentar fiel das Läuten der Haustürglocke. Mit einem Blick aus dem Fenster überzeugte sich Melba davon, das es Roger war, der allerdings in völlig ungewohnter Weise in einem SUV auf sie wartete.

Ihre Mutter ging dicht genug an das Fenster heran um den Neuankömmling beobachten zu können. Bisher hatte er stets in der Seitenstraße geparkt, wo sie ihn nicht sehen konnte. Im Grunde gefiel ihr der Mann gar nicht schlecht, obwohl er für ihre Tochter natürlich zu alt war. Er trug hautenge, ausgeblichene Jeans und ein frisches, gelbes Polohemd. In dem SUV schien er sich allerdings nicht sehr wohl zu fühlen. Miguel Angel hingegen war zweiunddreißig und besaß bereits ein eigenes Büro in der größten Anwaltskanzlei der Stadt. Er war für sie immer so etwas wie der perfekte Schwiegersohn gewesen und jetzt schien alles wieder aus dem Lot zu fallen.

„Warum kommst Du mit dem SUV?“ fragte Melba überrascht, als sie einen Augenblick später neben Claudio in demgroßen Wagen Platz nahm.

„Der MG ist heute morgen nicht angesprungen“, erzählte der ihr die gleiche Geschichte die er bereits am frühen morgen seinem Freund aufgetischt hatte.

„War das eigentlich Deine Idee, nicht nach Benidorm zu fahren?“ fragte er, obgleich er wusste, dass Luis dahintersteckte. Als sie vor dessen Finca angekommen waren, betätigte er gewohnheitsgemäß die Hupe. Es klang allerdings anders wie aus seinem MG. Irgendwie modern und leblos. Auf der Terrasse kam ihnen der Hausherr entgegen. Er trug ein buntes T-Shirt und modische Boxershorts. Dazu baumelte wieder diese Kette mit dem goldenen Kreuz auf seiner Brust. Sie verbrachten den langen Nachmittag mit Tischtennisspielen und am kleinen Pool bei eisgekühlten Erfrischungsgetränken. Melba hatte eindrucksvoll bewiesen, dass ihr spielerisches Können zu weit mehr taugte als nur für den Hausgebrauch. Claudio ärgerte es, dass sie ihn hatte weitgehend schlecht aussehen lassen, während sie Luis den entscheidenden Satz geschenkt hatte, weil der ansonsten ebenfalls gewaltig unter die Räder gekommen wäre. Später präsentierte sie ihre aufregende Figur in einem knappen, weißen Bikini. Claudio trank bereits seine dritte Flasche Bier an diesem Nachmittag, während Melba lässig ihre langen Beine im Bassin des Pools baumeln ließ.

„Freust du dich auf die Karibik?“ suchte Luis wieder das Gespräch mit ihr.

„Ja und wie!“, antwortete sie und wieder erschien eine feine Röte auf ihren Wangen. Claudio wurmte es mächtig, dass sein Freund schon wieder bei Melba herum hockte. Und dass, obwohl die Reise noch nicht einmal begonnen hatte. Das konnte ja heiter werden. Nach Tapas und Gazpacho brachten die beiden Freunde die Dame nach Hause. Irgendwie lag eine unerklärliche Spannung in der Luft.

Bei ihrer Rückkehr in ihr Haus in Montebello vernahm Melba Stimmen aus dem Wohnzimmer. Sie verharrte eine Weile in der dunklen Diele, dann öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer und ihre Mutter stand mit fragendem Blick vor ihr.

„Miguel Angel ist da“, sagte sie, als ob sie ihrer Tochter damit eine freudige Überraschung bereiten wollte. Ihr Ex wirkte etwas verunsichert.

„DU bist hier?“ Melba begrüßte ihn kühl.

„Das überrascht Dich, nicht wahr? Wie war es denn in Benidorm?“ setzte er schnell nach.

„Ich war nicht in Benidorm. Wir sind in Xalo geblieben.“

„Ah, Du gehst im Haus deiner neuen Freunde bereits ein und aus“, sagte er mit einem ironischem Unterton. Melba ließ sich nichts anmerken und ergänzte: „…und danach waren wir noch im Terrazitas.“

„Nobel, nobel“, erwiderte Miguel Angel beeindruckt, knabberte an seiner Unterlippe und schaute hilflos auf ihre Mutter.

„Es ist wohl besser wenn ich jetzt gehe. Ich rufe in den nächsten Tagen mal an“, sagte er und war schon bei der Tür.

„Es würde uns freuen“, rief die alte Dame hinter ihm her, auch stellvertretend für ihre Tochter.

„Wie soll das nun weitergehen?“ fragte sie kurze Zeit später, ohne zu ahnen, dass sie damit eine Antwort heraufbeschwor, welche sie wie ein Peitschenschlag treffen sollte.

„Ganz einfach, ich werde mit meinen neuen Freunden in die Karibik reisen.“

„Du hast…., du willst…?“ kam es statt einer Antwort wie ein ersticktes Röcheln aus dem Mund ihrer Mutter.

„Ja, warum denn nicht?“ Melba lächelte gequält. „Ich brauche dringend eine Luftveränderung und die beiden sind sehr umgänglich.“

„….und was soll aus Miguel Angel werden…? Kind, hast du dir das auch gut überlegt? Immerhin kennst du die beiden ja erst seit ein paar Wochen.“

„Mutter, las das bitte meine Sorge sein!“

Es war ihr einfach nicht danach ihrer Mutter alles noch einmal zu erklären um dann immer die gleichen Antworten zu erhalten. Das was sie in diesem Moment am meisten beschäftigte, konnte sie sowieso nicht mit ihr besprechen.

Die nächsten sieben Tage verliefen im Zeichen des großen Aufbruchs in die Karibik.  Claudio hatte noch seinen „Frosch in die Werkstatt gebracht während Melba und Luis langsam ihre Koffer packten.

Dann kam der große Tag. Zunächst mussten sie nach Malaga. Von dort aus sollte sie ein Kreuzfahrtschiff in die Karibik bringen.

Melbas Abschied von ihren Eltern war mit vielen Tränen verbunden, aber auch gespickt mit Ratschlägen, Ermahnungen und versteckten Vorwürfen, so dass es beinahe zuletzt noch zu Missstimmungen zwischen Eltern und Tochter gekommen wäre. Doch das alles lag jetzt hinter ihr. Sie befand sich auf dem Weg nach Malaga...

Kapitel 2

Dr. Robinson muss sich einfach irren! Natürlich hat er sich vertan! Er hat einfach eine Null am Ende vergessen! Zehn bis zwanzig, wollte er sagen und das war schon verdammt wenig. Ich weiß, es ist wohl niemals genug aber zehn bis zwanzig Jahre klingt in jedem Fall besser als eins bis zwei.

Kapitän Efraim Rodriguez senkte den Kopf und löste den Gürtel an der Schnalle ein wenig, um sich etwas Platz zu verschaffen. Danach berührte er mit den Daumenkuppen die Unterseite seines Brustkorbes. Was für ein Quacksalber, dachte er. Ein Jahr gibt er mir noch, ein verdammtes Jahr! Das Zweite hatte er schnell angehängt, als er bemerkte, dass es mich beinahe umhaute. Natürlich hat er die Null am Ende nicht vergessen. Es gibt sie einfach nicht!

Nachdenklich verließ er die Arztpraxis seines langjährigen Hausarztes in El Limonar, einem noblen Wohnviertel von Malaga. Krebs lautete das niederschmetternde Urteil des Doktors. Dazu kam das vernichtende Wort „unheilbar“.

Vor einigen Jahren hatte es angefangen. Zunächst waren es nur leichte Beschwerden im Unterleib gewesen. „Die Bauchspeicheldrüse macht dir Probleme“, hatte Doktor Robinson prognostiziert. Was dann folgte, waren unzählige medizinische Behandlungen und eine Operation, wobei man ihm die bereits befallene Stelle entfernt hatte. Für eine kurze Zeit war eine gewisse Besserung eingetreten, aber dann kamen sie wieder, diese Ausfälle. Meist nur für ein paar Stunden, denn er hatte gelernt entsprechende Medikamente schmerzstillend einzusetzen. Aber auf scharf gewürztes Essen hatte er trotzdem nicht verzichtet.

Am Paseo Limonar bestieg er ein Taxi, das ihn zum Hafen bringen sollte. Der Fahrer hatte einen Latinosender eingeschaltet, doch die fröhlichen Rhythmen aus dem Radio nahm er kaum war, da er ganz in Gedanken versunken aus dem halbgeöffneten Seitenfenster blickte. Was er sah, waren jene vertraute Objekte, die ihn jetzt beunruhigten: Das Licht überflutet Hospital Vithas mit dem anliegenden Park San Antonio, das prächtige Hotel Las Vegas, die Plaza Jardin de San Nicolas, die Plaza de Malagueta, die Plaza de Torros und schließlich die Marina selbst, mit der neuen, pompösen Hafenanlage. Sie schienen sich verändert zu haben, seit er das letzte Mal an ihnen vorbeigekommen war. Oder kam ihm das nur so vor, weil er sich jetzt alles viel intensiver anschaute? Eine Gruppe Schuljungen zog lachend und lebendig durch die Straßen. Alles war wie immer und würde auch noch weiterhin bestehen bleiben, während es für ihn keine Zukunft mehr gab.

Das Taxi passierte die Festung Alcazaba, an deren Fuß seine alte Schule lag. Dort hatte er sich vor langer Zeit mit Seefahrtskunde beschäftigt. Die lockenden Lichter des Paseo Maritimo machten ihn traurig und selbst der alte Leuchtturm auf der anderen Seite des Hafenbeckens bekam für ihn eine erschreckende Bedeutung. Er war auch ein Element der Vergangenheit. Nach und nach mischten sich Neid und Wut in seine Trauer. Warum wird mir dieser schöne Planet streitig gemacht? Wenn es wenigstens etwas wäre, dass alle betrifft. Vielleicht eine Naturkatastrophe. Ich würde jenes kosmische Ereignis bedauern und mich meinem Schicksal fügen. Aber so lagen die Dinge leider nicht. Es gab keine neuerliche Eiszeit oder so etwas Ähnliches. Wenigstens noch nicht so bald.

Der Fahrer hielt kurz vor dem Pier. Efraim gab ihm ein großzügiges Trinkgeld und stieg aus. Er hörte noch, wie sich der Fahrer bedankte und mit seinem Taxi davonbrauste. Jetzt war er wieder allein. Er machte sich auf den Weg zur Anlegestelle der Kreuzfahrtschiffe. Dabei kam ihm jede Wahrnehmung wie etwas nie zuvor Erlebtes vor. Selbst die salzige Luft des Meerwassers und die stinkenden Diesel der Barkassen im Hafenbecken, bedeuteten für ihn eine traurige Realität. Sie würden bleiben, während er gehen musste.

Erst als er sein strahlend weißes Schiff sah, wurde er ruhiger. Die Muelle 2, an der es lag, war noch abgedunkelt. Er ging zur Gangway und blickte an der Bordwand des Schiffes zunächst nach links, danach nach rechts. Irgendwie schien der Bug der Marilu überhaupt kein Ende zu nehmen. Die Nachtwache grüßte ihn und ließ ihn an Bord gehen. Oben wäre er beinahe mit Rubén zusammengestoßen. Rubén stammte aus Kuba und sorgte für die musikalische Unterhaltung an Bord der Marilu. Er war ein verdammt guter Gitarrist. Efraim mochte ihn und bewunderte ihn heimlich wegen seiner hervorragenden Spieltechnik. Immerhin versuchte er sich manchmal selbst an der alten Schlaggitarre, die in seiner Kabine lag, obwohl dabei nicht viel heraus kam. Rubén war allerseits beliebt, galt als humorvoll und hilfsbereit. Auch diesmal grüßte er freundlich und hielt seinem Kapitän die Tür zum Oberdeck auf. Efraim bedankte sich mit wenigen Worten und ging direkt in seine Kabine. Hier schloss er die Tür von innen ab, entledigte sich seiner Jacke und legte sich auf sein Bett. Das an Bord gehen war für ihn so etwas wie nach Hause kommen. Vielleicht lag es daran, dass er keine Familie hatte. Er war allein auf der Welt, denn bei Frauen hatte er niemals zu Hause sein wollen, sondern nur Gast. Das war ihm immer ehrlicher vorgekommen. Nur einmal wäre er beinahe bei einem Mädchen gestrandet. Damals im Norden. Bei der süßen Milagros, mit der er mehrere Tage und Nächte verbracht hatte. Aber ein paar Nächte sind noch nicht das ganze Leben. So war er aber immerhin in A Coruña zu einer Tochter gekommen. Eine Tochter, die er bisher noch nie persönlich gesehen hatte. Er war nun einmal auf dem Schiff zu Hause und diesmal war es eine verdammt traurige Heimkehr geworden. Es gab niemanden, dem er von seiner veränderten Situation hätte erzählen können.

Das Leben leben, als sei jeder Tag der letzte, sagt man doch, dachte er und seufzte. Bei mir wird es nur noch ein Jahr sein und das hört sich absolut nicht gut an. Vielleicht...wenn ich das Jahr in Stunden und Minuten umrechne... Immerhin, jetzt kommt doch noch ein ganz schöner Wert dabei heraus...Ach was! Die werden sich ziemlich schnell verbrauchen. Morgen laufen wir aus. Dann stehe ich auf der Brücke und sehe hinüber zu den Kaimauern des Hafenbeckens. Verdammt, dann sind schon wieder etliche Minuten vergangen. Und so wird es dann weitergehen. Nach der Rückkehr aus der Karibik, sind es noch einmal weniger geworden. Ein paar Reisen verbleiben mir dann noch, aber die Minuten werden immer schneller vergehen. Scheiße! Was ist das für eine hinterhältige Rechnung, die ich da aufmache? Am besten ich bleibe bei dem einen Jahr. Das klingt in jedem Fall viel besser.

Er stand wieder auf und zog den Gitarrenkoffer unter seinem Bett hervor. Als er ihn öffnete und die Saiten anschlug, hörte er, dass die Gitarre noch gestimmt war. Er klimperte ein paar Akkorde vor sich hin, dann legte er die Gitarre wieder zurück in den Koffer. Irgendwie war ihm nicht nach Musik zu Mute. Ihn dünkte nach etwas härterem. Tequilla! Die Flasche stand in seinem Eisschrank. Er füllte sich ein Glas, trank es, schüttete wieder nach und trank. Dann stellte er die Flasche auf die Seite. Es fing wieder an. Allerdings diesmal zu einer ungewohnten Zeit. Für gewöhnlich meldete sie sich erst Stunden nach einer Mahlzeit. Vielleicht hing das jetzt mit seiner veränderten Lage zusammen. Efraim ging ins Bad. Wenn sich das Leiden einmal eingestellt hatte, war er mit der Vorgehensweise vertraut. Zuerst kommt die Phase, die noch keine Schmerzen mit sich bringt, sondern nur Übelkeit und Schüttelfrost.

Er knöpfte sich das Hemd auf und fuhr mit seiner Hand über die kleine Narbe, die von der zurückliegenden Operation stammte. Vielleicht würde er ohne den damaligen Eingriff bereits schon nicht mehr leben. Er war ein großer, schlanker Mann von noch nicht einmal fünfzig Jahren, dem man an gesunden Tagen sein Alter nicht ansah. Wenn ihn allerdings die Attacken überfielen, wirkte er alt und verbraucht, und sein Gesicht war grau und voller tiefer Falten. Geübt setzte er sich die Morphium Spritze und bereits fünf Minuten später begann das Brennen langsam nachzulassen. Er fühlte sich seltsam befreit und plötzlich hatte er einen Einfall.

„Jetzt weiß ich es! Ich werde nach dieser Fahrt Schluss machen und einen ausgiebigen, langen Urlaub nehmen. Gespartes habe ich genug und ich werde das Geld mit vollen Händen ausgeben und jede noch mir verbleibende Minute genießen. Einige Freunde und Bekannte werde ich mit kleinen Geschenken beglücken. Ich werde fremde Länder bereisen, die ich bisher noch nicht gesehen habe und anschließend eine lange Zeit in dem kleinen aber feinen Hotel an der Playa Manuel Antonio in Costa Rica verbringen. Vielleicht könnte ich sogar Valeria meine Tochter besuchen. Sie hat immerhin ein Recht darauf ihren Erzeuger kennenzulernen. Doch zuerst sollt es Costa Rica sein.

Ganz ruhig, und entspannt lehnte er sich in seinen Stuhl zurück. Etwa alle zwölf Stunden kamen die Attacken nun. Manchmal dauerte es auch länger aber das bedeutete für ihn schon puren Luxus. Die Ärzte hatten es ihm oft genug gesagt. Vor einiger Zeit hätte man dank neuer Erkenntnisse in der Krebsforschung vielleicht noch etwas machen können. Nun war es allerdings zu spät. Neben der Bauchspeicheldrüse waren bereits auch andere seiner inneren Organe befallen. Trotzdem wollte er nicht an sich herumexperimentieren lassen. Wie makaber, dass Doktor Robinson ihm von einer neuartigen Heilungsmethode erzählte, obwohl sie für ihn nicht mehr infrage kam. Das eine Jahr galt nun als Tatsache, mit der er zu leben hatte. Ein Urlaub bis an das Ende seiner Tage wäre ganz gewiss eine sinnvolle Kompensation, vielleicht sogar die Einzige. Er konnte nur hoffen, dass der stufenweise Niedergang noch auf sich warten ließ. Er wollte von jetzt an jede Minute seines letzten Jahres genießen. Gleich nach der Rückkehr aus der Karibik, wollte er seinen Dienst quittieren. Kein Sterbenswörtchen würde er über seine Krankheit fallen lassen, sondern sich ganz einfach nach all den Dienstjahren eine Auszeit gönnen. Und die unsagbar schöne Bucht von Playa Manuel Antonio war das Beste, was ihm dazu einfiel.

Kapitel 3

Am anderen Morgen waren sie da. Mehr als tausend Passagiere in roten Rettungswesten standen in kleinen Gruppen auf den Decks zusammen und folgten den vorgetragenen Sicherheitshinweisen. Kurze Zeit später ertönte das laute Signal zur Abfahrt und Kapitän Efraim Rodriguez setzte den weißen Koloss in Bewegung. Stetig aber sicher entfernte sich die Silhouette des Hafens von Malaga aus seinem Blickfeld.

Melba, Luis und Claudio begutachteten ihre Kabinen. Sie waren geräumig und pastellfarbigin toskanischem Stil gehalten. Alles war vorhanden: Schrank, Doppelbett, Duschbad, Minibar, Spiegelkommode mit Schreibpult und ein Plasma-Fernseher, auf dem man die genaue Position und die Fahrroute des Schiffes mit verfolgen konnte. Auf dem Schreibpult lag der Cruise Kompass, ein Merkblatt, das täglich verteilt wurde, um die Passagiere über sämtliche Aktivitäten an Bord zu informieren.

„Seid ihr schon fertig?“ tönte es von der gegenüberliegenden Kabine zu den beiden Freunden hinüber. Melba dachte gar nicht daran, zuerst ihren Koffer auszupacken. Sie war voller Neugierde auf das riesige Kreuzfahrtschiff und wollte möglichst sofort sein aufregendes Innenleben inspizieren.

Die Kabinen der Passagiere befanden sich auf Deck zwei und drei. Auf Deck vier lagen das sogenannte Zentrum mit dem Schalter des Kundenservice, die Champagner Terrasse, der Spiel Salon, mit unzähligen, einarmigen Banditen, sowie dem unteren Teil des McBeth Speisesaals.

Deck fünf bestand aus einer einzigartigen Einkaufsstraße, der Royal Promenade mit kleinen Boutiquen, Cafés, Eissalon, Pizzeria, Friseursalon, sowie einem typischen dunklen englischen Pub. Daneben befanden sich: Der zweite Teil des großen McBeth Speisesaals und der Eingang zum Alhambra Show Theater. Auf dem sechsten Stockwerk waren die Passagier-Suiten, Bibliothek, Konferenzräume, Showboat Lounge, Internetcafe, Bildergalerie mit Auktionsraum sowie die Kreuzfahrtberatung.

Fehlten noch Deck acht mit dem Wellnessbereich, diversen Pools, Solarium, Fitnessraum, sowie Deck neun mit Laufparcour, Golf, Tischtennis oder Ballspiel und letztendlich das Oberdeck zehn, mit der Viking-Lounge Bar und der Diskothek.

„Ist es hier nicht einfach umwerfend?“ meinte Melba entzückt, nachdem sie mit ihren beiden männlichen Begleitern mehrere Stunden das Innenleben des prachtvollen Schiffes durchforstet hatte.

„Nun lasst uns aber hinunter in den Speisesaal gehen, ich habe großen Appetit und bin schon auf die Menüauswahl gespannt.“

Sie nahmen an der ersten Essenssitzung um neunzehn Uhr teil und standen aufgeregt vor dem ganz in rotem Plüsch gehaltenen, pompös wirkenden Speisesaal.

„Tisch vierundsechzig bitte!“ Ein ganz in bordeauxrot gekleideter Kellner führte sie durch den Irrgarten von Tischen, Stühlen und Buffets. Ein goldenes Schild wies ihn als Francesco Orlando aus. Er war zweifelsfrei Italiener. An einem ovalen, auf Hochglanz polierten Tisch blieb er stehen. Der war für zehn Personen gedeckt. Kaum, dass sie sich gesetzt hatten, entstand auch schon eine Art Small Talk. Die Gäste stellten sich einander vor, während Claudio und Luis das Schmunzeln und die zweideutigen Blicke einiger Mitreisender nicht entging. Eine bildhübsche, junge Dame, die mit zwei Herren verreiste, was mochte wohl dahinter stecken? Mit wem war sie zusammen?

Als man Claudio nach seinen Beruf fragte, entschloss er sich dafür sein schwerstes Gesprächsgeschütz zu platzieren. „Ich bin Schriftsteller“ antworte er freundlich und nippte dabei an einem Weinglas welches ihm in der Zwischenzeit gereicht worden war. Vorherige Erfahrungen hatten ihm gezeigt, dass die Erwähnung seines Berufes einer Gruppe von Fremden gegenüber oftmals Reaktionen von Erstaunen bis hin zur Bewunderung auslöste. Manchmal wurde ihm auch bis ins kleinste Detail von obskuren, ja mysteriösen Autoren erzählt, die jahrelang Manuskripte bei zig tausenden Verlagen einreichten, jedoch niemals die Chance auf eine Veröffentlichung bekamen. Diese Taktik funktionierte fast immer um ein Abendessen in eine Art gemütliches Gesellschaftsspiel zu verwandeln, wobei ihm dann meistens der Part des Verlierers zugedacht war. Den letzten noch verbliebenen freien Platz an ihrem Tisch nahm dann eine etwas skurrile Persönlichkeit ein: Ein Weltenbummler, der sich schon etliche Tage nicht mehr gewaschen, geschweige denn gekämmt oder rasiert zu haben schien. Er trug ein verblichenes Flanellhemd zu einer abgenutzten und löchrigen Jeanshose. Auch so etwas gab es heutzutage auf einem Kreuzfahrtschiff.

In der Tat war das Leben an Bord eines solchen Ozeanriesen eine Welt für sich. Schnell hatten sich die Reisenden an die Fotoshooting Mentalität gewöhnt. Schiffseigene Fotografen waren überall anzutreffen. Für Fotos wurde posiert, was das Zeug hielt. Beim Abendessen oder zu besonderen Veranstaltungen, mit dem Kapitän, oder mit den Kellnern und Künstlern, beim Verlassen des Schiffes, bei der Champagne Begrüßung, dem Gala Abend und bei was es nicht sonst noch so alles gab. Die Fotos wurden dann im Gang zum Speisesaal nebeneinander aufgereiht und für den Verkauf ausgestellt.

Ein ausgedehntes Duschbad erweckte die Lebensgeister, während der eifrige Room-Service bereits die feuchten Handtücher, die Claudio zum trocknen über den Stuhl vor der Spiegelkommode gelegt hatte, geschickt austauschte. Über Lautsprecher wurde noch einmal auf die Aktivitäten des Abends hingewiesen. Eine Eisshow sollte dieHauptattraktion sein und ab 23 Uhr spielte ein kubanischer Musiker Rockoldies in der Viking-Lounge. Das alles geschah während die Marilu Kurs auf die kanarischen Inseln nahm.

Efraim hatte sich eine Spritze gesetzt und fühlte sich jetzt besser. Die drohenden Schmerzen waren zunächst abgewehrt. Kurzerhand nahm er eine frische Uniform aus seinem Schrank und schlüpfte hinein. Es war halb elf, als er seine Kabinentür entriegelte und nach dem Steward läutete. Er bekam ein Abendessen serviert, welches Doktor Robinson mit Sicherheit sofort in die Toilette gekippt hätte. Nach dem Essen ging er hinauf in die Viking-Lounge Bar. Er wusste, dass Rubén ab Elf hier Rockoldies von Santana zum Besten gab. Und Rubén legte los wie der Teufel. Nach „Oye como va, Samba Pa Ti und Europa folgte Black Magic Woman. Efraim hatte sein Problem vollkommen vergessen. Er bewunderte Rubéns Spieltechnik. In der Pause gesellte sich der Musiker zu ihm. Die beiden Männer waren schon öfters miteinander zur See gefahren. Daher gingen sie eher freundschaftlich miteinander um. Sie rauchten, tranken Kaffee und sprachen über den ersten Reisetag. Efraim fand, dass Rubén müde und abgespannt aus sah. Der Rock `n Roll scheint seine Spuren zu hinterlassen, dachte er.

„Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, mein Lieber“, sagte er auch prompt zu Rubén.

„Vielleicht rauche ich zu viel, dazu schlafe ich nicht gut“, bekam Efraim als Antwort zu hören.

„Mm...ich habe mir schon gedacht, dass etwas nicht mit ihnen stimmt. Sie sind in Malaga die ganze Zeit an Bord geblieben, während sich ihre Kollegen an Land vergnügten. Was ist denn los mit ihnen?“

Diesmal antwortete Rubén nicht sofort. Er überlegte eine Weile, dann stellte er seinem Kapitän eine Gegenfrage: „Sind Sie eigentlich schon einmal verheiratet gewesen, Senor Capitan?“