Endzeitreise - Martin Theis - E-Book

Endzeitreise E-Book

Martin Theis

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Beschreibung

Die globale Krise unserer Zeit hat viele Geschichten – sie alle sind miteinander verbunden. Martin Theis ist der größten Herausforderung der Menschheit auf der Spur. Er berichtet von Umbruch und Aufbruch in Folge des Klimawandels, u.a. aus Alaska, Sibirien, Sansibar, Manhattan und dem deutschen Hinterland. Wie viel Wahrheit kann er seinem Kind zumuten? Und welche Verantwortung trägt jeder einzelne von uns für kommende Generationen?  Der Reporter nimmt uns mit an die Enden der Welt, zu Menschen, die über sich hinauswachsen – und auf Heimatbesuch zu seiner Familie in Baunatal, einem Wohlstandsidyll neben Deutschlands zweitgrößtem VW-Werk. Denn manchmal liegen die Antworten dort, wo wir sie am wenigsten erwarten. »Endzeitreise ist eine Geschichte über die zwei wichtigsten Themen der Welt: Familie und Klimawandel. Eindringlich, rührend und mit der Präzision eines großen Reporters erzählt«Takis Würger

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Seitenzahl: 465

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Cover for EPUB

Martin Theis

Endzeitreise

Als mein Sohn mich fragte, wann die Welt untergeht

Tropen Sachbuch

Impressum

Die Rahmenhandlung spielt in einer fiktionalen Wirklichkeit. Die Erzählungen dazwischen sind Realität, die eigentlich nicht wahr sein darf. Wo nötig, wurden Namen zum Schutze der Protagonist:innen geändert.

Das vorangestellte Zitat stammt aus: J. A. Baker. Der Wanderfalke, aus dem Englischen von Andreas Jandl und Frank Sievers ©2013 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Redaktionelle Bearbeitung: Benjamin Mildner

Umschlag: © Steve Marshall, 2022

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-50498-9

E-Book ISBN 978-3-608-12020-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Am Ende

Bis hierher lief’s noch ganz gut

Gelobtes Land

Das versicherte Leben

Am Wasser gebaut

Zuhause

Großstadtnomaden

Das Übel an der Wurzel

Mission Erde I

Ach, Nichts

Am Rande des Wahnsinns

Die Offenbarung des Jan Udo

Josefs Schatz

Vom Ausbleiben der Zwickibussis

Und wird nicht gebrochen

Mitarbeiter Nummer 78

Veni, vidi, Venezia

Die Entstehung der Welt

Tropfen auf den heißen Torf

Das Habitat

Watapata Tabu Sana

Die Operation

Mission Erde II

The Hessians

Schon immer Hannelore

2050 

Mission Erde III

Die Sauberkeit unserer Frontscheiben

Das Experiment

Blackout

Die Arche Ben

Du musst dein Leben ändern

Am Anfang

Letzte Worte

»Am schwierigsten ist es, das zu sehen, was tatsächlich da ist.«

J. A. Baker, Der Wanderfalke

Für Kofi

Am Ende

Newtok, Alaska

Ich trete so nah an den Ninglick heran, wie es die weiche Erde erlaubt. Vor mir rauscht der gewaltige Strom, aufgepeitscht von Sturm und Regen der vergangenen Tage. Er drängt in Richtung Beringsee, ist hier im Delta selbst schon fast Meer. Hinter mir liegt Newtok, eine Ansammlung versackender Blechhütten auf Stelzen. Dort leben Yupik, die indigenen Bewohner dieser Sumpflandschaft. Entlang der steilen Küste klaffen Risse im Grün. Grasbüschel hängen von der Abbruchkante. Die Erde zergeht, und der Strom nimmt sie mit sich, Brocken für Brocken, auf Nimmerwiedersehen. Bald stürzen die ersten Hütten ins Wasser.

Permafrost. Der dauerhaft gefrorene Boden bedeckt ein Viertel der Landfläche auf der Nordhalbkugel. Seit Tausenden von Jahren sind dort gigantische Mengen CO2 und Methan gespeichert. Eingefrorene Pflanzenreste enthalten bis zu 1600 Gigatonnen Kohlenstoff – etwa doppelt so viel, wie sich in der gesamten Atmosphäre befindet. Noch. Denn das Eis, das zwischen Gestein, Sedimenten und Erde in die Tiefe reicht, hat zu tauen begonnen.

Als ich mich nach vorne beuge, sehe ich Rinnsale aus der dunklen Erde treten und in den Ninglick laufen. Ich denke an das Wort Wasserlassen. Das Tauwasser wird Teil des großen, erdumspannenden Blaus, das sich immer mehr Land nimmt.

Im Boden unter mir erwachen uralte Mikroben zum Leben. Sie zersetzen das organische Material und die Treibhausgase entweichen. Der tauende Permafrost könnte die Welt endgültig über die Schwelle katastrophaler Erhitzung stoßen. Hier vollzieht sich eine Rückkopplung, von der Erwärmung zum Tauen zur Erwärmung und so weiter. Schon kurze Wärmephasen reichen aus, um große Mengen Permafrost zu vernichten. Weil er auf vielfältige Weise mit der Umgebung reagiert, ist es schwer, die Folgen vorherzusagen. Sicher ist: Ich stehe auf einer tickenden Zeitbombe.

Ich hebe den rechten Fuß und der Boden zieht mir fast den Gummistiefel aus. Mit einem Schmatzen löst sich die Sohle, in ihrem Abdruck sammelt sich Wasser. Es riecht nach Schlick, Benzin und Scheiße. Alaska habe ich mir anders vorgestellt, so wie ich mir überhaupt alles ganz anders vorgestellt habe.

Wegen Newtok verpasse ich Nimos zweiten Geburtstag. Jasmina sagt, das sei typisch, und ich sage, wir brauchen das Geld. Ein zwischenmenschliches Gerichtsverfahren. Und immer ist es kalt in unserer Kellerwohnung.

Wie soll ich Nimo das alles eines Tages erklären?

»Wer bist du?«, fragt hinter mir jemand auf Englisch. Ich drehe mich um und stehe vor einem drahtigen Yupik-Teenager, der mir bis zur Brust reicht. Er vergräbt die Fäuste in den Ärmeln seines Kapuzenpullovers. Sommersprossengalaxien krümmen sich in seinen Grübchen.

»Ich bin Kevin«, sagt er.

Martin. Mar-tin. Mmmm. Arr. Tin. Mein Name klingt hier draußen wie eine haltlose Behauptung. Er bedeutet so viel wie ein Abiturzeugnis im Urwald oder ein Seepferdchenabzeichen in der Wüste.

»Woher kommst du?«, fragt er.

Ja, von Deutschland habe er schon mal gehört.

Kevin spuckt eine braune Masse neben sich, holt eine silberne Blechdose aus seiner Hosentasche und hält sie mir hin. Der Kautabak ist dunkel und weich wie der Boden unter Newtok. Ich stecke mir einen Batzen hinter die Oberlippe und es schmeckt, als würde ich an einem schmutzigen Stromkabel lutschen. Er nickt zufrieden, als ich das Gesicht verziehe.

»Wie heißt der Fluss dort, wo du zu Hause bist?«

»Das kommt drauf an, was das heißen soll, Zuhause«, sage ich.

Ich denke zuerst an den Neckar, nahe unserer Kellerwohnung in der schwäbischen Provinz, wo wir studiert haben und wegen Nimo auch geblieben sind. Dann denke ich an die Fulda, einen Steinwurf von meiner alten Schule in Kassel entfernt. Und schließlich an die Bauna, ein Flüsslein, das durch Baunatal fließt, am Wohngebiet meines Vaters vorbei und durch die Dörfer, bis es in die Fulda übergeht.

»Welche Fische fangt ihr dort?«, fragt Kevin.

Was das angeht, weiß ich wenig über meine Heimat.

Aber was nützen mir Fische. Jasmina besteht darauf, dass ich mir einen richtigen Job suche. Geschichtenerzählen, das ist doch nichts. Wir müssten endlich raus aus der kalten Kellerwohnung und leben wie erwachsene Leute. Wenn ihr Vater, ein Unternehmer aus Rotterdam, uns finanziell nicht aushelfen würde, säßen wir schon auf der Straße, sagt sie. Woher nur die Kälte in dieser Wohnung komme, diese elende Kälte, da bekomme das Kind eine Lungenentzündung. Ich könne doch für die Universität Mitteilungen tippen, im Bereich Presse und Öffentlichkeit, oder gefrorenes Gemüse ausliefern. Hauptsache geregeltes Einkommen.

»Als ich klein war, reichte das Ufer bis dort hinten«, sagt Kevin und hebt den Arm. »Bis zur Hälfte des Flusses.«

Als ich klein war, fror bei uns hinter dem Wohngebiet in Baunatal der Leiselsee zu, spätestens im Januar.

Gemeinsam schauen wir hinaus.

Ich hätte es wissen können. Nein, ich habe es gewusst. Und doch trifft es mich wie ein Schlag in den Nacken.

Ungefähr in Kevins Alter hörte ich zum ersten Mal das Wort Klimawandel. Herr Böhme verteilte im Politikunterricht einen Text des amerikanischen Politikers Al Gore. Der tourte mit seiner Diashow durch die Welt, mit der er die Menschheit über die Folgen des Treibhauseffektes aufklären wollte, über die arktische Eisschmelze, den steigenden Meeresspiegel und die Verwüstung fruchtbarer Landstriche. Er projizierte den Teufel an die Wand. Es hieß aber, mit ein paar mehr Windrädern würden wir das wieder in den Griff bekommen.

Böhme war der einzige Lehrer mit Doktortitel und hatte mit seiner Ehefrau Bücher über Tai Chi Chuan verfasst. Er unterrichtete mit halb geöffneten Augen und konnte mit Gleichmut vom drohenden Kollaps unserer Zivilisation sprechen. Neben mir saß Max, der ab der großen Pause bekifft war. Chill mal, meinte er, als ich mich aufregte, das sei alles noch hundert Jahre hin.

»Sind wir wirklich so behindert?«, sagte ich und klopfte mir gegen die Stirn.

Ich war wohl laut geworden. Böhme regte sich nicht und schien durch mich hindurchzusehen. Von seinen Augenbrauen standen einzelne, sehr lange Haare ab. Wahrscheinlich massierte er sich in diesem Moment die inneren Organe per Froschbauchatmung, um sein Chi zu pushen. Da witterte Max seine Chance.

»Ich find’s schwul, dass du behindert als Schimpfwort benutzt«, sagte er und legte die Stirn in Falten wie George W. Bush. Was für ein Spast, dachte ich damals.

Der Ausstoß von Treibhausgasen ist seitdem nur noch gestiegen. Der Wandel aber vollzieht sich schleichend, sodass ein Menschenleben kaum auszureichen scheint, um ihn zu begreifen. Als ich aufwuchs, galten Hitzerekorde als gute Nachrichten. Sie wurden mit Bildern von Schwimmbädern und tropfenden Eiskugeln illustriert. Irgendwann habe ich verdrängt, was Böhme uns erzählt hat. Wenn, dann würde es die übernächste Generation treffen. Und niemals würde ich Kinder bekommen, dachte ich.

Niemals.

Jetzt ist alles anders.

Der Boden scheint zu beben. Ich breite die Arme aus, um nicht umzukippen.

»Haut rein, oder?«, grinst Kevin. »Du bist weiß wie der Mond, Bro.«

Ich spucke den Flatschen neben mich, doch werde den Geschmack nicht los. Kevin hält mir einen Flachmann hin. Er fragt, ob ich einen Mammutstoßzahn kaufen wolle. Keinen ganzen natürlich. Er hält seine Zeigefinger eine Armlänge auseinander. So lang. 300 Dollar.

Wenn die Erdbrocken in den Fluss rutschen, lösen sich die Fossilien und sinken auf den Grund. Bei Ebbe stapfen die Jungs aus dem Dorf mit Stangen durchs Watt und stochern nach Schätzen, die sie bei den weißen Händlern zu Geld machen. Die nennen es »ethical ivory«. Kevin ist egal, wie sie das nennen, er will hier raus und dafür braucht er Geld. Ich schüttele den Kopf.

»Was zu rauchen?«, fragt er. 50 Dollar das Gramm.

Er sagt, er könne im Grunde alles besorgen, habe gute Verbindungen nach Fairbanks, einer tausend Kilometer entfernten Stadt im Nirgendwo. Aber eigentlich habe er jetzt andere Pläne.

»Die Army ist meine einzige Chance, dem Delta zu entkommen«, sagt er. Gerade trainiere er für die Aufnahmeprüfung. Liegestütze. Sit-ups. Dann zwei Meilen rennen. »Ich hab eine Scheißangst, dass die mich ablehnen.«

Kevin setzt sich auf einen alten Quadreifen im Schlamm. Er zieht zwei Buttermesser aus seiner Bauchtasche. Aus einer zweiten Blechdose fingert er eine kleine Cannabisblüte, die er auf seinem Knie ablegt. Die Messerspitzen erhitzt er über einem Sturmfeuerzeug, dann nimmt er die Blüte damit auf und presst sie zusammen wie mit einem Waffeleisen. Er zieht den aufsteigenden Rauch ein und hält die Luft an. Dann atmet er aus, geht runter auf den Boden und macht Liegestütze mit enganliegenden Ellenbogen. Seine Hände sinken in den Schlamm. In Newtok stirbt man keinen Heldentod. Von hier aus betrachtet ist der Dienst an der Waffe eine gute Option.

Ich habe schon länger das Gefühl, dass auch meine Welt untergeht.

Eines Nachts, nach einem weiteren Streit in unserer kalten Kellerwohnung, habe ich mich an Nimos Bett gehockt und seinen Atemzügen gelauscht. Wie von selbst formte sich in mir ein Versprechen: Für dich mache ich alles gut. Jetzt weiß ich, dass diese Worte mehr Gewicht hatten, als ich tragen kann.

Kevin hält die Flamme des Sturmfeuerzeugs an die Spitzen seiner Messer.

»Solange ich es nicht versucht habe, ist noch alles möglich«, sagt er.

Ich werde mir keinen vernünftigen Job suchen.

Wir sind Optimisten, Kevin und ich, jeder auf seine Weise.

Bis hierher lief’s noch ganz gut

Sobald wir außer Sichtweite der Autovermietung sind, fahre ich rechts ran. Dort haben sie schon so erschrocken geguckt, als ich die Tüten mit den Tomatenpflanzen auf die Rückbank der Limousine gestellt habe – Berner Rose, Ochsenherz, Noire de Crimée, Japanische Birne und Andenhorn. Das Folgende wäre sicher zu viel gewesen.

Vom Beifahrersitz aus überreicht mir Nimo das große Gurkenglas wie einen kostbaren Kelch. Wir haben es mit Wasser gefüllt und den Deckel durchlöchert. Darin schwimmt Carlos, unser Urzeitkrebs der Gattung Triops.

»Vorsicht, Papa, Vooorsicht«, sagt Nimo.

Die Triops leben in stillen Gewässern.

Ich reiße lange Streifen vom schwarzen Panzertape und befestige unser Aquarium damit auf dem Armaturenbrett. Die bevorstehende Fahrt des Urzeitkrebses erinnert vage an das Schicksal all der Hunde, Katzen, Frösche, Quallen, Ameisen, Fruchtfliegen, Mäuse und Affen, die Amerikaner und Sowjets bei ihrem Wettlauf um die Mondlandung ins All geschossen haben. Auch Carlos ist hier weit außerhalb seiner natürlichen Komfortzone. Mit dem Unterschied nur, dass Nimo auf ihn Acht geben wird, bis er in Sicherheit ist.

»Keine Angst, es wird ihm gut gehen«, sage ich, auch zu mir selbst.

Carlos darf nicht sterben. Ich stelle die Klimaanlage auf 25 Grad, denn er mag es warm.

Wir wollen von der schwäbischen Provinz nach Nordhessen fahren. Meine Mutter hat mich ermahnt, bloß nicht den Zug zu nehmen. Neueste Forschungen würden belegen, wie gefährlich das Virus auch für jüngere Menschen sei. Sechs Jahre nach Newtok sind die dringendsten Krisen eine Pandemie und ein Krieg in Osteuropa.

Der Urzeitkrebs ist schon etwa so lang wie Nimos Zeigefinger. Sein Schwanz ist dem einer Garnele nicht unähnlich, vorne geht sein grünlich schimmernder Panzer in die Breite. Man kann beinahe durch ihn hindurchsehen. Über den eng zusammenstehenden Punktaugen hat er noch ein drittes Auge, mit dem er Änderungen in der Helligkeit wahrnehmen kann. »Triops« heißt »der Dreiäugige«. Wie auf Schwingen gleitet er durch sein Habitat. In Sand und Nährboden haben wir hellgrüne Pflänzchen gesetzt. Froschlöffel, Mooskugel und Feinfiedrige Haarnixe tragen hoffentlich dazu bei, dass er sich auch unterwegs zu Hause fühlt. Das Blatt eines Seemandelbaums soll als natürliches Fungizid wirken.

Nach den Hitzerekorden der vergangenen Monate sind die Böden rissig geworden und das Gras kräuselt sich gelb auf den Grünflächen entlang der Hauptstraße. Dazwischen strahlt mancher Garten in einem satten Grün, obwohl die Regierung dazu aufgerufen hat, kürzer zu duschen und, wenn möglich, die Pflanzen nicht zu bewässern. Ich spüre wieder so ein Pochen im Kiefer, diesmal links oben.

Die Sommer sind nicht mehr das, was sie mal waren. Ich habe Nachforschungen dazu angestellt, Daten von Wetterstationen gesichtet, Klimaforscherinnen und Klimaforscher interviewt und meinen Großvater befragt, der jedes Jahr aus unterschiedlichen Gründen sagt: Dieser Sommer ist nichts. Im letzten Jahr etwa hat es ständig geregnet und die Tomaten der Nachbarschaft waren von einer braunen Fäulnis befallen. Es hagelte Eisbälle, weshalb aus unseren vor Blüten sonst überquellenden Balkonkästen nur kahle Stängel ragten. Jetzt werden die Blätter gelb vor Hitze.

Der Blick in das Gurkenglas hat etwas Tröstliches.

Das Wasser liegt während der Fahrt still wie ein Gebirgssee. Nur ein leichtes Vibrieren meine ich an der Oberfläche ausmachen zu können, bevor ich lieber wieder auf die Fahrbahn schaue. Im Radio singt Cher Do you believe in life after love.

Die Straße ist noch schwarz von der Nacht. Sie wird uns nicht an den Strand und nicht in die Berge führen, wir werden weder Urwälder durchwandern noch Pyramiden erklimmen. Wir machen nur Urlaub in Baunatal, einer Mittelstadt, die so ist wie jede andere. Mein Vater hat mich gebeten, in den Ferien seinen Kater zu füttern und auf das Haus aufzupassen, was auch immer das bedeuten soll. Er selbst will mit dem Wohnwagen nach Kroatien aufbrechen, mit seiner Renate auf dem Beifahrersitz und dem Vorsatz, den Kontakt zu anderen Leuten aufs Nötigste zu beschränken.

Mit Nimo kann jede Reise zum Abenteuer werden.

Bei Stuttgart fahren wir auf die A81, in Richtung Norden. Das heißt, wir fliegen fast. Ich habe einen VW Golf bestellt, dann aber eine Mercedes E-Klasse bekommen, weil sie nichts Kleineres mehr dagehabt haben. Es ist, als würden wir auf einem Magnetfeld dahingleiten. Als wir hinter Leonberg in einen Tunnel schießen, leuchten die polierten Armaturen violett. Nimo nennt es das schöne Licht. Hinter den getönten Scheiben der Seitenfenster rauschen noch die orangen Lampen des Tunnels vorbei, dann ein Industriegebiet und dahinter gelbe Felder mit Windrädern. Wenn alles gut geht, werden wir Carlos in ein paar Stunden ein neues Aquarium einrichten.

Noch ehe wir das Schwabenland verlassen haben, berichten sie im Radio von einer großen Flut, in Indien, Pakistan oder Bangladesch. Erst habe ich nicht hingehört, dann sagen mir die Ortsnamen nichts. Sie sagen, ein Drittel des Landes stehe unter Wasser.

Aus Ostdeutschland werden wieder Waldbrände gemeldet. Es heißt, nie zuvor habe die Brandenburger Feuerwehr so viele Einsätze gehabt.

Nach ein paar Songs kommt ein Beitrag zur Jahrhundertflut letzten Jahres in Westdeutschland. Die Untersuchungen dazu sind jetzt abgeschlossen und die Kommission hat ihren Bericht vorgelegt. Man ist zu dem Ergebnis gelangt, dass Dutzende Leben hätten gerettet werden können, wenn die Behörden auf die Unwetterwarnungen des Deutschen Wetterdienstes gehört hätten. Über Nacht waren Flüsse zu Sturzfluten angeschwollen, hatten Felder abgetragen, Dörfer überschwemmt und Hauswände fortgerissen. In wenigen Stunden war damals Regen für einen ganzen Monat gefallen, und die Wassermassen haben die Leute in ihren Häusern überrascht. Wieso hat niemand sie gewarnt? Es wird noch einmal der O-Ton eines Ministers abgespielt, der von Mitgefühl sprach, aber auch zur Besonnenheit riet. Dies sei eben das Wesen von Katastrophen, sagte er, dass niemand sie vorhersagen könne.

Ich will das Radio abschalten. Im Lenkrad gibt es einen Knopf dafür, nur wenige Zentimeter von meinem Daumen entfernt. Solche Nachrichten umkreisen Nimos Kopf bloß wie Weltraumschrott und kollidieren irgendwann vielleicht mit seinem zerbrechlichen Glauben. Doch wenn ich jetzt abschalte, wird er erst recht hellhörig werden und mich genauestens zu dieser Sache befragen, mit kleinen Sorgenfalten zwischen seinen blonden Augenbrauen. Also lasse ich es laufen. Ich hoffe, dass die Sendung bald vorbei ist oder dass Nimo zumindest nicht so genau hinhört – obwohl ich ja weiß, dass er das tut.

Die Sprecherin addiert Millionensummen und Menschenleben, um den Schaden zu beziffern. Eine Frau erinnert sich mit bebender Stimme, wie sie nachts auf dem Dach ihres Hauses ausgeharrt hat, inmitten der Fluten. Die Wetterwarnungen sind zwischen ungeklärten Zuständigkeiten und dem Optimismus lokaler Politiker verebbt. Im Rauschen des brüchigen Radiosignals hören wir die Stimme eines Meteorologen: »In der Welt, in der unsere Kinder einmal leben werden, werden solche Fluten leider zur Normalität gehören«, sagt er. Das Radio verstummt, als wir in den nächsten Tunnel fahren.

»Papa?«, sagt Nimo.

»Ja?«

»Die Welt, in der unsere Kinder einmal leben werden, das ist die Welt, in der ich einmal leben werde«, sagt er. »Weil ich dein Kind bin.«

Ich umklammere das Lenkrad so fest, dass meine Handknöchel weiß werden. Vielleicht muss ich mich jetzt zu dieser zukünftigen Welt erklären. Er weiß von meinen Recherchen. Und obwohl es einiges zu sagen gäbe, folgen lange Sekunden des Schweigens. Es ist nicht so, als würde mir dazu nichts einfallen. Vielmehr ist mein Kopf verstopft mit Satzanfängen, die sich im Nichts verlieren, mit Bildern der Verwüstung und einem Stimmengewirr von Menschen, denen ich seit Newtok begegnet bin, in Sansibar und New York, in der Lagune von Venedig, der mongolischen Steppe, am Rande des Tagebaus, in einer alten DDR-Kaserne und immer wieder in Tübingen, wo wir wohnen.

Ich sage, wir könnten uns jetzt etwas anderes anhören.

Mein Vorschlag ist Superschlaue Tiere, Nimo aber besteht auf Maya und Azteken. Über den Bildschirm neben der Geschwindigkeitsanzeige wähle ich das Hörbuch aus. Das Intro kann er schon mitsprechen: Wann war die Blütezeit der mächtigen Maya? Was ist mit ihnen geschehen? Wie viel ist von ihren ehemals prächtigen Städten noch heute zu sehen?

Nimo will Archäologe, Paläontologe und Fußballer werden. In einem Vortrag hat Nimo seiner Klasse erklärt, dass wir die Farben der Dinosaurier nicht kennen, weil wir ja nur ihre Knochen und versteinerte Hautreste untersuchen können. Man vermute jedoch, dass zumindest die Pflanzenfresser farblich an ihre jeweilige Umgebung angepasst waren. Dies hätte ihre Überlebenschancen erhöht und sei überall in der Natur zu beobachten – die Farbe der Triops etwa ähnelt dem Bodengrund ihres Biotops, sodass sie im meist trüben Wasser fast unsichtbar und vor Angriffen durch Vögel geschützt sind.

Im Zwielicht der Geschichte liegt auch der Grund dafür, warum die Maya bereits im 9. Jahrhundert einige ihrer Städte im Tiefland aufgegeben haben; warum die große Halbinsel Yucatán im Inneren bald menschenleer gewesen ist, während die Mayakulturen an den Küsten sowie im Hochland noch viele Male erblühten. Ihre alten, auf Rindenbast aufgetragenen Schriften jedenfalls können keinen Aufschluss mehr darüber geben, weil Diego de Landa, der katholische Bischof von Yucatán im 16. Jahrhundert, die Faltbücher hat verbrennen lassen und heute nur noch vier Stück davon übrig sind. Sind die Maya vor Eroberern geflohen? Hat eine große Seuche sie dahingerafft? Oder haben sich die Dürren gehäuft, sodass ihre Ernten verdorrten und die Gegend unbewohnbar wurde? Sie selbst haben jedenfalls zu großer Trockenheit beigetragen, indem sie ihre Wälder abholzten, um Platz für Felder und Städte zu schaffen. Im Nachhinein ist es leicht, ihren Übermut zu erkennen.

Die Geschichten der Maya-Metropolen folgen der Struktur Aufstieg – Blüte – Niedergang. Es ist der Lauf des Universums und aller Dinge darin. Nimo lauscht, schließt manchmal die Augen oder nickt, als würde er dem Gesagten so erst zur Gültigkeit verhelfen. Er merkt sich die Details seiner Hörbücher über Monate hinweg, und ich muss allmählich aufpassen, was ich ihm erzähle. Es scheint, als würde er nichts davon je wieder vergessen.

Ungefähr auf der Höhe von Hildesheim fragt Nimo, was das eigentlich genau sei, eine Zivilisation. Ich berühre den rissigen Bildschirm meines Smartphones.

»Was ist eine Zivilisation?«, frage ich, ins Auto hinein.

»Die Gesamtheit der durch den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt geschaffenen und verbesserten Lebensbedingungen«, kommt es aus den Lautsprechern zurück.

Die Maya sind bekannt für den Maisanbau, die Erfindung der Schrift in Mittelamerika und die Verwendung der Null in der Mathematik, als den Europäern noch jeder Sinn für das Nichts fehlte. Außerdem haben sie einen Kalender entwickelt, aus dem esoterische Kreise den Weltuntergang am 21. Dezember des Jahres 2012 abgeleitet haben, weil an diesem Tag das dreizehnte Baktun endete, ein großer astronomischer Zyklus. Ich nahm das damals zum Anlass, einen Einführungskurs im örtlichen Schützenverein zu buchen. Maya hin oder her, wann immer die Welt untergehen würde, könnten Grundkenntnisse an der Waffe nicht schaden.

»Welche Zivilisation sind wir?«, fragt Nimo.

»Wir sind die westliche Zivilisation«, sage ich.

Aber was soll das bedeuten?

Ich denke an eine Demokratie der Männer in der griechischen Polis, an den heiligen Bonifatius, wie er die Eiche fällt, die dem germanischen Donnergott Donar geweiht ist; ich denke an Meinungsfreiheit, die Erfindung der Public Relations durch den Neffen von Sigmund Freud in den USA, an Hitler im Mercedes mit den runden Scheinwerfern, Zitrussteine fürs Klo, den Marlboro-Mann und das Jobcenter; denke an Globuli, Paracetamol, Fußbodenheizung, Coca-Cola, Würstchen im Speckmantel und die Serie Friends; an das Weiß in den Augen der Kohlekumpel und wie es aus den schwarzen Gesichtern sticht; denke an Beate Uhse und Beate Zschäpe; an Hollywood und die Penner neben dem Walk of Fame, an Bayern München, Ärger um Katar und die Kritik der reinen Vernunft. Ich denke an den 39-jährigen Spanier, der neulich in der Nähe von Barcelona kopfüber im Bein eines Stegosaurus aus Pappmaché gestorben ist, einer Werbestatue für ein längst geschlossenes Kino, weil er sein Handy dort hat hineinfallen lassen, beim Versuch es zu bergen steckenblieb, und dessen Körper erst Tage später gefunden wurde. Und daran, dass wir uns in einer motorisierten Kapsel auf einer Hunderte Kilometer langen Asphaltbahn fortbewegen, in 4-D-Surround-Sound ein Hörbuch aus einem weltumspannenden Datennetz streamen, ein Achtjähriger bei stabilen 25 Grad Innentemperatur und einer Geschwindigkeit von 212 Stundenkilometern eine Packung Schwäbische Knusperbrezeln öffnet und jetzt Salzkrümel auf seinen mit Rinderhaut bespannten Polstersitz rieseln.

»Werden unsere Städte auch mal Ruinen sein?«, fragt Nimo und richtet sich auf.

»Nichts ist ewig«, sage ich. »Aber niemand weiß, wann es so weit ist.«

Ich dachte immer, wenn ich einmal so ein Gespräch mit ihm führen müsste, hätte ich längst einen Weg gefunden, sagen zu können: Alles wird gut. Aber so ist es nicht. Ein Abgrund klafft zwischen dem, was ich zu wissen glaube, und dem, was ich Nimo gegenüber zugeben kann. Es gilt, seine Vorfreude auf eine Zukunft zu wahren, in der theoretisch noch alles möglich ist. Andererseits dringen die Nachrichten über den Zustand der Welt an ihn heran. Er erfährt es aus den Autoradios, der Sendung mit der Maus, aus Wunderwelt Ozean und Paradies Regenwald, durch Andeutungen der Lehrerinnen in der Schule oder Gespräche unter Erwachsenen.

Ich habe in den Abgrund geschaut und jetzt schaut der Abgrund zurück.

Eines Tages wird Nimo selbst die Wüsten und Urwälder dieser Erde durchkämmen, zwischen seinen Spielen für den FC Barcelona oder Manchester United, auf der Suche nach Knochensplittern und den Spuren einstiger Hochkulturen. Sein größter Wunsch ist es, dabei etwas zu entdecken, von dessen Existenz noch niemand etwas ahnt. Das fünfte erhaltene Faltbuch der Maya, das uns etwas über den Untergang einer bestimmten Stadt verraten könnte; den Schädel einer unbekannten Art von Flugsauriern; die Grundfesten einer in Staub und Sand begrabenen Stadt, die uns mahnt: Jedem Anfang wohnt ein Ende inne.

Irgendetwas muss ich sagen.

»Was würdest du werden, wenn du dich für einen Beruf entscheiden müsstest?«, frage ich Nimo.

»Dann würde ich Archäologe werden.«

»Und warum?«

»Weil ich herausfinden will, wie die Menschen früher waren«, sagt er. »Und warum willst du Journalist sein?«

Ich zähle drei Atemzüge.

Ich weiß es selbst nicht mehr genau. Aber ich kenne ein paar Narzissten, die behaupten, sie wollen die Welt zu einem besseren Ort machen.

»Weil ich herausfinden will, wie die Menschen heute sind«, sage ich.

Nimo nickt.

»Dein Vorteil ist, dass du nicht graben musst«, sagt er. »Wenn ich Archäologe bin, muss ich oft sehr lange graben, ohne irgendetwas zu finden.«

Was ich nur nicht mehr finde, das sind die positiven Ausblicke in eine bessere Zukunft. Mein Geld verdiene ich jetzt vor allem mit Texten über Rasenmähroboter für das Kundenmagazin der Firma Greenbot. Dabei kommt es darauf an, eine Wahrheit so zu formulieren, dass sie zum Kauf anregt. Insofern ist das dem Journalismus nicht unähnlich.

Nimo schraubt den durchlöcherten Deckel vom Gurkenglas und hält ein Thermometer ins Wasser. Seit fast zwei Wochen ist Carlos jetzt einer von uns. Dass er damit bereits ein Sechstel seiner statistischen Lebenserwartung erreicht hat, ist ein Problem, über dessen Bedeutung ich bei Gelegenheit nachdenken will.

Nur nicht jetzt.

Die getrockneten Eier der Triops sind in Zysten verkapselte Embryonen. Wir haben sie in ein kleines Aquarium gegeben, es in Nimos Zimmer unter eine 60-Watt-Lampe gestellt und den Abstand dazwischen austariert. Bei 21 Grad Wassertemperatur sind nach einigen Tagen zwei Dutzend Nauplien geschlüpft. Wir haben die zuckenden Larven mit Algenpulver gefüttert, ihnen gut zugeredet und abends Meditationsmusik für sie gespielt. Nimo hatte in einem seiner Bücher gelesen, dass Wasser die Schallwellen aufnimmt. Bald aber sind die ersten Babykrebse gestorben. Die Schwachen haben, einem uralten inneren Signal folgend, Platz für die Stärkeren gemacht. Einen Minikadaver nach dem anderen haben wir mit einem Plastiklöffel herausfischen und in den Zimmerpflanzen beerdigen müssen, bis nur noch Carlos übrig war und Nimo jedes seiner Entwicklungsstadien verfolgen konnte, bis jetzt.

Carlos ist empfindlich. Evolutionär gesehen sind die Urzeitkrebse aber Ikonen des Überlebens. Die Triops cancriformis haben den Ruf, die älteste Art auf dem Planeten zu sein. Man nennt sie lebende Fossilien, was nicht ganz korrekt ist, denn obwohl ihre Karosserie über mehr als 220 Millionen Jahre hinweg die gleiche geblieben ist, hat sich ihr Inneres kontinuierlich gewandelt und ist erst seit circa 25 Millionen Jahren auf dem jetzigen Stand. Wie dem auch sei – sie haben mehrere Wellen des Aussterbens auf diesem Planeten überstanden.

Das letzte Massenaussterben nahm seinen Anfang ausgerechnet auf der Halbinsel Yucatán, wo später das Reich der Maya gelegen hat. Der Chicxulub-Krater erinnert noch heute an den Tag vor 66 Millionen Jahren, als ein Asteroid von 14 Kilometern Durchmesser in die Erde eingeschlagen ist. Er leitete das Ende der Dinosaurier ein sowie eines großen Teils der damaligen Tier- und Pflanzenwelt. Erdbeben, Tsunamis und Flächenbrände überzogen die gesamte Erde, Staub und Ruß verteilte sich in der Atmosphäre. Über Monate hinweg drang kein Sonnenlicht hindurch, weshalb eine jahrzehntelange Eiszeit hereinbrach. Dann folgten Zehntausende Jahre Hitzestress, getriggert durch Milliarden Tonnen von Kohlendioxid, die der Einschlag freigesetzt hatte. In einer Kettenreaktion wurden ganze Ökosysteme auf die Werkseinstellungen zurückgesetzt. Die Urzeitkrebse aber haben einfach weitergemacht wie zuvor.

Manche sagen, jetzt sei es wieder so weit. Dass wir bereits mittendrin seien im nächsten großen Sterben der Erdgeschichte. Die Menschen seien daran schuld. In unserem faradayschen Käfig aber sind Nimo und ich gut aufgehoben. Blitze werden uns verfehlen, die Langstreckenraketen der Russen, alle bösen Gedanken der Welt und Asteroiden erst recht. Der Anstieg der globalen Mitteltemperatur ist hier drin von untergeordneter Bedeutung und selbst die Staumeldungen, die uns automatisch ins Hörbuch funken, drücke ich weg. Jeder Laster, den wir überholen, scheint aufzuheulen.

Ich könnte lange erklären, warum ich den motorisierten Individualverkehr ablehne – die Umwelt und das Klima, die Vorteile der Schiene, die Fehler der Stadtplanung seit Adolf Hitler. Doch ich fühle jetzt auch, dass der Mercedes mir eigentlich zusteht. Ich finde, die einen haben auf der linken Spur nichts mehr zu suchen, während zwischen mir und den anderen, denen in den edleren Karossen nämlich, ein stilles Einverständnis über die Rangordnung auf der Straße herrscht.

Vor Würzburg tauchen die Weinberge auf.

Nimo schläft, als wir das Reich der Azteken erreichen. Begleitet von der Stimme des Hörspielsprechers fahren wir in die Hauptstadt Tenochtitlán ein. Schon oft haben wir sie erkundet, auf unseren Expeditionen.

Mit bis zu 200 000 Einwohnern war Tenochtitlán beinahe so groß wie das heutige Kassel und damit eine der größten Städte der Welt. Das Kriegervolk hatte die Siedlung auf Inseln im Texcoco-See errichtet und mit Tausenden Pfählen gegen das Absinken gestützt. Sie hatten den Ort gemäß einer Prophezeiung ausgewählt, so erzählt man sich, weil sie dort einen Adler gefunden hatten, der auf einem Feigenkaktus sitzend eine Schlange fraß. So sitzt er heute noch auf der Nationalflagge Mexikos. Tenochtitlán war durch strenge Linien in rechteckige Blocks unterteilt und über fünf Dammbrücken mit dem Festland verbunden. Den Mittelpunkt bildete eine steinerne Pyramide, die höher war, als ein Mann einen Pfeil schießen konnte (was vielleicht eine Übertreibung ist, doch so erzähle ich es Nimo sonst, anstatt zur Beschreibung von Größen den Eiffelturm oder Fußballfelder heranzuziehen, die unserer Zivilisation entlehnt sind). Großzügigere Gebäude, vor allem am Stadtrand, hatten eingezäunte Gärten. Die mehrstöckigen Wohnhäuser der unteren Gesellschaftsschichten hingegen standen dichter gedrängt im Inneren. Den Azteken ging es gut, weil sie ihre Nachbarvölker unterjochten und hohe Tribute forderten – Früchte, Kakao, Jade, die bunten Federn des Quetzal oder Jaguarfelle.

In den Hörbüchern sagen sie den Kindern nie die ganze Wahrheit. Sie geben sich aber auch Mühe, nicht zu lügen.

Mitte des 16. Jahrhunderts wurde Tenochtitlán nacheinander von einer Heuschreckenplage, einer Hochwasserkatastrophe und einer Hungersnot heimgesucht. Die Stadt konnte sich kaum noch aus eigener Kraft ernähren. Viele Einwohner flohen, mussten als Sklaven dienen oder ihre Kinder verkaufen. Unter ihrem Herrscher Moctezuma II. führten die Azteken immer mehr Kriege für immer mehr Tribute. Dafür, dass die Hohepriester noch mehr Gefangenen das Herz aus der Brust reißen und die Leiber die Treppen des großen Tempels hinunterstoßen konnten, um die Götter zu besänftigen, auf dass die Sonne nicht stehenbliebe.

Laut ihren Geschichten war die Welt schon mehrfach untergegangen. Das Blut der Feinde würde die nächste Apokalypse allenfalls hinauszögern. So riefen sie Huitzilopochtli an, den Gott des Krieges und der Sonne, und Tlaloc, den Regengott, der bei Dürren Kindsopfer verlangte. Dürren gab es reichlich. Doch auch die Götter waren der kosmischen Ordnung unterworfen und mussten sich selbst oder einander opfern, damit die Welt weiterexistieren konnte. Erst der Tod ermöglichte das Leben. Der Sonnengott hatte seine Schwester, die Mondgöttin, gleich nach seiner Geburt zerstückelt.

Der nächste Weltuntergang braute sich jedoch längst zusammen.

Das Pech der Azteken war es, dass Hernán Cortés, der Sekretär des spanischen Statthalters von Kuba, zu jener Zeit Ärger mit seinem Vorgesetzten hatte. Der Statthalter wollte Cortés zwingen, eine Frau zu heiraten, die er nicht liebte, und warf ihn ins Gefängnis, bis er nachgab.

Zweimal hatte der Statthalter schon Schiffe nach Mexiko gesandt und vom großen Reichtum der dortigen Völker erfahren. Mit der dritten Mission beauftragte er Hernán Cortés, der in den Häfen schon Schiffe gemietet und Männer für die Flotte rekrutiert hatte. Der Statthalter fürchtete, Cortés könne aufgrund der erlittenen Schmach abtrünnig werden und die erhofften Goldschätze für sich behalten. Er zog den Auftrag zurück. Cortés aber stach in See, mit nicht ganz siebenhundert Mann. Um von Kubas Statthalter unabhängig zu werden, gründete er die Kolonie Oaxaca im Namen des spanischen Königs. Diesem sandte er Gold und edle Stoffe, die ihnen Moctezuma zur Begrüßung hatte bringen lassen.

Moctezuma hoffte, dass die Eindringlinge mit ihren Geschenken rasch wieder verschwänden. Hernán Cortés aber ahnte jetzt, wie reich die Azteken waren. Er wusste, wenn er in der neuen Welt keinen Erfolg hätte, würden sie ihn in Spanien für seinen Ungehorsam in den Kerker werfen. So verbündete er sich mit einem der Völker, das die Azteken unterjocht hatten, und versenkte die Schiffe seiner Flotte, um seinen Leuten den Rückzug unmöglich zu machen. Sie marschierten gen Tenochtitlán, bewaffnet mit Schwertern, Kanonen und dem Glauben an den Herrn Jesus Christus. Moctezuma konsultierte die Hohepriester, rief die Götter an und ließ seine Hellseher samt deren Familien töten, weil die Prophezeiungen nichts mehr taugten. Der Herrscher tobte – doch er musste die Spanier schließlich empfangen.

So quartierte er sie im Palast seines Vaters ein, wo sie einen Raum mit blutverkrusteten Wänden und verkohlten Menschenherzen vorfanden sowie eine mit unermesslichen Reichtümern gefüllte Schatzkammer. Aus Angst vor den Aztekenkriegern nahmen sie Moctezuma gefangen, zwangen ihn, fortan mit ihnen im Palast zu leben, und benutzten ihn als ihre politische Marionette. Bei Aufständen soll er schließlich von seinem eigenen Volk gesteinigt worden sein. Die Spanier mussten eines Nachts aus dem Tempel und der Stadt fliehen, wurden am Kanal entdeckt, von den Azteken mit Kanus gejagt und mit Pfeilen beschossen. Wer zu schwer mit Gold beladen war, der starb – und das waren die meisten. Cortés selbst entging dem Tod nur knapp.

Während sich die spanischen Streitkräfte erholten und neue Allianzen schmiedeten, brach eine Pockenepidemie aus, die ein Drittel der indigenen Bevölkerung dahinraffte. Die Spanier hatten die Krankheit eingeschleppt und blieben vom Schlimmsten verschont. Durch diese für sie glückliche Fügung konnten sie schließlich auch die Hauptstadt der Azteken einnehmen.

Sie machten Tenochtitlán dem Erdboden gleich und zerstörten jede Spur der alten Kultur. Aus den Trümmern bauten sie ihre eigenen Häuser. Aus Tempeln wurden Kirchen. Und auf dem Fundament des früheren Herrscherpalastes errichteten sie den Palast ihres Anführers, der einst aus Kuba aufgebrochen war, um frei zu sein: Hernán Cortés de Monroy y Pizarro Altamirano, Marqués del Valle de Oaxaca.

Und wenn sich heute ein Weißer auf Reisen in südlichen Gefilden die Seele aus dem Leib scheißt, dann nennen wir das Moctezumas Rache, in Anlehnung an den besiegten Herrscher der Azteken.

An einer gealterten Shell-Tankstelle im Knüllgebirge stelle ich das Auto so an die Zapfsäule, dass Carlos noch ein paar Sonnenstrahlen abbekommt. Ich tanke voll. Dann schleichen wir vorbei an einer picknickenden Familie in identischen Trainingsanzügen und pinkeln durch den Maschendrahtzaun, in Richtung der Felder.

Nimo sagt, er wolle sich von nun an professioneller ausdrücken oder, anders gesagt, in Rätseln sprechen. Also zum Beispiel nicht: Ich kriege keine Luft, sondern Mir fehlt Sauerstoff. Dies sei die Sprache der Wissenschaftler. Als ich in Richtung Tankstelle gehen will, hält mich Nimo zurück.

»Hast du nicht was vergessen, Papa?«, fragt er.

Mit seinen Händen buddelt er in der Luft. Dann gleitet er über den Parkplatz wie durch Wasser, seine Arme zu Schwingen gebreitet. Also gut.

Ich mache mich daran, das Panzertape vom Armaturenbrett zu entfernen.

Die Schiebetüren der Tankstelle öffnen sich und ich bin sofort beruhigt, als ich die lückenlos gefüllten Regale sehe. Die Zivilisation sagt: Ich war, ich bin, ich werde sein. Nimo hält das Gurkenglas mit beiden Händen umklammert und läuft etwas nach hinten gebeugt. Ich sehe aufgeplusterte Packungen Chips, Nachos und Flips, zwei Drehständer mit Sonnenbrillen, Bier an Bier, Tiefkühlpizza, Thunfischdosen und haltbare Milch. Alles, was hier am Abend fehlt, wird automatisch registriert, nachbestellt und in kürzester Zeit ersetzt. Dafür operiert tagtäglich ein weltweites Netzwerk von Menschen und Maschinen, das produziert, transportiert und – digitalen Signalen folgend – dafür sorgt, dass alles den Weg in die richtigen Lagerhallen und Container, auf das richtige Schiff und den richtigen Lastwagen findet, bis irgendwann im Morgengrauen, am Ende einer langen Kette von Dienst- und Rechenleistungen, ein gähnender Shell-Mitarbeiter im Knüllgebirge die Regale befüllen kann und alles von vorn beginnt.

Früher hätte man eine Tankstelle nicht mit einer Maske betreten dürfen, heute geht es nicht mehr ohne. Ich denke wieder an die Azteken und daran, wie es endgültig um sie geschehen war, kaum fünfzig Jahre nach Ankunft der Spanier.

Der Erreger Salmonella enterica Paratyphi C brachte eine der tödlichsten Epidemien der Menschheitsgeschichte über die indigenen Völker Mittelamerikas. Wer sich ansteckte, den packte hohes Fieber und eine Magen-Darm-Infektion, der blutete bald aus Augen, Mund und Nase, bis er nach wenigen Tagen starb. Die Aztekenpest, die sie Cocoliztli nannten, dünnte die Bevölkerung Mexikos aus, bis sie auf etwa ein Zehntel dessen zusammengeschrumpft war, was Hernán Cortés vorgefunden hatte, als er mit seinen Leuten an Land gegangen war. Die Zeit der neuen Siedler aber hatte gerade erst begonnen. Sie legten den Texcoco-See trocken und errichteten Mexiko-Stadt auf den Ruinen der alten Welt, um das einstige Zentrum der Aztekenhauptstadt herum. Heute leben dort 22 Millionen Menschen, in – abermals – einer der größten Städte der Welt.

Jedem Ende wohnt ein Anfang inne.

Ich hole zwei Magnum Mandel aus der Eistruhe und halte sie mir an den linken Oberkiefer, bis die Kassiererin ihre Hand ausstreckt.

»Und einmal die Drei«, sage ich.

»Das macht 76 Euro 13«, sagt sie. »Wollen Sie für 40 Cent vielleicht noch was für die Umwelt tun und ein paar Bäume pflanzen?«

Bei all den Großkonzernen, die so konsequent den Regenwald aufforsten, ist es beinahe ein Wunder, dass davon kaum noch was übrig ist. Dass die Ökosysteme weiter schwinden und somit nicht zuletzt die Gefahr durch Zoonosen steigt, Krankheiten also, die vom Tier auf den Menschen überspringen, wie das Virus, wegen dem wir nun alle Masken tragen.

»Nein, nein und nochmals nein«, sage ich und spüre Nimos Blick von schräg unten.

»Mmmokay, vielen Dank«, sagt sie, aber in ihrer Stimme liegt eine gewisse Enttäuschung. Ich stehe also inmitten gerodeter Landstriche an der Autobahn und schäme mich vor dieser Frau, die eine Schirmmütze mit dem eingestickten Logo eines Mineralölkonzerns trägt.

»Dann hätten wir heute noch zwei Snickers für zwei Euro«, sagt sie.

Das Geld muss ich in einen Bezahlautomaten unter dem Tresen stecken, und während sie mir nun eigentlich das Wechselgeld überreichen sollte und ich mich bedanken würde, sirrt bloß der Automat. Sie steht nur da, schaut mich an und hebt die Schultern, als wollte sie sagen: Tja. Als die Münzen in das Auffangbecken klimpern, können wir uns endlich voneinander verabschieden. Ich trete wieder hinaus und greife nach Nimos Hand, doch er ist verschwunden.

Ich finde ihn drinnen beim Zeitschriftenregal, das Gurkenglas zu seinen Füßen. Er steht vor dem Drehständer mit den Tageszeitungen und liest die Titelseiten, in einer Hand noch eine eingeschweißte Detektivzeitschrift mit Plastikfernglas. Monster-Flut in Pakistan – Schäden sogar aus dem All sichtbar steht da, Apocalypse now und Feuer-Inferno in Brandenburg – evakuierte Dörfer. Die Bild-Zeitung zeigt das Foto eines im Chaos verschollenen Mannes, auf dem er ziemlich happy aussieht, was ja immer das Problem ist mit diesen Fotos, oder vielleicht genau die Absicht.

Nachdem ich das Auto von der Zapfsäule auf den Parkplatz gefahren habe, essen wir unser Eis an einem schattigen Picknicktisch aus Beton. Gänsehaut überzieht Nimos Beine. Das Gurkenglas behält er auf dem Schoß, aus Sorge, das Wasser könnte sonst abkühlen.

»Papa, glaubst du die Welt geht bald unter?«, fragt Nimo.

»Ich wünschte, ich hätte darauf eine einfache Antwort«, sage ich.

»Wenn du mir keine einfache Antwort geben kannst, dann kannst du mir auch eine komplizierte geben«, sagt Nimo.

Gegenüber stecken die Leute die Zapfpistolen in ihre Tanks und drücken den Abzug.

Wenn ich Nimo von meinen Reisen erzählen würde, müsste ich in Newtok beginnen.

Ich atme tief ein und rieche das Benzin.

Gelobtes Land

Newtok, Alaska

Die Reise von Deutschland nach Newtok dauerte zwei Tage, führte durch die Wartehallen immer kleinerer Flughäfen und über die Sitze immer kleinerer Flugzeuge. Zuletzt kauerte ich in einer dröhnenden Propellermaschine, die auf dem Flugplatz des Städtchens Fairbanks gestartet war, mitten in Alaska. Sie trug uns gen Westen über das Sumpfgebiet des Yukon-Kuskokwim-Deltas, einer endlosen Camouflage aus Tundra, Tümpeln und Seen, durchzogen von den Verästelungen großer Flussläufe. Meine Zähne klapperten von der Vibration des Motors und ich ahnte, wie stabile Schrauben die großen wummernden Teile dieses Materialmantels gerade so zusammenhielten. Mit an Bord waren der Fotograf Sascha sowie eine Handvoll Yupik und Athabasken mit Gepäckballen, die zurück in ihre Dörfer flogen. Der Pilot saß so dicht vor mir, dass ich ihm die umgedrehte Baseballkappe hätte vom Kopf nehmen können.

Peninsula Oilers stand darauf.

Alaska hatte in hundert Jahren so viel Erdöl zu Geld gemacht, dass sie Sportteams danach benannten. Der reichste Bundesstaat der USA zahlte jeder Einwohnerin und jedem Einwohner zwischen 1000 und 2000 Dollar pro Jahr als Dividende aus dem Geschäft. Weil die Welt sich im rauschenden Fest fossiler Verbrennung verlor, hatte die Wirtschaft Alaskas wachsen können.

Zusammen mit einem Haufen zugeklebter Kartons setzte uns der Pilot auf der Landebahn inmitten der Tundra ab. Weil niemand uns abholen kam, liefen wir den Hügel hinunter ins Dorf. Blecherne Häuschen und Holzverschläge standen aufgebockt inmitten der Tümpel, darüber Stege, die alle Gebäude miteinander verbanden. Zwischen Räucherhütten rotteten Köpfe von Elchen und Moschusochsen. Auf Dächern waren Felle zum Trocknen ausgelegt. Hinter der brüchigen Küste floss der Ninglick.

Wir gingen auf ein großes Bretterhaus zu. Die Schule stand auf Pfählen und Balken, wie alles hier. Eine weiße Lehrerin in Gummistiefeln und Wollpulli schloss uns die Tür auf. Besuch war im Ort seltener als die Obstlieferung und hatte meistens genau denselben Grund.

»Seid ihr Wissenschaftler, die messen wollen, wie wir ins Meer stürzen?«, fragte sie.

»Wir sind Journalisten«, sagte ich.

»Ach so, ihr seid Journalisten, die berichten wollen, wie wir ins Meer stürzen.«

Sie drehte sich um und ging.

Rektor Grant Kashatok stand im Flur und putzte sich die Zähne. Der kräftige Yupik mit dem knitterfaltigen Hemd seufzte, als er uns sah. Kashatok hatte aufgehört, unsere Mails zu beantworten, wohl in der Hoffnung, wir würden aufgeben, ihn in Ruhe lassen und zu Hause bleiben. Er spuckte Zahnpastaschaum in das Becken des Wasserspenders, wischte sich den Mund ab und lächelte wie ein dicker Buddha.

»Willkommen auf unserem Land«, sagte er.

Wir sollten ihm folgen.

Auf den Gängen hingen stumpf die Jagdwaffen der Ahnen: geschnitzte Speere, Messer, Pfeile und Bögen, mit denen die Yupik früher Robben, Fische und Vögel gejagt hatten. Seit sie Gewehre hatten, schossen sie in der Tundra auf alles, was sich bewegte. Hundeschlitten und Kajaks waren mittlerweile durch Schneemobile, Motorboote und Quadbikes ersetzt worden. Statt Geschichten am Lagerfeuer gab es jetzt ein paar Dutzend Fernsehkanäle.

»Ich muss dafür sorgen, dass die Kinder keine Idioten werden«, sagte Kashatok. »Wir überleben hier seit 3000 Jahren und es wäre schön, wenn das so bleibt.«

Zu Hause sprachen die Familien Yupik, eine Sprache, in der ganze englische Sätze zu einzelnen Wörtern kondensierten. Die Schülerinnen und Schüler mussten also lernen, ihre eigene Sprache zu entpacken und in die englische Sprache zu übertragen, wie sie von den Herrschenden ihres US-Bundesstaates gesprochen wurde, der größten Exklave der Welt. Ein abgehängtes Volk seien sie, sagte der Rektor. Die Kids säßen in Alaska inmitten der Sümpfe und in ihren Schulbüchern sähen sie die U-Bahn von New York und den Strand von Kalifornien. Das habe nichts mit ihrem Leben zu tun.

Doch andere Bücher gab es nicht.

»Ich versuche ihnen zu vermitteln, dass es trotzdem okay ist, ein Yupik zu sein«, sagte er. Wenn es okay für sie war, merkte er das daran, dass sich weniger Teenager das Leben nahmen. Es gab rund 200 solcher Dörfer an den Küsten Alaskas. Überall war es das Gleiche.

Der Rektor holte zwei zusammengeklappte Feldbetten aus einer Abstellkammer und zeigte uns die Bibliothek, in der wir schlafen durften, für 100 Dollar die Nacht. Als wir zwischen den Bücherregalen unser Lager aufbauten, war Kashatok plötzlich verschwunden. Die Kinder der Schule aber scharten sich um uns. Wie heißt der Fluss, an dem ihr lebt? Geht ihr auch jagen? Gibt es in Deutschland Eskimos? Sie zeigten uns den »seal hop«, eine Disziplin der Eskimo Indian Olympics, für die sie trainierten. Dazu gingen sie in die niedrige Liegestützposition, die Arme angewinkelt, die Finger so eingeklappt, dass die Hände zu kleinen Flossen wurden und sich die vorderen Knöchel in den Boden drückten. Sie sprangen gestreckt vorwärts, nur auf Knöcheln und Zehenspitzen, im Hopsergang der Robbe, bis sie lachend zusammenbrachen.

Im Physikunterricht berechneten sie, wie lange es dauern würde, bis es ihr Dorf nicht mehr gäbe. Zur Küste hin hatten sie markierte Pfähle in die Erde gesteckt.

Nicht mehr lang.

Vor zwanzig Jahren schon hatte die Dorfgemeinschaft beschlossen, eine neue Siedlung zu gründen, eine halbe Stunde flussabwärts, auf dem festen, höher gelegenen Vulkangestein der Insel Nelson. Sie wollten sie Mertarvik nennen, was so viel bedeutete wie Ort, an dem die Quelle entspringt. Doch niemand wusste, woher sie das Geld dafür nehmen sollten. Sie benötigten Hunderte Millionen von Dollar, und Katastrophenhilfe gab es erst nach einer Katastrophe und nicht davor. Material per Schiff herzuschaffen war teuer, die Arbeiter brauchten Unterkünfte, verlangten hohe Löhne und konnten hier nur in den Sommermonaten bauen. Mit den ersten mühsam eingeworbenen Millionen hatten sie gerade mal fünf Häuser dort drüben errichtet. In Newtok lebten aber rund 400 Leute. Ihnen rannte die Zeit davon.

Wir hatten den Auftrag, die Geschichte dieser beiden Orte zu erzählen, Newtok und Mertarvik, das alte Leben und das neue. Also mussten wir auch die Siedlung sehen, in der sie ihre Geschichte fortschreiben wollten. Die Menschen von Newtok galten als die ersten Klimaflüchtlinge der Welt, die Vorboten einer gigantischen Völkerwanderung, die mit der Erderwärmung einsetzen würde, als Folge gefluteter, verwüsteter oder überhitzter Landstriche. Fragen und Konflikte, die auf die Menschen von morgen zukamen, beschäftigten dieses Volk schon heute. Sie waren Pioniere.

So plötzlich, wie der Rektor verschwunden war, stand er abends wieder im Türrahmen. Er hielt mir eine Plastikschüssel mit einem glatten, dunkelroten Klumpen hin, den er in Scheiben geschnitten hatte.

»Ihr sollt nicht denken, dass ich unhöflich bin«, sagte er. »Die Yupik haben kein Wort für Goodbye.«

Die gefrorene Robbenleber schmeckte nach Eisen.

In Bayern, sagte ich, da haben sie 32 Worte für Schnee.

Um acht Uhr morgens begann der Matheunterricht zwischen unseren Feldbetten, in der Bibliothek, die nur ein Klassenraum mit Bücherregalen war. Ich zog also in den Regen hinaus, auf der Suche nach Anschluss, auf dass mir jemand sein Leben erzählen würde oder uns für etwas Geld stromabwärts brächte, ans andere Ufer. Von der Schule zum Dorfladen und zur Kirchenhütte ging ich, vorbei am windschiefen Posthäuschen, zur Schule zurück und dann wieder von vorn. In den Taschen meiner Regenjacke bildeten sich Pfützen, und ich hatte die Kapuze so eng gezogen, dass mein Gesicht in den Reflexionen der verrammelten Fenster wie ein blasser Mond aussah. Newtok gab keine Auskunft. Die Menschen schwiegen, wiegelten ab, nickten oder lachten mich aus hinter den Fensterscheiben, als ahnten sie, dass ich nur ein Geist war.

Außer mir patrouillierte noch der alte Paul auf den Stegen, ein gebeugtes Männlein mit schütterem Haar, das in den Kragen seines Mantels wetterte. Als Kind sei ihm ein Ölfass auf den Kopf gefallen, hatte mir der Rektor erzählt. Er wähne sich auf einer Mission zur Rettung des Dorfes, für die er wohl auf und ab laufen müsse, tagein, tagaus. Wir nickten uns zu, immer wenn wir aneinander vorbeigingen. Ich hatte keinen Grund zur Eile. Von einem Ende des Dorfes zum anderen brauchte ich zwölf Minuten. Manchmal schaffte ich es in dreizehn.

Wir bekamen diesen und jenen Tipp, klopften an Fenster und Haustüren, wurden abgewimmelt und weitergereicht. Manche sagten zu und waren dann am nächsten Tag wie ausgewechselt. Dann war angeblich der Motor kaputt oder die See zu stürmisch, dann hatten sie keine Zeit mehr oder sagten: Fuck off. Die Menschen hier draußen waren ganz anders als die Kinder in der Schule, die aber doch mit ihnen verwandt sein mussten. Ich fragte mich, wann sich die Verwandlung vollzog, vom Strahlen zur Müdigkeit.

Einmal ließ uns eine alte Dame ein. Sie hieß Maria und mit Nachnamen Fairbanks, wie die tausend Kilometer entfernte Stadt. Ihr gehörte das fünfte fertiggestellte Haus in der neuen Siedlung Mertarvik, doch lebte sie noch immer in ihrer aufgebockten Holzhütte am Rande Newtoks. Bei starken Stürmen stieg das Wasser aus einem Seitenarm des Flusses bis an ihre Türschwelle und ihre Söhne mussten sie mit dem Boot evakuieren. Die Wand im Wohnzimmer war getäfelt mit Familienfotos – Einschulungen, Halbwüchsige mit Gewehren und Frauen in Fellstiefeln, die beim Lachsbeerenfest ihre traditionellen Tänze aufführten. Sie erzählte von ihren elf Kindern, von denen drei bereits gestorben waren. Die Risse in ihrem Fußboden hatte sie mit Panzertape geflickt und die Wände wackelten im Wind. Sie habe schon manchmal Angst, sagte sie. Doch wolle sie Newtok nicht ohne ihre Kinder und Enkel verlassen. Über ein Funkgerät unterhielt sie sich mit einer Freundin, die ebenfalls Maria hieß und schon auf der anderen Seite lebte. Wir könnten gerne später wiederkommen, sagte sie.

Als wir dann aber noch mal bei ihr klopften, öffnete sie nur einen Spaltbreit, winkte ab und schloss die Tür vor unserer Nase.

Eines Morgens kam Bürgermeister Tom John in die Turnhalle der Schule, um seine wöchentliche Ansprache zu halten. Die Kinder und Jugendlichen nahmen im Schneidersitz Platz. Er erzählte davon, wie sich die Zeiten geändert hatten. Die Kinder würden einmal ganz andere Fähigkeiten brauchen, um für ihre Familien zu sorgen. Er erklärte, wie wichtig es sei, dass sie in der Schule etwas lernten, dass manche von ihnen vielleicht aufs College gehen und dann hoffentlich zurückkehren würden, um die Dorfgemeinschaft in die Zukunft zu führen. Nur wenn sie selbst den Wandel meisterten, könnten sie auch das Wissen der Yupik bewahren, all ihre Geschichten, Lieder und Tänze. Als einer von wenigen im Dorf beherrschte der Bürgermeister noch die Kunst der traditionellen Robbenjagd mit Speer und Kajak.

Noch konnte niemand mit Sicherheit sagen, wo ihre Zukunft lag.

»Nicht die Stärksten überleben, sondern die, die sich am besten an die Bedingungen ihrer Umwelt anpassen«, sagte der Bürgermeister.

Am Ende seiner Rede aßen sie alle gemeinsam das Frühstück aus der Schulküche, die Alten aus dem Dorf und die Kinder. Dabei hinterließen sie einen Haufen Müll, wie richtige Amerikaner – Papierunterlagen von den Plastiktabletts, Einmalbesteck, Becher und Teller, zwei Tonnen voll.

Bürgermeister Tom John, 65 Jahre alt, hatte den vielleicht schwierigsten Job im Delta. Im Blechhaus der Verwaltung saßen sie zu dritt und wussten kaum, wo sie anfangen sollten – bei den durchgerosteten Blechtanks, aus denen das Benzin tropfte? Bei den morschen Planken der Stege, die laufend erneuert werden mussten? Bei den Hütten, die sie versetzen wollten, weil sie bei Flut schon im Wasser standen wie einsame Inseln?

Der Staat investierte nichts mehr in dieses Dorf, das dem Untergang geweiht war. Sie hatten nicht einmal ein Abwassersystem hier, weshalb die Leute die honey buckets mit ihren Exkrementen in den Seitenarm des Ninglick kippten und die Nächsten mit ihren Gummistiefeln darin herumwateten und den Dreck zurücktrugen, weshalb immer wieder Krankheitswellen durchs Dorf fegten. Außerdem hatten sie den kläglichsten Stromgenerator in ganz Alaska. Das schwor zumindest der Handwerker, den sie »Buschmechaniker« nannten und der aus der Hauptstadt auf die Dörfer hinausflog und zweimal im Monat auch in Newtok vorbeikommen musste, um seine heilenden Hände aufzulegen.

Schließlich war da noch der Umzug des Dorfes, für den anscheinend keine US-Behörde zuständig war. Nie waren staatliche Fonds für Zwecke wie diesen eingerichtet worden. Und dann der Dschungel aus Vorschriften: Familien mit Kindern konnten nicht in einen Ort ohne Schule ziehen – allerdings baute die US-Regierung an einem Ort, an dem nicht mindestens zehn Kinder wohnten, keine Schule. Es schien, als würden die Yupik durch die Maschen eines Systems fallen, das ihre ganze Misere erst verursacht hatte. Umzüge waren für ihr Volk nie ein Problem gewesen. Eigentlich waren sie Nomaden.

Früher hatten sie in Lehm-Iglus gelebt und waren je nach Saison zwischen ihren Quartieren am Ninglick und der Beringsee hin und her gezogen. Im Sommer hatten sie ihre Boote genommen und im Winter waren sie auf dem zugefrorenen Fluss mit Hundeschlitten zurückgefahren. Dann hatten die Weißen gesagt, ihre Kinder müssten nun auch zur Schule gehen. Die Regierung hatte mit Holz und Blech beladene Schiffe landeinwärts gesandt. Wo sie nicht mehr weitergekommen waren, hatten sie ein Schulhaus in den Sumpf gebaut.

Der Ninglick war noch kilometerweit weg gewesen und die Hütten im Winter so eingeschneit, dass nur noch die Schornsteine herausragten. Morgens hatten sie die Hauseingänge der Lehrerinnen und Lehrer freischaufeln müssen, damit die überhaupt in die Schule kamen. Jetzt, da der Permafrost taute, wurde fester Boden zu Schlammtümpeln. Schief standen die Kreuze auf den Gräbern der Ahnen. Strommasten drohten zu kippen und wurden von Balken gestützt. Manche Fischart, welche die Alten in ihrer Kindheit noch gefangen hatten, war nun verschwunden. Das Sumpfgras wuchs hüfthoch und sie konnten sogar kleine Tomatenpflanzen hinter ihren Fenstern züchten. Das Packeis, das die Küste bei Sturm vor Erosion geschützt hatte, hielt nur noch wenige Winterwochen.

Im Büro des Bürgermeisters bewahrten sie die Pläne für das neue Dorf auf wie Wertpapiere. Darauf eingezeichnet war das gelobte Land, die Siedlung der Zukunft – Grundrisse moderner Ökohäuser, Wasserleitungen und eine Klärgrube. Ein Gemeindezentrum mit Schutzraum für Evakuierungen würde es dort geben und ein Schwimmbecken, das im Winter als Schlittschuhbahn dienen könnte. Der Ausblick von dort oben sei im Sommer so schön, sagte Bürgermeister Tom John, beinahe unwirklich.

»Früher habe ich mir nicht vorstellen können, dorthin zu ziehen«, sagte er. »Jetzt kann ich es kaum erwarten.«

Doch er fürchtete, der Umzug könnte nicht rechtzeitig gelingen und das Dorf müsste eines Tages evakuiert werden. Der Staat würde sie auf Wohnsiedlungen im weit entfernten Fairbanks verteilen. Vorbei wäre es mit der Gemeinschaft, dem Lachsbeerenfest und der Robbenjagd. Es würde nicht lange dauern, bis die Kinder vergessen hätten, woher sie kamen. Wenn der Staat für Newtok keine Lösung finden würde, dann würden sie für all die anderen Dörfer erst gar keine Lösung mehr suchen und es Gleichbehandlung nennen.

Es schien, als stünde mit Newtok das Schicksal eines ganzen Volkes auf dem Spiel.

Eine Woche in Newtok fühlte sich an wie zwei Wochen.

Ich lag auf dem Feldbett in der Bibliothek und schaute hinaus auf den Ninglick. Graue Wolkentürme hingen über dem anderen Ufer und das Wasser regte sich auf.

»Ich weiß, warum niemand mit euch reden will«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah in das Buddha-Lächeln.

»Wegen des alten Streits, der unser Dorf spaltet«, sagte der Rektor. »Sie wissen nicht, auf wessen Seite ihr steht.«

Siebzehn Jahre lang hatte der frühere Bürgermeister Stanley mit seinem Dorfrat regiert, ohne Wiederwahl. Dann waren 312 000 Dollar verschwunden, die der Staat der kleinen Verwaltung als Hilfe überwiesen hatte. Keiner konnte sagen, wo das Geld geblieben war – schon gar nicht der alte Dorfrat und am allerwenigsten Bürgermeister Stanley. Es hatte sich einfach in nichts aufgelöst, was den Bau der neuen Siedlung verzögert und die Regierung dazu veranlasst hatte, vorerst keine weiteren Zahlungen an Newtok zu leisten. Und als wütende Bürgerinnen und Bürger die Clique um den alten Bürgermeister mithilfe ferner US-Gerichte aus dem Amt gejagt hatten, da hatte er eine große Blechhütte in den Sumpf gestellt und darin einen zweiten Dorfladen eröffnet, der größer und prächtiger war als der erste. Gott allein wusste, woher er das Geld dafür gehabt hatte. Es war wie aus dem Nichts gekommen.

Weil der alte Bürgermeister und seine Leute bis heute fanden, ihnen sei großes Unrecht widerfahren, hielten sie weiterhin ihre Sitzungen in der kleinen grünen Hütte ab, in der sie auch illegale Bingo-Abende für die Alten veranstalteten. Sie erließen Beschlüsse, druckten sie aus und pflasterten mit den eng beschriebenen Blättern die Wände – bis der Tag käme, an dem sie ihre Macht über Newtok zurückerobern und alles Stück für Stück umsetzen würden. Die Menschen von Newtok kämpften nicht nur gegen den Niedergang ihres Dorfes, sondern auch gegeneinander. Und während sie beschäftigt gewesen waren mit diesem und jenem, hatte der Fluss, der einst weit hinten am Horizont geflossen war, das Dorf erreicht.

Der Rektor beobachtete das Wasser mit einem Militärfernglas.

Der Wind randalierte im Dorf und das Schulhaus ächzte.

Der Bau war erst wenige Jahre alt. Eines Tages sollte die Schule in ihre Einzelteile zerlegt werden und mit dem Dorf umziehen. Das war die Theorie. Die Balken, auf denen sie stand, waren tief im Boden verankert. Nur nicht tief genug, denn sie bewegten sich in der weichen Erde und versetzten das Gebäude in Spannung. Immer wieder platzten die Türrahmen aus den Wänden und der Rektor musste sie mit Nieten und Metallwinkeln sichern. Neulich, während der Mathestunde, war die Wand eines Klassenzimmers in der Mitte durchgerissen wie ein Blatt Papier.