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Die »Energiewende« – ein programmatisches Ideal, das auf die Nutzung erneuerbarer Energien zielt – hat eine lange Geschichte. Eva Oberloskamp analysiert die Genese, Entwicklung und Relevanz von Diskursen über Energie, Umwelt und Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland und im Vereinigten Königreich in den 1970er und 1980er Jahren. Hierfür nimmt sie die Interaktionen von sozialen Bewegungen, Wissenschaft, Wirtschaft und staatlicher Politik in den Blick. Sie zeigt, dass sich unterschiedliche Diskurse auf je nationalspezifische Weise zu neuartigen politischen Handlungsansätzen verbanden: In der Bundesrepublik gewann mittelfristig ein marktliberal und ökologisch geprägtes »Energiewende«-Leitbild an Einfluss, das die Nukleartechnologie ablehnte, aber den Einsatz von Kohle zunächst tolerierte; die britische Energiepolitik schwenkte von staatswirtschaftlichem Denken zu radikal marktliberalen Diskursen um, die erst ab Ende der 1980er Jahre ökologische Ziele integrierten, dabei aber an der Atomenergie festhielten. Die Erklärungsfaktoren und neuen Ansätze werden in der Arbeit detailliert untersucht.
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Seitenzahl: 1138
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eva Oberloskamp
Energie, Ökologie, Markt
Bundesdeutsche und britische Neuansätze in den 1970er und 1980er Jahren
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Die »Energiewende« – ein programmatisches Ideal, das auf die Nutzung erneuerbarer Energien zielt – hat eine lange Geschichte. Eva Oberloskamp analysiert die Genese, Entwicklung und Relevanz von Diskursen über Energie, Umwelt und Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland und im Vereinigten Königreich in den 1970er und 1980er Jahren. Hierfür nimmt sie die Interaktionen von sozialen Bewegungen, Wissenschaft, Wirtschaft und staatlicher Politik in den Blick. Sie zeigt, dass sich unterschiedliche Diskurse auf je nationalspezifische Weise zu neuartigen politischen Handlungsansätzen verbanden: In der Bundesrepublik gewann mittelfristig ein marktliberal und ökologisch geprägtes »Energiewende«-Leitbild an Einfluss, das die Nukleartechnologie ablehnte, aber den Einsatz von Kohle zunächst tolerierte; die britische Energiepolitik schwenkte von staatswirtschaftlichem Denken zu radikal marktliberalen Diskursen um, die erst ab Ende der 1980er Jahre ökologische Ziele integrierten, dabei aber an der Atomenergie festhielten. Die Erklärungsfaktoren und neuen Ansätze werden in der Arbeit detailliert untersucht.
Vita
PD Dr. phil. Eva Oberloskamp ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin und Privatdozentin an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
Vorwort der Herausgeberin
Vorwort der Autorin
1.
Einleitung
2.
Umweltpolitik und ihre Relevanz für den Energiesektor
2.1
Internationale und europäische umweltpolitische Impulse
2.2
Bundesdeutsche Umweltpolitik im Zeichen von Regulierung, Verursacher- und Vorsorgeprinzip
2.2.1
Grundzüge und Konjunkturen der allgemeinen Umweltpolitik
Die Begründung des Politikfelds Umweltschutz in den frühen 1970er Jahren
Prinzipien der Umweltpolitik
Umweltpolitik im Zielkonflikt mit der Wirtschaftspolitik
Umweltpolitische Phasen der 1970er und 1980er Jahre
2.2.2
Umweltpolitische Regulierung im Energiesektor
Das Bundesimmissionsschutzgesetz und die Novellierung der Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft von 1974
Dauerstreitthema Luftreinhaltung, Waldsterben und Reformen der bundesdeutschen Immissionsschutzgesetzgebung in den 1980er Jahren
Der Umgang mit radioaktiver Strahlung und Atommüll
2.3
Britische Umweltpolitik in der Tradition der pragmatischen pollution control
2.3.1
Grundzüge und Konjunkturen der allgemeinen Umweltpolitik
Die umweltpolitische Situation in den frühen 1970er Jahren
Pragmatisches Verständnis von pollution
Umweltpolitik als volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Abwägung
Umweltpolitische Phasen der 1970er und 1980er Jahre
2.3.2
Umweltpolitische Regulierung im Energiesektor
Traditionelle Luftreinhaltungspraxis im engen Verbund mit der Industrie
Internationaler Reformdruck und die Weiterentwicklung der pollution control in den 1980er Jahren
Der Umgang mit radioaktiver Strahlung und die geringe Relevanz des Entsorgungsproblems
2.4
Zwischenresümee
3.
Wachstumskritik und das utopische Potenzial alternativer Energiekonzeptionen
3.1
Spaceship earth: globale Perspektiven und transnationale Diskurse
3.2
Wachstumszweifel und »konkrete Utopien« in der Bundesrepublik Deutschland
3.2.1
Wachstumsskeptische Protagonisten, Impulse und Bewegung
Akademische Wachstumsskepsis
Intellektuelle Wortmeldungen
Gesellschaftliche Bewegung
3.2.2
Lebensqualität, Qualitatives Wachstum oder Kreislaufwirtschaft? Parteipolitische Diskurse
SPD und FDP
Unionsparteien
Grüne
3.2.3
Energiepolitische Relevanz der Wachstumskritik und die »konkrete Utopie« eines besseren Energie- und Gesellschaftssystems
Energiefragen als Ausgangspunkt von Wachstumsskepsis
Wachstumskritik als Argument in Konflikten um den Zubau von Kraftwerken
Alternative Energiekonzeptionen als Ausgangspunkt allgemeiner gesellschaftlicher Zukunftsentwürfe
3.3
Radikal-alternative energy futures für eine sustainable society im Vereinigten Königreich
3.3.1
Außenseiter-Debatten um survival und self-sufficiency unter britischen Wissenschaftlern, Intellektuellen und Aktivisten
Der Topos von »Britain’s decline« und die Marginalität von Wachstumsskepsis
Frühe wachstumsskeptische Stimmen und Gruppierungen
Der »Blueprint for Survival«
»Small is Beautiful«
Self-sufficiency
3.3.2
Die marginale Relevanz von qualitative growth und sustainable society im parteipolitischen Diskurs
Dominierender Fokus auf BIP-Wachstum
Wachstumsskeptische Positionen von Kleinparteien
3.3.3
Alternative energy futures als (abstrakte) Utopie
Energieressourcen als Kernproblem des Wirtschaftswachstums
Wachstumskritik als Argument gegen die Nutzung der Kernenergie
Alternative Energiekonzeptionen als Ausgangspunkt für revolutionäre gesellschaftliche Alternativszenarien
3.4
Zwischenresümee
4.
Gesellschaftlicher Protest: Rechtlich-kulturelle Voraussetzungen und politische Wirkung
4.1
Für Recht und Gewissen: Widerstand gegen die staatliche Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland
4.1.1
Gesellschaftlicher und juristischer Einspruch gegen den Bau von Kohlekraftwerken
Die Relevanz des Themas Luftverschmutzung zu Beginn der 1970er Jahre
Die Klage gegen den Erweiterungsbau des Steinkohlekraftwerks Voerde
Novellierung des Bundesimmissionsschutzgesetzes
Fortgesetzte rechtliche Unsicherheit
Bestätigung des Bauvorhabens in Voerde durch das Bundesverwaltungsgericht und Pläne zur umfassenden Novellierung der Luftreinhaltungsgesetze
Gesellschaftliche Proteste gegen das Waldsterben und Konflikte um das Braunkohlekraftwerk Buschhaus
4.1.2
Protest und gerichtliches Vorgehen gegen den Bau ziviler nuklearer Anlagen
Vergleichsweise später Ausbau der Atomenergie in der Bundesrepublik
Gesellschaftliche Mobilisierung gegen die Atomenergienutzung
Kernargumente der AKW-Gegner
Selbstwahrnehmung als Fundamentalopposition und Handlungsspielräume im bundesdeutschen Rechtssystem
Gerichtliches Vorgehen gegen das AKW Wyhl
Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu den AKWs Kalkar und Mülheim-Kärlich
Entwicklung der Rechtsprechung während der 1980er Jahre bis zum Konflikt um die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf
Die Wechselwirkung von öffentlichem Protest und gerichtlichem Vorgehen
4.1.3
Strukturelle Voraussetzungen gesellschaftlicher Einflussnahme auf die Energiepolitik
4.2
Punktueller britischer Protest gegen die staatliche Energie- und Umweltpolitik
4.2.1
Air pollution control als Arkanum: Kritik an Intransparenz und Ineffektivität
Kurze Politisierung des Themas »Luftverschmutzung« zu Beginn der 1970er Jahre
Die Stellungnahme der Royal Commission on Environmental Pollution und die Reaktion der Regierung hierauf
4.2.2
Gesellschaftliche Opposition gegen den Bau ziviler nuklearer Anlagen
Früher Ausbau der zivilen Atomenergienutzung
Schwache gesellschaftliche Kritik an der zivilen Nutzung der Nukleartechnik
Atomkritische Argumente
Integratives staatliches Handeln und geringe rechtliche Handlungsspielräume
Die Torness-Inquiry
Die Windscale-Inquiry
Die Sizewell B-Inquiry
Gesellschaftlicher Aktivismus und institutionelle Handlungsspielräume
4.2.3
Der schwache gesellschaftliche Einfluss auf die britische Energie- und Umweltpolitik
4.3
Zwischenresümee
5.
Mehr Markt für einen sparsamen Umgang mit Energieressourcen?
5.1
Transnationale Kontexte und Impulse
5.2
Bundesdeutsche Debatten über die Rolle des Marktes im Energiesektor und das Aufkommen des Energiewende-Konzepts
5.2.1
Der Wandel wirtschaftspolitischer Leitbilder
Der bundesdeutsche Energiesektor vor dem Hintergrund der Sozialen Marktwirtschaft
»Unsicherheit erfordert Marktwirtschaft!« – Forderungen nach verstärkter Marktorientierung in den 1970er Jahren
Protagonisten einer angebotspolitischen Wende in den 1980er Jahren
5.2.2
»Energie sparen – unsere beste Energiequelle«: neue Denkansätze zu Energierohstoffen, erneuerbaren Energien und Energiesparen in den 1970er Jahren
Impulse
Energiemix und Kategorisierungen
Paradigmenwechsel: Preiselastizität, Substitution und Entkoppelung
Partei- und Regierungspolitik
5.2.3
Die 1980er Jahre: Energiewende und angebotspolitische Ansätze
Amory Lovins und die bundesdeutsche Anti-AKW-Bewegung
Die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages »Zukünftige Kernenergie-Politik«
Die Herausbildung eines bundesdeutschen Energiewende-Konzepts und seine wissenschaftliche Kritik
Die Energiewende als politisches Projekt: Programmatik von Grünen und SPD
Die Regierungspolitik zur Einsparung von Energieressourcen und Förderung von erneuerbaren Energien
5.3
Energy resource conservation und das Aufkommen einer neoliberalen Energiepolitik im Vereinigten Königreich
5.3.1
Kritiker der mixed economy und Vordenker liberalisierter Energiemärkte
Die mixed economy und der verstaatlichte Energiesektor
Frühe Protagonisten einer neoliberalen Wirtschaftspolitik
Akademische Vordenker liberalisierter Energiemärkte
Staatliche Bürokratien, Systemtheorie und die Hoffnung auf den Marktmechanismus im Energiesektor
5.3.2
»Save it!« Debatten über Energierohstoffe, erneuerbare Energien und Energiesparen bis 1979
Impulse
Energiemix und Kategorisierungen
Die geringere Relevanz der Idee einer Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Energiebedarf
Das ausbleibende Interesse für Amory Lovins
Partei- und Regierungspolitik
5.3.3
Liberalisierung der Energiemärkte und Ressourcen-Diskurse während der Regierungszeit Margaret Thatchers
Nigel Lawsons Idee eines market for energy, der Sieg über die Bergarbeiter und die Liberalisierung der Gas- und Stromindustrie
Konservative energy conservation
Der Stellenwert von erneuerbaren Energien und Kraft-Wärme-Kopplung
5.4
Zwischenresümee
6.
Umweltökonomie: Debatten um marktwirtschaftliche Instrumente in der Umweltpolitik und ein durch grüne Energien getragenes Wachstum
6.1
Vordenker und Grundzüge der Umweltökonomie
6.2
Die Idee einer ökologischen Erweiterung der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland
6.2.1
Die Umweltökonomie als zunehmend akzeptierte wirtschaftswissenschaftliche Fachdisziplin
Die Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft und die »Umwelt«
Ökologisch-heterodoxe Umweltökonomen im Kontext gesellschaftlicher Energie-Konflikte
Die Umweltökonomie im wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream
6.2.2
Die politische Relevanz der Umweltökonomie und die Dynamik der Ideen einer Energiewende und Ökologischen Modernisierung
Doch kein Zielkonflikt? Die Rezeption umweltökonomischer Ansätze durch Ministerialbürokratien und die sozialliberale Koalition während der 1970er Jahre
Die Energiewende als Movens der Ökologischen Modernisierung: Konzepte und Programmatik von SPD und Grünen in den 1980er Jahren
Umweltökonomische Ansätze in Programmatik und Politik der christdemokratisch-liberalen Koalition in den 1980er Jahren
Die geringe politische Resonanz des Brundtland-Berichts in der Bundesrepublik
6.3
Die späte Entdeckung der Umweltökonomie im Vereinigten Königreich
6.3.1
Die Umweltökonomie als marginale Spezialdisziplin im akademischen Feld
Ideengeschichtliche Voraussetzungen und soziale Kontexte
Umweltökonomen als Einzelkämpfer in den britischen Wirtschaftswissenschaften
6.3.2
Der Klimawandel als Gamechanger: die konservative Aneignung der Begriffe »sustainable« und »green economy« und deren unerwartete politische Karriere
Die geringe politische Relevanz der Umweltökonomie
Die Rezeption des Brundtland-Berichts im Vereinigten Königreich 1987/88
Die Tories als »friends«, »guardians and trustees« der Erde: Margaret Thatchers Reden vor der Royal Society und dem Parteitag der Konservativen 1988
Sustainable economic development, green economy und Energie im Regierungsdiskurs bis Ende der 1980er Jahre
6.4
Zwischenresümee
7.
Auf dem Weg zu einer ökologischen Energiewende: vergleichende Synthese
Anhang
Abkürzungen
Abbildungen
Tabellen
Quellen und Literatur
Archivalische Quellen
Regierungspublikationen, Kabinettsprotokolle und veröffentlichte Parlamentsdokumente
Bundesrepublik Deutschland
Vereinigtes Königreich
Partei- und Wahlprogramme
Zeitungen und Zeitschriften
Literatur und sonstige publizierte Quellen
Sonstige Internetseiten
Personenregister
»Wie wir also die Dinge nennen, beeinflußt unseren Umgang mit ihnen. Auch wenn die Genesis anderes lehrt, muß zumindest für Sterbliche die Zukunft zuerst benannt sein, bevor sie erschaffen werden kann. Somit ist die Sprache immer der entscheidende Kampfplatz; sie bewahrt oder vernichtet Tradition, sie stellt etablierte Paradigmen der Macht in Frage oder verteidigt sie; sie ist das ›Fernrohr‹, durch das wir in die Zukunft schauen.«
Barber: Starke Demokratie, S. 203.
»Nachhaltigkeit« ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem ubiquitären Begriff, ja zu einem übergreifenden Leitbild avanciert. Im politischen Raum verheißt der Begriff globale Zukunftsorientierung und eine kongeniale Balance zwischen Ökologie und Ökonomie; wirtschaftliche Akteure kommunizieren damit Umweltbewusstsein und soziale Verantwortlichkeit in der Unternehmensführung; in der medialen Öffentlichkeit wird er oft mit dem Schutz natürlicher Ressourcen (wie dem Wald) oder schlicht mit Langfristigkeit gleichgesetzt. Mithin entstanden ganz verschiedene Lesarten und Interpretationen des Begriffs bzw. Begriffsfeldes, zu dem auch die »nachhaltige Entwicklung« gehört. Akteure verbanden mit ihm in Diskursen zunehmend unterschiedliche Ziele und Interessen, doch gerade die Offenheit des fast durchweg positiv besetzten Begriffs machte ihn so attraktiv und ubiquitär. Vor diesem Hintergrund existierten und existieren viele Nachhaltigkeiten.
Dies sind die Ausgangsüberlegungen des Verbundprojekts »Geschichte der Nachhaltigkeit(en): Diskurse und Praktiken seit den 1970er Jahren«. Das ab 2017 von der Leibniz-Gemeinschaft geförderte Projekt, welches das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) organisierte, integrierte Teilprojekte am IfZ und von anderen Projektpartnern. Dazu gehörten das Wissenschaftszentrum Umwelt und der Lehrstuhl für Europäische Regionalgeschichte/Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg, das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung/Institut der Leibniz-Gemeinschaft in Marburg und – nach dem Wechsel der Projektleiterin vom IfZ nach Aachen – der RWTH Aachen University.
Das Leibniz-Projekt erschloss die zeithistorische Dimension der Nachhaltigkeit seit den 1970er Jahren. Hintergrund war der Befund, dass die zeitgeschichtliche, quellengestützte Historisierung des Begriffs, der sie umgebenden Diskurse und entsprechender Handlungsbezüge noch ein weitgehendes Desiderat der Forschung war. Das Projekt ging nicht von einem normativ gefassten Verständnis von Nachhaltigkeit aus, sondern historisierte die Genese und Wandlungsprozesse des Diskurses. Insofern erkundete das Projekt nicht, wo und warum Nachhaltigkeit erreicht oder nicht erreicht wurde, sondern es fragte in erster Linie nach Ordnungsmustern, Wertorientierungen und Interessen, die sich in Nachhaltigkeitsdiskursen und entsprechenden Redeweisen zeigten. Es betrachtete Darstellungsformen und Performanzen sowie die politischen, zivilgesellschaftlichen und ökonomischen Praktiken, die sich mit der Berufung auf Nachhaltigkeit oder verwandten Konzepten verbanden. Damit fahndete das Projekt auch nach inneren Spannungsfeldern, Konflikten und Inszenierungen von Nachhaltigkeit und danach, wie und warum bestimmte Verständnisse und Kommunikationsstrategien zu bestimmten Zeiten hegemonial wurden. Zudem erschien es uns wichtig, nicht bei Begriffsverwendungen und Diskursen stehenzubleiben, sondern zugehörige Praktiken, Handlungen und Umsetzungsstrategien von Akteuren in verschiedensten Feldern in den Blick zu nehmen. Diese Felder umfassen Regierungen und internationale Organisationen, Parteien und kommunale Politik, lokale Umweltbewegungen und kirchliche Akteurinnen und Akteure, Unternehmen und Unternehmensverbände, Medien und Expertinnen bzw. Experten. Im Zentrum stand die deutsche Untersuchungsebene, die sowohl vergleichend als auch in ihren transnationalen Verflechtungen und im globalen Rahmen beleuchtet wurde. Auch wenn das Projekt keine globalgeschichtliche Ausrichtung hatte, war es Ziel, Wechselwirkungen zwischen lokalen, nationalen und globalen Diskurs- und Handlungsebenen einzubeziehen. Die Einzelstudien waren zeithistorisch angelegt; zugleich konnte es von der interdisziplinären Expertise, welche vor allem das Wissenschaftszentrum Umwelt einbrachte, großen Nutzen ziehen.
In diesem Sinne ist den Teilprojektleiterinnen und -leitern Marita Krauss, Christian Lotz und Jens Soentgen für die immer angenehme und sehr inspirierende Zusammenarbeit zu danken. In besonderer Weise gilt dies für die Bearbeiterinnen und Bearbeiter der Projekte, Eva Oberloskamp, Karen Froitzheim, Nadja Hendriks, Sabina Kubekė und Pascal Pawlitta, die sich – wie auch die assoziierten Doktoranden Felix Lieb (IfZ) und Alina Cohnen (RWTH Aachen) – begeistert und begeisternd auf das Projekt eingelassen, es erfolgreich gestaltet und geformt haben. Zudem hat das Projekt von vielen weiteren Partnern profitiert, zu denen etwa das Rachel Carson Center for Environment and Society an der LMU München, das Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit in Potsdam (ehedem Institute for Advanced Sustainability Studies) und jene hilfreichen Archivarinnen und Archivare gehörten, die eine Verkürzung von Schutzfristen für Akten ermöglichten. Vor allem danke ich Günther Opitz (IfZ) und Jürgen Hotz (Campus Verlag) für die hervorragende Organisation des Publikationsprozesses dieser Reihe.
Das Projekt verstand sich als Teil einer Diskussion um die Geschichte der Gegenwart. Wir setzten uns zur Aufgabe, die jüngste Zeitgeschichte quellenbasiert auszuleuchten. Dabei ging es nicht nur um die konstitutive Rolle der 1970er Jahre für eine Neuformierung der Verständnisse von Natur, Umwelt, Ökonomie und Fortschritt, sondern auch um die Erschließung zentraler Prozesse, Strukturen und Brüche seit dieser Zeit und der besonderen Rolle, welche dem Ende des Kalten Krieges und den globalen, weltwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Dynamiken der 1990er Jahre zukommt. Zum Ziel wurde es somit, die Genese aktueller Probleme – die Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie, die Herausforderungen der Energiepolitik und des Klimawandels – zu erhellen und einen Beitrag zum Verständnis unserer Gegenwart und zur Gestaltung unserer Zukunft zu liefern.
Elke Seefried
Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Februar 2023 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Bei der Forschungsarbeit und Fertigstellung des Manuskripts habe ich vielfältige Unterstützung erfahren, für die ich sehr dankbar bin.
An erster Stelle genannt sei hier Prof. Dr. Elke Seefried, die Leiterin des Kooperationsprojekts »Geschichte der Nachhaltigkeit(en). Diskurse und Praktiken seit den 1970er Jahren«, das am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin, dem Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg und der Universität Augsburg durchgeführt wurde. Prof. Dr. Elke Seefried verdanke ich die thematische Anregung zu meiner Habilitationsschrift sowie viele hilfreiche Anmerkungen. Auch die anderen Projektbeteiligten – Dr. Karen Froitzheim, Dr. Nadja Hendriks, Prof. Dr. Marita Krauss, Sabina Kubeké, Dr. Felix Lieb, PD Dr. Christian Lotz, Pascal Pawlitta und Prof. Dr. Jens Soentgen – haben die Fortschritte meiner Arbeit stets mit Interesse begleitet. Insbesondere Dr. Felix Lieb hat mir immer wieder wertvolle Hinweise gegeben. Darüber hinaus gilt mein besonderer Dank Prof. Dr. Kiran Patel, der bereit war, mich auf dem Weg zur Habilitation zu fördern, und an der Ludwig-Maximilians-Universität mein Fachmentorat geleitet hat. Auch die anderen Mentoratsmitglieder – Prof. Dr. Christoph Knill, Prof. Dr. Elke Seefried und Prof. Dr. Andreas Wirsching – haben mich engagiert unterstützt.
Der enge Austausch und die fruchtbaren Diskussionen im Rahmen des Verbundprojekts und des Fachmentorats waren für mich sehr wichtig. Einzelne Kapitel meines Manuskripts wurden von anderen Projektbeteiligten oder Mitgliedern des Fachmentorats kritisch gelesen. Zudem bin ich der externen Gutachterin im Rahmen des Habilitationsverfahrens, Prof. Dr. Melanie Arndt, dankbar für wertvolle Hinweise. Gedankliche Impulse und Feedback habe ich auch bei verschiedenen Konferenzen und Workshops erhalten. Besonders anregend waren die trilateralen Konferenzen »Energiewenden im Anthropozän« die Prof. Dr. Yves Bouvier, Prof. Dr. Giuliano Garavini, Prof. Dr. Rüdiger Graf und PD Dr. Henning Türk 2022 bis 2024 an der Villa Vigoni organisiert haben.
Wichtig waren für mich darüber hinaus auch institutionelle Strukturen, die Stabilität und Unterstützung gewährleistet haben – und hinter denen stets auch engagierte Menschen stehen. Das Institut für Zeitgeschichte, an dem mein Teilprojekt angesiedelt war, bietet hervorragende Arbeits- und Entfaltungsmöglichkeiten, und sein Direktor, Prof. Dr. Andreas Wirsching, hat mein Fortkommen stets gefördert. Dankbar bin ich für die Finanzierung meiner Arbeit durch die Leibniz Gemeinschaft sowie, im letzten Projektjahr, durch ein Habilitationsstipendium der Ludwig-Maximilians-Universität im Rahmen der Bayerischen Gleichstellungsförderung. Unterstützt wurde ich zudem durch Prof. Dr. Alexandra Kertz-Welzel und das Mentoring-Programm für exzellente Wissenschaftlerinnen auf dem Weg zur Professur an der Ludwig-Maximilians-Universität sowie von Prof. Dr. Julia Angster im Rahmen des Postdoc-Mentoring-Programms am Institut für Zeitgeschichte.
Eine unschätzbare Hilfe waren für mich viele Bibliothekare und Archivare an verschiedenen Standorten – allen voran die Kolleginnen und Kollegen der Bibliothek des Instituts für Zeitgeschichte, die insbesondere während der Corona-Pandemie immer wieder exotischste Fernleihwünsche erfüllt haben. Auch die Zuarbeit der Hilfskräfte und Praktikanten am Institut für Zeitgeschichte war eine große Unterstützung. Dem Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Zeitgeschichte und dem anonymen Gutachter aus seiner Mitte danke ich für die Aufnahme meines Buches in die Reihe »Geschichte der Nachhaltigkeiten«.
Auf dem Weg zur Drucklegung haben mir der Lektor des Instituts für Zeitgeschichte, Günther Opitz, sowie der Wissenschaftslektor im Campus Verlag, Jürgen Hotz, mit großer Professionalität und Freundlichkeit geholfen.
Die Arbeit an diesem Buch hat mich über viele Jahre begleitet. Als ich 2017 offiziell meine Stelle im Rahmen des »Nachhaltigkeits«-Projekts antrat, ahnte niemand, dass unsere Welt schon bald durch eine globale Pandemie aus den Fugen geraten würde. Meine beiden Kinder, Anfang 2020 sechs und neun Jahre alt, gingen plötzlich über Monate hinweg gar nicht mehr beziehungsweise nur noch gelegentlich zur Schule, und von uns Eltern erwartete das bayerische Schulsystem, dass wir anstelle der Lehrer den Unterricht übernehmen. Die Räumlichkeiten im Institut für Zeitgeschichte durften phasenweise nicht genutzt werden, Bibliotheken und Archive waren ganz geschlossen oder nur unter äußerst restriktiven Bedingungen nutzbar.
Dass meine Studie trotz aller Hindernisse zu einem guten Abschluss gebracht werden konnte, habe ich auch der Geduld und Solidarität meiner Familie zu verdanken – vor allem der Unterstützung meines Mannes, der sich stets für meine Arbeit interessiert, mir Freiräume verschafft und mich ermutigt hat.
Eva Oberloskamp
München, den 31. März 2025
Die historischen Wurzeln der Energiewende: Thematik und Fragestellung
In den frühen 1970er Jahren avancierte das Thema »Energie« in vielen industrialisierten Staaten zu einem heftig diskutierten Politikum. Im Zuge des wirtschaftlichen Booms, der die Nachkriegsjahrzehnte bislang gekennzeichnet hatte, war die Verfügbarkeit von Elektrizität und Wärme für einen Großteil der Bevölkerung zur schlichten Selbstverständlichkeit geworden. Allenfalls Spezialisten und Fachpolitiker hatten sich in den 1960er Jahren damit befassen müssen, wie der Strom in die Steckdose, die Wärme ins Wohnzimmer oder Industrie und Handwerk zur benötigten Energie kamen. Ab etwa 1970 jedoch änderte sich dies grundlegend, und vielen Bürgern, Wissenschaftlern, Intellektuellen und Politikern erschienen Energiefragen nun als möglicherweise existenzielle Zukunftsprobleme der Menschheit. Zum einen hing dies mit der ökologischen Wende1 jener Jahre zusammen, die das Bewusstsein dafür schärfte, dass die menschliche Energieproduktion und -nutzung in aller Regel erhebliche negative Auswirkungen auf die natürliche Umwelt hatte. Vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass die Lebens- und Wirtschaftsstile von Industriestaaten in fundamentaler Weise von Energie abhängig sind, warf dieser Befund tiefgehende Probleme auf. Zum anderen mehrten sich die Stimmen, die auf die Endlichkeit materieller Ressourcen verwiesen – bis hin zur medienwirksamen Publikation der Studie »The Limits to Growth«, die 1972 mit apokalyptischem Gestus prophezeite, dass innerhalb von etwa 100 Jahren die Wachstumsgrenzen der Erde endgültig erreicht sein würden.2 Die mit solchen Debatten einhergehenden Sorgen um Energiesicherheit und Wohlstand wurden ab 1973 zusätzlich befeuert durch die erste Ölpreiskrise, welche die aus einem Mangel an Energierohstoffen resultierenden gesamtwirtschaftlichen Probleme konkret unter Beweis zu stellen schien.3
Diese Situation setzte bei einem breiten Feld von Akteuren ein intensives Nachdenken darüber in Gang, ob die aktuelle Art der Energieproduktion und -nutzung, ja noch allgemeiner, ob der gegenwärtige Wirtschafts- und Lebensstil der Industriegesellschaften auf Dauer so fortgesetzt werden können – und wenn nicht, was politisch zu tun sei, um eine Neuausrichtung zu erreichen. Im wissenschaftlichen Feld und auf Ebene der staatlichen Politik wurden bislang geltende Grundannahmen kritisch diskutiert, etwa im Hinblick auf den angestrebten Energiemix oder auf die gängige Annahme einer engen Korrelation von Wirtschaftswachstum und Energiebedarf. Im Kontext von Umwelt- und Anti-AKW-Bewegungen wurden erstmals ökologische Konzepte entwickelt, die eine stärkere Nutzung erneuerbarer Energien und weniger Energieverbrauch forderten. Mit der Gründung von NGOs, alternativ-wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen und dem Aufstieg grüner Parteien sollten diese Konzepte an Einfluss gewinnen. Die beunruhigende neue Unsicherheit und Unübersichtlichkeit, aber auch wertebasierte Forderungen nach mehr Dezentralismus und weniger Staat ließen für viele die Steuerungskapazitäten eines sich selbst regulierenden Marktsystems zunehmend attraktiv erscheinen. So entstanden in den 1970er und 1980er Jahren Zukunftsvisionen und Strategien für den Energiesektor, von denen auch unsere Gegenwart noch geprägt ist und die sich heute mit dem Idealen einer ökologischen Energiewende (energy transition) und einer Nachhaltigen Entwicklung (sustainable development) der Wirtschaft verschränken.4
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen die historischen Wurzeln unserer heutigen Energiewende – und damit eine ganz eigene Facette der »neue[n] Modernität«, die allgemein von den siebziger und achtziger Jahren ausging.5 Im Untersuchungszeitraum sind selten bereits konkrete politische Maßnahmen oder effektive Veränderungen des Energiesektors zu beobachten. Die tatsächliche »Wende« im Sinne einer konsequenten Neuausrichtung der Politik und im Sinne tiefgreifender struktureller Veränderungen im Energiesystem, vor allem durch die Einführung erneuerbarer Energien und den Ausstieg aus älteren Technologien, sollte im Vereinigten Königreich wie in der Bundesrepublik Deutschland verstärkt erst im neuen Jahrtausend einsetzen. Die Analyse fokussiert vielmehr auf das Nachdenken und Sprechen über die Probleme von Energie und Umwelt sowie über die Rolle des Marktes in diesem Zusammenhang. Es geht somit zuallererst um diskursive Konflikte und Aushandlungsprozesse über künftige Arten der Energieproduktion und -nutzung. Dieses Thema ist deshalb essentiell, um die vorangestellten Worte Benjamin Barbers aufzugreifen, weil Handeln von Sprache präfiguriert wird und weil »die Zukunft« deshalb »zuerst benannt sein [muss], bevor sie erschaffen werden kann«.6
Die vorliegende Studie analysiert die Genese, Entwicklung und politische Relevanz von Diskursen über Energie, Umwelt und Markt sowie das Handeln und Interagieren ihrer Protagonisten. Das Hauptaugenmerk liegt nicht auf wirtschaftlichen und materiellen Veränderungen des Energiesektors beziehungsweise konkreten Realisierungen einer Energiewende. Insofern ist für die Untersuchung auch die Frage zweitrangig, ob die Begriffe »Energiewende« oder »energy transition« angemessen erscheinen, um den Wandel von Energiesystemen analytisch zu fassen.7 Das Wort »Energiewende« wird im Folgenden in der Regel als Quellenbegriff verwendet, der Konzepte und Zukunftsprojektionen bezeichnet. Die historisierende und vergleichende Perspektive zeigt, dass mit diesem Label je nach Kontext unterschiedliche Konzeptionen gemeint sein können: Das, was heute unter diesem Schlagwort verhandelt wird, ist ein Amalgam aus unterschiedlichen Diskursen, deren Wurzeln weit zurückreichen. Erst in Kenntnis dieser Entwicklungslinien werden heutige Debatten, politische Handlungsansätze und auch nationale Differenzen verständlich.
Für dieses Thema spielt der nationalstaatliche Kontext – trotz der gleichzeitig hohen Relevanz globaler Kontexte, transnationaler Einflüsse und subnationaler Ebenen – eine zentrale Rolle. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die Energiesysteme der beiden Staaten im Untersuchungszeitraum erheblich von den jeweiligen staatlich gesetzten Rahmenbedingungen geprägt waren. Zum anderen wurzelte das Denken und Handeln der Akteure in vielfacher Weise »in lang zurückreichende[n] nationale[n] Pfadabhängigkeiten, Traditionsbestände[n] und Deutungsmuster[n]«.8
Mit der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich befinden sich zwei Staaten im Mittelpunkt des Interesses, die heute vielfach als Pioniere einer ökologischen Energiewende gelten. Allerdings unterscheiden sich die jeweils verfolgten Konzepte: Die deutsche Energiewende strebt den Ausstieg aus der Kernenergie und den Ausbau erneuerbarer Energien an, während die Nutzung fossiler Energieträger lange Gegenstand komplexer Debatten blieb. Die britische energy transition zielt hingegen auf einen raschen Kohleausstieg und den Ausbau erneuerbarer Energien, hält aber an der Kernenergie fest. Ein Vergleich der beiden Staaten wird dadurch begünstigt, dass der britische und bundesdeutsche Energiesektor ein gewisses Maß an strukturellen Ähnlichkeiten aufweisen: In beiden Fällen handelt es sich um hochindustrialisierte Staaten mit energieintensiven Industrien; beide verfügen im untersuchten Zeitraum über (jeweils spezifisch ausgeprägte) eigene Vorkommen fossiler Energieträger und über einen (im Hinblick auf Typ und Kapazitäten unterschiedlich strukturierten) Park an Atomkraftwerken. Trotz dieser Ähnlichkeiten bieten die beiden Vergleichsfälle allerdings auch charakteristische Differenzen, so dass die Untersuchung in vielem auf einen kontrastiv akzentuierten Vergleich hinausläuft.
Der Untersuchungszeitraum setzt um 1970 ein, als erste ökologisch geprägte Energie-Konzeptionen formuliert und im politischen Feld diskutiert wurden. Analysiert wird die Phase bis 1990 – also bis zum Ende der Regierungszeit Margaret Thatchers und bis zur deutschen Wiedervereinigung. Der Untersuchungszeitraum bezieht sich auf die maßgebliche Formierungsphase heute verfolgter Konzepte, deren konkrete politische Umsetzung ab den späten 1990er Jahren jedoch nicht mehr zum Untersuchungsgegenstand zählt. Mit Blick auf den Themenkomplex »Energie« liegt der inhaltliche Fokus auf den Sektoren Strom und Wärme, die meist eng verzahnt sind. Der Verkehrssektor hingegen, der oftmals auch auf politischer Ebene separat verhandelt wurde, bleibt ausgespart. Hinsichtlich der Umweltprobleme des Energiesektors konzentriert sich die Untersuchung auf die wegen ihrer besonderen Dringlichkeit in den Debatten meist dominierenden Probleme der Luftverunreinigung (inklusive des Kohlendioxid-Ausstoßes) und der radioaktiven Strahlung.
Im Zentrum der Analyse stehen Diskurse, Handeln und Interaktionen von Gruppen, die führend an den Debatten über Energie, Umwelt und Markt im Feld der staatlichen Energiepolitik beteiligt waren: politische Akteure (Regierung, Parlament bzw. im Parlament vertretene Parteien, Bürokratien der Ministerien und nachgeordneten Behörden), Wissenschaftler (Universitäten, staatliche Forschungsinstitute, alternativ-ökologische Forschungsinstitute) und zivilgesellschaftliche Kräfte (Ökologie- und Anti-AKW-Bewegung, Umweltorganisationen, NGOs). Auch Vertreter der Wirtschaft meldeten sich immer wieder zu Wort (Energieversorgungsunternehmen, Produzenten von Energietechnik, Wirtschaftsunternehmen als Energieverbraucher).
Geleitet wird die Untersuchung von der übergeordneten Frage, welche Akteure, Deutungsmuster und Kommunikationsprozesse wie dazu beitrugen, dass ökologische Perspektiven Einfluss auf energiepolitische Debatten gewannen, und welche politischen Maßnahmen dies nach sich zog. Hieraus lässt sich eine Reihe von Einzelfragen ableiten: Welche politisch relevanten Konzeptionen über den Zusammenhang von Energie, Umwelt und Markt gab es in der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien während der 1970er und 1980er Jahre? Welche nationalen und transnationalen Akteure und Faktoren haben jeweils Entstehung und Grundzüge dieser Diskurse und Konzeptionen bedingt? Welchen Einfluss konnten sie auf die staatliche Politik erlangen? Und welche Rückschlüsse auf das politische und rechtliche System und die politische Kultur der beiden Vergleichsfälle lassen sich hieraus ziehen?
Nationalstaatlich-vergleichende Diskursgeschichte des Politischen in ihren transnationalen Bezügen
Die Arbeit strebt eine vergleichende Diskursgeschichte des Politischen an, die kulturgeschichtliche und gesellschaftsgeschichtliche Ansätze aufgreift und damit ein weites Verständnis staatlicher Politik zugrunde legt.9 Das Untersuchungsfeld (und Tertium Comparationis) sind die sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in Großbritannien intensiv geführten Diskurse über den Zusammenhang von Energie, Umwelt und Markt.
Die Analyse dieser Diskurse erfolgt in Anlehnung an Grundüberlegungen des von Reiner Keller formulierten Programms einer wissenssoziologischen Diskursanalyse, das praxisorientierte Perspektiven integriert.10 Diskurse, also institutionalisierte Sprechweisen, die sich anhand gemeinsamer Strukturmuster abgrenzen lassen, sind demnach als »sozial erzeugte[…] und historisch situierte[…] Konfigurationen« zu verstehen.11 Ihre Analyse erfordert nicht nur die Offenlegung kollektiver Ordnungsvorstellungen, Deutungsmuster und Semantiken, sondern auch die Identifikation der Akteure und die Rekonstruktion des sozialen Handelns, das Diskurse produziert, tradiert und transformiert hat, das aber gleichzeitig auch durch Diskurse strukturiert wurde.
Auf dieser Grundlage geht die vorliegende Untersuchung davon aus, dass zeitgleich unterschiedliche Diskurse auszumachen sind, die oftmals in Konkurrenz zueinander standen und somit in der diskursiven Gesamtkonstellation eine mehr oder weniger große Dominanz erlangen konnten. Wiederum in pragmatischer Anlehnung an Keller12 legt die Untersuchung folgende Kategorien zugrunde:
Deutungsmuster (Frames) oder Topoi, etwa die Vorstellung, dass Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch eng gekoppelt seien;
Klassifikationen (Identitätszuschreibungen oder Kategorisierungen), beispielsweise die Annahme, dass sowohl die Atomenergie als auch erneuerbare Energien wie Wind- und Sonnenenergie eine gemeinsame Kategorie, nämlich die Kategorie neuer, nicht-fossiler Energien, bilden;
Problemdefinitionen und vorgeschlagene -lösungen, so das Problem, wie Wirtschaftswachstum trotz der Notwendigkeit zum Umweltschutz und der gegebenen Ressourcenknappheit garantiert werden kann – und die Lösungsidee, dass technologischer Fortschritt zu einer Win-win-Situation führen könne, indem dadurch integrierter Umweltschutz und Energieeffizienz gewährleistet und gleichzeitig durch den damit einhergehenden Innovationsschub das Wachstum befördert wird;
Sprecherpositionen, etwa wenn ein wachstumsskeptischer Anti-AKW-Aktivist auf einmal mit der Legitimität und Autorität eines Bundestagsabgeordneten auftreten kann;
normative Vorstellungen, beispielsweise im Hinblick auf die Frage, ob der Mensch oder die Natur der wichtigste Bewertungsmaßstab sei;
Erzählstrukturen (Narrative), so die Vorstellung, dass die Geschichte menschlichen Wirtschaftens durch eine Abfolge von Übergängen von einem dominierenden Energieträger zum anderen strukturiert sei (vom Holz zur Kohle, dann zum Öl und schließlich zur Atomenergie).
Diese Begriffe dienen der Untersuchung als gedankliche Strukturierungshilfen, um zeitgleich bestehende Diskurse voneinander abzugrenzen, aber auch, um die jeweilige inhaltliche Ausprägung eines Diskurses im bundesdeutsch-britischen Vergleich genauer bestimmen zu können. Darüber hinaus erstreckt sich der Vergleich auch auf die Frage, welche Diskurse in den beiden Staaten jeweils gesellschaftlich und politisch dominierten und so auf längere Sicht handlungsleitend wurden. Der Hauptteil der Untersuchung greift die genannten Begriffe eher implizit als gedankliche Ordnungshilfen auf. Die abschließende vergleichende Synthese bietet eine an diesem Rahmen ausgerichtete Zusammenführung der Ergebnisse.
Die nationalstaatlich-vergleichende Grundanlage der Untersuchung soll freilich keinesfalls auf eine »nationalzentrierte im Sinne einer nationalisolierten Analyse«13 hinauslaufen. Die Untersuchung strebt vielmehr eine umfassende Einbettung der nationalen Fälle in größere transnationale Diskurszusammenhänge an – wobei mit »transnational« nicht eine pauschale Auflösung des Nationalstaats in globalen Zusammenhängen gemeint ist, sondern eine – letztlich weiterhin vom »Nationalstaat oder zumindest […] Nationalgefühl« her gedachte – grenzüberschreitende Perspektive.14 Dementsprechend ist auch weniger von einer an sich existierenden »globalen« Diskursebene auszugehen, die dann auf nationalstaatlicher Ebene rezipiert worden wäre, sondern eher von einem globalen Diskurszusammenhang, in den Akteure aus beiden Staaten teils intensiver, teils schwächer – sowohl durch eigene Beiträge als auch durch Rezeptionsprozesse – eingebunden waren.
Wichtige transnationale Diskurszusammenhänge entwickelten sich im Feld der akademischen Wissenschaften, das zumindest der Idealvorstellung nach räumlich unbegrenzt ist. Andererseits war die politische Kooperation von Regierungen auf bi- und multilateraler Ebene – vor allem im Bereich der internationalen Umwelt-, Energie- und Wirtschaftspolitik sowie im Rahmen der EG – zentral für die transnationale Zirkulation von Diskursen. Auch wirtschaftliche Verflechtungen oder transnationale Kontakte gesellschaftlicher Protestbewegungen15 waren hierfür von Bedeutung. Insofern, dies wird im Zuge der Untersuchung deutlich, sind fast alle wichtigen Ideen, Topoi, Probleme und Narrative in ähnlicher zeitlicher Konjunktur auch in vielen anderen Staaten auszumachen. Die bundesdeutschen und britischen Diskurse bilden stets spezifische Ausformungen eines allgemeineren Phänomens.
Insgesamt verbindet somit der Ansatz der Arbeit den klassischen, nach einem »Allgemeinen« und nach Spezifika suchenden Vergleich16 mit transfer- beziehungsweise verflechtungsgeschichtlichen Perspektiven.17 Diese Kombination aus vergleichs- und transfergeschichtlichem Ansatz zielt darauf, die einzelnen Staaten im Kontext zunehmend einflussreicher grenzüberschreitender Diskursräume zu sehen und gleichzeitig nationale Besonderheiten nicht aus dem Blick zu verlieren.
Verbindung von Umwelt- und Energiegeschichte: Forschungslage und Ansatz der Arbeit
Die Umweltgeschichte und die Energiegeschichte haben mittlerweile einen Kanon zentraler Werke sowie zahlreiche Detailstudien hervorgebracht. Darüber hinaus gibt es zeitgenössisch entstandene sozial- und politikwissenschaftliche Untersuchungen, die trotz aller Notwendigkeit zur Historisierung auch als wissenschaftliche Literatur zu rezipieren sind. Insgesamt hat die Studie angesichts der Fülle an Literatur eine erhebliche Syntheseleistung zu erbringen.
Im Bereich der Umweltgeschichte kann die Arbeit auf vielfältige Publikationen aufbauen. Relevant sind verschiedene Arbeiten mit einer breiten gesellschafts- und politikgeschichtlichen Perspektive auf das wachsende Umweltbewusstsein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts,18 Studien zur Geschichte staatlicher und internationaler Umweltpolitik,19 Untersuchungen zum Umgang mit Luftverschmutzung, auch mit wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive,20 sowie instruktive Ansätze zur Geschichte umweltpolitischer Governance.21
Im Bereich der Energie- und Wirtschaftsgeschichte wiederum sind für das Themenfeld der Analyse Studien zur nationalen und internationalen Energiepolitik relevant,22 Untersuchungen zur Energiewirtschaft23 und zum Energiekonsum,24 technik- und wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten, insbesondere zu erneuerbaren Energien,25 sowie Studien zur Intellectual History wirtschaftspolitischen Denkens.26
Obwohl eine systematische Verbindung zwischen der Umweltgeschichte einererseits und der Energie- beziehungsweise Wirtschaftsgeschichte andererseits bislang kaum stattgefunden hat, weisen vier Forschungsbereiche thematisch bedingte Schnittstellen auf: Erstens gibt es eine Reihe von wissenschafts- und politikgeschichtlichen Arbeiten zur Atomenergie, welche die Entwicklung dieser Technologie zumeist im Kontext ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmungen analysieren.27 Zweitens überlappen sich auch bei der umfangreichen Literatur zu Ökologie- und Anti-AKW-Bewegungen beziehungsweise entsprechenden Organisationen in der Regel umwelt- und energiegeschichtliche Perspektiven.28 Dies gilt drittens ebenso für Studien zur Haltung einzelner Parteien im Hinblick auf den Komplex der Energie- und Umweltpolitik.29 Und viertens integrieren mehrere Untersuchungen zur politischen Bedeutung von Wissenschaft sowohl umwelt- als auch wirtschaftsgeschichtliche Perspektiven.30
Mit ihrem Anspruch einer gesellschafts- und kulturhistorisch fundierten Analyse der Wechselwirkungen zwischen Diskursen über Umwelt, Energie und Markt, die das Aufkommen des Konzepts einer ökologischen Energiewende befördert haben, betritt die Studie – trotz der vorliegenden, für viele Einzelaspekte relevanten Literatur – historiografisches Neuland: Dies gilt nicht nur deshalb, weil weder für die Bundesrepublik noch für Großbritannien eine umfassende geschichtswissenschaftliche Studie zu Entstehung und politischer Rezeption des Energiewende-Konzepts vorliegen31 und weil darüber hinaus auch verschiedene Einzelaspekte des Themas – deren Relevanz sich im Zuge der Untersuchung oftmals erst vor dem Hintergrund der nationalstaatlich-vergleichenden Perspektive erschlossen hat – bislang keine geschichtswissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden haben.32
Darüber hinaus hat die geschichtswissenschaftliche Forschung bislang überwiegend entweder umweltpolitische beziehungsweise ökologische Perspektiven verfolgt, ohne eine systematische Verbindung zu wirtschaftshistorischen Fragen herzustellen – oder sich mit energie- und wirtschaftspolitischen Themen befasst, ohne ökologische Diskurse als wesentliche Einflussfaktoren zu gewichten. Das Energiewende-Konzept, das im Fokus der vorliegenden Studie steht, integriert hingegen sowohl neue Denk- und Wahrnehmungsströmungen, die durch die ökologische Wende der 1970er Jahre befördert wurden, als auch betont marktliberale Konzeptionen der Wirtschaftspolitik, wie sie seit den 1970er und 1980er Jahren Verbreitung fanden: Es bezieht sich nicht nur auf einen Übergang des Energiesystems zu umweltfreundlicheren Energieträgern und Technologien, sondern auch auf dezentrale und marktbasierte Governance-Ansätze, die oftmals als demokratischer perzipiert wurden. Dementsprechend kombiniert der Ansatz der vorliegenden Studie systematisch und in neuartiger Weise umwelt- und wirtschaftshistorische Perspektiven.
Das Interesse der Untersuchung weist in mehrfacher Hinsicht über die Felder der Umwelt- und Energiegeschichte im engeren Sinne hinaus und bietet Anschluss zu Problemen der allgemeinen jüngeren Zeitgeschichte. Dies gilt zum einen für demokratiegeschichtliche Perspektiven: Das Thema erlaubt eine Annäherung an die im späten 20. Jahrhundert zunehmende Komplexität von Demokratiegeschichte, die ein vielfältiges Wechselspiel unterschiedlichster Politikebenen und Akteursgruppen im Blick behalten muss. Zum anderen versteht sich die Studie als Beitrag zu einer Geschichte des Aufstiegs neoliberalen und angebotspolitischen Denkens: Auch hier bietet das Thema beispielhaft die Möglichkeit einer detaillierten Analyse der Logik und Antriebskräfte dieser Entwicklung.
Quellen
Für die vorliegende Arbeit wurde eine große Zahl archivalischer Quellen ausgewertet. Zentral sind zunächst die umfangreichen einschlägigen Akten staatlicher Ministerien mit Zuständigkeiten im Bereich der Energie-, Forschungs- und Umweltpolitik im Bundesarchiv Koblenz und den National Archives London. Die Akten enthalten in großem Umfang auch Material von wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren, das seitens der Ministerien systematisch gesammelt wurde und das die Relevanz dieser Akteursgruppen für die staatliche Energie- und Umweltpolitik spiegelt. Punktuell wurden zudem kleinere Archive (Parlamentsarchiv, Archive sozialer Bewegungen) konsultiert.33
Darüber hinaus umfasst die Quellengrundlage zahlreiche publizierte Dokumente. Dabei handelt es sich um Parlamentsdokumente (Plenarprotokolle und Drucksachen), Publikationen und graue Literatur von staatlichen Stellen und von Parteien, Veröffentlichungen wissenschaftlicher Institutionen oder einzelner Wissenschaftler, Stellungnahmen oder Broschüren der Energiewirtschaft sowie Druckschriften und Flugblätter von sozialen Bewegungen und NGOs. Auch eine große Anzahl von Zeitungen und Zeitschriften wurde ausgewertet.
Aufbau der Arbeit
Die Darstellung folgt einer systematischen Grobgliederung. Die fünf Hauptkapitel unterteilen sich in der Regel in ein kurzes hinführendes Unterkapitel, das die transnationalen Kontexte und Diskussionen umreißt, sowie je ein Unterkapitel zum bundesdeutschen und zum britischen Fall. Die Binnengliederung der Unterkapitel ist überwiegend an chronologischen Gesichtspunkten orientiert, stellt aber mitunter auch systematische Gesichtspunkte heraus, wo dies erforderlich scheint.
Unter dem Titel »Umweltpolitik und ihre Relevanz für den Energiesektor« analysiert Kapitel 2 zunächst die umweltpolitische Aufbruchsstimmung der frühen 1970er Jahre und die Entwicklung dieses Politikfeldes in der Bundesrepublik und im Vereinigten Königreich. Das Interesse gilt sowohl den Grundlinien und -prinzipien der Umweltpolitik als auch den mit Blick auf den Energiesektor ergriffenen Maßnahmen, insbesondere im Bereich von Luftreinhaltung und Strahlenschutz. Die umgesetzten Maßnahmen standen überwiegend in der Logik ordnungsrechtlicher oder kooperativer Ansätze.
Darauf folgt Kapitel 3 über »Wachstumskritik und das utopische Potenzial alternativer Energiekonzeptionen«. Mit seinem Fokus auf Debatten über ein fortgesetztes globales Wirtschaftswachstum angesichts begrenzter materieller Ressourcen und zunehmender Umweltverschmutzung nimmt dieses Kapitel einen breiteren Kreis von Akteuren und einen zentralen Kontext der frühen Umweltpolitik in den Blick. Wichtige Protagonisten waren Wissenschaftler, Intellektuelle, gesellschaftliche Aktivisten und vereinzelt auch Politiker. Thema des Kapitels ist sowohl das Gewicht von Energiefragen für die Herausbildung wachstumsskeptischer Ansätze als auch die Rolle wachstumsskeptischer Diskurse für die Entwicklung ökologisch-alternativer Energie-Leitbilder. Die in diesem dritten Kapitel analysierten Diskurse, die in der ersten Hälfte der 1970er Jahre stark verbreitet waren, bildeten den Ausgangspunkt für die neuartigen Konzeptionen einer Energiewende und einer Grünen Marktwirtschaft, deren Entwicklung im Zentrum der Kapitel 5 und 6 steht.
Kapitel 4 wendet sich dem »Gesellschaftliche[n] Protest« gegen die staatliche Energie- und Umweltpolitik zu und fragt nach dessen rechtlich-kulturellen Voraussetzungen und nach dessen konkreter Wirkung auf die Politik. Besonderes Interesse gilt dabei den Rechtssystemen und den in den beiden Staaten sehr unterschiedlich ausgeprägten Möglichkeiten gerichtlichen Vorgehens gegen Umweltverschmutzung beziehungsweise gegen den Bau von Kraftwerken. Darüber hinaus erweisen sich für die Herausbildung und den Einfluss von gesellschaftlichem Aktivismus auch nationalspezifische Traditionen der politischen Kulturen als wesentlich.
Die Kapitel 3 und 4 fokussieren somit auf Diskurse, deren Gravitationszentren nicht im unmittelbaren Feld der staatlichen Politik lagen und die oftmals eher äußere Druck- und Einflussfaktoren für staatliches Handeln bildeten. Kapitel 5 über »Mehr Markt für einen sparsamen Umgang mit Energieressourcen?« hingegen wendet sich dem eigentlichen Feld der staatlichen Energiepolitik zu. Im Zentrum stehen Debatten über Energiesparen, Energieeffizienz und politische Maßnahmen zu deren Verbesserung. Diese Themen bilden einerseits ein Kernelement der ökologischen Energiewende-Idee, entwickelten sich gleichzeitig aber auch zum Vehikel für Forderungen nach einer verstärkten Freisetzung von Marktkräften im Energiesektor.
Kapitel 6 unter der Überschrift »Umweltökonomie« ist erneut dem Feld der Umweltpolitik gewidmet und knüpft insofern eng an Kapitel 2 an, gleichzeitig aber auch an Diskurse, die in Kapitel 3 und 5 behandelt wurden. Während Kapitel 2 die im Untersuchungszeitraum tatsächlich umgesetzten Maßnahmen einer im Wesentlichen ordnungsrechtlichen und kooperativen Umweltpolitik thematisiert, analysiert Kapitel 6 die teils intensiven Debatten über eine verstärkte Marktorientierung in der Umweltpolitik und über umweltökonomische Politikinstrumente wie Abgaben oder Emissionshandel. Zwar sollten beide Staaten eine hierauf ausgerichtete Umweltpolitik erst in späteren Jahrzehnten implementieren, jedoch erlangten umweltökonomische Ideen bereits im Untersuchungszeitraum Einfluss auf die Debatten und weisen somit voraus auf Ansätze der heutigen Klimapolitik.
Am Schluss der Studie steht eine vergleichende Synthese (Kapitel 7), die mithilfe der oben umrissenen diskursanalytischen Kategorien die großen Entwicklungslinien und deren Erklärungsfaktoren zusammenführt.
Ab 1969/70 wurden die Bundesrepublik Deutschland und das Vereinigte Königreich auf je eigene Weise von der internationalen umweltpolitischen Dynamik ergriffen. Die hiermit einhergehende Aufbruchsstimmung, die in beiden Staaten zu beobachten ist, gewann teils erhebliche Auswirkungen auf den Energiesektor. Ziel dieses Kapitels ist es zunächst, in vergleichender Perspektive die nationalen Entwicklungen der allgemeinen Umweltpolitik sowie die ihr zugrundeliegenden Prinzipien und Denkmuster zu analysieren. Hierauf aufbauend soll gefragt werden, welche speziell auf den Energiesektor bezogenen umweltpolitischen Maßnahmen ergriffen wurden. Wenngleich marktbasierte Politikinstrumente bereits in den frühen 1970er Jahren diskutiert wurden, bewegte sich das tatsächlich zur Anwendung gebrachte Instrumentarium weitgehend im Spannungsfeld von ordnungsrechtlichen und kooperativen Ansätzen.
Die bundesdeutsche und britische Umweltpolitik der 1970er und 1980er Jahre stand in enger Wechselwirkung mit der internationalen und europäischen Ebene. Im Untersuchungszeitraum gewannen grenzüberschreitende Kommunikation und Harmonisierungseffekte vielfach großen Einfluss auf die jeweilige nationale Umweltpolitik.34 Zur internationalen und europäischen Umweltpolitik liegt mittlerweile eine Reihe wichtiger Studien vor, auf deren Grundlage im Folgenden die für den bundesdeutschen und britischen Fall zentralen grenzüberschreitenden Kontexte umrissen werden sollen.35
Um 1970 gab es einen Aufschwung globaler Umweltdiskurse und -politik, der die bundesdeutsche ebenso wie die britische Umweltpolitik stark beeinflusste.36 Ein wichtiger Hintergrund hierfür war zunächst die Arbeit internationaler Gremien und Organisationen, die im Laufe der 1960er Jahre immer mehr Daten global aggregiert und so die Ausmaße von Umweltproblemen erkennbar gemacht hatten.37 Eine Rolle spielten auch die seit den 1950er und 1960er Jahren erfolgten Mahnrufe von US-amerikanischen Wissenschaftlern und Intellektuellen wie Fairfield Osborn, William Vogt oder Rachel Carson, die auch international intensiv rezipiert wurden.38
Darüber hinaus besaßen zu Beginn der 1970er Jahre die USA eine wichtige Rolle als Vorreiter und Schrittmacher einer internationalen Umweltpolitik. Schon seit Mitte der 1960er Jahre hatte der Umweltschutz hier eine prominente innenpolitische Bedeutung gewonnen. Unter ihrem 1969 neu gewählten Präsidenten Richard Nixon wurde der wegweisende National Environmental Policy Act verabschiedet, der Council on Environmental Quality als Beratungsgremium des Präsidenten eingerichtet und die Environmental Protection Agency als Behörde gegründet, welche die Umsetzung und Einhaltung der neuen Umweltschutzvorschriften garantieren sollte.39 Zudem wirkten die USA auch außenpolitisch gegenüber ihren internationalen Partnern auf eine aktivere Umweltpolitik hin. Dies geschah zunächst im Rahmen der NATO,40 die im November 1969 auf Anregung Nixons einen Ausschuss zur Verbesserung der Umweltbedingungen einrichtete und damit die NATO-Aufgaben um eine »dritte Dimension« erweiterte. Die NATO erschien der US-amerikanischen Regierung unter anderem deshalb als geeigneter Rahmen, weil sie auf unmittelbarer Regierungsebene verhandelte und weil sie sich seit den fünfziger Jahren als effizientes Instrument für einen Austausch von militärischem Wissen und technologischem Knowhow erwiesen hatte.41 Möglicherweise spielte auch eine Rolle, dass sich die wissenschaftliche Umweltforschung in den USA teilweise im Kontext militärischer Forschung herausgebildet hatte. So hatte sich beispielsweise der einflussreiche, ursprünglich auf militärische Themen fokussierte kalifornische Thinktank Research and Development (RAND) Corporation seit den 1960er Jahren vor dem Hintergrund computerbasierter und systemtheoretischer Zugänge zunehmend mit ökologischen Fragen befasst.42
Neben der NATO waren auch die Vereinten Nationen ein wichtiges internationales Gremium, das seit den späten 1960er Jahren die Umweltpolitik auf die Agenda gesetzt hatte. Ein wegweisender Schritt erfolgte hier mit der Intergovernmental Conference for Rational Use and Conservation of the Biosphere, die 1968 von der UNESCO in Paris ausgerichtet wurde. Diese erste internationale Konferenz überhaupt zum Thema der globalen Biosphäre stieß weitreichende Entwicklungen in der internationalen Umweltpolitik an. Eine unmittelbare Folge war das 1970 von der UNESCO lancierte Programm »Man and the Biosphere«, das auf den Schutz von Ökosystemen durch die Einrichtung geschützter UNESCO-Biosphärenreservate zielt und bis heute fortgeführt wird.43 Des Weiteren folgte aus der Tagung von 1968 die erste Umweltkonferenz der Vereinten Nationen, die 1972 in Stockholm stattfinden sollte.44 Die Vorbereitungen der Konferenz von 1972 durch die bundesdeutschen und britischen Bürokratien und Regierungen führten zu jeweils intensiven umweltpolitischen Bestandsaufnahmen und teils auch programmatischen Erklärungen.45 Weitere wichtige Wegmarken der UN-Umweltpolitik bis zum Ende der 1970er Jahre waren die Arbeit an der schließlich 1980 publizierten »World Conservation Strategy« (»Welt-Naturschutz-Strategie«) sowie das 1979 im Rahmen der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa unterzeichnete Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung.46
Auf europäischer Ebene wurden zunächst der Europarat und die OECD aktiv. Ersterer verabschiedete bereits am 8. März 1968 eine »Deklaration über Grundsätze zur Reinhaltung der Luft«. Für 1970 rief der Europarat 1966 ein »Europäisches Naturschutzjahr« aus, im Zuge dessen europaweit Aufklärungs- und Bildungskampagnen zum Schutz der Umwelt durchgeführt wurden. Darüber hinaus organisierte der Europarat im Rahmen des »Naturschutzjahrs« eine große Konferenz in Straßburg, auf der eine »Deklaration zum europäischen Naturschutzjahr 1970« verabschiedet wurde. Insgesamt gilt das Ereignis als ein Wendepunkt für die Herausbildung eines breiten umweltpolitischen Bewusstseins in Europa.47 Im Rahmen der OECD gab es schon ab 1967/68 Komitees, die sich mit Wasser- und Luftverschmutzung befassten, und 1970 wurde hierauf aufbauend ein OECD-Umweltkomitee eingerichtet, um die wirtschaftlichen Implikationen nationaler Umweltpolitiken zu diskutieren und um die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern. Unter anderem beschloss die OECD auf dieser Grundlage bis 1974 mehrere Empfehlungen zur Implementation des Verursacherprinzips.48 Des Weiteren führte die OECD auch wichtige Studien zu Umweltthemen durch, so etwa zur überregionalen Dispersion von Luftschadstoffen und zu sauren Niederschlägen in Europa.49
Besonders relevant wurden ab Beginn der 1970er Jahre die umweltpolitischen Entwicklungen auf Ebene der EG. Hier hatte das Europaparlament 1970 die Kommission gedrängt, Vorschläge zu einer EG-Umweltpolitik vorzulegen, was zunächst zwei »Umweltmitteilungen« der Kommission in den Jahren 1971 und 1972 nach sich zog.50 Im Oktober 1972 forderten daraufhin die EG-Staats- und Regierungschefs die Kommission zur Ausarbeitung eines EG-Umweltprogramms auf. Dies führte zur Verabschiedung eines Aktionsprogramms der Europäischen Gemeinschaften für den Umweltschutz am 22. November 1973, das gemeinhin als Geburtsstunde der europäischen Umweltpolitik gilt. Das Aktionsprogramm war von bundesdeutschen Vorstellungen und vom bundesdeutschen Umweltprogramm geprägt und legte großes Gewicht auf die Bedeutung des Verursacherprinzips.51 Die EG-Umweltpolitik war freilich zu diesem Zeitpunkt noch nicht Bestandteil der Europäischen Verträge und gemeinsame Beschlüsse hierzu mussten im Ministerrat einstimmig gefasst werden. Dennoch entwickelte sich das Politikfeld auf EG-Ebene dynamisch und es kam zur Verabschiedung einer Reihe von wichtigen Verordnungen.52 1986/87 schließlich sollte die Umweltpolitik mit der Einheitlichen Europäischen Akte in die Gemeinschaftspolitik integriert werden und fortan der Gemeinschaftsmethode unterliegen.
Auch die Umweltpolitik der Vereinten Nationen entfaltete in den 1980er Jahren eine erneute Dynamik. Bedeutsam war zum einen die Einrichtung der von der norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland geleiteten UN-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, die 1987 in ihrem Abschlussbericht das Leitbild einer Nachhaltigen Entwicklung prägte.53 Zu nennen ist zudem die 1987 erfolgte Unterzeichnung des Montrealer Protokolls über Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen. Es gilt als erfolgreiches Beispiel der internationalen Umweltpolitik. Von weitreichender Bedeutung schließlich waren die Anfänge der internationalen Klimapolitik ab 1988. Auf Grundlage dieser neuen Anstöße sollte es schließlich 1992 zu der wegweisenden Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro sowie 1997 zur Unterzeichnung des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen in Kyoto kommen.
Als Willy Brandt – frisch gewählter und in der bislang zwanzigjährigen Geschichte der Bundesrepublik erster sozialdemokratischer Bundeskanzler – am 28. Oktober 1969 in seiner Regierungserklärung dem Bundestag das Reformprogramm der sozialliberalen Regierung vortrug, war darin kein zusammenhängendes Konzept zum Umweltschutz zu erkennen. Der Begriff »Umwelt« taucht eher verstreut auf in Passagen zu Raumordnung, Städte- und Wohnungsbau, zur Gesundheitspolitik und zum Thema Frieden und internationale Beziehungen:54 Unter Zustimmung der Unionsparteien erklärte Brandt, »dem Schutz der Natur, von Erholungsgebieten, auch dem Schutz der Tiere« müsse »mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden«. Die von ihm angekündigte Erarbeitung von Gesetzen »zum ausreichenden Schutz vor Luft- und Wasserverunreinigung und vor Lärmbelästigung« hingegen erntete hämische Zwischenrufe, die sich auf den Bundestagswahlkampf 1961 bezogen.55 Damals hatte Brandt als Kanzlerkandidat gefordert: »Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden!«56 1969 hatten weder im Wahlkampf noch in den Programmen der beiden großen Parteien Umweltthemen eine wesentliche Rolle gespielt.57
Vor diesem Hintergrund wirkt es zunächst überraschend, dass sich der Umweltschutz innerhalb weniger Wochen zu einem wichtigen Arbeitsschwerpunkt der sozialliberalen Koalition entwickelte.58 Befördert wurde dies durch die in Kapitel 2.1 umrissene Expansion internationaler Umweltdiskurse und -politik zu Beginn des Jahres 1970.59 Im Zuge der Regierungsübernahme erkannte die sozial-liberale Koalition zunehmend das Profilierungspotenzial dieses neuen und unverbrauchten Themas, das weltweit im Geist der Zeit zu liegen schien.60 Trotz der langen Tradition deutschen Naturschutzes (dem es eher um den Schutz von Natur-Inseln und Artenschutz ging)61 scheint in der Bundesrepublik eine gesellschaftliche Mobilisierung für mehr Umweltschutz der Politisierung des Themas nicht vorausgegangen zu sein, sondern sich erst im Zuge der Aktivitäten der neuen Bundesregierung entwickelt zu haben.62
Für die Dynamik, welche die Umweltpolitik um 1970 in der Bundesrepublik erhielt, bildete der generelle Reformelan der sozialliberalen Regierung einen zentralen Kontext. Der Anspruch eines Neubeginns war bereits in Brandts Regierungserklärung deutlich erkennbar gewesen. Innenpolitisch zielte das Programm der neuen Regierungskoalition vor dem Hintergrund von 1968er-Bewegung und eines generellen gesellschaftlichen Wertewandels auf »Demokratisierung« und aktivere Formen demokratischer Partizipation innerhalb der bestehenden politischen Ordnung. Gleichzeitig rückten der sich beschleunigende Wandel im ökonomischen, technischen und sozialen Bereich – und damit auch umweltrelevante Themen – in den Fokus. Das Reformprogramm der sozialliberalen Koalition verweist somit auf »ein neues Verständnis der Aufgaben staatlichen Handelns: Der Staat sollte seine Interventionen auf möglichst alle Lebensbereiche ausdehnen, um eine umfassende Daseinsvorsorge für seine Bürger zu garantieren.«63 Diesen Anspruch wollte die neue Regierung gesamtgesellschaftlich ebenso wie im Umweltbereich auf dem Wege einer wissenschaftlich fundierten, politischen Planung und Steuerung realisieren – wodurch die bundesdeutsche Umweltpolitik eine technokratische Ausrichtung erhielt.64 Die Dynamik, mit der die programmatisch formulierten umweltpolitischen Ziele in den frühen 1970er Jahren angegangen wurden, zeugt von der optimistischen Überzeugung, dass eine wissenschaftlich informierte und systematisch planende Politik auch komplexe Probleme umfassend lösen könne.
In Übereinstimmung mit der sozialliberalen Selbstdeutung eines umweltpolitischen Aufbruchs wird der Regierungswechsel von 1969 auch in der Forschung gemeinhin als Geburtsstunde der deutschen Umweltpolitik gesehen. Wichtige Einzelaspekte des Umweltschutzes hatten freilich schon lange vor diesem Datum zum Bereich öffentlicher Aufgaben gezählt.65 So hatte es beispielsweise im deutschen Raum bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts Konflikte um die Luftverschmutzung durch Gerbereien, Seifensiedereien oder Glashütten gegeben, und in Preußen wurde mit der Gewerbeordnung von 1845 früh ein erster gesetzlicher Rahmen für die Luftreinhaltung geschaffen, der für die Entwicklung im Kaiserreich und im weiteren 20. Jahrhundert prägend werden sollte.66
Dennoch ist unstreitig, dass die politische Befassung mit »Umwelt«-Themen in der Bundesrepublik um 1970 eine neue Qualität erhielt, die als Konstituierung eines eigenen Politikfeldes »Umweltschutz« beschrieben werden kann: Erstmals wurden nun im politischen Diskurs Probleme wie »Naturschutz, Luftreinhaltung, Lärmbekämpfung, Wasserreinhaltung und Abfallbeseitigung«,67 die bislang eher separat und als »vorpolitische Sachfrage[n]«68 verhandelt worden waren, in einen Zusammenhang gestellt und aufeinander bezogen. Durch diese integrative Problemsicht rückte zunehmend in den Fokus, dass Schäden am effektivsten vermieden werden könnten, indem Schadstoffe möglichst gar nicht erst produziert werden beziehungsweise gar nicht erst in die Umwelt gelangen.69 Augenfällig wird die neue diskursive Logik im Aufkommen des von Ministerialbeamten quasi neu erfundenen Begriffs »Umweltschutz«,70 unter dem sich die verschiedenen Einzelaspekte fortan subsumieren ließen. Der abrupte Durchbruch des neuen Begriffs »Umweltschutz« ist unter anderem deutlich in der Wortverlaufskurve des »Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache« ablesbar, in dem das Wort erstmals im Jahr 1969 auftaucht. Für die folgenden Jahre steigt die Kurve bis zu einem ersten Höhepunkt im Jahr 1972 rasant an.71
Dem Verständnis des neuartigen Begriffs »Umwelt« trugen auf institutioneller Ebene wichtige Veränderungen Rechnung, die den neuen Diskurs organisatorisch festschrieben: Dem FDP-geführten Bundesministerium des Innern wurde von Bundeskanzler Brandt am 11. November 1969 im Zuge einer (insgesamt wohl »eher routinemäßig zustandegekommen[en]«) generellen Neuordnung ministerieller Zuständigkeiten72 die Verantwortung für Luft- und Wasserreinhaltung, Lärmbekämpfung und Abfallbeseitigung übertragen.73 Wenngleich Brandt angestrebt hatte, auch den Naturschutz auf das Bundesinnenministerium zu verlagern, verblieb dieser nach erfolgreicher Intervention des FDP-Landwirtschaftsministers Josef Ertl beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.74 Es erfolgte somit aber zumindest eine partielle ministerielle Bündelung der Zuständigkeiten für Umweltschutzthemen. 1972 sollte das Bundesministerium des Innern dann auch noch die ebenfalls umweltpolitisch relevanten Kompetenzen für Reaktorsicherheit und Strahlenschutz erhalten, die bislang beim Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft gelegen hatten. Im Gegenzug musste das Bundesinnenministerium allerdings seine Raumordnungskompetenzen an das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau abgeben.75 Mit der Übertragung des neuen Politikfeldes auf das Innenministerium erhielt ein – so die rückblickenden Worte eines involvierten Ministerialbeamten – »erprobtes und bewährtes Haus«,76 das im Hinblick auf Verfassungsrecht und auf die Vorbereitung umfassender und komplexer Gesetzesvorhaben große Erfahrung hatte, die Verantwortung für die neue »Umweltpolitik«.
Bereits am 6. Juni 1970 wurde vom Bundeskanzler unter der Geschäftsführung des Bundesministeriums des Innern ein Kabinettsausschuss für Umweltfragen eingerichtet, um die ressortübergreifende Kooperation zu verbessern. Dem Umweltkabinett zuarbeiten sollte ein Ständiger Abteilungsleiterausschuß-Bund (STALA-Bund), dessen wichtigste Funktion darin bestand, Beschlüsse des Umweltkabinetts vorab zwischen den Ressorts abzustimmen und eventuelle Kompetenzkonflikte auszuloten.77
Mit dem Ressort des Innern lag die Federführung und Koordination des neuen Politikbereichs bei der FDP, die sich in dieser frühen Phase zu einem wichtigen Motor der Umweltpolitik entwickeln sollte. Hintergrund hierfür war auch die Position der FDP innerhalb der sozialliberalen Koalition: In der Phase, in der die Liberalen die alleinige parlamentarische Opposition gegen die Große Koalition gewesen waren, hatte sich die Partei neu orientiert und sich zu einer »mehr demokratischen, innovativen und sozialen Partei des reformfreudigen Liberalismus« gewandelt.78 Wichtige Faktoren in diesem Prozess waren der während der Wirtschaftskrise 1966/67 erfolgte Aufstieg der NPD als rechte Konkurrenz zur FDP sowie das Erstarken eines linksliberalen Flügels innerhalb der FDP unter dem Eindruck von Notstandsgesetzen und Außerparlamentarischer Opposition. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen war die 1968/69 neu angetretene Führungsspitze bestrebt, der Partei im bislang wenig besetzten gesellschaftspolitischen Feld ein eigenes Profil zu geben. Im Wahlkampf hatte die FDP für sich als reformerische Kraft geworben, und dieses Image galt es nun mit Inhalten zu füllen. Insofern gewann die neue ressortpolitische Zuständigkeit des Bundesministeriums des Innern rasch partei- und koalitionspolitische Bedeutung für die FDP.
Ein wichtiger Protagonist innerhalb der FDP war neben Hans-Dietrich Genscher, der von 1969 bis 1974 das Bundesinnenministerium leitete, Peter Menke-Glückert: Letzterer hatte in verschiedenen bundesdeutschen und internationalen Administrationen gearbeitet, wobei seine Tätigkeit im Rahmen der OECD sowie des UNESCO-Programms »Man and Biosphere« wichtig für seine umweltpolitische Prägung war.79 1970 wurde er von Genscher ins Bundesministerium des Innern geholt. Dort übernahm er die Leitung des neuen Referats »Umweltkoordinierung« und gewann entscheidenden Einfluss auf die frühe Umweltpolitik der sozialliberalen Koalition und auf die Programmatik der FDP.80 Die FDP verankerte im Oktober 1971 ihre neue Ausrichtung in den »Freiburger Thesen zur Gesellschaftspolitik«, die dem Umweltschutz breiten Raum gaben.81 Hauptautor dieser Thesen war Werner Maihofer, der 1974 das Innenressort und damit auch die Zuständigkeit für die Umweltpolitik übernehmen sollte.82
Gleichzeitig standen aber auch das Bundeskanzleramt und Bundeskanzler Brandt sowie – zumindest anfänglich – auch Kanzleramtsminister Horst Ehmke (SPD) durchaus mit gewissem Nachdruck hinter dem neuen Ziel einer aktiven Umweltpolitik.83 Die SPD insgesamt freilich räumte dem Umweltschutz – etwa in ihrem Wahlprogramm von 1972 – im Verhältnis zu anderen Politikfeldern keinen hohen Stellenwert ein.84 Im weiteren Verlauf der 1970er Jahre ließ die Partei eine unklare Linie erkennen: Einem kleinen, aber sehr aktiven ökologischen Flügel innerhalb der Partei um Erhard Eppler stand eine im Hinblick auf Umweltpolitik zurückhaltende Mehrheit von Genossen gegenüber, die Fragen nach Wachstum und Beschäftigung Priorität gab.85
Auch die nunmehr in der Opposition befindlichen Unionsparteien waren gegenüber der neuen Umweltpolitik aufgeschlossen.86 Das Berliner Programm der CDU vom Januar 1971 hatte in Vielem eine ähnliche Stoßrichtung wie die Umweltpolitik der sozialliberalen Koalition. Und auch die CSU wandte sich nicht grundsätzlich gegen die Umweltpolitik der Regierung, wenngleich hier die Umweltschutzprogrammatik im Vergleich zu den anderen Parteien weniger konkret blieb.87
Das neu gebildete Umweltkabinett sollte zunächst ein Gesamtprogramm für den Umweltschutz erarbeiten.88 Bereits zu Beginn des Jahres 1970 regte Kanzleramtsminister Ehmke an, ähnlich wie auch für andere Schwerpunktbereiche der sozialliberalen Reformpolitik ein umweltpolitisches Sofortprogramm zu erstellen.89 Der Kabinettsausschuss erhielt vordringlich diese Aufgabe und legte innerhalb weniger Wochen ein Papier vor, das am 17. September 1970 vom Bundeskabinett gebilligt wurde.90 Etwa ein Jahr später, am 14. Oktober 1971 folgte das umfassendere Umweltprogramm der Bundesregierung. Daran hatten nicht nur die einschlägigen Bundesressorts mitgearbeitet, sondern auch eine Reihe von thematischen Projektgruppen, die aus »Sachverständigen aus der Wissenschaft, den Ländervertretungen und der Wirtschaft« zusammengesetzt waren.91 Die Formulierung und Präsentation dieses umfassenden umweltpolitischen Reform- und Gesetzesprogramms fand anfänglich über alle politischen Lager hinweg Zustimmung.92
Das umweltpolitische Sofortprogramm und das Umweltprogramm waren von einem bemerkenswerten Elan und Optimismus geprägt. Dennoch wurden mögliche Auswirkungen des Umweltschutzes auf die Konjunktur von der Bundesregierung zu diesem frühen Zeitpunkt bereits reflektiert. Einflussreich sollte ein im Vorfeld des Umweltprogramms vom Bundesministerium des Innern eingeholtes Gutachten von Klaus Ackermann, Horst Geschka und Detlev Karsten werden, das eine Belastung des Bruttosozialprodukts durch Umweltschutzmaßnahmen von 1,8 % für die Jahre 1971 bis 1975 prognostizierte.93 Angesichts der zu Beginn der 1970er Jahre noch guten Konjunkturlage wurde dies als vertretbar in Kauf genommen. Das Umweltprogramm formulierte nachdrücklich, den mit Umweltschutzmaßnahmen verbundenen »Mehrausgaben und finanziellen Lasten für die öffentliche Hand, den einzelnen Unternehmer und auch für die gesamte Volkswirtschaft« stünden »große Vorteile für die Allgemeinheit gegenüber«, so dass der Nutzen die Kosten rechtfertigen könne.94
Die sozialliberale Koalition, die sich als Akteur eines neuen und fortschrittsorientierten Ansatzes im Umweltbereich präsentierte, konnte innerhalb kurzer Zeit eine Reihe von neuen Umweltgesetzen zur Verabschiedung bringen: das Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm (Inkrafttreten am 3. April 1971), das Benzinblei-Gesetz (Inkrafttreten am 8. August 1971), das Abfallbeseitigungsgesetz (Inkrafttreten am 11. Juni 1972), das DDT-Gesetz (Inkrafttreten am 10. November 1972), das Bundesimmissionsschutzgesetz (Inkrafttreten am 1. April 1974), das Gesetz über Umweltstatistiken (Inkrafttreten am 18. August 1974) und das Wasserabgabengesetz (Inkrafttreten am 1. Januar 1978).95 Von grundlegender Bedeutung war darüber hinaus, dass 1972 durch eine Grundgesetzänderung die bisherigen Bundeskompetenzen auf den Gebieten von Naturschutz, Landschaftspflege, Raumordnung und Wasserhaushalt um die Bereiche Abfallbeseitigung, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung erweitert wurden.96 Nahezu alle Umweltgesetze fußten auf dem ordnungsrechtlichen Prinzip der Formulierung klarer Ge- und Verbote. Lediglich das erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verabschiedete Wasserabgabengesetz stand in der Logik marktwirtschaftlicher Politikinstrumente.
Auch auf institutioneller Ebene vollzogen sich weitere wichtige Neuerungen: Hervorzuheben ist die Gründung des Sachverständigenrats für Umweltfragen, der den Auftrag hatte, die Bundesregierung wissenschaftlich zu beraten und der 1972 seine Arbeit aufnahm. Ebenfalls von großer Bedeutung war 1973/74 die Einrichtung einer neuen Umweltbehörde, des Umweltbundesamtes, dessen Tätigkeiten sich auf den Vollzug von Umweltgesetzen, auf die Information der Öffentlichkeit und auf die wissenschaftliche Unterstützung der Bundesregierung erstreckten. Einer verbesserten gesellschaftlichen Verankerung der Umweltpolitik diente die Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen im Jahr 1971, die durch Diskussionsveranstaltungen den Austausch zwischen Politik, Verwaltung, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft förderte.97
Im Vergleich zum Vereinigten Königreich hebt sich der bundespolitische Aufbruch im Bereich der Umweltpolitik um 1970 in mehrfacher Hinsicht ab. Zum einen sticht die oben beschriebene Formulierung eines umfassenden Maßnahmen- und Gesetzgebungsprogramms ins Auge, das konkrete Schritte zur systematischen Implementierung einer »neue[n] Grundlage […] für eine Umweltpolitik auf lange Sicht« benennt.98 Ein derartiges Programm sowie eine solch schnelle Abfolge neuer Umweltgesetze hat es zeitgleich im Vereinigten Königreich nicht gegeben. Zum anderen fällt auf, dass die Bundesregierung auch abstrakt reflektiert hat, auf welchen Grundprinzipien die bundesdeutsche Umweltpolitik beruhen sollte, und dies in verschiedenen Publikationen niedergelegt hat.
Das Umweltprogramm von 1971 stellt die »Überzeugung« der Bundesregierung fest, »daß Umweltpolitik den gleichen Rang hat wie andere große öffentliche Aufgaben, zum Beispiel soziale Sicherheit, Bildungspolitik oder innere und äußere Sicherheit«.99 »Umweltpolitik« wird definiert als »Gesamtheit aller Maßnahmen, die notwendig sind,
»1. um dem Menschen eine Umwelt zu sichern, wie er sie für seine Gesundheit und für ein menschenwürdiges Dasein braucht,
2. um Boden, Luft, Wasser, Pflanzen- und Tierwelt vor nachteiligen Wirkungen menschlicher Eingriffe zu schützen und
3. um Schäden oder Nachteile aus menschlichen Eingriffen zu beseitigen«.100
An erster Stelle wird somit der Mensch sowie dessen Gesundheit und Lebensqualität als schützenswert bezeichnet.101 Dabei ist die Annahme einer Grundrechtsrelevanz des Umweltschutzes klar erkennbar – postuliert doch Art. 1 Abs. 1 GG die Unantastbarkeit des »Würde des Menschen« und Art. 2 Abs. 2 GG die Verpflichtung des Staates zum Schutz des »Recht[s] auf Leben und körperliche Unversehrtheit«. Die Forderung nach dem Schutz des Menschen ist in dieser Definition jedoch eng verbunden mit dem Gedanken, dass die natürliche Umwelt – »Boden, Luft, Wasser, Pflanzen- und Tierwelt« – an sich vor negativen Folgen menschlichen Handelns zu bewahren ist.
Verursacherprinzip, Vorsorgeprinzip und Kooperationsprinzip, die bis Ende der 1970er Jahre zu den Grundprinzipien der bundesdeutschen Umweltpolitik avancierten, kristallisierten sich in der ersten Hälfte des Jahrzehnts schrittweise als Leitlinien der Politik heraus. In ihrem Umweltbericht von 1976 formulierte die Bundesregierung diese Prinzipien erstmals als zusammenhängendes Leitbild, das in der Folge konsequent weiterverfolgt werden sollte.102 Wesentliche Ansätze der Trias waren bereits im Umweltprogramm von 1971 angelegt.
Explizit im Umweltprogramm von 1971 eingeführt wird das Verursacherprinzip, das in einer marktwirtschaftlichen Logik wurzelt. Wie in Kapitel 6 zu zeigen sein wird, war die Etablierung dieses Prinzips in den frühen 1970er Jahren von der US-amerikanischen Umweltökonomie beeinflusst. Das in der Bundesrepublik vorherrschende gesellschafts- und wirtschaftspolitische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft begünstigte die Rezeption entsprechender Ideen.
Das Umweltprogramm legt ausführlich dar, dass das Verursacherprinzip von einer gesamtvolkswirtschaftlichen Betrachtung ausgeht: Durch Verschmutzung und Übernutzung der Umwelt und damit einhergehende Schäden entstünden hohe »Wertverluste«, die »weder in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung noch in den einzelnen Sektoren der Volkswirtschaft ausgewiesen« würden.103 In der Volkswirtschaftslehre werden derartige Wertverluste allgemein als externe Kosten bezeichnet; allerdings taucht der damals bereits gängige Begriff im Umweltprogramm noch nicht auf. Ohne staatliche Intervention, so das Umweltprogramm, blieben die »Kosten der Umweltbelastungen […] vom Produkt oder der Leistung losgelöst« und würden »der Allgemeinheit angelastet«. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung gelte es aber »grundsätzlich alle Kosten den Produkten oder den Leistungen« zuzurechnen, »die die einzelnen Kosten verursachen«.104 Das Problem, um das es ging, war somit – wenngleich auch dieser Begriff im Umweltprogramm nicht zu finden ist – das Problem der Internalisierung externer Kosten, das gerade zu diesem Zeitpunkt in der aufkommenden Umweltökonomie sowohl in der Bundesrepublik als auch im internationalen Kontext intensiv diskutiert wurde.105