Enge Bande - Reinhard Conny - E-Book

Enge Bande E-Book

Conny Reinhard

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Beschreibung

Ein bindungsunfähiger Filou der Vater, die Mutter alkoholkrank und schwermütig. Seit frühester Kindheit lasten familiäre Probleme auf Nadine. Immer wieder kämpft sie mit Dämonen der Vergangenheit. Ihr Leben erfährt jedoch eine positive Wende, als sie die attraktive, ausgeglichene Anja kennenlernt. Die beiden Frauen genießen ihr gemeinsames Glück. Doch was niemand von ihnen ahnt: Anja ist die uneheliche Tochter von Nadines Vater.

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Reinhard

Enge Bande

Inhaltsverzeichnis

Enge Bande

Enge Bande

Über die Autorin

Impressum

Zitat

Enge Bande

Gedenken

I: Die Liebe ist ein seltsames Spiel

II: Tauwetter

III: Furchtbare Enthüllung

IV: Der Weg aus der Dunkelheit

Die Welt dreht sich weiter

Danksagung

Aus unserem Programm

Das Leuchten des Almfeuers

SIRIUS B: Grenzbegegnung in der Fremde (1)

Lesbian Summer Dreams

Über Lesben, Lebkuchen und Leidenschaft

Conny Reinhard

Enge Bande

Roman

Conny Reinhard, Enge Bande

© HOMO Littera Romy Leyendecker e. U.,

Am Rinnergrund 14, A – 8101 Gratkorn,

www.HOMOLittera.com

Email: [email protected]

Coverfoto:

© fotonazario – Fotolia.com

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet.

Handlung, Charaktere und Orte sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Die geschilderten Handlungen dieses E-Books sind fiktiv! Im realen Leben gilt verantwortungsbewusster Umgang miteinander und Safer Sex!

Originalausgabe: April 2016

ISBN PDF: 978-3-902885-87-6

ISBN EPUB: 978-3-902885-88-3

ISBN PRC/Mobi: 978-3-902885-89-0

ISBN PRINT: 978-3-902885-86-9

Über die Autorin

CONNY REINHARD (*1975) wohnt in Saarbrücken. Nach Ausbildung und Studium im ökonomischen Bereich begann sie ihre Werktätigkeit bei einem sozialen Träger. Darüber hinaus engagiert sie sich seit vielen Jahren u.a. in schwul-lesbischen Bezügen, für die sie auch redaktionell und gestalterisch tätig ist. Schwerpunkte hierbei sind Emanzipationspolitik und kommunale Kulturarbeit. Zu erwähnen ist besonders ihre Mitarbeit bei den Cinédames. Mit ihrem Debütroman „Das Leuchten des Almfeuers“ (HOMO Littera, 2013) schrieb sie sich in zahlreiche Leserherzen und landete auf Platz 1 der Amazon-Bestseller-Liste für lesbische Titel.

Veröffentlichungen

Das Leuchten des Almfeuers (2013)

Wasserspiele, in: Lesbian Summer Dreams (2013, Anthologie)

Über Lesben, Lebkuchen und Leidenschaft (2014, Anthologie)

Sirius B – Grenzbegegnung in der Fremde (2015, Heftroman-Serie, Teil 1)

Weitere Informationen zu Conny Reinhard: www.conny-reinhard.de

Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.

Marie von Ebner-Eschenbach

Gedenken

Heute hatte ihr Vater Geburtstag. Es schien Nadine, als würde der Oktober sich von seiner schönsten Seite zeigen, extra zu Ehren Hans-Georg Gerlachs. Der Regen der letzten Tage war einem klaren, blauen Himmel gewichen, und die Sonne schien warm und freundlich. Ihre Strahlen fielen hell auf die bunten Blätter und ließen sie farbenfroh leuchten.

Nadine schloss ihre Lider. Ja, das wäre nach seinem Geschmack gewesen. Er, der den Herbst nie gemocht hatte, weil er ihm immer zu grau, nass und ungemütlich vorgekommen war.

Gedämpftes Flüstern der vorbeigehenden Menschen drang an ihre Ohren – leise Stimmen, angemessen für diesen stillen Ort. Doch in ihrer Vielzahl kamen sie Nadine vor wie lautes Geplapper auf einem belebten Marktplatz.

Auch das hätte ihm gefallen. Er war nie ein Mann der Besinnlichkeit gewesen. Er hatte stets den Trubel und die unbeschwerte Ausgelassenheit geliebt.

Seit Juli war er nicht mehr da. Sein Tod war im wahrsten Sinne des Wortes plötzlich und unerwartet gekommen. Hätte er sonst all seine Energie in die neue Fotoausstellung gesteckt? Jene Ausstellung, die nun mit Verspätung dank des Engagements seiner Lebensgefährtin Christa und seiner jüngsten Tochter in drei Tagen trotzdem stattfand – jedoch nicht als Vernissage über seine beeindruckenden Reiseimpressionen, sondern zu seinem Gedenken.

Niemand, der Hans-Georg Gerlach gekannt hatte, hätte es für möglich gehalten, dass der agile, unternehmungslustige Mann seinen 62. Geburtstag nicht erleben würde. Jetzt besuchte Nadine ihn auf dem Friedhof und feierte den Ehrentag nicht mit ihm in einem guten Restaurant wie im Jahr zuvor. Dabei hätte es nach den Konflikten in der Vergangenheit noch vieles nachzuholen gegeben, besonders nach der Geschichte damals – vor drei Jahren ...

Es war Hochsommer gewesen, als es mit ihrem Vater zu Ende ging. Nadine kam es wie gestern vor.

Auf dem Weg zum Arzt war Hans-Georg Gerlach bewusstlos auf offener Straße zusammengebrochen. Seine Herzschwäche hatte sich trotz der Medikamente schlagartig verschlimmert. Nadine befand sich in München auf einer Fortbildung, als sie davon erfuhr. Alarmiert reiste sie ab. Die stundenlange Bahnfahrt zerrte an ihren Nerven, und erst weit nach Mitternacht erreichte sie endlich das Krankenhaus. Niemand von der Familie war noch da, das Klinikpersonal hatte sie nach Hause geschickt. Eine Nachtschwester wollte sie zuerst nicht mehr auf die Intensivstation lassen, doch sie setzte sich durch.

Ihr Vater war an diversen Apparaturen angeschlossen, sein Körper bleich und ausgemergelt, dem Tode näher als dem Leben. Sein Anblick entsetzte Nadine zutiefst. Er lächelte, als er sie sah.

Nadine riss sich zusammen, um nicht loszuweinen. Angestrengt erwiderte sie sein Lächeln und setzte sich zu ihm ans Bett. Mit einer Zuversicht, die sie nicht empfand, flüsterte sie: „Du schaffst das, Papa.“

„Dieses Mal leider nicht.“ Schwach schüttelte er seinen Kopf. „Aber es ist in Ordnung. Ich habe ein erfülltes Leben gehabt. Mit Höhen und Tiefen. Wer kann das schon von sich behaupten? Und das Wichtigste ist, dass wir beide wieder zueinandergefunden haben. Ich bin bereit zu gehen.“

„Nein, Papa. Du darfst uns nicht verlassen. Wo doch erst so kurz alles gut ist.“ Nadine drückte eindringlich seine kalte Hand.

„Schau, Prinzessin, ich wäre noch gerne länger bei euch, aber meine Zeit ist vorbei. Seid nicht traurig, ich sterbe als glücklicher Mann.“ Seine andere Hand legte sich auf ihre und streichelte sie tröstend.

Nadine konnte ihm nicht antworten. Ihre Tränen erstickten all die Worte, die sie ihm noch sagen wollte.

Am frühen Morgen fiel Hans-Georg ins Koma. Der behandelnde Arzt rief an, dass sie so schnell wie möglich kommen sollten, um sich von ihm zu verabschieden. Seine Familie und Christa trafen gerade rechtzeitig ein, als sein Herz für immer aufhörte zu schlagen.

Nadine vermisste ihn. Gequält seufzte sie auf. Sie wollte nicht weinen, ihrem Vater wäre das nicht recht gewesen. Er hatte einmal gesagt, dass an seinem Grab nicht geheult werden sollte. Viel lieber sollte an die schönen Zeiten gedacht werden und daran, dass er durch die Erinnerungen weiterleben würde. Diesen Wunsch wollte sie ihm erfüllen und versuchen, tapfer zu sein.

Nadine seufzte abermals, das Geplapper neben ihr wurde stärker. Hastig verließ sie den Friedhof. Doch zurück in ihre Wohnung wollte sie nicht, sie brauchte noch frische Luft. Wie so oft, wenn sie traurig war, spazierte sie zum nahegelegenen Flussufer.

Träge floss der Strom durch sein Bett. Die Promenade hingegen wurde von wahren Menschenmassen bevölkert, die vom sonnigen Wetter angelockt wurden. Ein ruhiger Spaziergang war unmöglich. Nadine setzte sich deshalb auf eine Bank und rieb sich ihr linkes Handgelenk. Es juckte fürchterlich, wie immer, wenn es zu einem Wetterumschwung kam. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Narben. Auch sie gehörten zu der Geschichte, zu jenem Drama damals.

Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und richtete ihre Augen auf das Wasser, das sie gar nicht richtig wahrnahm – so wie die Menschen, die um sie flanierten. Ihr Bewusstsein tauchte tief hinab in die Vergangenheit, hinab in den Dezember vor rund drei Jahren, als ihr Vater, andere Menschen und sie in einen verschlingenden Strudel der Ereignisse und Gefühle gerieten.

I

Die Liebe ist ein seltsames Spiel

Nass fuselte der Schnee vom Himmel auf die belebte Fußgängerzone. Nadine fuhr sich unwirsch übers Gesicht, um die winzigen Flocken zu vertreiben. Sie musste durch die ganze Einkaufsstraße laufen, bis sie endlich nach einem harten, anstrengenden Arbeitstag zu Hause ankam.

In der Bibliothek hatte der pure Stress geherrscht. Zu allem Überfluss bekam sie nun den ungefilterten weihnachtlichen Kaufrausch in voller Wucht mit, inklusive der Massen von Passanten, die ihr den Weg versperrten oder sie anrempelten. Penetrant blinkten die Weihnachtsdekorationen, die Musik schien aus allen Richtungen zu schallen, und in der Luft lag ein dichter Geruchsteppich aus Glühwein, Plätzchen und feuchter, muffiger Kleidung. Nadine spürte, wie sich das Dröhnen in ihrem Kopf langsam zu einem ausgemachten Schmerz manifestierte. Wäre sie bloß schon zu Hause und könnte sich von diesem nervigen Tag in der Badewanne erholen.

Ihr Handy klingelte. Nadine kramte es aus ihrer Handtasche, drückte die Anruftaste und hielt es an ihr Ohr, da dröhnte ihr bereits die Stimme ihres Bruders entgegen: „Hi Schwesterherz, ich bin’s. Ich ruf’ wegen Mamas Geschenk an.“

Nadine unterdrückte mühsam ein Aufstöhnen. Sie wusste, was nun kam.

„Hallo. Was ist damit?“, fragte sie schicksalsergeben. Bestimmt wollte Daniel sie bitten, dass sie sich entgegen der Absprache darum kümmern sollte.

Es kam wie erwartet.

„Das Reisebüro in unserem Ort hat nichts Vernünftiges im Angebot, und ich bin im Stress. Bettina hat bis Weihnachten Nachtschicht, und für den Kleinen müssen wir auch noch Geschenke kaufen. Ich weiß, ich hab’s versprochen …“ setzte Daniel an.

Nadine kam ihm entgegen. „Okay, okay, ich werde den Gutschein besorgen.“

Auf lange Diskussionen hatte sie keine Lust, und schließlich sollte die Überraschung für ihre Mutter nicht gefährdet werden. Da kümmerte sie sich lieber selbst darum.

„Aber ihr holt sie übermorgen am Bahnhof ab?“, fragte sie in vorwurfsvollem Ton.

„Klar, das habe ich ihr schon am Telefon versprochen. Um 14.00 Uhr kommt der Zug ... Dank dir, Dinchen. Du bist ein Schatz. Tschüss.“

Bevor Nadine noch etwas erwidern konnte, hatte Daniel das Gespräch beendet.

Das war ihr großer Bruder, wie er leibte und lebte. Immer in Eile, und immer gerne bereit, anderen unliebsame Aufgaben zu übertragen. Seit er mit Bettina seine kleine Familie gegründet hatte, hatte er sich etwas gebessert, er war schließlich stolzer Vater und Ehemann, doch als sich die Krankheit ihrer Mutter verschlimmert hatte und sie in die Klinik eingeliefert worden war, hatte Nadine fast die ganze Arbeit und Organisation erledigt: die Gespräche mit den Ärzten, einen geeigneten Reha-Platz finden et cetera. Sie war die unverheiratete Schwester, die außer ihrem Job keine Verpflichtungen hatte. Nur die Blumen in der Wohnung ihrer Mutter wurden von Daniel gegossen.

Das wäre auch noch schöner gewesen, schließlich lebten beide im selben Dorf, während Nadine dreißig Kilometer weiter weg wohnte.

Trotzdem hatte sie es satt. Ständig sollte sie für alles und jeden Verständnis haben und sich danach richten. Wo blieb sie dabei? Besonders dieses Jahr. Es war nervenaufreibend gewesen: In der Bibliothek hatte sie ein neues Aufgabengebiet erhalten, dann hatte sich Sybille im Juni endgültig von ihr getrennt und schließlich der Zusammenbruch ihrer Mutter.

„Ich schwelg’ ja ganz toll im Selbstmitleid!“, grinste Nadine. Dabei hatte sie das alles irgendwie geschafft.

Ein Mann stieß ihr beim Vorbeihasten mit seinen Einkaufstüten gegen den Arm. Er entschuldigte sich nicht.

„Alle sind im Stress. Und du blödes Arschloch auch“, flüsterte sie, ohne es grimmig zu meinen. Müde zuckte sie mit den Schultern. Zwanzig Meter vor ihr gab es eine Filiale von Geo Voyages, mit ein bisschen Glück hatten die etwas Passendes für ihre Mutter. Die Badewanne musste noch ein Weilchen warten.

Überraschenderweise war im Reisebüro nicht viel los. Zwei Pärchen wurden bedient, ansonsten war Nadine die einzige potenzielle Kundin. Die Leute gönnten sich wohl lieber Jahreskarten für die Bücherei als eine Ferienreise.

Ist auch billiger, dachte Nadine und spürte unerwartet ihre Waden, die vom stundenlangen Stehen und Herumlaufen pochten. Sie schaute sich die bunten Prospekte an, und unwillkürlich überkam sie sehnsüchtiges Fernweh.

Ein kleines Häuschen auf den Malediven, direkt am Strand, begann sie zu träumen. Keine Kunden, keine Verpflichtungen, kein schmuddeliger Winter, kein Weihnachtsterror, nur sie allein mit den Wellen des Meeres, der warmen Sonne, einem kühlen Drink und ein gutes Buch in der Hand …

Eine warme, freundlich klingende Frauenstimme hinter ihr holte Nadine von ihrer Traumreise zurück in die Wirklichkeit: „Guten Abend, kann ich Ihnen behilflich sein, oder möchten Sie sich noch umschauen?“

Nadine legte die Broschüre, die sie in den Händen hielt, auf ihren Platz zurück. „Guten Abend“, erwiderte sie, während sie sich umdrehte. „Ich komme wegen einer geplanten Wochenendreise für zwei nach Paris. Haben Sie da etwas Schönes im Angebot?“ Sie sah der Angestellten ins Gesicht. Ihre Augen weiteten sich, und ihr Mund verzog sich zu einem feinen Lächeln. Die Frau war attraktiv – verflucht attraktiv sogar.

Nadine strich sich mit der Zunge über die Lippen. Mit den mehr roten als blonden Haaren, den großen kornblumenblauen Augen und den lustigen Sommersprossen auf den Wangen sah die Frau wie eine erwachsene Pippi Langstrumpf aus. Eine uniformierte Pippi Langstrumpf freilich, denn sie trug wie ihre zwei Kolleginnen einen dunkelblauen Hosenanzug und eine farblich dazu abgestimmte Bluse, an deren Kragen das grüne Geo Voyages-Logo eingestickt war.

„Ja, da haben wir einiges im Angebot.“ Frau Anja Naumann, so wies ein dezentes Schildchen am Revers ihren Namen aus, zeigte in Richtung eines freien Schreibtisches. „Wenn Sie bitte Platz nehmen, dann stellen wir Ihnen ein Programm nach Ihren Wünschen zusammen.“ Sie legte den Kopf ein wenig schief und lächelte.

Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick, bis die Angestellte wegschaute, um ihren Platz hinter dem Tisch einzunehmen. Ihr Gang war dabei federnd und anmutig. Sie hatte endlos lange Beine, und ihre Figur war schlank, fast zierlich, aber auch irgendwie sportlich.

Nadine ging auf den ihr angewiesenen Besucherstuhl zu. Sie betrachtete Anja Naumann genauer, während sich diese setzte und etwas in ihren Computer eintippte. Die Hände so filigran und sehnig wie die einer Klavierspielerin, die Fingernägel kurz geschnitten. Sie hatte ein schmales Gesicht, das ungeschminkt und von leicht lockigen, stufig geschnittenen Haaren umrahmt war, die ihr knapp über das Kinn gingen. Nadine hätte ihr Gegenüber am liebsten ewig betrachtet und studiert.

Frau Naumann schaute auf, und erneut umspielte ihre Mundwinkel ein Lächeln. „So, entschuldigen Sie. Ich bin jetzt so weit“, sprach sie in routiniertem Ton. „Ihre Paris-Reise: Soll sie über zwei, drei Tage oder eine ganze Woche gehen? Natürlich bieten wir auch Tagesausflüge an.“

„Über drei Tage.“

Mehr war nicht drin. Nadine und Daniel legten zwar zusammen, um den Herzenswunsch ihrer Mutter zu erfüllen, aber beide waren sie keine Großverdiener.

„Haben Sie an einen bestimmten Termin gedacht, oder steht er noch offen? Wir haben anlässlich des Valentinstags ein Romantik-Wochenende im Angebot.“ Die Angestellte schien sie zu mustern. Ihre Blicke glitten über Nadines Gesicht zu den Händen.

Mit Frau Naumann könnte sie sich durchaus einen Romantik-Trip vorstellen, dachte sich Nadine mit einem Anflug von Verträumtheit. Hastig räusperte sie sich. „Nein, der Termin ist noch offen. Die Reise ist ein Geschenk von meinem Bruder und mir für unsere Mutter. Ist es möglich, sie als Gutschein zu buchen und den Zeitpunkt später zu bestimmen?“

„Ah, für Ihre Mutter.“ Das Lächeln der hübschen Rothaarigen intensivierte sich, wurde wärmer und persönlicher.

Nadine kam es ungewöhnlich vertraut vor. Hatten sie sich bereits einmal getroffen? Nein, das konnte nicht sein, an diese Frau hätte sie sich erinnert. Außerdem schien es Frau Naumann wohlwollend zur Kenntnis genommen zu haben, dass sie die Reise nicht für sich und des vermuteten Mannes buchen wollte. Oder wie sollte Nadine diesen Ausruf verstehen? Ihr Interesse war nun noch mehr angefacht.

„Natürlich, das ist überhaupt kein Problem. Wir können es so organisieren, dass mehrere Termine zur Auswahl stehen“, fuhr Frau Naumann fort. Sie drehte den Monitor und zeigte Nadine die Gestaltungsmöglichkeiten.

Gemeinsam stellten sie die Reise zusammen, suchten Transportmittel, Besichtigungen, Hotel und Routen der Sightseeing-Touren aus. Eigentlich tat das eher Frau Naumann, Nadine hatte viel zu große Mühe sich zu konzentrieren. Die Frau schlug sie förmlich in ihren Bann. Fasziniert hörte sie ihr zu, wie sie diverse Sehenswürdigkeiten beschrieb, und stellte Fragen, damit sie möglichst lange der samtenen Stimme lauschen konnte. Doch leider war die Buchung schnell erledigt.

„Paris ist wirklich eine wunderschöne Stadt. Ich war vor einigen Jahren mehrmals dort“, erzählte Frau Naumann, während sie wartete, dass der Drucker die notwendigen Papiere ausspuckte.

„Da kennen Sie mit Sicherheit Geheimtipps, wo der klassische Pauschaltourist nicht hinkommt“, sagte Nadine, um den unweigerlichen Abschied hinauszuzögern.

„Wo die kleinen, typischen Bistros liegen, in denen man nicht über 5 Euro für einen Milchkaffee bezahlen muss? Ja, das ist der Vorteil meines Berufs. Ich gebe Ihnen gerne Namen und Adresse von einem Lokal, das Ihrer Mutter gefallen könnte.“ Sie schrieb etwas auf einen Zettel und steckte ihn zusammen mit den Buchungsunterlagen in ein Kuvert.

„Das ist sehr nett von Ihnen“, wisperte Nadine angetan. Schade, dass Frau Naumann nicht auch ihre Telefonnummer notiert hatte.

Die Angestellte überreichte ihr den Umschlag, und ihre Finger berührten sich sanft. Nadines Herzschlag setzte kurz aus, in ihrem Magen tummelte es sich. Sie schauten sich tief in die Augen, und die Zeit stand für einen Augenblick still. Erst, als das Telefon am Schreibtisch nebenan klingelte, schreckten sie hoch. Irritiert schaute Frau Naumann in seine Richtung.

Nadine steckte den Gutschein in ihre Tasche und stand vom Stuhl auf. „Danke schön.“ Ihre Stimme glich einem Hauch.

Mit einem geheimnisvollen Lächeln erhob sich Frau Naumann ebenfalls. „Ich habe zu danken. Ihrer Mutter wünsche ich eine gute Reise.“ Sie reichte ihr die Hand.

Nadine nahm sie gerne an, nur, um sie noch einmal zu berühren. „Auf Wiedersehen. Und einen schönen Feierabend.“

Frau Naumann schenkte ihr ein letztes Lächeln: „Danke, Ihnen auch. Auf Wiedersehen.“

Damit drehte sich Nadine um und verließ das Reisebüro. Draußen stellte sie den Kragen ihrer Jacke hoch und sah durchs Schaufenster ins Ladeninnere. Sie wollte einen letzten Blick auf die umwerfende Frau erhaschen.

Auch Frau Naumann, die mittlerweile vor dem Schreibtisch stand, schaute zu ihr. Ihre Blicke trafen sich abermals, Nadines Knie wurden weich. Sie lachten sich zu und winkten, dann kam eine Kollegin mit einem Ordner zu Frau Naumann und zerstörte den magischen Moment. Nadine seufzte und machte sich auf den Weg nach Hause. Die Badewanne wartete auf sie – sie wusste schon jetzt, von wem sie träumen würde.

***

Zwei Tage später, Samstagnachmittag

Nadine parkte auf dem Vorplatz des kleinen Dorfbahnhofs und schaute auf die Uhr. In knapp einer Viertelstunde kam ihre Mutter aus der Kurklinik heim. Nervös zündete sie sich eine Zigarette an. Seit Regine Gerlachs Abreise hatten sie nur miteinander telefoniert, Besuche waren nicht erwünscht gewesen, sodass Nadine ihre Mutter das erste Mal seit über drei Monaten wiedersah. Ob es ihr gut ging?

Nadine sah ihr mit ihren schulterlangen, leicht gelockten und dunkelbraunen Haaren, den fein geschnittenen Gesichtszügen und den weiblichen, aber doch schlanken Proportionen sehr ähnlich. Sie war die jüngere Ausgabe ihrer Mutter. Nur die Augen waren andersfarbig. Regine hatte rehbraune Augen, Nadines waren hellgrün wie die ihres Vaters.

Als vor Monaten die Situation eskalierte und Regine Gerlach ins Krankenhaus eingeliefert wurde, sah sie weder Nadine und – noch schlimmer – sich selbst ähnlich. Es war eine furchtbare Zeit gewesen und Regine hatte die Hölle durchgemacht. Auch noch bei ihrem Abschied war sie ein Schatten ihrer selbst gewesen. Die Haare hingen ihr strähnig hinunter, der Körper war ausgemergelt und das Gesicht fleckig und aufgedunsen. Nichts erinnerte mehr an die elegante Mittfünfzigerin, die sie gewesen war.

Ein großer, grüner Kombi parkte neben Nadine ein und unterbrach ihre Gedanken. Daniel und seine Kleinfamilie winkten ihr fröhlich zu. Nadine erwiderte lachend den Gruß. Sie drückte ihre Zigarette aus und stieg aus ihrem Auto. Daniel erschien pünktlich, was keine Selbstverständlichkeit war. Sie nahm es als ein gutes Omen.

Zu viert warteten sie am Bahnsteig. Leon, Daniels vierjähriger Sohn, hielt stolz ein mit Blümchen und Herzchen verziertes Schild vor sich, auf dem mit bunten Buchstaben „Herzlich Willkommen zurück, liebe Oma Regine!“ stand. Jeden Augenblick kam der Zug an.

Leon hörte ihn zuerst. Aufgeregt hüpfte er auf der Stelle, und schaute gebannt in Richtung der heranfahrenden Bahn.

Quietschend hielt sie an. Zwei Türen öffneten sich, aus der einen, die etwa auf der Höhe der Wartenden war, sprang der Schaffner heraus, der prüfend nach Ein- und Aussteigenden blickte. Zwanzig Meter weiter stieg ein kleiner, dicklicher Mann mit einer karierten Schirmmütze aus, der mit Reisetaschen voll bepackt war. Von ihrer Mutter war weit und breit nichts zu sehen.

„Wo ist Oma Regine?“, krähte Leon ungeduldig.

„Ich weiß auch nicht“, antwortete seine Mutter. Sie wandte sich an Nadine. „Sie hat doch gesagt, dass sie mit diesem Zug kommt, oder?“

„Ja, heute Morgen hat sie mir das noch bestätigt.“ Nadine schaute zu dem Mann, dem zwei weitere Koffer aus dem Zug gereicht wurden. Er stellte sie zu den Taschen und richtete sich wieder auf. In diesem Moment erschien Regine. Der Schirmmützenträger bot ihr galant seine Hand an. Lächelnd ergriff Regine sie und stieg die Stufen hinunter. Dann deutete der kleine Mann eine Verbeugung an. Huldvoll nickte sie ihm zu. Sie erschienen Nadine wie Gräfin und treuer Diener, sie strahlten sich regelrecht an. Ihre Mutter blickte sich erst danach suchend um.

Mit munteren Rufen rannte Leon zu ihr. Die drei Erwachsenen folgten ihm fröhlich winkend in einem gemächlicheren Tempo.

Ihre Mutter sah gut erholt aus, wie Nadine erleichtert feststellte. Das Gesicht wirkte frisch und gesund, und sie strahlte längst verloren geglaubte Zuversicht aus. Sie hatte Make-up aufgetragen, und die Haare waren wie eh und je zu einem eleganten Knoten zusammengebunden.

Regine lachte, als sie ihren Enkel hochhob und sich von ihm herzen ließ.

„Uff, mein kleiner Mann, du bist aber schwer geworden“, klang ihre Stimme warm zu ihnen.

Ihr Begleiter hatte sich in der Zwischenzeit von ihr entfernt und zwei Kofferwagen besorgt. Nun fing er an, das Gepäck darauf zu packen, auch das von Regine. Seine runden Bäckchen wurden ganz rot von der Anstrengung.

Nadine wunderte sich über dieses Verhalten. Warum war der Mann so zuvorkommend?

Daniel schien die gleichen Gedanken zu haben.

„Was ist denn das für ein penetranter Typ?“, flüsterte er ihr verstohlen zu.

Sie zuckte mit den Schultern. Zweifellos war der Kerl ein Verehrer ihrer Mutter. Nadine musterte ihn genauer, während Frau Gerlach sich Leons Schild zeigen ließ und Bettina und Daniel mit einer dicken Umarmung begrüßte. Mister Kofferträger grinste versonnen zu ihnen und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dabei lüftete er kurz seine Mütze und eine gewaltige Halbglatze kam zum Vorschein. Seine verbliebenen Haare waren fast schwarz. Die braune Cordhose schlotterte ein wenig um die Beine.

Wenn Nadine es richtig erkannte, trug er ein gestreiftes Hemd unter einem grauen Pullunder. Das Jackett war in einem dunklen Ton. Sie schätzte den Kerl ungefähr gleich alt wie ihre Mutter. Mit seinem runden Bauch und Kopf sowie den vielen Lachfältchen wirkte er wie die typische Klischeevorstellung eines fröhlichen italienischen Pizzabäckers – nicht gerade wie ein Sexsymbol.

„Lass dich drücken, mein Mädchen“, unterbrach Regine Nadines Beobachtungen und schloss sie in die Arme.

„Es tut gut, dich wieder bei uns zu haben, Mama.“ Nadine gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Du siehst toll aus.“

„Danke, ich fühl mich auch so.“ Sie löste sich etwas und erklärte feierlich: „Bin ich froh, wieder bei euch zu sein.“

„Wir auch, Mama, wir auch!“, erwiderte Daniel. „Kommt, wir fahren nach Hause, bevor wir hier noch Wurzeln schlagen.“

Regine nickte und hakte sich bei Mister Kofferträger ein. Damit rückte sie ihn näher an die kleine Gruppe. „Jetzt hätte ich beinahe etwas vergessen. Meine Lieben: Das ist Werner Michalski. Wir haben uns in der Kur angefreundet. Stellt euch vor, er wohnt im selben Ort wie wir.“ Sie wandte sich lächelnd an ihn. „Werner, das ist meine Familie.“

Herr Michalski schüttelte überschwänglich jedem die Hand, auch dem kleinen Leon, den er mit Sportsfreund titulierte. Er hob den Jungen auf seinen Kofferwagen und setzte sich mit ihm in Bewegung. Leon jauchzte vor Vergnügen, seine Oma ging neben ihn, um sicherzugehen, dass er nicht hinunterfiel.

Daniel und Nadine nahmen den anderen Wagen und folgten ihnen mit etwas Abstand.

Bettina grinste. „Das war mit Sicherheit ihr Kurschatten in der Klinik.“

„Ich hätte Mama einen besseren Geschmack zugetraut“, murrte Daniel. „Er wird hoffentlich bald die Biege machen. Stellt euch vor, der hängt in Zukunft wie eine Klette an Mama. Würde mich bei diesem Danny-DeVito-Verschnitt nicht wundern.“

„Mal den Teufel nicht an die Wand.“ Nadine schlug ihm leicht auf den Oberarm.

Am Bahnhofsvorplatz angekommen, sahen sie zu, wie der bierbäuchige Mann und ihre Mutter sich zum Abschied umarmten.

„Der ist ja sogar ein Stückchen kleiner als Mama“, tuschelte Nadine ihrem Bruder zu.

„Und wie er sie antatscht“, ergänzte Daniel voller Abscheu.

Zum Glück war Michalski kein Thema mehr, als sie abfuhren und wenige Zeit später in Regines Wohnung eintrafen. Die Freude über ihre Rückkehr und besonders ihr positiver Gesundheitszustand erfüllte alle mit Feierlaune, alles andere war vollkommen nebensächlich. Schließlich hatte Regine für ihre Lieben auch Geschenke mitgebracht, die ausgepackt und bewundert werden mussten. Leon hüpfte mit seinem neuen Spielzeugauto jauchzend, einem Floh gleich, durch die Wohnung. Sein Jubeln mischte sich mit dem warmen Lachen seiner Großmutter.

Noch vor wenigen Wochen wäre das undenkbar gewesen. Jetzt klang es wie Musik in Nadines Ohren. Es war viel zu lange her, dass sie die ausgelassenen, wohlklingenden Töne das letzte Mal gehört hatte.

Nadines Blick fiel auf die Bilder, die an der einen Seite des Wohnzimmers hingen. Diverse Familienmitglieder strahlten ihr fröhlich entgegen, dabei mehrere Daniels und Nadines in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung, als Babys, Kinder, Jugendliche und auch als Erwachsene – und allesamt hatten sie eins gemeinsam: Sie hatten die typischen grünen Gerlach-Augen. Bei manchen der Fotos posierte auch der Mann vor der Kamera, von dem sie diese geerbt hatten: ihr Vater. Er war auf relativ wenigen Fotografien abgebildet, was nicht der Scheidung der Eltern geschuldet war, nein, das Hochzeitsbild hing ja auch dort, sondern Hans-Georg hatte die meisten der Fotos selbst geschossen. Es war ein Hobby von ihm seit seiner frühesten Jugend. Fast alles, was ihm vor die Linse kam, knipste er – eine, wenn nicht die einzige Konstante in seinem Leben. Neben den zahlreichen Frauenaffären natürlich.

Schlagartig verging Nadine die Feierlaune. Sie hörte nur noch halb hin, als ihre Mutter von den Erlebnissen in der Kur berichtete, von diversen Behandlungen und Therapien.

Das alles wäre nicht nötig gewesen. Auch nicht das davor. Nichts hätte sein müssen, wenn Hans-Georg Gerlach der Familie nicht überdrüssig geworden wäre.

Nadine spürte das Bedürfnis nach einer Luftveränderung, sie wollte weg von den Fotos. Sie tippte sich mit Mittel- und Zeigefinger auf die Lippen und schaute zu ihrem Bruder. Daniel verstand das Zeichen und kramte sogleich seine Zigaretten aus der Jackentasche.

„Bei uns ist alles beim Alten, Regine. Die beiden Nikotin-Junkies hängen immer noch an ihrem Laster“, kommentierte Bettina kopfschüttelnd die Situation.

Doch Regine war nicht in Tadellaune. „Wenn es nur das ist.“ Sie wandte sich schmunzelnd an Daniel und Nadine. „Meine kleinen unvernünftigen Kinder, ihr braucht nicht in die Kälte raus, in der Küche steht ein Aschenbecher.“

Hoheitsvoll machte Nadine einen Knicks und verließ mit ihrem Bruder den Raum – nur weg von dem eventuell einsetzenden Gezeter ihrer Schwägerin.

Aus dem Wohnzimmer konnte man amüsiertes Gelächter hören. Nadine lehnte sich an die Spüle.

Daniel gab ihr Feuer, zündete sich selbst eine Zigarette an und fläzte sich neben sie. „Es tut gut, Mama so gesund zu sehen. Endlich. Im Herbst hatte ich richtig Bammel, dass sie es nicht packt. So generell.“

„Ja, das war knapp“, nickte Nadine.

Länger hätte Regine nicht mehr warten dürfen, in die Klinik zu gehen. Ihre Leber war durch den übermäßigen Alkoholkonsum bereits stark angegriffen gewesen.

Nadine sah zu ihrem Bruder und schaute ihm in die Augen. „Beinahe hätte Papa sie auf dem Gewissen gehabt.“

Er erwiderte den Blick für einen Moment mit der gleichen Intensität, dann drehte er den Kopf zur Seite und fuhr mit einem Finger die Konturen des Aschenbechers entlang. „Er hat Scheiße gebaut, aber das ist jetzt fast dreißig Jahre her. Irgendwann muss man einen Schlussstrich ziehen. Das hat Mama die Jahre über versäumt, und das hat sie in Wirklichkeit krank gemacht.“

„Wie hätte sie den ziehen sollen? Alle paar Wochen oder Monate kreuzte unser Erzeuger braun gebrannt und gut gelaunt mit einer jungen Geliebten im Schlepptau auf, überschüttete uns mit Geschenken und erzählte von seinen exotischen Abenteuern“, entgegnete Nadine, ohne ihre Stimme ruhig zu halten. „Jetzt tut er das immer noch, nur halt mit Leon.“ Heftig zog sie an ihrer Zigarette.

„Er versucht, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen und will uns zeigen, dass er uns liebt“, meinte Daniel beschwichtigend.

Nadine lachte grimmig auf: „Ja, während sich Mama tagein, tagaus um uns gekümmert und allein großgezogen hat. Sie hat sich die Augen aus dem Kopf geheult und wurde depressiv. Aber unser werter Herr Papa schipperte weiter durch die Weltgeschichte. Toller Liebesbeweis.“

„Er war und ist eben kein Familienmensch. Aber er liebt uns trotzdem.“ Daniel stieß sich von der Spüle ab. „Man muss auch verzeihen können. Mensch, Nadine, wir wissen nicht, wie lange wir unsere Eltern noch haben. Sie gehen stramm auf die sechzig zu. Wie lange willst du ihm noch grollen? Irgendwann muss doch mal gut sein.“

„Solange er sich nicht damit auseinandersetzt, dass er uns im Stich gelassen hat, wird es nie gut sein“, erwiderte sie unversöhnlich.

„Du und dein verdammter Dickschädel, Dinchen“, stöhnte Daniel. Er hielt ihr den Aschenbecher hin. „Lassen wir das Thema. Freuen wir uns lieber, dass Mama wieder zurück ist.“

Nadine funkelte ihren Bruder böse an und drückte die Zigarette aus. Ohne auf ihn zu warten, marschierte sie ins Wohnzimmer.

Sie fuhr erst am späten Abend zurück in die Stadt. Nachdem sie den Groll auf ihren Vater verdrängt hatte, war sie wieder guter Dinge. Ihre Mutter strahlte schließlich vor positiver Energie und würde bald ihr normales Leben aufnehmen. Natürlich nicht in allen Belangen, sonst hätte sie die Kur nicht antreten müssen, aber bald würde sie wieder zu arbeiten beginnen. Ihr Chef hatte ihr sogar Blumen geschickt und die besten Genesungswünsche ausgerichtet. Regine fieberte bereits ihrer Arbeit als Steuerfachangestellte in der Kanzlei entgegen.

Nur herumsitzen, hatte sie lang genug gemacht, meinte sie entschieden.

Natürlich war Regine nicht über den Berg, vielleicht würde sie das auch nie sein. Doch das Ärgste hatte sie überstanden, und es gab eine positive Perspektive.

Nadine spürte, wie die Last der vergangenen Monate langsam von ihr abfiel. Sie konnte jetzt an sich denken, schauen, was das Leben für sie bot. Sie musste nicht länger versuchen, sich in der Freizeit abzulenken.

Herr Michalski, der am Nachmittag wie ein verliebter Gockel um ihre Mutter herumgeschlichen war, trat plötzlich vor ihr geistiges Auge. Im Nachhinein berührte sie sein Gehabe, auch wenn sie den peinlichen Typ nicht als Stiefvater haben wollte. Aber die Verzauberung durch einen anderen Menschen, diese Sehnsucht nach jemandem, wollte sie auch wieder fühlen – und das Glück, wenn die Emotionen erwidert wurden, die körperliche Nähe. All das vermisste Nadine, und sie sehnte sich nach den vielen Monaten der Einsamkeit danach.

Anja Naumann, die Reiseverkehrskauffrau, bei der sie den Paris-Trip gebucht hatte, kam ihr in den Sinn. Sie war jemand zum Verlieben. Aber stand sie überhaupt auf Frauen? Nadines Gaydar funktionierte bei Frauen, die ihr gefielen, nur mangelhaft, da war der Wunsch meist Vater des Gedankens; und selbst wenn, bestimmt hatte Frau Naumann jemanden. Würde sie sie überhaupt wiedersehen? Sie konnte ja schlecht im Laden nochmals auftauchen – Reisen kaufte man nicht wie Brötchen oder Klamotten.

Als hätte der Sender, der gerade im Autoradio lief, ihre Gedanken gehört, spielte er den alten Schlager von Katja Ebstein.

Nadine kicherte, dann sang sie mit voller Kehle mit: „… Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehen …“

***

Das Telefon klingelte.

Schlaftrunken schlüpfte Nadine aus dem Bett und stolperte in den Flur, um das Gespräch anzunehmen.

„Hallo Prinzessin, deine Stimme klingt müde. Ich hoffe, ich habe dich nicht aufgeweckt“, tönte Hans-Georg Gerlachs muntere Stimme an ihr Ohr.

„Nein, schon okay. Es ist ja schon 10.00 Uhr durch. Wie geht’s, Papa?“ Nadine unterdrückte ein Gähnen. Obwohl ihr Geist bereits hellwach war, musste ihr Körper noch warmlaufen. Es kam ihr makaber vor: Gestern begrüßten sie ihre Mutter aus der Kur zurück, und heute meldete sich der fidele Exmann, als könnte er kein Wässerchen trüben.

„Prima, ich komme gerade vom Fitness-Training.“ Er machte eine kleine Pause. „Daniel hat mir erzählt, eure Mutter ist gestern heimgekehrt. Wie verlief die Kur?“

Die Frage überraschte Nadine. Meldete sich etwa sein schlechtes Gewissen? Perplex antwortete sie: „Erfolgreich. Sie ist voller Tatendrang, und ihre Prognose ist günstig. In einer Woche geht sie wieder arbeiten.“

„Das sind tolle Nachrichten. Das freut mich wirklich sehr für sie.“

Nadine hörte förmlich, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Die altbekannte Wut überkam sie.

„Und für dich freut es dich auch“, kommentierte sie beherrscht.

„Wie meinst du das, Nadine?“

„Ganz einfach, nach eurer Trennung fing die ganze Misere an. Die Trauer, das Klammern an ihre Kinder und dann das Trinken. Du bist mit Sicherheit erleichtert, dass Mama gerade noch die Kurve bekommen hat, bevor sie einen irreversiblen Leberschaden davongetragen hat“, erwiderte sie frostig.

Für einige Sekunden herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Gespannt wartete sie auf seine Reaktion. Ihr Vater räusperte sich und flüsterte: „Natürlich bin ich erleichtert. Uns verbindet immer noch sehr viel.“

Durch das Klicken eines Feuerzeuges wusste Nadine, dass er sich eine Zigarette anzündete.

„Ich rufe aus einem ganz konkreten Grund an. Magst du heute mit mir essen gehen? Eine Kollegin hat mir von einem Mexikaner vorgeschwärmt. Wir können über die alten Zeiten reden.“ Sein Ton war wieder locker und unbeschwert.

„Tut mir leid, Papa, ich treffe mich nachher mit Mareike und ihrer Freundin zum Brunch“, log Nadine ihn ohne zu zögern an. Sie konnte und wollte ihn heute nicht sehen. „Aber an Weihnachten treffen wir uns auf jeden Fall.“

„Schade, aber da kann man nichts machen. War auch nur ein spontaner Einfall. Bis dann Prinzessin. Halt dich munter.“

Klang seine Stimme jetzt etwa traurig?

„Du auch. Ciao.“ Nadine drückte seufzend die Verbindung weg. Die Wut verwandelte sich in Melancholie. Daniel hatte recht, sie konnte ihn nicht mehr ändern, diesen alten Filou. Vorhaltungen nach all den Jahren brachten nichts, für keinen von ihnen.

Sie streckte sich ausgiebig und ging in die Küche – sie brauchte dringend Koffein.

***

Heiligabend

Nadine versuchte zu lächeln. Daniel hatte sie und ihre Mutter zu sich nach Hause eingeladen. Erst am Tag zuvor hatte er auf die Schnelle einen Weihnachtsbaum besorgt und heute am Nachmittag mit Leon, Bettina und Regine geschmückt. Nadine war erst später hinzugekommen und half nun beim Vorbereiten des Essens.

Sie machte sich nichts aus Weihnachten, dem sogenannten Fest der Liebe, sie war nur ihrer Mutter zuliebe gekommen. Abgesehen von der Konsumhysterie und den verstopften Straßen der Innenstadt in der Adventszeit fühlte sie sich aber auch nicht davon abgestoßen. Es war ihr nur gleichgültig.

Dieses Jahr jedoch wurde ihr ihre Einsamkeit mit aller Härte bewusst – und das tat weh. Überall erspähte sie glückliche Menschen, die für ihre Lieben Geschenke kauften, während sie allein und müde durch die Straßen lief. Die Geschichte mit Sybille war bereits über ein halbes Jahr her. Der Liebeskummer hatte zunächst dem Genießen der Freiheit des Single-Daseins und nach einer Weile der Sehnsucht nach einer neuer Liebe Platz gemacht. Nadine hatte auf diesem Gebiet nie sonderlich viel Glück. Ob sich das jemals ändern würde? Frustriert knetete sie den Knödelteig.

Die anderen waren in festlicher Stimmung, auch ihr sonst so betont cooler Bruder war wie ausgewechselt. Er umarmte Bettina bei jeder Gelegenheit und spielte mit einer Engelsgeduld mit seinem Sohn und seiner Mutter Memory, obwohl er das Spiel hasste.

Nadines Selbstmitleid löste sich auf, als sie ihn beobachtete. Er war drei Jahre älter als sie, doch meistens hatte sie das Gefühl die Ältere zu sein. Daniel kam vom Aussehen her, im Gegensatz zu ihr, mehr ihrem Vater nach. Auch hatte er das spontane, verspielte Naturell von ihm geerbt, womit er Regine in seiner Jugend oft Sorgen bereitet hatte. Er hatte die Schule trotz guter Noten abgebrochen, auch eine Lehrstelle, bis er endlich in einer Kfz-Werkstatt seine wahre Profession gefunden hatte. Privat hingegen war er eine treue Seele, was auch unter anderem seiner Bequemlichkeit geschuldet war; so hatte er bis zu seiner Heirat in seinem Kinderzimmer bei seiner Mutter gewohnt. Nadine hatte da bereits längst in der eigenen Wohnung gelebt. Daniel war ein kleiner liebenswerter Traumtänzer, ein Mann, der nie richtig aufgehört hatte, ein kleiner Junge zu sein. Erst durch die Ehe und die Vaterschaft war er verantwortungsbewusster und selbstständiger geworden, obwohl es ihm noch immer am meisten Freude bereitete, an Motoren zu tüfteln und Fußball zu spielen – so wie früher.

Nadine warf die fertig geformten Knödel ins kochende Wasser und gesellte sich zu ihrer Familie. Dort verfiel auch sie in fröhliche Stimmung. Während der Bescherung plauderten sie angeregt und scherzten. Ihre Mutter freute sich riesig über die Paris-Reise. Bettina ergänzte augenblicklich, sie könne mitnehmen, wen sie wolle: sie, Nadine oder Helga, Regines beste Freundin, sie stünden auf jeden Fall zur Verfügung.

Auch Leon war von seinen Geschenken angetan, sein Gesicht strahlte vor Begeisterung.

Nach dem Essen legten sie für ihn eine Märchen-CD ein. Nadine fühlte sich fast wie in die eigene Kindheit zurückversetzt. Leon lümmelte eingekuschelt zwischen seinen Eltern auf dem Sofa und lauschte gebannt den Geschichten. Sie und ihre Mutter saßen nach wie vor am Esstisch und hörten ebenso zu. Zwischendurch tätschelte Frau Gerlach ihre Hand und beobachtete selig ihre kleine Familie.

Nadine wurde warm ums Herz, sie war froh, der Einladung gefolgt zu sein. Nach all den Problemen in den letzten Monaten tat der Abend allen gut.

***

Die Festivitäten nahmen kein Ende. Ihr Vater lud sie am 1. Weihnachtstag zum Essen ein. Andere Männer in seinem Alter hätten ihre Töchter in ein vornehmes Edellokal oder in ein gediegenes, rustikales Wirtshaus mit gutbürgerlicher Küche ausgeführt, wo die Spezialität des Hauses Gänsebraten mit Rotkohl und Knödel gelautet hätte. Jedoch nicht so Hans-Georg Gerlach. Er war ein großer Fan von asiatischem Essen, und so war die Wahl auf ein hippes indonesisches Restaurant im Studentenviertel gefallen – da hob er sich wohltuend von anderen Vätern ab. Ansonsten war er beileibe kein einfacher Mensch, unabhängig von der Sache mit seiner Exfrau. Er tat, was ihm gefiel, egal, welche Konsequenzen das für ihn und seine Umwelt hatte. Früher hatte Nadine das oft verletzt, besonders als Kind. Andererseits gab es auch eine Phase, in der er ein selbstloser, verständnisvoller Vater gewesen war, der ohne zu fragen, geholfen und sich um vieles gekümmert hatte. Das war er eben auch.

Seit Nadine erwachsen war und auf eigenen Beinen stand, war ihr Verhältnis zu ihm harmonischer, jedoch auch oberflächlicher geworden. Sie umschifften im stillen Einverständnis sämtliche mögliche Konfliktthemen, die meist ihren Ursprung in der Vergangenheit hatten, sodass sie sich bei konkreten Unternehmungen wie Restaurant- und Kinobesuche nur über Banalitäten unterhielten.

Aber war das nicht besser als andere Väter-Töchter-Beziehungen, die zwar enger waren, in denen aber die Beteiligten ständig stritten?

Nadine genoss das Essen mit ihrem Vater. Entspannt plauderten sie über ihre Pläne für Silvester, er wollte mit seiner neuen Freundin, die zwanzig Jahre jünger war, nach London.

„Am zweiten Januar fahre ich noch für zwei Monate ins Allgäu. Da wird in irgendeinem kleinen Nest in der tiefsten Provinz ein neues Rathaus hochgezogen“, erzählte er gelangweilt.

Teils spöttisch, teils mit echtem Mitleid konstatierte Nadine: „Das ist schon ein krasser Kontrast zu Singapur.“

Dort war sein letztes Auslandsprojekt als Elektrotechniker für seine Firma gewesen. Dann waren diverse Abteilungen umstrukturiert worden, und mit dem Hinweis auf sein Alter wurde er seitdem nur noch deutschen Projekten zugeteilt.

„Bin halt nicht mehr so belastbar wie meine jüngeren Kollegen.“ Er klang verbittert. Der Zahn der Zeit machte auch vor einem Hans-Georg Gerlach nicht halt, eine Tatsache, die ihm schwer zusetzte.

„Dafür gehst du bald in Rente und hast mehr Zeit für dich, bekommst weiterhin ordentliches Geld und kannst immer noch reisen, ohne dafür zu malochen, Papa“, versuchte sie ihn zu trösten.

„Was gibt’s bei dir Neues?“, wechselte er abrupt das Thema.

Unbeabsichtigt hatte sie einen wunden Punkt bei ihm getroffen. Er wollte nächstes Jahr im Sommer nicht in Altersteilzeit gehen, die Firmenleitung drängte ihn jedoch regelrecht dazu. Schlimm genug, dass er nächstes Jahr sechzig wurde. Damit gehörte er bald offiziell zum alten Eisen.

Nadine tat ihm den Gefallen und stieg auf den Themenwechsel ein. „Ach, nichts Besonderes. Mama hält sich zum Glück wacker. In der Bibliothek läuft’s gut. Wir sind gerade in der Entscheidungsphase, welche Neuanschaffungen wir für das nächste Quartal erwerben wollen, das ist recht spannend.“

„Und in der Liebe?“, erkundigte er sich zwischen zwei Bissen.

Was sollte sie ihm erzählen? Das einzig Nennenswerte in letzter Zeit war ein prickelndes Kundengespräch mit einer hübschen Reisebürokauffrau gewesen. Nadine war aber keine 13 mehr, ein Alter, in dem so etwas als Sensation galt. Sie winkte stattdessen ab. „Tote Hose. Na ja, ich schau mal, was das nächste Jahr bringt.“

„Das ist eine gute Einstellung.“ Er begann von seiner neuen Flamme zu berichten, was eher ein Thema nach seinem Geschmack war.

Nadine hörte nur mit halbem Ohr zu. Nach der Trennung von ihrer Mutter hatte er viele Frauen gehabt, mit einer war er sogar für zwei Jahre verheiratet gewesen. Die Ehe war wie die erste wegen seines unsteten Lebenswandels in die Brüche gegangen. Danach war er mit keiner mehr zusammengezogen. Alles blieb unverbindlich und war spätestens nach wenigen Monaten zu Ende. So war es wohl auch mit dieser Frau. Warum sollte Nadine sich für sie interessieren?

***

In der Bibliothek zwischen den Jahren

Nadine mochte den Begriff, der die Spanne zwischen Weihnachten und Silvester beschrieb. Er drückte den Schwebezustand aus, den sie in dieser Zeit in sich spürte – besonders dieses Mal. Das alte Jahr war so gut wie vorbei, nichts Wesentliches passierte mehr, das neue war noch nicht angebrochen, aber zum Greifen nahe. Es war die Zeit der Erleichterung und der Neugier, die Zeit des Rückblicks und der Vorschau – und natürlich auch der Wünsche und der guten Vorsätze. Alles sollte besser werden.

Sie arbeiteten zwischen den Jahren in der Notbesetzung. Nadine war eine von ihnen. Die meisten ihrer Kollegen kamen erst nach Neujahr wieder. Die Kundschaft hingegen erschien so zahlreich wie eh und je. Im Gegensatz zu der Adventszeit machte Nadine das nichts aus. Die Anspannung war von ihr abgefallen, und sie war erleichtert, dass die Feiertage vorbei waren. In ein paar Tagen war Silvester, ein Tag, der ihr mit seiner Ausgelassenheit besser gefiel. Außerdem hatte sie sich danach zwei Tage freigenommen.

Sie schob einen Bücherwagen durch die Gänge der Regale und stellte die zurückgegebenen Exemplare an ihren angestammten Platz. Manchmal, wenn sie wie heute in besonders pathetischer Stimmung war, kamen ihr die Bücher wie Schätze vor, die nach einer langen Reise zu ihr heimkehrten. Auch trotz mancher Unannehmlichkeiten, die ab und an auftraten, wollte sie keine andere Tätigkeit ausüben. Sie liebte ihren Beruf. Wer konnte das von sich behaupten? Das waren nicht viele Menschen.

Bereits als kleines Schulmädchen war sie eine Leseratte gewesen, die sich am liebsten mit Büchern umgeben hatte. Sie luden zum Träumen und Entdecken ein, boten eine Flucht, wenn Nadine traurig war, und stellten einen unterhaltsamen Zeitvertreib dar. Sie waren zu Papier gewordene Welten und umgekehrt Papier, das, wenn man es las, sich in eine andere Welt verwandelte. Diese Welten zu sammeln, zu verwalten und vor allem zu bewahren, für sich und andere Menschen zugänglich zu machen, empfand sie als eine Art Berufung. Kurz, es war Nadines Traumjob.

Gedanklich in sich versunken, bog sie in den nächsten Gang ab. Plötzlich tauchte ein Hindernis in Form von langen, in engen Jeans steckenden Frauenbeinen auf. Nadine stoppte abrupt. Beinahe wäre sie durch ihre Unachtsamkeit mit dem Wagen in die Unbekannte hineingedonnert. Das wäre sicherlich schmerzhaft gewesen. Ihr Blick wanderte langsam nach oben. Die Frau schien groß zu sein und hatte eine gute Figur – so wie Nadine es mochte.

„Hallo, so schnell sieht man sich wieder“, sprach das Fastunfallopfer, noch bevor Nadines Augen bei ihrem Gesicht angekommen waren.

„Oh! Hallo, Frau Naumann.“ Es war tatsächlich die atemberaubende Schönheit aus dem Reisebüro. Nadines Herz machte einen Sprung.

Auch deren Stimme klang erfreut. „Sie haben sich meinen Namen gemerkt. Das finde ich nett.“

„Ich habe ein gutes Namensgedächtnis“, antwortete Nadine verlegen.

„Ja, das mit den Schildchen ist eine angenehme Sache“, schmunzelte Frau Naumann.

Namensschilder gab es in der Bibliothek nicht, einen persönlichen Kontakt dergestalt mit der Kundschaft aufzubauen, empfand niemand für notwendig. Bücher sprachen für sich, man musste sie im Gegensatz zu Reisen nicht extra anpreisen. Nadine verstand aber den Wink mit dem Zaunpfahl. Gehorsam erwiderte sie darum: „Ich bin Nadine Gerlach.“

Die Rothaarige legte lächelnd den Kopf schief und reichte ihr die Hand. „Angenehm. Wie hat Ihrer Mutter der Gutschein für die Paris-Reise gefallen, Frau Gerlach?“

„Sie hat sich sehr darüber gefreut. Im Frühjahr will sie ihn einlösen.“ Nadine ergriff die Hand, und ihre Knie wurden augenblicklich weich wie Pudding. Anja Naumann schien sie gerne zu berühren – wie letztens im Reisebüro …

„Das ist mein erster Besuch hier. Ich wohne erst seit einem guten Vierteljahr in dieser Gegend und hatte durch den Umzug und die neue Stelle keine Gelegenheit hierherzukommen, dabei lese ich viel und suche auch gerne Büchereien auf“, erzählte Frau Naumann.

Gelassenheit vortäuschend, nickte Nadine aufmerksam. Mit ihrer inneren Ruhe war es vorbei, in ihrem Kopf herrschte ein wildes Durcheinander. Am liebsten hätte sie den kleinen Flirt im Reisebüro fortgesetzt, doch nun herrschten andere Bedingungen. Anja Naumann war jetzt die Kundin und sie diejenige, die ihr zu Diensten stand. Anja kam zum Bücherausleihen und nicht zum Schäkern.

Nadine räusperte sich, auch um ihre Unsicherheit wegzukriegen. „Dann haben Sie noch keinen Mitgliedsausweis. Wenn Sie möchten, stelle ich Ihnen einen aus und erläutere Ihnen die Nutzungsbedingungen.“

„Ja, gerne“, strahlte ihr Gegenüber.

Nadine nickte erneut. Sie wies steif in Richtung ihres Schreibtisches. „Wenn Sie mir bitte folgen würden.“

Auf dem Weg dorthin hätte sie sich am liebsten geohrfeigt. Sie benahm sich wie ein schüchterner Teenager seinem Schwarm gegenüber – einfach peinlich. Aber, wie bitte schön, verhielt sich eine Erwachsene in so einer Situation korrekt? Nadine war aus der Übung, und Anja Naumann eine Frau, die sie mit ihrer Ausstrahlung total kirre machte.

„Bitte setzen Sie sich!“ Nadine zeigte auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Mit klammen Händen, obwohl im Raum eine Klimaanlage arbeitete, überreichte sie Frau Naumann das Formular für Neumitglieder und den Ausdruck, auf dem die Nutzungsbedingungen standen, und ließ sich ihre Adresse diktieren. „Dann bräuchte ich noch Ihren Personalausweis, ich mach mir eine Kopie davon. Das ist leider Vorschrift in unserem Haus, um generell die Bibliothek abzusichern, was die Rückgabe von Büchern betrifft, auch wenn’s eher symbolischer Natur ist“, meinte sie entschuldigend.

Was laberte sie da für einen Scheiß? Anja Naumann war doch keine Schwerverbrecherin, der man nicht über den Weg trauen konnte.

„Ist schon okay“, grinste Frau Naumann und legte ihren Ausweis neben die Tastatur. Dann füllte sie das Antragsformular für Neumitglieder aus.

Währenddessen gab Nadine die persönlichen Daten in den Computer ein. Sie schielte auf den Pass, nicht nur, weil es ihre berufliche Aufgabe war, nein, sondern weil sie mehr über Frau Naumann wissen wollte. Sie war fünf Jahre jünger als sie und in Norddeutschland geboren. Nadine drehte den Ausweis zitternd um. Anja war mit 1,74 m ein gutes Stück größer als sie. Die simple Augenfarbenbeschreibung blau war eine lächerlich dürre Umschreibung für das atemberaubende Kornblumenblau.

Mit wackligen Beinen stand Nadine auf, machte die notwendigen Kopien und schweißte den Mitgliedsausweis ein.

Ich mach mich komplett zum Affen!, schalt sie sich stumm. Warum konnte sie nicht locker mit Anja Naumann umgehen? Das hatte doch neulich auch funktioniert.

Mit den Kopien in der Hand kehrte sie zu ihrem Platz zurück. Dabei richtete sie ihren Blick starr auf die Papiere. Sie legte diejenigen, die für sie bestimmt waren, zur Seite und gab die anderen Frau Naumann, die sie von Minute zu Minute unsicherer machte. Penibel genau achtete Nadine darauf, ihr die Unterlagen nicht direkt in die Hand zu geben, weil das womöglich eine weitere Berührung bedeutet hätte. Nein, stattdessen legte sie die Dokumente auf den Tisch.

Frau Naumann nahm sie und steckte die beiden Ausweise in ihren Geldbeutel. Die anderen Papiere faltete sie, behielt sie aber in der Hand. Sie zögerte.

„Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Erkundung der Bibliothek. Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie sich an mich wenden. Ich stehe Ihnen gerne zur Verfügung“, hörte sich Nadine selbst nervös plappern.

Was redete sie da schon wieder für einen Unsinn? Das war doch entweder das Signal, dass Anja Naumann abhauen sollte, oder es klang so, als würde Nadine sich penetrant an sie ranschmeißen wollen. Oder, oder ...

Nachdenklich und mit einem leichten Runzeln auf der Stirn stand Frau Naumann auf.

„Danke. Aber ich glaube, ich komme schon klar.“ Sie entfernte sich ein paar Schritte, noch immer zögernd. „Ciao. Und einen guten Rutsch“, verabschiedete sie sich schließlich in einem Tonfall, als hätte sie das fast vergessen.

„Ihnen auch. Ciao“, krächzte Nadine.

Anja Naumann drehte sich um und ging.

Nadine sah ihr nach, bis sie hinter einer Regalwand verschwand. Sie hatte es verdammt noch mal verbockt. Scheiße. Wie hatte sie sich danach gesehnt, sie erneut zu treffen, sich ausgemalt, was sie sagen würde. Und was passierte? Sie hatte sich komplett zur Vollidiotin gemacht. Frustriert legte sie den Kopf auf den Schreibtisch.

Na ja, immerhin war Anja Naumann nun Mitglied in der Bücherei. Das bedeutete, sie würden sich auf jeden Fall wiedersehen, das war ein kleiner Trost.

Beim nächsten Mal reißt du dich aber wirklich am Riemen, Gerlach!, befahl Nadine sich streng.

***

Nadine grinste. Seit Feierabend schlenderte sie mit ihrer Mutter durch die Fußgängerzone. Während Frau Gerlach eifrig nach Sonderangeboten Ausschau hielt, kreisten Nadines Gedanken um Anja Naumann. Sie ärgerte sich noch immer über ihr gestriges unbeholfenes Verhalten. Gleichzeitig sehnte sie sich nach einem Wiedersehen.

„Ich hab’ ein wenig Angst, wenn ich ans nächste Jahr denke – ob ich das alles packe“, holte ihre Mutter sie zurück in die Realität.

Nadine widmete ihr sofort ihre Aufmerksamkeit. „Das schaffst du, Mama. Auf jeden Fall. Nachdem, was du alles bereits erreicht hast ...“ Nachdrücklich drückte sie ihren Arm.

Regine lehnte sich einen Moment an sie. „Aber ich brauche Hilfe, allein bin ich vielleicht zu schwach. Werner hat mich deshalb überredet, mit ihm zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen.“

„Oh, das ist gut.“

Michalski, dieser komische Vogel, gehörte also doch nicht der Vergangenheit an, schloss Nadine daraus. Ihre Mutter und er hatten weiterhin Kontakt und unterstützten sich. Er schien einen guten Einfluss auf sie zu haben. Noch vor ihrer Abreise zur Entziehungskur hätten keine zehn Pferde Regine zu einer AA-Gruppe gebracht – das Einzige, bei dem sie so etwas wie einen Willen gehabt hatte. Die Scham war zu groß gewesen. Allein Michalski hatte sie dazu gebracht.

Solange er ihrer Mutter half und sie lediglich gute Freunde waren, war dem nichts einzuwenden, befand Nadine. Aber bitte schön nicht mehr.

Regine erwiderte etwas bockig: „Große Lust habe ich keine darauf. Es wissen genug Leute, dass ich Alkoholikerin bin. Aber was sein muss, muss sein.“

„Ich bin froh, dass du dich dazu durchgerungen hast. Die Ärzte haben es dir ja auch empfohlen. Bleib also am Ball!“