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Von klein auf träumt Linda, die schöne und temperamentvolle Tochter von Lord und Lady Radlett, von der Liebe, dem perfekten Ehemann und einem glamourösen Leben in der Londoner Society. Aber die Suche nach Mr. Right gestaltet sich schwieriger als erwartet. Zuerst heiratet sie Hals über Kopf – und zum Schrecken ihrer adligen Familie – einen biederen Banker. Doch Linda ist selbst bald gelangweilt von ihrem schrecklich mittelmäßigen Gatten, der sich für nichts als Golf, Geschäfte und Konservatismus interessiert. Da macht sie die Bekanntschaft von Christian, einem glühenden Kommunisten, und Linda stürzt sich in das nächste Liebesabenteuer: Sie folgt ihm nach Südfrankreich, um in einem Lager für spanische Kriegsflüchtlinge zu arbeiten. Aber wieder ist das Glück nicht von Dauer, und so landet Linda allein in Paris – wo sie endlich ihre große Liebe findet. Doch dann bricht der Krieg aus, und Linda muss nach England zurückkehren … Turbulente Liebeskomödie und bissige Gesellschaftssatire in einem, erzählt Englische Liebschaften vom Aufwachsen junger Frauen im England der Zwischenkriegsjahre und nimmt dabei mit viel Selbstironie die britische Upper Class aufs Korn. Als Vorlage für die liebenswert-verschrobenen Romanfiguren diente Mitfords eigene Familie, die in ganz England für ihre Exzentrik bekannt war.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Nancy Mitford
Roman
Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
Schöffling & Co.
Für Gaston Palewski
Es gibt eine Fotografie von Tante Sadie und ihren sechs Kindern, wie sie alle zusammen um den Teetisch in Alconleigh sitzen. Der Tisch steht da, wo er immer gestanden hat, wo er heute steht und immer stehen wird, in der Halle, vor einem gewaltigen Kamin, in dem ein Feuer prasselt. Über dem Kaminsims hängt, auf der Fotografie deutlich sichtbar, ein Schanzspaten, mit dem Onkel Matthew 1915 acht Deutsche totgeschlagen hat, einen nach dem anderen, so wie sie aus irgendeinem Unterstand hervorgekrochen waren. Noch immer kleben Blut und Haare an diesem Werkzeug, das wir Kinder stets nur mit fasziniertem Schauder betrachteten. Auf der Fotografie wirkt Tante Sadies Gesicht, das immer sehr schön war, merkwürdig rund, ihr Haar merkwürdig flaumig und ihre Kleidung merkwürdig nachlässig, aber sie ist es, ganz unverkennbar, und auf ihrem Schoß hat sich in einem Meer von Spitzen der kleine Robin breitgemacht. Sie scheint nicht recht zu wissen, wie sie seinen Kopf halten soll, und dass Nanny in der Nähe ist, um ihr den Kleinen gleich wieder abzunehmen, spürt man, obwohl man sie nicht sieht. Die anderen Kinder, von der elfjährigen Louisa bis hinunter zu dem zweijährigen Matt, sitzen im Sonntagsstaat oder mit umgebundenem Lätzchen am Tisch. Je nach Alter halten sie Tassen oder Becher in den Händen, starren mit großen, vom Blitzlicht geweiteten Augen in den Fotoapparat und sehen allesamt so aus, als könnten sie nicht bis drei zählen. Da sind sie, wie kleine Fliegen eingeschlossen in den Bernstein dieses Augenblicks – klick macht die Kamera, und weiter geht das Leben; die Minuten, die Tage, die Jahre, die Jahrzehnte, die sie vom Glück und von den Verheißungen der Jugend fortreißen, von den Hoffnungen, die Tante Sadie für sie gehegt haben muss, und von den Träumen, die sie selbst träumten. Oft denke ich, es gibt nichts Traurigeres als alte Familienfotos.
Als Kind brachte ich meine Weihnachtsferien regelmäßig in Alconleigh zu, sie waren ein fester Bestandteil meines Lebens, und während manche ohne irgendwelche besonderen Vorfälle einfach vorübergingen, zeichneten sich andere durch dramatische Verwicklungen aus und hatten ihren ganz eigenen Charakter. Einmal zum Beispiel brach im Dienstbotenflügel Feuer aus, ein andermal fiel ich von meinem Pony in den Bach, das Pony stürzte auf mich, und fast wäre ich ertrunken (aber nur fast, denn es wurde gleich weggezerrt, doch wollen einige vorher immerhin schon Luftblasen beobachtet haben). Dann das Drama, als die zehnjährige Linda einen Selbstmordversuch unternahm, um ihren alten, muffigen Border Terrier wiederzusehen, den Onkel Matthew hatte einschläfern lassen. Sie sammelte einen Korb Eibensamen und aß sie, aber Nanny entdeckte sie und flößte ihr Senf und Wasser ein, bis sie sich erbrach. Nachher sprach Tante Sadie »ein ernstes Wort« mit ihr, Onkel Matthew gab ihr eins hinter die Ohren, sie musste ein paar Tage das Bett hüten und bekam dann einen jungen Labrador geschenkt, der bald den Platz des alten Border in ihrem Herzen einnahm. Noch viel schlimmer war das Drama, als Linda mit zwölf Jahren den Nachbarstöchtern, die zum Tee herübergekommen waren, die Tatsachen des Lebens auseinandersetzte, so wie sie sie verstand. Lindas Darstellung dieser »Tatsachen« fiel derart grausig aus, dass die Kinder mit nachhaltig zerrütteten Nerven und erheblich eingeschränkten Aussichten auf ein gesundes und glückliches Geschlechtsleben Alconleigh unter schrecklichem Geheul verließen. Der Vorfall zog eine Reihe furchtbarer Bestrafungen nach sich, zunächst eine wirkliche Tracht Prügel, verabreicht von Onkel Matthew, und dann musste Linda eine Woche lang allein oben essen. Schließlich die unvergesslichen Ferien, als Onkel Matthew und Tante Sadie nach Kanada reisten. Jeden Morgen machten sich die Radlett-Kinder über die Zeitungen her, in der Hoffnung, dort die Nachricht zu finden, das Schiff ihrer Eltern sei mit Mann und Maus untergegangen; sie sehnten sich danach, Vollwaisen zu werden – vor allem Linda, die sich schon vorkam wie Katy in What Katy Did und die Zügel des Haushalts fest in ihre kleinen, aber tüchtigen Hände nehmen wollte. Das Schiff stieß nicht mit einem Eisberg zusammen und trotzte auch allen atlantischen Stürmen, aber wir verlebten unterdessen wunderbare Ferien, in denen wir tun und lassen konnten, was wir wollten.
Doch am deutlichsten ist mir das Weihnachten in Erinnerung geblieben, als ich vierzehn war und Tante Emily sich verlobte. Tante Emily war die Schwester von Tante Sadie, und sie hat mich großgezogen, denn meine Mutter, ihre jüngste Schwester, hatte gemeint, sie sei zu schön und zu lebenslustig, um sich schon im Alter von neunzehn Jahren mit einem Kind zu belasten. Sie verließ meinen Vater, als ich einen Monat alt war, und lief danach so oft und mit so vielen verschiedenen Leuten davon, dass die Familie und die Freunde sie nur noch die »Hopse« nannten; andererseits hatte auch die zweite Frau meines Vaters verständlicherweise keine große Lust, sich um mich zu kümmern, ebenso wenig wie später die dritte, die vierte und die fünfte. Gelegentlich erschien einer dieser stürmischen Elternteile wie eine Rakete an meinem Horizont und tauchte ihn in eine unnatürliche Glut. Sie verbreiteten großen Glanz, und ich sehnte mich danach, in ihrem Feuerschweif mit fortgerissen zu werden, obgleich ich tief im Inneren wusste, dass ich froh sein konnte, Tante Emily zu haben. Als ich älter wurde, verloren sie nach und nach jeden Reiz für mich; die ausgeglühten grauen Raketengehäuse verrotteten, wo sie zufällig niedergegangen waren, meine Mutter bei einem Major in Südfrankreich und mein Vater, der seine Güter verkauft hatte, um seine Schulden zu bezahlen, bei einer alten rumänischen Gräfin auf den Bahamas. Noch bevor ich erwachsen war, hatte der Glanz, der sie früher umgab, erheblich nachgelassen, und schließlich war nichts mehr da, woran sich kindliche Erinnerungen hätten heften können; in nichts unterschieden sie sich von anderen Leuten mittleren Alters. Tante Emily verbreitete nie Glanz um sich, aber sie war immer meine Mutter, und ich liebte sie. Zu der Zeit aber, über die ich hier schreibe, war ich in einem Alter, in dem sich auch das fantasieloseste Kind für ein untergeschobenes oder vertauschtes Kind hält, für eine Prinzessin mit indianischem Blut in den Adern, für Johanna von Orléans oder die künftige Kaiserin von Russland. Ich sehnte mich nach meinen Eltern, machte ein idiotisches Gesicht, das eine Mischung aus Wehmut und Stolz zum Ausdruck bringen sollte, wenn im Gespräch ihre Namen fielen, und malte mir aus, wie sie lebten, tief in romantische, tödliche Sünde verstrickt.
Linda und ich, wir beschäftigten uns sehr intensiv mit der Sünde, und unser großer Held war Oscar Wilde.
»Aber was hat er denn nun wirklich getan?«
»Einmal habe ich Pa danach gefragt, aber er hat mich nur angebrüllt – lieber Himmel, es war furchtbar! ›Wenn du den Namen von diesem Gulli noch einmal in diesem Hause erwähnst‹, schrie er, ›dann gibt es Dresche, verstanden, du verflixtes Gör?‹ Also fragte ich Tante Sadie, aber sie sah bloß schrecklich geistesabwesend vor sich hin und sagte: ›Ach, Schatz, ich habe es nie ganz verstanden, aber was es auch war, es war schlimmer als Mord, furchtbar schlimm. Und bitte, Liebes, sprich nicht bei den Mahlzeiten über ihn, ja?‹«
»Wir müssen es herausbekommen.«
»Bob sagt, er schafft es, wenn er nach Eton geht.«
»Oh, toll! Glaubst du, er war schlimmer als Mammi und Daddy?«
»Das geht doch gar nicht! Ach, du hast ein Glück mit deinen verruchten Eltern!«
*
An diesem Weihnachtsfest, als ich vierzehn war, taumelte ich in die Halle von Alconleigh. Das Licht blendete mich nach den sechs Meilen im Wagen von der Bahnstation Merlinford bis hierher. Es war jedes Jahr das Gleiche, immer kam ich mit dem gleichen Zug, traf zum Tee ein, und immer fand ich Tante Sadie und die Kinder um den Tisch unter dem Schanzspaten versammelt, genau wie auf der Fotografie. Es waren immer derselbe Tisch und dasselbe Teegeschirr; das Porzellan mit den großen Rosen, der Teekessel und der Silberteller für das Gebäck, die von kleinen Lichtern warm gehalten wurden – die Menschen wurden natürlich unmerklich älter, aus Babys wurden Kinder, die Kinder wuchsen heran, und es war in Gestalt der inzwischen zwei Jahre alten Victoria ein Zuwachs zu verzeichnen. Mit einem Schokoladenplätzchen in der geschlossenen Faust watschelte sie herum, das Gesicht über und über mit Schokolade bekleckert, ein schrecklicher Anblick, aber unter der klebrigen Maske strahlte das unverkennbare Blau zweier unverwandt dreinblickender Radlett-Augen.
Es gab ein gewaltiges Stühlerücken, als ich eintrat, und ein Rudel Radletts fiel so unbändig und fast so unerbittlich über mich her, wie sich ein Rudel Hunde über einen Fuchs hermacht. Alle außer Linda. Sie freute sich am meisten, mich zu sehen, aber sie wollte es auf keinen Fall zeigen. Als sich der Lärm gelegt hatte und ich mit Gebäck und einer Tasse Tee versorgt war, fragte sie: »Wo ist Brenda?« Brenda war meine weiße Maus.
»Sie hat einen Ausschlag am Rücken bekommen und ist gestorben«, sagte ich.
Tante Sadie sah besorgt zu Linda hinüber.
»Bist du auf ihr geritten?«, meinte Louisa spitz.
Matt, der kürzlich in die Obhut einer französischen Gouvernante gekommen war, erklärte, indem er deren affektierte, fistelnde Sprechweise imitierte: »C’était, comme d’habitude, les voies urinaires.«
»Aber Liebes«, meinte Tante Sadie leise im Flüsterton.
Gewaltige Tränen kullerten auf Lindas Teller. Niemand weinte so viel und so oft wie sie; alles, aber besonders alles Traurige, das mit Tieren zusammenhing, konnte sie zum Weinen bringen, und wenn sie einmal angefangen hatte, war es ziemlich schwierig, sie wieder zu beruhigen. Sie war ein feinfühliges, aber auch ein äußerst nervöses Kind, und selbst Tante Sadie, die sich wegen der Gesundheit ihrer Kinder sonst überhaupt keine Gedanken machte, war sich darüber im Klaren, dass das viele Weinen Linda nachts den Schlaf raubte, ihr den Appetit nahm und ihr durchaus nicht zuträglich war. Die übrigen Kinder, vor allem Louisa und Bob, die gerne andere hänselten, gingen bei ihr so weit, wie sie sich getrauten, und wurden von Zeit zu Zeit bestraft, weil sie sie zum Weinen gebracht hatten. Bücher wie Black Beauty, Owd Bob, The Story of a Red Deer und alle Werke von Thompson Seton standen im Kinderzimmer auf dem Index – wegen Linda, die von ihnen irgendwann einmal zutiefst erschüttert worden war. Man musste sie verstecken, denn wenn sie herumlagen, war Linda nicht zu trauen, und es konnte geschehen, dass sie sich einer Orgie von Selbstquälerei überließ.
Die freche Louisa hatte sich ein Gedicht ausgedacht, das jedes Mal unweigerlich Tränenfluten auslöste:
Ein Streichholz, obdachlos und schwach,
hat weder Haus noch Fach,
es liegt allein, ganz still und klein,
das Streichholz, obdachlos und schwach.
Wenn Tante Sadie nicht in der Nähe war, stimmten die Kinder dieses Liedchen zuweilen in einem düsteren Chorgesang an. Je nachdem, in welcher Stimmung Linda war, brauchte man eine Streichholzschachtel nur anzusehen, und schon begann die Arme sich zu verflüssigen; fühlte sie sich aber kräftiger und dem Leben eher gewachsen, dann lösten solche Scherze bei ihr ein unwillkürliches Lachen aus, das sich seinen Weg direkt aus ihrem Bauch nach außen bahnte. Linda war nicht nur meine Lieblingscousine, sondern damals und noch viele Jahre lang der Mensch, den ich überhaupt am liebsten hatte. Ich bewunderte alle meine Cousinen, aber in Linda waren geistig wie körperlich alle Vorzüge und das ganze Wesen der Familie Radlett vereinigt. Ihre klaren Züge, ihr glattes braunes Haar und die großen blauen Augen bildeten ein Thema, zu dem die Gesichter der anderen eine Variation lieferten; hübsch waren sie alle, aber keines so ganz und gar unverwechselbar wie das ihre. Dabei hatte sie etwas Wütendes an sich, auch wenn sie lachte, und sie lachte viel, allerdings immer so, als werde sie gegen ihren Willen dazu gezwungen. Irgendetwas an ihr erinnerte an Bilder des jugendlichen Napoleon, eine Art von grollendem Ungestüm.
Ich spürte, dass ihr die Sache mit Brenda viel näherging als mir. In Wirklichkeit waren meine Flitterwochen mit der Maus längst vorüber; unsere Beziehung hatte ihren Reiz verloren und kümmerte dahin wie eine alte Ehe, und als sie den ekelhaften Ausschlag auf dem Rücken bekommen hatte, gelang es mir eben noch, den Anstand zu wahren und sie mit der gebotenen Menschenfreundlichkeit zu behandeln. Abgesehen von dem Schock, der einen immer trifft, wenn man morgens jemanden steif und kalt im Käfig findet, war ich im Grunde sehr erleichtert, als Brendas Leiden endlich ein Ende hatten.
»Wo ist sie beerdigt?«, knurrte Linda wütend und blickte dabei auf ihren Teller.
»Neben dem Rotkehlchen. Sie hat ein hübsches kleines Kreuz bekommen, und ihren Sarg habe ich mit rosa Atlas ausgelegt.«
»Hör mal, Linda, Liebes«, sagte Tante Sadie, »wenn Fanny mit ihrem Tee fertig ist, könntest du ihr doch deine Kröte zeigen.«
»Die ist oben und schläft«, meinte Linda, aber sie hörte auf zu weinen.
»Wie wäre es mit einer Scheibe von dem leckeren warmen Toast?«
»Bekomme ich Gentleman’s Relish darauf?« Sie beeilte sich, aus Tante Sadies Stimmung Kapital zu schlagen, denn eigentlich war Gentleman’s Relish ausschließlich Onkel Matthew vorbehalten. Angeblich war es für Kinder nicht gut. Die anderen tauschten mit gespieltem Ernst vielsagende Blicke aus. Linda bemerkte es, was auch beabsichtigt war, brach in ein heftiges, bellendes Schluchzen aus und rannte nach oben.
»Ihr sollt Linda nicht immer so aufziehen!«, sagte Tante Sadie ärgerlich und ging ihr nach.
Die Treppe führte aus der Halle hinaus. Als Tante Sadie außer Hörweite war, sagte Louisa: »Wenn Wünsche Pferde wären, würden Bettler reiten. Morgen ist Kinderjagd, Fanny.«
»Josh hat es mir schon erzählt. Er fuhr im Wagen mit – kam vom Tierarzt.«
Mein Onkel Matthew hatte vier prächtige Bluthunde, mit denen er von Zeit zu Zeit auf seine Kinder Jagd zu machen pflegte. Zwei von uns zogen mit einem ordentlichen Vorsprung los, um die Fährte zu legen, während Onkel Matthew und die Übrigen zu Pferd mit den Hunden folgten. Es war immer ein Riesenspaß. Einmal hatte er auch mich besucht und hatte mich und Linda durch den Park mitten in Shenley gehetzt. Im Ort kam es deshalb zu einem gewaltigen Aufruhr. Die Wochenendgäste aus Kent, die auf dem Weg zur Kirche waren, versetzte der Anblick von vier großen Hunden, die mit wildem Gebell hinter zwei kleinen Mädchen herjagten, in helles Entsetzen. Mein Onkel erschien ihnen wie ein böser Lord aus einem Roman, und mehr denn je verdichtete sich um mich eine Aura von Verrücktheit, Verworfenheit, Gefährlichkeit, ich war kein Umgang für ihre Kinder.
Die Kinderjagd am ersten Tag dieses Weihnachtsbesuchs war ein großer Erfolg. Linda und ich wurden als Hasen gewählt. Wir liefen querfeldein durch das herrliche kahle Hochland der Cotswolds. Gleich nach dem Frühstück ging es los, die Sonne hing noch als rote Kugel knapp über dem Horizont. Dunkelblau und gestochen scharf zeichneten sich die Bäume vor dem blassblauen, malvenfarbenen, rötlichen Himmel ab. Die Sonne stieg höher, während wir vorwärtshetzten und auf neue Kräfte hofften; ihre Strahlen wurden wärmer, und es brach ein herrlicher Tag an, der uns eher an den Spätherbst als an Weihnachten denken ließ.
Einmal gelang es uns, die Bluthunde zu verwirren, indem wir uns zwischen einer Schafherde hindurchschlängelten, aber Onkel Matthew brachte sie bald auf die Fährte zurück, und nachdem wir ungefähr zwei Stunden durch die Landschaft gestürmt waren und nur noch eine halbe Meile bis zum Haus hatten, holten uns die bellenden, geifernden Geschöpfe ein, um sich anschließend mit Fleischbrocken und vielen Liebkosungen belohnen zu lassen. Onkel Matthew war strahlend guter Laune, er stieg vom Pferd und stapfte unter gutmütigem Geplauder mit uns nach Hause.
Und was das Sonderbarste war – sogar mit mir sprach er freundlich: »Ich höre, Brenda ist tot. Kein großer Verlust, würde ich sagen. Diese Maus stank wie die Pest. Ich nehme an, du hast ihren Käfig zu nahe an die Heizung gestellt, ich habe dir immer gesagt, das ist ungesund, oder ist sie an Altersschwäche eingegangen?«
Falls er sich dazu entschloss, konnte Onkel Matthew einen außerordentlichen Charme entfalten, aber zu jener Zeit hatte ich immer schreckliche Angst vor ihm und machte den Fehler, ihn das merken zu lassen.
»Du solltest dir eine Haselmaus anschaffen, Fanny, oder eine Ratte. Die sind viel interessanter als weiße Mäuse – obwohl, offen gesagt, von allen Mäusen, die ich je gekannt habe, war Brenda mit Abstand die scheußlichste.«
»Sie war eben träge«, sagte ich in schmeichlerischem Ton.
»Wenn ich nach Weihnachten in London bin, werde ich dir eine Haselmaus besorgen. Sah neulich eine bei Army & Navy.«
»Oh, Pa, das ist unfair«, meinte Linda, die auf ihrem Pony im Schritt neben uns ritt. »Du weißt genau, wie sehr ich mir immer eine Haselmaus gewünscht habe.« Der Ausruf »Das ist unfair« war bei den Radletts, solange sie jung waren, eine stehende Wendung. Der gewaltige Vorteil, in einer großen Familie aufzuwachsen, besteht darin, dass einem schon früh die Lektion erteilt wird, wie unfair das Leben im Grunde ist. Ich muss allerdings sagen, dass es bei den Radletts fast immer zugunsten von Linda ausging, denn sie war der Liebling von Onkel Matthew.
Heute jedoch war mein Onkel böse auf sie, und schlagartig wurde mir klar, dass die Freundlichkeit, mit der er mir begegnete, dieses herzliche Geplauder über Mäuse, nur dazu bestimmt war, Linda zu ärgern.
»Du hast genug Tiere, Fräulein«, fuhr er sie an. »Kannst ja nicht mal auf die aufpassen, die du hast. Und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe: Der Hund von dir wandert schnurstracks in den Zwinger, wenn wir zurück sind, und da bleibt er!«
Lindas Gesicht knitterte, Tränen quollen hervor, sie versetzte ihr Pony in leichten Galopp und ritt dem Haus zu. Anscheinend hatte sich Labby, ihr Hund, nach dem Frühstück in Onkel Matthews Geschäftszimmer vergessen. Onkel Matthew konnte Schmutz bei Hunden nicht ausstehen, er hatte getobt, und in seiner Wut hatte er das Gebot erlassen, dass Labby nie wieder einen Fuß ins Haus setzen dürfe. Dergleichen trug sich mit den verschiedenen Tieren aus diesem oder jenem Grund immer wieder zu, aber da Onkel Matthews Gebell kräftiger war als sein Biss, währte die Verbannung selten länger als ein oder zwei Tage, danach begann dann »das dünne Ende des Keils«, wie er es nannte.
»Kann ich ihn kurz hereinlassen – will mir nur die Handschuhe holen?«
»Ich bin so müde, ich kann jetzt nicht zu den Ställen, lass ihn doch bis nach dem Tee hierbleiben, ja?«
»Aha, ich verstehe – das dünne Ende des Keils. Also gut, diesmal kann er bleiben, aber wenn er noch einmal Dreck macht, oder wenn ich ihn noch einmal auf deinem Bett erwische, oder wenn er noch einmal die guten Möbel anknabbert« – je nachdem, welches Verbrechen der Grund für die Verbannung gewesen war –, »dann wird er eingeschläfert, und sag nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Trotzdem, jedes Mal, wenn ein solches Verbannungsurteil gefällt worden war, malte sich die Besitzerin des Verurteilten aus, wie ihr geliebtes Wesen in der Einzelhaft, im kalten, finsteren Zwinger, fortan ein Leben der Trübsal fristen müsse.
»Auch wenn ich ihn jeden Tag drei Stunden ausführe und außerdem eine Stunde hingehe und mich mit ihm unterhalte, bleiben immer noch zwanzig Stunden, in denen er ganz allein ist und nichts zu tun hat. Wenn Hunde wenigstens lesen könnten!«
Wie man sieht, hegten die Radlett-Kinder sehr anthropomorphe Ansichten über ihre Lieblingstiere.
Heute jedoch war Onkel Matthew in ganz wunderbar guter Laune, und als wir aus dem Stall kamen, sagte er zu Linda, die bei Labby im Zwinger saß und weinte: »Willst du dieses arme Biest denn den ganzen Tag dort lassen?«
Im Nu hatte Linda ihre Tränen vergessen, als hätte sie nie geweint, und stürmte ins Haus, Labby hinterdrein. Immer waren die Radletts entweder auf dem Gipfel der Glückseligkeit, oder sie versanken in den schwarzen Fluten der Verzweiflung; nie bewegten sich ihre Gefühle auf einer mittleren Ebene, sie liebten oder sie hassten, sie lachten oder sie weinten, sie lebten in einer Welt der Superlative. Ihr Leben mit Onkel Matthew war wie ein immerwährendes Tom-Tiddler-Spiel, jenes Fangspiel, bei dem der Fänger sein abgegrenztes Gebiet scharf bewacht und die anderen versuchen müssen, einzudringen. Die Radlett-Kinder gingen so weit, wie sie sich getrauten, und manchmal kamen sie wirklich sehr weit, aber manchmal, ohne ersichtlichen Grund, fiel Onkel Matthew schon über sie her, wenn sie die Grenze kaum überschritten hatten. Wären sie Kinder armer Leute gewesen, dann hätte man sie wahrscheinlich von ihrem wütenden, brüllenden, prügelnden Papa weggebracht und in ein Heim geholt, oder man hätte ihn selbst weggebracht und ins Gefängnis gesteckt, weil er sich weigerte, seine Kinder zu erziehen. Aber die Natur selbst sorgt in solchen Fällen für Abhilfe, und in den Radletts steckte ohne Zweifel so viel von Onkel Matthew, dass sie Stürme zu überstehen vermochten, in denen gewöhnliche Kinder, wie ich eines war, völlig die Nerven verloren hätten.
Es war in Alconleigh allgemein bekannt, dass Onkel Matthew mich nicht ausstehen konnte. Dieser gewalttätige, unbeherrschte Mann kannte keinen mittleren Kurs, genauso wenig wie seine Kinder, entweder er liebte oder er hasste, und das muss man sagen: Meistens hasste er. Mich hasste er, weil er meinen Vater hasste; seit ihrer gemeinsamen Zeit in Eton waren sie alte Feinde. Als offenkundig wurde – und offenkundig war es seit der Stunde meiner Zeugung –, dass meine Eltern die Absicht hatten, mich vor die Tür zu setzen, kam Tante Sadie auf den Gedanken, mich gemeinsam mit Linda aufzuziehen. Wir waren gleich alt, und der Plan schien vernünftig. Aber Onkel Matthew weigerte sich kategorisch. Er verabscheue meinen Vater, so hieß es, er verabscheue mich, aber vor allem verabscheue er Kinder überhaupt, und dass er selbst zwei habe, sei schlimm genug. (Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass er schon bald ihrer sieben haben würde, und tatsächlich lebten er und Tante Sadie in einem Zustand fortwährenden Staunens angesichts der zahlreichen Wiegen, die sie gefüllt hatten – übrigens, wie es schien, ohne eine klare Vorstellung davon zu besitzen, wie sie deren Bewohner ihrer Zukunft entgegenführen sollten.) So nahm sich denn die gute Tante Emily, der irgendwann einmal ein verruchtes, schäkerndes Monstrum das Herz gebrochen hatte und die deshalb niemals heiraten wollte, meiner an und widmete mir ihr Leben, und dafür bin ich ihr sehr dankbar. Denn sie glaubte fest an die Bildung der Frau, sie gab sich ungeheure Mühe, mir eine ordentliche Erziehung zu verschaffen, und zog nur deshalb nach Shenley, weil es dort eine gute Tagesschule gab. Die Radlett-Töchter hatten so gut wie keinen Unterricht. Lucille, ihre französische Gouvernante, brachte ihnen Lesen und Schreiben bei; jede von ihnen, obgleich sie allesamt völlig unmusikalisch waren, musste täglich eine Stunde in dem eiskalten Ballsaal »üben« – wo sie dann, die Augen auf die Uhr geheftet, den »Fröhlichen Landmann« und ein paar Tonleitern herunterhaspelten; und außerdem sollten sie an allen Tagen, außer wenn Jagd war, mit Lucille einen Französischspaziergang machen – darin bestand ihre ganze Schulerziehung. Onkel Matthew hasste kluge Frauen, hielt es aber für richtig, dass Frauen von Stand nicht nur reiten, sondern auch Französisch sprechen und Klavier spielen konnten. Obwohl ich sie als Kind natürlich um diese Freiheit von Zwang und Unterdrückung, von Rechnen und Wissenschaft beneidete, schöpfte ich doch eine pharisäische Befriedigung aus dem Gedanken, dass ich nicht ungebildet aufwuchs wie sie.
Tante Emily kam nicht oft mit mir nach Alconleigh. Vielleicht glaubte sie, es mache mir mehr Vergnügen, allein dort zu sein, und zweifellos tat auch ihr die Veränderung gut, einmal zu verreisen, das Weihnachtsfest bei ihren Jugendfreundinnen zu verbringen und sich ein wenig von der Verantwortung zu erholen, die sie im Alter noch auf sich genommen hatte. Tante Emily war damals vierzig, und für uns Kinder war sie ein Wesen, das der Welt, dem Fleisch und dem Teufel längst entsagt hatte. In diesem Jahr jedoch war sie schon vor Beginn der Ferien von Shenley abgereist und hatte gesagt, sie wolle mich im Januar in Alconleigh treffen.
*
Am Nachmittag nach der Kinderjagd berief Linda eine Versammlung der Hons ein. Die Hons waren die Geheimgesellschaft der »honorigen« Radletts. Wer den Hons unfreundlich gesinnt war, war ein Anti-Hon, und der Schlachtruf der Hons lautete »Tod den furchtbaren Anti-Hons!«. Ich war ein Hon, denn mein Vater war, wie der ihre, ein Lord.
Es gab aber auch zahlreiche Ehren-Hons; um ein Hon zu werden, musste man nicht unbedingt als solcher geboren sein. So meinte Linda einmal: »Ein gutes Herz ist mehr wert als ein Adelskrönchen und schlichte Treue mehr als normannisches Blut.« Ich weiß nicht genau, wie ernst wir das meinten, denn wir waren damals eingefleischte Snobs, aber die Grundidee leuchtete uns ein. Anführer der Ehren-Hons war Josh, der Pferdepfleger, der bei uns ungeheuer beliebt war und ganze Kübel von normannischem Blut aufwog; Oberhaupt der furchtbaren Anti-Hons war Craven, der Wildhüter, der in einem immerwährenden Krieg bis aufs Messer bekämpft wurde. Die Hons schlichen in den Wald und versteckten Cravens Stahlfallen, sie ließen die Buchfinken frei, die er ohne Nahrung und Wasser als Köder für Falken in Drahtkäfige gesperrt hatte, sie verschafften den Todesopfern in seinen Fallen ein anständiges Begräbnis, und vor einem Jagdtreffen öffneten sie die Eingänge der Fuchsbauten, die Craven so sorgfältig verstopft hatte.
Schon die Radlett-Kinder litten unter den Grausamkeiten des Landlebens, aber erst recht für mich offenbarte sich während der Ferien in Alconleigh die Welt von ihrer abscheulichsten Seite. Tante Emilys kleines Haus lag in einem Dorf, eine Schachtel im Queen-Anne-Stil mit roten Ziegeln und weißer Holzverkleidung, daneben eine Magnolie und die Luft erfüllt von einem köstlich frischen Duft. Zwischen dem Haus und dem freien Land lagen ein hübsches Gärtchen, ein eiserner Zaun, eine Dorfwiese und ein Dorf. Und die Landschaft, in die man dann gelangte, war ganz anders als in Gloucestershire, sie war zahm, gehegt und gepflegt, fast wie ein Vorstadtgarten. In Alconleigh hingegen drängten sich die grausigen Wälder bis ans Haus; es war nicht ungewöhnlich, dass man von den Schreien eines Kaninchens geweckt wurde, das in panischer Angst ein Wiesel umkreiste, oder von dem unheimlichen Ruf des Fuchsrüden, oder dass man vom Schlafzimmerfenster aus zusehen konnte, wie die Füchsin in ihrem Maul ein lebendes Huhn davonschleppte, während der Fasan und die wachende Eule die Nächte mit wilden Urweltlauten erfüllten. Im Winter, wenn der Erdboden mit Schnee bedeckt war, konnten wir die Fußspuren vieler Tiere verfolgen. Und oft endeten sie in einer Blutlache, einem Gewirr von Fellfetzen oder Federn, die von den erfolgreichen Streifzügen der Raubtiere zeugten.
Auf der anderen Seite des Hauses lag, kaum einen Steinwurf entfernt, der Gutshof. Hier wurden in aller Selbstverständlichkeit und für jeden Vorüberkommenden von Weitem sichtbar Hühner und Schweine geschlachtet, Lämmer kastriert und Rinder gebrannt. Selbst der gute alte Josh machte sich nichts daraus, einem Lieblingspferd nach der Jagdzeit mit rot glühenden Eisen ein Zeichen einzubrennen.
»Man kann nur zwei Beine auf einmal machen«, sagte er und pfiff dabei durch die Zähne, als wäre man selbst das Pferd, das er gerade versorgte, »sonst würden sie den Schmerz nicht aushalten.«
Linda und ich, wir waren selbst sehr empfindlich gegen Schmerz und fanden es unerträglich, dass Tiere im Leben so gemartert wurden und so qualvolle Tode sterben mussten. (Auch heute geht mir das noch nahe, sogar sehr, aber damals in Alconleigh waren wir alle von diesen grausamen Vorstellungen geradezu besessen.)
Die humanitären Aktivitäten der Hons hatte Onkel Matthew bei Androhung von Strafe verboten. Immer stand er auf der Seite von Craven, den er von all seinen Leuten am meisten schätzte. Fasane und Rebhühner mussten gehegt, Schädlinge rigoros ausgemerzt werden, den Fuchs ausgenommen, dem ein aufregenderer Tod vorbehalten war. So manche Tracht Prügel mussten die armen Hons einstecken, Woche für Woche wurde ihnen das Taschengeld gesperrt, sie mussten vorzeitig ins Bett oder zur Strafe mehr üben; und doch ließen sie sich nicht von ihren Aktionen abbringen. Große Kisten voll neuer Stahlfallen trafen von Zeit zu Zeit aus den Army & Navy Stores ein und lagen, bis sie gebraucht wurden, aufgestapelt bei Cravens Hütte mitten im Wald (sein Hauptquartier war ein alter Eisenbahnwaggon, der höchst unpassend zwischen Primeln und Brombeersträuchern auf einer zauberhaften kleinen Lichtung stand); Hunderte von Fallen, die uns spüren ließen, wie vergeblich es war, wenn wir unter beträchtlichen Gefahren für Leben und Eigentum jämmerliche drei oder vier von ihnen vergruben. Manchmal fanden wir ein wimmerndes Tier, das sich in einer von ihnen verfangen hatte, und mussten zu seiner Befreiung unseren ganzen Mut zusammennehmen, um dann mitanzusehen, wie es auf drei Beinen davonhumpelte, ein zermalmtes Gräuel hinter sich her schleifend. Wir wussten, dass es wahrscheinlich in seinem Bau an Blutvergiftung sterben würde; immer wieder rieb uns Onkel Matthew diese Tatsache unter die Nase, ersparte uns keine einzige der qualvollen Einzelheiten des verlängerten Martyriums, aber obwohl wir wussten, dass es gnädiger gewesen wäre, brachten wir es nie übers Herz, es zu töten; das war einfach zu viel verlangt. Oft kam es nach solchen Zwischenfällen vor, dass wir uns erbrechen mussten.
Versammlungsort der Hons war ein unbenutzter Wäscheschrank ganz oben im Haus, eng, dunkel und überaus stickig. Wie in vielen Landhäusern hatte man auch in Alconleigh unter immensem Kostenaufwand schon bald nach ihrer Erfindung eine Zentralheizung eingebaut, die inzwischen gründlich veraltet war. Trotz eines Heizkessels, der groß genug für einen Atlantikdampfer war, und trotz der Tonnen von Koks, die er Tag für Tag verzehrte, hatte die Anlage so gut wie keine Auswirkungen auf die Temperatur in den Wohnzimmern, und alle verfügbare Wärme schien sich im Wäscheschrank der Hons zu sammeln, der immer überhitzt war. Hier saßen wir auf den Lattenregalen eng zusammengedrängt und unterhielten uns stundenlang über Leben und Tod.
Unsere große Obsession während der letzten Ferien war die Geburt gewesen, ein hinreißendes Thema, über das wir erstaunlich spät etwas erfahren hatten, nachdem wir lange Zeit angenommen hatten, der Magen der Mutter würde neun Monate lang immer weiter anschwellen, dann wie ein reifer Kürbis aufplatzen und das Kind herausschleudern. Als uns die Wahrheit dämmerte, fanden wir sie ziemlich enttäuschend, bis Linda mit einem Roman kam, in dem sie die Schilderung einer in den Wehen liegenden Frau gefunden hatte. Mit schauriger Stimme las sie vor.
»Ihr Atem geht in heftigen Stößen – Schweiß rinnt ihr wie Wasser von der Stirn – Schreie wie die eines gequälten Tieres zerreißen die Luft – gehört dies schmerzverzerrte Gesicht meinem Liebling Rhona – ist diese Folterkammer wirklich unser Schlafzimmer, ist dieses Martergerüst wirklich unser Ehebett? ›Doktor, Doktor‹, schrie ich, ›so tun Sie doch etwas!‹ – und stürzte hinaus in die Nacht« – und so weiter.
Wir waren danach ziemlich verstört, denn uns war klar, auch wir würden mit einiger Wahrscheinlichkeit diese grauenhaften Qualen erdulden müssen. Tante Sadie, die eben ihr siebtes und letztes Kind bekommen hatte und die wir befragten, wirkte nicht sehr beruhigend.
»Nun ja«, meinte sie ausweichend. »Es sind die schlimmsten Schmerzen auf der Welt. Aber das Komische dabei ist, dass man zwischendurch immer vergisst, wie sie sind. Jedes Mal, wenn es anfing, hätte ich am liebsten gerufen: ›Ah, jetzt fällt es mir wieder ein, Schluss damit, Schluss!‹ Aber da war es dann natürlich neun Monate zu spät.«
In diesem Augenblick fing Linda an zu weinen und meinte, wie furchtbar das alles für Kühe sein müsse, womit das Gespräch ein Ende nahm.
Es war schwierig, mit Tante Sadie über Sexualität zu sprechen; irgendetwas war immer im Weg; Babys waren das Äußerste, weiter kamen wir nie. Allerdings gelangten sie und Tante Emily irgendwann zu der Ansicht, wir sollten mehr erfahren. Da es ihnen aber wohl zu peinlich war, uns selbst aufzuklären, schenkten sie uns ein modernes Lehrbuch über dieses Thema.
Auf diese Weise gelangten wir zu einigen seltsamen Vorstellungen.
»Jassy, das arme Ding«, sagte Linda eines Tages spöttisch, »ist von der Sexualität besessen.«
»Von der Sexualität besessen!«, meinte Jassy. »Niemand ist so besessen wie du, Linda. Ich brauche bloß ein Bild anzusehen, und schon behauptest du, ich sei ein zweiter Pygmalion.«
Am Ende holten wir uns sehr viel mehr Informationen aus einem Buch mit dem Titel Enten und Entenzucht.
»Kopulieren können Enten«, meinte Linda, nachdem sie ein Weilchen darin studiert hatte, »nur in fließendem Wasser. Na dann, viel Glück!«
Auch diesmal hockten wir am Tag vor Weihnachten im Versammlungsraum der Hons dicht beieinander, um zu hören, was Linda zu sagen hatte – Louisa, Jassy, Bob, Matt und ich.
»Reden wir über die Rückkehr in den Mutterleib«, meinte Jassy.
»Die arme Tante Sadie«, warf ich ein. »Ich glaube nicht, dass sie euch noch mal alle in ihrem haben möchte.«
»Kann man nie wissen. Kaninchen zum Beispiel fressen ihre eigenen Kinder – jemand müsste ihnen mal erklären, dass es nur ein Komplex ist.«
»Was soll man Kaninchen denn erklären? Das ist doch das Traurige bei Tieren, sie verstehen einfach nicht, wenn man ihnen etwas sagt, die armen Engel. Aber über Sadie will ich euch was sagen: Sie würde selbst gern in einen zurückkehren, sie hat einen Kistentick, daran sieht man es immer. Und sonst – Fanny, wie ist es bei dir?«
»Ich glaube nicht, dass ich gern wieder dort wäre, aber ich nehme an, der, in dem ich früher gewesen bin, war auch nicht besonders bequem, und sonst hat sich dort ja auch niemand für längere Zeit aufhalten dürfen.«
»Fehlgeburten?«, fragte Linda interessiert.
»Na, jedenfalls gewaltige Sprünge und heiße Bäder.«
»Woher weißt du das?«
»Als ich noch ganz klein war, habe ich mal gehört, wie Tante Emily und Tante Sadie darüber sprachen, und später fiel es mir wieder ein. Tante Sadie sagte: ›Wie macht sie das eigentlich?‹ – und Tante Emily antwortete: ›Skifahren oder auf die Jagd gehen oder einfach vom Küchentisch springen.‹«
»Du hast ein Glück mit deinen verruchten Eltern!«
Diesen Refrain führten die Radletts ständig im Munde, und tatsächlich waren in ihren Augen meine verruchten Eltern das Interessanteste an mir – ansonsten war ich ein sehr langweiliges kleines Mädchen.
»Die Neuigkeiten, die ich heute für die Hons habe«, sagte Linda und räusperte sich wie ein Erwachsener, »sind zwar für alle Hons von Interesse, sie betreffen aber vor allem Fanny. Ich will euch nicht raten lassen, denn es ist fast Teezeit, und ihr kämt doch nicht darauf, deshalb sage ich es sofort. Tante Emily hat sich verlobt.«
Im Chor schnappten die Hons nach Luft.
»Linda«, sagte ich wütend, »das hast du erfunden.« Aber ich wusste, sie konnte es nicht erfunden haben.
Linda zog ein Stück Papier aus der Tasche. Es war ein halber Bogen Schreibpapier, bedeckt mit Tante Emilys großer, kindlicher Handschrift, offenbar das Ende eines Briefes – ich sah Linda über die Schulter, während sie vorlas: »… meinst Du, meine Liebe, sollten wir den Kindern nicht sagen, dass wir verlobt sind? Aber was wäre, wenn Fanny eine Abneigung gegen ihn fasst, obwohl ich mir das nicht vorstellen kann, aber Kinder sind so komisch, wäre der Schock dann nicht noch größer? Ach je, ich kann mich nicht entscheiden. Also tu, was du für das Beste hältst, wir treffen am Donnerstag ein, am Mittwochabend werde ich anrufen, um zu hören, wie es gegangen ist. Alles Liebe, Deine Emily.«
Die Sensation im Wäscheschrank war perfekt.
»Aber warum?«, fragte ich zum hundertsten Mal. Linda, Louisa und ich, wir lagen dicht aneinandergedrängt in Louisas Bett, Bob saß am Fußende, und wir plauderten im Flüsterton. Solche Mitternachtsgespräche waren zwar streng verboten, aber in Alconleigh konnte man während der frühen Nachtstunden gefahrloser als zu jeder anderen Tages- oder Nachtzeit gegen bestehende Gebote verstoßen. Onkel Matthew schlief praktisch bei Tisch ein. Dann döste er noch ungefähr eine Stunde in seinem Geschäftszimmer, bevor er sich in schlafwandlerischer Trance endgültig in sein Bett schleppte, wo er den tiefen Schlaf eines Mannes schlief, der den ganzen Tag im Freien zugebracht hat. Aber schon mit dem ersten Hahnenschrei am nächsten Morgen war er wieder auf den Beinen. Um diese Zeit führte er mit den Hausmädchen seinen nie endenden Krieg um die Holzasche. Beheizt wurden die Räume in Alconleigh nämlich mit Holzfeuern, und Onkel Matthew vertrat zu Recht die Auffassung, damit diese Feuer richtig brennten, müsse man die ganze Asche in einem großen schwelenden Haufen in den Kaminen lassen. Aus irgendeinem Grund jedoch (wahrscheinlich ihre frühere Ausbildung an Kohlefeuern) neigten alle Hausmädchen dazu, die Asche einfach fortzuschaffen. Als die Knüffe, Verwünschungen und plötzlichen Überfälle von Onkel Matthew im Paisley-Morgenrock um sechs Uhr früh sie endlich davon überzeugt hatten, dass es nicht ratsam sei, so zu verfahren, versteiften sie sich darauf, jeden Morgen, koste es, was es wolle, wenigstens ein wenig Asche, vielleicht eine Schaufel, abzutragen. Ich kann es mir nur so erklären, dass sie dabei im Wesentlichen das eigene Selbstwertgefühl im Auge hatten.
Das Resultat war jedenfalls ein höchst aufregender Guerillakrieg. Hausmädchen sind notorische Frühaufsteherinnen, und im Allgemeinen können sie morgens mit drei ungestörten Stunden rechnen, in denen das Haus ganz allein ihnen gehört. Nicht so in Alconleigh. Onkel Matthew stand immer, winters wie sommers, um fünf Uhr morgens auf und hatte die Angewohnheit, sodann im Morgenrock – ein Anblick wie Agrippa – umherzuwandeln und dabei unzählige Tassen Tee aus einer Thermoskanne zu schlürfen, bis er gegen sieben sein Bad nahm. Das Frühstück für meinen Onkel, meine Tante, den Rest der Familie und alle Gäste stand um Punkt acht auf dem Tisch, und Unpünktlichkeit wurde nicht geduldet. Auf anderer Leute Morgenschlaf nahm Onkel Matthew keinerlei Rücksicht, und nach fünf Uhr war auf einen solchen nicht mehr zu hoffen, denn dann polterte er unter dem Geklirr seiner Teetasse durchs Haus, schrie die Hunde an, beschimpfte die Hausmädchen, ließ draußen auf dem Rasen die Viehpeitsche knallen, die er aus Kanada mitgebracht hatte, ein Lärm, der jeden Gewehrschuss überdröhnt hätte – und zu alledem kam noch die musikalische Untermalung aus seinem Grammophon, einem abnorm lauten, aus dessen gewaltigem Schalltrichter die Stimme der Galli-Curci mit Stücken wie »Una voce poco fa«, der »Wahnsinnsarie« aus Lucia di Lammermoor, »Sieh dort die hei-tre Le-her-che« und dergleichen mehr hervorschrillte, mit Höchstgeschwindigkeit abgespielt, wodurch sie noch höher und noch kreischender ausfiel, als sie eigentlich klingen sollte.
Nichts erinnert mich so sehr an die Tage meiner Kindheit in Alconleigh wie diese Arien. Onkel Matthew spielte sie unablässig viele Jahre lang, bis der Zauber zerbrach – als er nämlich den ganzen Weg bis Liverpool reiste, um die Galli-Curci in Person zu hören. Die Enttäuschung, die ihr Auftritt hervorrief, war so groß, dass ihre Schallplatten danach für immer schwiegen. Ersetzt wurden sie durch die tiefsten Bassstimmen, die man für Geld kaufen konnte: »Furchtbar muss der Tod des Tauchers sein, der in der Meerestie-hie-hie-fe wandelt so allein« oder »Drake zieht nach Westen, Jungs«.
Im Großen und Ganzen begrüßte die Familie diese Stücke, weil sie im Morgengrauen weniger durchdringend waren.
*
»Warum sie wohl jetzt heiraten will?«
»Verliebt haben kann sie sich nicht. Sie ist vierzig.«
Wie alle sehr jungen Leute hielten wir es für ausgemacht, dass die Liebe zu den Kinderspielen zählt.
»Was glaubst du, wie alt er ist?«
»Fünfzig oder sechzig, nehme ich an. Vielleicht findet sie es schön, Witwe zu werden. Mit Trauerflor und so, weißt du?«
»Vielleicht glaubt sie, der Einfluss eines Mannes werde Fanny guttun.«
»Der Einfluss eines Mannes!«, meinte Louisa. »Mir schwant Schlimmes. Angenommen, er verliebt sich in Fanny, das gäbe ein nettes Drunter und Drüber, wie Somerset und Prinzessin Elisabeth – er wird wilde Spiele mit dir spielen und dich kneifen, wenn du im Bett liegst – du wirst sehen!«
»Bestimmt nicht, in seinem Alter!«
»Alte Männer mögen kleine Mädchen.«
»Und kleine Jungs«, meldete sich Bob.
»Es sieht so aus, als wolle Tante Sadie nichts sagen, solange sie nicht da sind«, erklärte ich.
»Es bleibt ja noch fast eine Woche bis dahin – vielleicht überlegt sie es sich noch mal. Wahrscheinlich bespricht sie sich mit Pa. Es könnte sich lohnen, zuzuhören, wenn sie das nächste Mal badet. Mach du das, Bob.«
*
Der Weihnachtstag verging wie üblich in Alconleigh, zwischen plötzlichen Ausbrüchen von Sonnenschein und Regenschauern. Die verwirrenden Neuigkeiten über Tante Emily schlug ich mir einfach für ein Weilchen aus dem Kopf, wie Kinder das können, und konzentrierte mich ganz auf das Vergnügen. Linda und ich, wir rieben uns um sechs Uhr morgens den Schlaf aus den Augen und machten uns über die Strümpfe her. Die eigentlichen Geschenke kamen später, beim Frühstück und am Baum, aber die Strümpfe waren ein wunderbares Horsd’œuvre und voller Schätze. Schon kam Jassy herein und fing an, uns Dinge aus ihren Strümpfen zum Verkauf anzubieten. Jassy war immer nur auf Geld aus – sie sparte, um später ausreißen zu können. Ihr Postsparbuch trug sie stets bei sich, und sie wusste jederzeit auf den Penny genau, wie viel sie hatte. Mit einer ans Wunderbare grenzenden Tatkraft – denn Jassy war im Rechnen sehr schlecht – rechnete sie diesen Betrag dann in soundso viele Tage in einem möblierten Zimmer um.
»Wie kommst du voran, Jassy?«
»Die Fahrt nach London und dazu ein Monat und zwei Tage und anderthalb Stunden in einem möblierten Zimmer mit Waschgelegenheit und Frühstück.«
Woher die übrigen Mahlzeiten kommen sollten, blieb der Fantasie überlassen. Jeden Morgen studierte Jassy die Annoncen für möblierte Zimmer in der Times. Das Billigste, das sie bisher gefunden hatte, lag in Claphath. Sie war so sehr hinter dem Bargeld her, mit dem sie ihren Traum verwirklichen wollte, dass man zu Weihnachten und um die Zeit ihres Geburtstags mit einiger Sicherheit ein paar günstige Geschäfte mit ihr machen konnte. Jassy war damals acht Jahre alt.
Ich muss zugeben, dass sich meine verruchten Eltern zu Weihnachten stets von ihrer allerbesten Seite zeigten, und um die Geschenke, die ich von ihnen bekam, beneidete mich immer das ganze Haus. In diesem Jahr schickte mir meine Mutter aus Paris einen vergoldeten Käfig voller ausgestopfter Kolibris, die, wenn man sie aufzog, zwitscherten, herumhüpften und an einem Brünnchen tranken. Außerdem schickte sie mir eine Pelzmütze und ein goldenes Armband mit einem Topas, die umso mehr Glanz ausstrahlten, als Tante Sadie der Ansicht war, sie seien nichts für ein Kind, und dies auch kundtat. Mein Vater schickte mir ein Pony und einen Wagen, ein hübsches, elegantes Gefährt, das ein paar Tage früher eingetroffen und von Josh in den Ställen versteckt worden war.
»Mal wieder typisch für diesen verdammten Edward, dass er es hierher schickt«, sagte Onkel Matthew, »jetzt haben wir den Ärger und können zusehen, wie wir es nach Shenley schaffen. Und ich wette, die alte Emily wird auch nicht gerade froh darüber sein. Wer, zum Henker, soll sich denn darum kümmern?«
Linda weinte vor Neid. »Es ist wirklich unfair«, sagte sie immer wieder, »dass nur du verruchte Eltern hast und ich nicht.«
Wir überredeten Josh, nach dem Mittagessen einen Ausflug mit uns zu machen. Das Pony war sehr brav, und das Gespann ließ sich auch von einem Kind leicht handhaben, sogar das Anschirren machte keine Schwierigkeiten. Linda trug meine Mütze und lenkte das Pony. Zum Baum kamen wir fast zu spät – das Haus war schon voller Pächter mit ihren Kindern; Onkel Matthew, der sich gerade mühsam in sein Weihnachtsmannkostüm hineinzwängte, brüllte uns so wütend an, dass Linda in Tränen ausbrach, auf ihr Zimmer gehen musste und nachher auch nicht herunterkam, um ihr Geschenk von ihm entgegenzunehmen. Darüber ärgerte sich nun wieder Onkel Matthew, der mit vieler Mühe die lang ersehnte Haselmaus für sie aufgetrieben hatte; jeden brüllte er an und knirschte mit seinen künstlichen Zähnen. In der Familie kursierte die Legende, er habe im Zorn schon vier Gebisse zerknirscht.
Seinen gewalttätigen Höhepunkt erreichte der Abend, als Matt eine Schachtel mit Feuerwerksknallern hervorholte, die ihm meine Mutter aus Paris geschickt hatte. Auf dem Deckel hießen sie pétards. Jemand fragte Matt: »Was machen die denn?«, worauf er zur Antwort gab: »