Erhebe deine Stimme und werde Licht - Jobst Bittner - E-Book

Erhebe deine Stimme und werde Licht E-Book

Jobst Bittner

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Beschreibung

Unsere Erinnerung an den Holocaust verblasst schnell. Jeden Tag sehen sich Juden Angst, Gewalt und Einschüchterung ausgesetzt. Antisemitismus und Judenhass gibt es in nahezu jedem Land, in jeder Stadt – weltweit. Es ist nicht genug "Nie wieder" zum Holocaust zu sagen, wenn wir verhindern wollen, dass Judenhass in Gewalt übergeht und antisemitische Diffamierungen sich weiter ausbreiten. Wir können in der heutigen Zeit wieder Mitläufer sein und wie unsere Vorfahren durch unser Schweigen schuldig werden. Wer sein Schweigen bricht, erhebt seine Stimme und wird Licht! Dieses Buch berührt, inspiriert und hilft dabei, mit praktischen Schritten den Unterschied zu machen.

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Erhebe deineStimmeund werde Licht

JOBST BITTNER

Für meinen Freund Carlos Gabriel Jiménez (1937 – 2017),der in den letzten Jahren seines Lebens zu denjüdischen Wurzeln seiner Familie zurückgefunden hat.

Die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten ist eine politische Daueraufgabe einer jeden Bundesregierung. Das war so und wird auch so bleiben. Wir müssen uns für die Zukunft neue Konzepte überlegen, um antisemitische Vorfälle zu verhindern.

Der „Marsch des Lebens“ ist eine großartige Initiative, die einen wertvollen Beitrag dazu leistet. Ich wünsche jeder Stadt, dass Sie solch eine Veranstaltung macht.

Dr. Felix Klein

Antisemitismusbeauftragter der deutschen Bundesregierung

© 2018 TOS Verlag, Tübingen

ISBN eBook: 978-3-9818040-7-2

ISBN Buch: 978-3-9818040-6-5

Die Bibelzitate in diesem Buch sind, wenn nicht anders angegeben, entnommen aus der Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Satz: Stefan Gärtner

Lektorat: Carmen Shamsianpur, Nicole Anders

Umschlaggestaltung: Stefan Klein

INHALT

Vorwort

Einleitung

I.Tübingen bittet um Vergebung

II.Der Marsch des Lebens – eine weltweite Bewegung

Das Erbe der Holocaustüberlebenden

Die Decke des Schweigens

Das Schweigen der Nationen – verschlossene Grenzen!

Die Erblast eines fast 2.000-jährigen christlichen Antisemitismus

Segensträger für Israel und Heilung für Städte und Nationen

Die geistlichen Grundlagen sind universal

Von der Schoah zu neuem Leben

III. Die Grundlagen der Marsch des Lebens Bewegung

Die Aufarbeitung wird persönlich

IV. Die Schuld der Christen am Volk der Juden

Die tödliche Infektion der Kirche

Die Kreuzzüge

Die spanische Inquisition

Die Reformation

Die Neuzeit

Zwischen den Fronten

Unterdrückung im Osten

Pogrome

Nationalsozialismus

Der Zweite Weltkrieg

Geschlossene Grenzen

Gleichgültig und passiv

Antisemitismus in Deutschland und Europa

Antisemitismus weltweit

Werden wir wieder schweigen?

Wenn das Schweigen zerbricht

V.Die Wegbereiter des Judenhasses damals und heute

Die Ideologie der „nationalen Volksgemeinschaft”

Die Berliner Sportpalastrede

Die zehn Fragen Goebbels

Die Macht des Wortes

Die Auswirkungen nach dem Krieg

Der Rückzug in die Opferrolle

Der Missbrauch des Wortes und die Verzauberung durch Massensuggestion

Die Wahrheit aussprechen

VI. Erhebe deine Stimme

Der unbekannte Engel

Wege des Todes in Wege des Lebens verwandeln

Aktiv werden

Aufwachen

Einen Marsch des Lebens durchführen

VII. Epilog

VIII. Anhang

Informieren Sie sich über den Marsch des Lebens

Literaturverzeichnis

VORWORT

Im Februar 2018 hatte ich das Vorrecht, an der jährlichen Marsch des Lebens Konferenz in Tübingen, Deutschland, teilzunehmen. Ich werde es nie vergessen, wie 500 Leute – und viele von ihnen Nachkommen von Nazis und SS-Offizieren – tanzten und den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs für den Staat Israel ehrten. Sie taten Buße für das, was ihre Vorfahren erst ein oder zwei Generationen zuvor getan hatten.

Es gibt keinen zweiten Ort wie Tübingen, eine Stadt, die eine Eliteschule der Nazis beheimatete und wo 300 der SS-Exekutoren und Hauptmassenmörder dazu ausgebildet wurden, dieses Volk zu hassen und zu ermorden – und wo jetzt positive Energie von Liebe und Hoffnung weitergegeben wurde.

Für mich war es die Fortsetzung meiner Teilnahme am Marsch des Lebens in Lodz, wo im September Hunderte von Menschen auf der Straße marschierten. In Lodz wurden fünf meiner acht Ururgroßeltern geboren, die durch den Hass und die Grausamkeiten nicht überlebten.

Bei beiden Ereignissen stand ich stellvertretend für die Vergangenheit meiner Familie da; aber ich war auch gleichzeitig der offizielle Vertreter des Staates Israel, der vor weniger als hundert Jahren als ein Ausdruck seines Bundes mit dem Volk Israels entstand. Diese Veranstaltungen und viele ähnliche sind ein Ausdruck der Wunder, die wir in unserer Zeit sehen, während sich die Worte der Propheten in der Bibel entfalten und auf wunderbare Weise vor unseren Augen Wirklichkeit werden.

Wenn wir nun auf das nächste große Ereignis zugehen, auf den Marsch der Nationen in den Straßen Jerusalems anlässlich des 70. Jahrestages der Staatsgründung Israels, bin ich geehrt, den Organisatoren dieser großartigen Ereignisse meinen Segen zu geben, ganz besonders Jobst Bittner und seiner wunderbaren Frau. Ich wünsche mir, dass wir uns alle vereinen, um die Botschaft des Wortes Gottes von Frieden und Annahme der ganzen Menschheit weiterzugeben.

Yehuda Glick

Knessetabgeordneter Israel

EINLEITUNG

Vor mehr als zehn Jahren starteten wir mit einer kleinen Gruppe den ersten „Marsch des Lebens“. Inzwischen waren wir in mehr als 370 Städten und 20 Nationen unterwegs. In jedem Jahr finden inzwischen bis zu 60 Märsche des Lebens rund um Jom HaSchoah statt. Aus dem „Marsch des Lebens“ wurde eine weltweite Bewegung, die inzwischen Zehntausende auf den Straßen mobilisiert und Millionen über Presse und Medien mit derselben Botschaft erreicht hat: Erinnere an den Holocaust – und lerne aus der Vergangenheit! Erzähle die Wahrheit – und versöhne! Erhebe deine Stimme gegen Antisemitismus und Judenhass und steh in Freundschaft an der Seite Israels! Erhebe deine Stimme und werde Licht! Darum geht es in einer Zeit, in der weltweit in den Medien, in der digitalen Welt und auf jeder gesellschaftlichen Ebene die Schwelle zum Judenhass und Antisemitismus so niedrig ist wie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr.

Ich habe in diesem kleinen Buch Informationen, persönliche Geschichten und lesenswerte Artikel zusammengestellt, die Ihnen zur Inspiration und Anregung dienen können. Die Quellen können Sie für ihre eigenen Veranstaltungen nutzen.

Ich telefonierte vor einiger Zeit mit einem sehr bekannten jüdisch-orthodoxen Musiker. Bevor ich zu Wort kam, begrüßte er mich und sagte: „Ich kenne eure Arbeit vom Marsch des Lebens – ihr seid Licht und kämpft gegen die Finsternis!“ Ich war etwas irritiert und entgegnete, dass es für uns ein Vorrecht sei, die Märsche des Lebens für Israel durchzuführen. Er wurde etwas ungeduldig: „Nein, nein! Ihr dient Holocaustüberlebenden und erhebt eure Stimme für Israel! Ihr seid Licht – und durch euch verschwindet Finsternis!“ Eigentlich drückte er genau das aus, was beim Propheten Jesaja gemeint ist:

Um Zions willen will ich nicht schweigen, und um Jerusalems willen will ich nicht innehalten, bis seine Gerechtigkeit aufgehe wie ein Glanz und sein Heil brenne wie eine Fackel, dass die Völker sehen deine Gerechtigkeit und alle Könige deine Herrlichkeit. (Jes 62,1-2a)

Einen der ersten Märsche des Lebens führten wir in Litauen durch. Wir trafen bei den Vorbereitungen Jakob, der immer noch in demselben Haus wohnte, das 1941 im Ghetto von Kaunas stand. Kaunas war eines der bedeutendsten jüdischen Zentren im Baltikum, zu denen heute Litauen, Estland und Lettland gehören. Jakob ist einer der letzten Überlebenden des ehemaligen Ghettos. Nach einer herzlichen Begrüßung folgten wir ihm über ein schmales Treppenhaus in das obere Stockwerk, in dem er wohnte. Auf dem Weg nach oben wies er auf die hölzernen Stufen. SS-Soldaten waren bei der Auflösung des Ghettos hier herauf gestürmt und hatten seine Familie mit den letzten Überlebenden des Ghettos zusammengetrieben, um sie zur Massenexekution zu führen. Jakobs Vater gelang es, mit ihm und seinen Geschwistern aus dem Haus zu fliehen. Seine Mutter und ihre Eltern waren vorher abgeführt worden. Er sah, wie sie an seinem Haus vorbeigeführt wurden. Jakob und seine Familie versteckten sich für acht Monate in einem Loch unter den Schweinen eines Schweinestalls und überlebten.

Abends saßen wir mit Jakob zusammen und er erzählte uns aus seinen Erinnerungen. Inzwischen hatte er zu uns Vertrauen gewonnen und er war bereit, uns seinen kostbarsten Schatz zu zeigen. Er führte uns in seine Bibliothek. Neben den alten Handschriften seiner rabbinischen Vorfahren stand ein Karton, auf dem die Adresse des Washingtoner Holocaustmuseums stand. Er löste vorsichtig die Schnüre des Kartons und öffnete ihn. In dem Karton lag eine alte Thorarolle, die seinem Bruder gehört hatte. Sie war bis vor Kurzem eine Leihgabe für das Washingtoner Holocaustmuseum gewesen und dann von dort zurückgesandt worden. Vorsichtig holte er sie heraus und deutete auf dunkle braune Flecken. Jakobs Bruder war Rabbi gewesen und hatte die Thora aus einer brennenden Synagoge gerettet. Er floh vor den Nazischergen, drückte die Thorarolle an sich und schützt sie mit seinem Körper. Ein Schuss fiel, die Kugel durchdrang seinen Körper und verletzte ihn schwer. Die Thorarolle wurde von seinem Blut durchtränkt. Das ist die Geschichte der braunen Flecken. Es war das Blut von einem Rabbi, der sein Leben für das Wort Gottes eingesetzt hat.

Jedes Schicksal des Holocaust hat einen Namen und eine Geschichte. Gleichzeitig hätte der Holocaust nicht stattfinden können, wenn es nicht eine „schweigende Mehrheit“ gegeben hätte, die gleichgültig schwieg und zuschaute, wie jüdisches Leben entwürdigt, entrechtet, ausgegrenzt und vernichtet wurde.

Unsere Erinnerung an den Holocaust verblasst schnell. Jeden Tag sehen sich Juden Angst, Gewalt und Einschüchterung ausgesetzt. Antisemitismus und Judenhass gibt es in nahezu jedem Land, in jeder Stadt – weltweit. Es ist nicht genug „Nie wieder“ zum Holocaust zu sagen, wenn wir verhindern wollen, dass Judenhass in Gewalt übergeht und antisemitische Diffamierungen sich weiter ausbreiten. Wir können in der heutigen Zeit wieder Mitläufer sein und wie unsere Vorfahren durch unser Schweigen schuldig werden. Die Marsch des Lebens Bewegung ist ein Ruf in der heutigen Zeit! Erhebe deine Stimme – werde Licht! Warte nicht auf andere! Ich möchte Sie ermutigen, sich von diesem Buch persönlich inspirieren, berühren und rufen zu lassen!

I. TÜBINGEN BITTET UM VERGEBUNG

Tübingen ist eine ehemalige Nazistadt. Heute geht von dort die Marsch des Lebens Bewegung aus, die inzwischen in 370 Städten und 20 Nationen zehntausende Menschen mobilisiert hat, gegen Antisemitismus und für Israel ihre Stimmen zu erheben. Sie wurde in der Knesset für ihren Einsatz für Holocaustüberlebende mit zwei Awards ausgezeichnet. Von der jüdischen Gemeinde in Halle wurde ihr der Emil-L.-Fackenheim-Preis für Toleranz und Verständigung zuerkannt.

Der erste Marsch des Lebens fand im Jahr 2007 statt. Es war ungewöhnlich. Die Nachkommen der Tätergeneration in Deutschland wollten nicht länger zu Antisemitismus und Judenhass schweigen. Sie begannen, die Geschichten ihrer Familien zu erzählen und baten für die Schuldverstrickungen ihrer Vorfahren um Vergebung. Sie begegneten auf diesem Marsch zum ersten Mal Holocaustüberlebenden und ihren Nachfahren und entdeckten, dass sie auch über 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch unter dem Schatten und mit dem Schmerz des Holocaust leben mussten. Die Kinder und Enkel der Täternachkommen wollten das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern brechen. „Tubingen begs for forgiveness“ stand damals auf der Titelseite der Jerusalem Post. Hier erfahren Sie den Hintergrund dieser Geschichte.1

Die kleine Universitätsstadt Tübingen liegt in Süddeutschland ungefähr 30 Autominuten von Stuttgart entfernt. Sie ist eine typische deutsche Stadt mit Fachwerkhäusern und einem Fluss, der mitten hindurch fließt. An warmen Sommertagen sitzen Studenten am Rand des Neckars und beobachten die langen Kähne, die wie Gondeln in Venedig mit langen Stäben vorangetrieben werden. Eigentlich ist Tübingen das Bild eines deutschen Idylls. Kein Tourist ahnt, dass diese hübsche Stadt eine finstere Geschichte des Antisemitismus hat und im Nationalsozialismus zu den geistigen Vorreitern der damaligen Zeit gehörte.

Das möchte ich mit ein paar Fakten erhärten, damit Sie es sich besser vorstellen können. In der über 1.400-jährigen Geschichte Tübingens lebten bis zu ihrer Deportation 1942 nur 120 Jahre lang überhaupt Juden in der Stadt. Ihr Leidensweg ist eine einzige Geschichte von Verfolgung, Pogromen und immer wieder neuer Vertreibung. Im Jahr 1477 wurde die Tübinger Universität von Graf Eberhard im Bart gegründet, einem erklärten Antisemiten, der mit der Gründung der Universität Juden für 400 Jahre aus Tübingen und der ganzen Region vertrieb. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts kehrten Juden allmählich wieder zurück und bauten im Zentrum der Stadt eine schöne Synagoge auf, die in der Reichspogromnacht 1938 zuerst demoliert und dann niedergebrannt wurde. Die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde wurden deportiert. Die Tübinger Universität wurde in der Zeit des Nationalsozialismus zu einem Wegbereiter der „Endlösung der Judenfrage“ und stellte die meisten fanatischen Vordenker und effizientesten Massenmörder, die an vorderster Front der SS-Einsatzgruppen und des Sicherheitsdienstes an der sogenannten Endlösung teilnahmen.

Der Tübinger Orientalist und Indologe Jakob Wilhelm Hauer (1881 – 1962) wurde ab 1935 Leiter des von der Universität neu eröffneten „Arischen Instituts“. Sein Privatsekretär Paul Zapp organisierte Massenexekutionen in Rumänien, in der Ukraine und in Russland. Der Tübinger Theodor Dannecker war verantwortlich für die Deportationen französischer und ungarischer Juden nach Auschwitz. Insgesamt geht man davon aus, dass durch die Hand Tübinger SS-Massenmörder mehr als 700.000 Juden auf grausamste Weise ihr Leben lassen mussten.

Die Mitschuld Tübingens am Holocaust warf einen dunklen Schatten auf unsere Stadt. Es gibt jedoch keine Finsternis, die durch das Licht Gottes nicht überwunden werden kann. Meine Stadt ist dafür ein lebendiges Zeugnis.

Wie viele der Nachkriegsgeneration schämte ich mich für meine Nation. Deutschland als Land zu lieben, war für mich nationalistisch, rückwärtsgewandt, also einfach undenkbar. Gleichzeitig hatte ich seit meiner Jugend eine innere Verbindung zu Israel. In meiner ersten christlichen Unterweisung wurde ich auf die Erwählung des Volkes Israel hingewiesen, was seitdem für mich zu einem kostbaren Schatz geworden ist. Ich weiß nicht, warum ich mit niemandem darüber sprach und versuchte, meine innere Verbindung zu Israel verborgen zu halten. In mir steckte eine Indifferenz und innere Gleichgültigkeit, die ich in der Geschichte unserer Stadt später wiederfand. Dieselbe Indifferenz und innere Gleichgültigkeit waren das Kennzeichen einer schweigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung, die zur Zeit des Nationalsozialismus zugeschaut hatte, wie ihre jüdischen Nachbarn beraubt, erniedrigt und abtransportiert wurden. Ohne eine schweigende Mehrheit hätte die Schoah in Nazideutschland und damit auch die schreckliche Geschichte unserer Stadt niemals stattfinden können. Die Geschichte der Veränderung in unserer Stadt und der Anfänge vom Marsch des Lebens ist schnell erzählt. In einer Zeit der Krise wurde uns als Gemeinde im Gebet folgender Satz zu einem geistlichen Schlüssel: „Das Schweigen eurer Väter ist in euch!“ Gemeint war: Es gibt in euch ein Schweigen, das euch ebenso zu passiven und gleichgültigen Mitläufern macht wie die Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus. Konnte es sein, dass wir 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch unter dem Schatten des Holocaust lebten?

Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir. (Jes 60,2)

Sicher hatte das auch mit der mühsamen Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit unserer Stadt zu tun, die Anfang der 80er Jahre erst begonnen hatte. Das Nachkriegsdeutschland ließ sich allzu gerne in Täter und Mitläufer einstufen, wobei selbst verurteilte Kriegsverbrecher von allerobersten politischen Stellen so viel Hilfe bekamen, dass sie sehr oft vorzeitig aus dem Gefängnis wieder entlassen, resozialisiert und in das gesellschaftliche Leben integriert worden sind. Klare Schuldgeständnisse gab es kaum. Wer als Mitläufer eingestuft werden konnte, wurde rehabilitiert. Über die Schuld der Vergangenheit legte sich ein schwerer dunkler Vorhang.

Die Aufarbeitung und Entnazifizierung der Universität geriet zu einem völligen Debakel. 85 Prozent der entlassenen oder längerfristig suspendierten Professoren erreichten innerhalb von zehn Jahren ihre Rehabilitierung und kehrten zum größten Teil an die Universität zurück. Beinahe 30 Jahre lang wurde geschwiegen und sogar gelogen. So blieb der dunkle Teil unserer Geschichte für lange Zeit ausgespart. Die Generation, die schuldig geworden war, hatte es weitgehend geschafft, alle beschämenden oder verbrecherischen Vorgänge unter der Decke zu halten. Nach 1945 prägten den Umgang mit der NS-Zeit Verdrängen, Schweigen und ein beschämendes Feilschen um den von den Finanzämtern beschlagnahmten jüdischen Besitz.2 Man kann sich vorstellen, dass die Wahl eines ehemaligen SA-Standartenführers und Nazidiplomaten, der in der Slowakei an der Deportation von 59.000 Juden beteiligt war, zum langjährigen Tübinger Oberbürgermeister und später auch zum Ehrenbürger für die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der Stadt nicht gerade förderlich war. Er wurde 1954 von beinahe 55 Prozent der Bürger trotz seiner Vergangenheit gewählt. Anscheinend bedeutete seine braune Vergangenheit für einen großen Teil seiner Wähler eher eine Empfehlung, als dass sie damit ein Problem gehabt hätten. Hans Gmelin blieb 25 Jahre im Amt und prägte in Amt und Würden die Tübinger Vergangenheitspolitik entscheidend mit. Er wurde in Tübingen zu einer Schlüsselfigur des Verdrängens und des politischen Schweigens.3