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Wer ein ungewöhnliches Hobby hat, wird von seiner Umgebung geschmäht, verachtet, angepöbelt und ausgegrenzt. Davon kann die 15-jährige Schülerin und leidenschaftliche Hobby-Archäologin ein Lied singen. Prügel, Zerstörung ihrer Arbeiten und Mobbing gehören zu ihrem Alltag. Nichtsdestotrotz sprudelt Erika vor Begeisterung über die Ergebnisse ihrer Arbeit geradezu über. Wie ändert sich doch alles, als ausgerechnet die zwei schlimmsten Verächter Interesse für ihre Arbeit zeigen. Sie locken Erika zu einem völlig neuen Rätsel in Gestalt einer uralten Burg, über die es trotz ihrer Nähe zur Königsstadt Dorphane keinerlei Aufzeichnungen gibt.
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Seitenzahl: 888
Veröffentlichungsjahr: 2021
Vorwort
Ein übler Streich
Tor zur Finsternis
Im Netz gefangen
Ankerpunkte
Bauplan einer Falle
Die Prinzessin von Ochonan
Vereistes Labyrinth
Die Schlacht im Ballsal
Wildern im Vorhof zur Hölle
Hohle Traditionen
Liebestolle Hexe
„Progressive“ Schule
Tempel der Astarte
Höhen und Abgründe
Verhängnisvoller Modellbau
Lebhaftes Uhrwerk
Blutrünstige Machtgier
Tempel des Todes
Scha-Rhwri
Der König von Dorphane
Ein neues Leben
Fräulein Professor
Die Festung aus Eis
Ein wahrhaft göttliches Abendessen
Eine finstere Welt
Die Lesung
„Eure Majestät,...
Einen Schritt zurück
Meine letzte Aufgabe
Glossar
Textmarken
Lageplan Burg
Für gewöhnlich bestehen die Romane der Serie „Im Zeichen des Schwarzen Einhorns“ aus eigenständigen Romanen, für welche keinerlei Vorkenntnisse aus den anderen Bänden benötigt wird. Somit stellt der gegenwärtige Roman in gewisser Hinsicht einen Ausreißer dar. Dieser Roman befasst sich im besonderen Maße mit der Protagonistin Erika aus dem Roman „Atavetas – Der Clan Ekrúns“ (Anm.: „Der Clan des Eises“). Ihre Vorgeschichte, ihr Abenteuer in Begleitung der Atavetas, sowie die Folgen, die sie tragen muss, werden aus ihrer Sicht erzählt, weswegen dieses Buch eher eine Ergänzung zum Hauptbuch darstellt.
Unverhofft nimmt Erika im Roman „Atavetas – der Clan Ekrúns“ gewissermaßen die Rolle der fünften Abenteurerin ein. Für sie als einzigen Menschen im Gefolge der Atavetas besteht ihr Wissen aus Stückwerk. Allfällig fragwürdige Zusammenhänge finden sich im Hauptbuch „Atavetas – der Clan Ekrúns“ erläutert. Soweit als möglich wurde auch die Benennung der Kapitel beibehalten. Überdies findet sich am Schluss des Buches ein Glossar, in welchem einige Ausführungen aus dem Glossar vom Roman „Atavetas“ gegebenenfalls wiederholt, bzw. ergänzt werden.
Warum dieses Buch? Ganz allgemein pflege ich besondere Sympathien für die kleinen Leute in meinen Romanen. Zu Erika, der Tochter eines Handwerkers aus der Mittelschicht Dorphanes, habe ich im Zuge ihres Erschaffens eine ganz besondere Beziehung entwickelt. In ihrer Rolle als einziger Mensch in der Truppe nimmt sie sorglos ihre unterlegene Stellung an. Sie weiß, dass sie ihr Leben verwirkt hat und begeht nur noch die Flucht nach vom, indem sie ihr Leben insbesondere einer bestimmten Ataveta zur Vollstreckung überantwortet. Mutig scheut sie keine Tiefen, ihr, durch grobe Fahrlässigkeit selbst erzeugtes, Schicksal an sich erfüllen zu lassen. Doch trotz ihrer ohnehin ausgesprochen demütigen Haltung, ist ihr Weltbild ausschließlich menschlich und damit vom Diesseits geprägt. Folglich muss sie selbst ihre Schlussfolgerungen zwischendurch öfters revidieren. Unter der führenden Hand ihrer Herrin lernt Erika Schritt für Schritt, durch ihr Opfer das wahre Leben zu finden.
„Jetzt mach schon! Tu nicht so feige!“
„Ja, du bist doch diejenige, der nichts zu gruselig sein kann!“
„Genau! Hast ja sonst nichts in deinem kleinen Gruselbuch stehen!“
„Ganz recht! Hast ja auch beim Vortrag heute in der Schule wieder so getan, als würdest du nichts fürchten!“
Brackitra und Leyla waren schon ein paar Schritte in das Dickicht vorgedrungen. Jetzt waren sie stehengeblieben und drehten sich fordernd nach mir um. Brackitra, zumeist mit Brack angeredet, hielt ihre Sturmlaterne in die Höhe, ganz so, als sähe dadurch irgendjemand besser. Die beiden verwöhnten Zicken hatten ja wirklich keine Ahnung von derartig kühnen Unternehmungen! Das fing schon mit unserer aktuellen Bekleidung an, die für solche derben Expeditionen so gar nicht passte!
Anfangs hatten die beiden so getan, als interessierten sie sich ganz plötzlich für meine Forschungsarbeit. Von allen Schülern ausgerechnet diese beiden! Die schlimmsten von allen! Gleich nach der Schule an diesem ersten Tag nach den großen Schulferien, an dem ich das Glück genoss, gleich als Erste ihr monatliches Referat halten zu dürfen, waren sie an mich herangetreten und redeten von einem weiteren mysteriösen Geheimnis. Dieses warte nun schon so lange auf Aufklärung! Selbstverständlich kam mir das Interesse der beiden suspekt vor. Aber was für eine Wahl hatte ich schon, wenn ich endlich aus meiner Ecke der verschrobenen, sowie verachteten Hobbyarchäologin entrinnen wollte?
Im friedlichsten Falle ignorierten mich die anderen Schüler, ließen meine Vorträge in der Schule ungestört über sich ergehen und kümmerten sich gleich danach wieder um ihr kleinkariertes, ereignisloses Dasein und ihre billigen Affären, mit denen ich wiederum nichts anzufangen wusste. Viel eher gehörten Spott, Störung, Mobbing und Zerstörung meiner mühselig zusammengetragenen Arbeit zu meinem täglichen Brot. Längst wusste ich, dass ich besser nur Abschriften und die bedeutungslosen Artefakte meiner Forschungen in die Schule mitnahm. Einmal pro Monat musste jeder aus der Klasse einen Vortrag über irgendein Thema halten. Mitschüler verfassten daraufhin eine Rezession in Gestalt von einem Aufsatz, aus welchen wiederum sich herausstellte, was die Mitschüler von den Ausführungen verstanden hatten. Was bekam man da nicht alles für „riesig große, aufregende, interessante“ Sachen zu hören? Der Bruno hat der Hilde einen selbstgepflückten Strauß Feldblumen auf das Fensterbrett ihres Schlafzimmers gelegt und bangte nun um deren Antwort auf sein frivoles Tun. Die Jutta hatte zusammen mit Freundinnen ein ganz tolles Erlebnis bei einem Einkaufsbummel am Bauernmarkt. Einer der Händler baggerte die Mädchen an und diese wussten vor lauter Verlegenheit nun gar nicht, wie sie ihren Eltern von ihrer jüngsten Affäre erzählen sollten. Der Herbert hatte zusammen mit Freunden ein Baumhaus im Garten seiner Eltern errichtet. Den Rest möchte ich lieber gar nicht aufzählen. Seicht – seichter – am seichtesten! Belanglos – bedeutungslos – sinnlos – geistlos – wertlos! Einfach nur zum Kotzen! Zu jedem dieser Vorträge eine Rezession verfassen, deren ach so aufregendes Abenteuer zu würdigen und deren Referat zu bewerten, artete für mich zu einer Herausforderung aus, die mir zunehmend schwerer fiel, als eine Inschrift in einer Höhle eines längst verschollenen Volkes zu entziffern.
Umgekehrt strebte ich meinerseits nach Qualität in den Vorträgen. Wenn ich über den Fund in einer abgelegenen Höhle ins Reden kam, störte mich nur die äußerst befristete Redezeit von einer Viertelstunde. Eine bestimmte, jedoch mehrere Tagesreisen entfernte Höhle suchte ich sogar besonders gern auf. Gut erhaltene Spuren zeugten vom verschollenen Nomadenvolk namens Rikrhana, das diese einst besiedelte. Besondere Zuneigung entwickelte ich im Laufe der Zeit für einen Jungen namens Mirikuni. Ich malte mir aus, wie er sein würde, wenn er plötzlich vor mir stünde? Meine Klassenkameraden quittierten meine Vorträge mit allen Formen von Desinteresse, die man sich nur auszumalen vermag.
In den vergangenen Sommerferien hatte ich die Höhle gründlich studiert. An diesem ersten Tag nach den großen Ferien zeigte ich als Anschauungsobjekt für meinen Vortrag einen kleinen Becher aus Ton vor, von dem ich überzeugt war, dass dieser einst meinen Liebling Mirikuni gehört hatte. Die Störungen, die ich heute hinnehmen musste, ließen mir nicht viel Zeit, über meine Forschungsergebnisse zu berichten. Umso mehr überraschte mich, dass ausgerechnet diese Brackitra, die jegliche Form von Ordnung rigoros bekämpfte,1) und deren persönliche „Sklavin“ Leyla, nach der Schule an mich herantraten und meinen Vortrag als „ultratoll“ bekundeten.
Äh, wie bitte?
Da musste ich doch nochmals hinhören!
Immerhin hatten sie ausnahmsweise an diesem Tag ihre Hetzkampagnen gegen mich nicht angeführt, sondern mich sogar verteidigt. Eigentlich hätte mich das doppelt stutzig machen sollen. Ich staunte immer mehr, als dass diese Brack sogar Einzelheiten in meinem Vortrag würdigte. Leyla, Bracks Schatten und freiwillige Sklavin unterstützte sowieso alles, was ihre Herrin tat.2) Diese Dunkelhäutige brauchte man wirklich nicht zu beachten! Ausgerechnet die Tochter von dem besten Wunderarzt der ganzen Stadt ließ sich von dieser schäbigen Brackitra sehr unverhohlen als deren Eigentum herumschubsen und auch hinlänglich misshandeln. Bracks Misshandlungen an Leyla arteten weit schlimmer aus, als die monatliche Tracht Prügel, die wir anderen Mädchen einstecken durften, nachdem wir in der Schule ein besseres Referat vorgetragen hatten, als Brack zustande brachte. Letzteres war in Anbetracht Bracks mangelnder konstruktiver Fertigkeiten keine große Kunst. Einige Male wäre Leyla durch Bracks Misshandlungen fast ums Leben gekommen. Leyla lernte verlässlich nicht dazu, sondern folgte ihrer Herrin umso devoter. Die opferte wissentlich ihr Leben, nur um Brackitras Willkür zu dienen! Aber was ging mich das schon an?
Immerhin sah ich keinen Grund, Bracks Vorschlag zur Forschung mir nicht wenigstens anzusehen. Recht was konnte es ja nicht sein! Die beiden verwöhnten Gören, die praktisch nie die Stadt verließen, fanden bestimmt nichts wirklich Atemberaubendes. Eher vermeinte ich hinter dem ungewöhnlichen Vorwand die gewohnte Falle, mich in den nächstbesten dick gemauerten Keller hineinzulocken, mich darin zu verprügeln und schließlich eingesperrt zurückzulassen. Diese Streiche gehörten zu Bracks Tagesordnung wie ihre Arroganz ob ihrer blonden Haare. Ich habe nie verstanden, was an Bracks blonden Haaren so besonders sei. In Dorphane hat mindestens jedes vierte Mädchen und jeder fünfte Junge blonde Haare und blaue, grüne oder graue Augen. Jedes einzelne Mädchen der Schule durfte sich gelegentlich an Bracks Spinnereien „erfreuen“. Genoss ein Mädchen aus irgendeinem aktuellen Grund Bracks besondere Missgunst, begnügte sich Brack nicht damit, ihre jüngste Delinquentin selbst zu verprügeln. In solchen Fällen ließ sie ihre Jungs den Job erledigen, und diese wiederum begnügten sich nicht einfach nur mit Prügel für die Verurteilte. Aus Scham und weil sie sich nicht gleich wieder mit Brackitra anlegen wollten, verschwiegen die Mädchen nach Möglichkeit die Misshandlung, während die Jungs offen darüber prahlten. Möglicherweise hingen auch gerade deshalb viele Jungs dieser missratenen Brackitra an. Andererseits als Mädchen ging man dieser Brackitra besser im ganz weiten Bogen aus dem Weg!
Wenigstens hatte ich selbst bislang noch nie erleben müssen, dass mich Brack ihren Jungs überlassen hätte. Auch heute deutete kein Anzeichen auf eine derartige Ausartung der zu erwartenden Misshandlung hin. Also wagte ich das Risiko. Brack beteuerte, dass sich der Ort des Geheimnisses ganz in der Nähe befände und wir keinerlei Ausrüstung benötigten. Mit gemischten Gefühlen folgte ich ihrem Beispiel, unsere gesamten Schulsachen in der Schule zurückzulassen. Einerseits ging so wenigstens nicht kaputt. Andererseits schwante mir schon, in welchen ach so geheimnisvollen Keller Brack mich zu verprügeln gedachte. Folge ich ihr nicht gehorsam zu meiner Richtstätte, riefe Brack mit Sicherheit ihre Jungs zu Hilfe. Diese Sorte Misshandlung wollte ich nun wirklich nicht auch noch erfahren müssen. Nur mein Notizbuch und einen Griffel nahm ich vorsichtshalber mit.
Zu meinem Erstaunen fischte sich Brack kurz vor dem Verlassen der Schule eine Sturmlaterne vom Haken und steuerte in eine völlig andere Richtung. Sie hatte also ein neues Versteck gefunden, mich dort zu verprügeln! Hinter jeder Biegung entlang unseres Weges wähnte ich den Eingang in den Keller ihrer neuen Wahl. Aber Brack zeigte keine Ambitionen, ein Kellerverließ anzusteuern. Was hatte sich diese hinterhältige Brackitra nur wieder ausgedacht? Schließlich verließen wir die Stadt Dorphane und ließen sogar die weit verstreuten Siedlungen um die Königsstadt herum hinter uns. Ich musterte die gut übersichtlichen Äcker und Felder und rätselte, welchen Streich Brack aushecke. Unverdrossen zielstrebig steuerte Brack den Wald an. Brack hielt ihre Kleidung in hohen Ehren. Würde sie wirklich so weit gehen, mit ihrem schicken Stadtkleid den Wald zu betreten? War ihr der Streich, den sie mir zu spielen gedachte, soviel wert?
Natürlich entsprachen Brackitras Frisur und Bekleidung dem Durchschnitt aller anderen gutbürgerlichen Mädchen und Frauen. Die Tradition zwang uns zwar bestimmte Formen auf. Kombination und das Schnittmuster der Kleidung entsprachen immer der traditionellen Weise, wie sich die bürgerlichen Frauen Dorphanes alle kleideten. In Farbe, Stickmuster und Gestaltung der Kleidungsstücke ließ man dagegen der Kreativität einen einigermaßen freien Lauf. Brack und ich waren beide fünfzehn Jahre alt. Brack bevorzugte, ihren langen, leicht gewellten, strohblonden Haaren sich lose bis über ihre Schultern herabfallen zu lassen. Mit offenen oder in Zöpfen gebundenen Haar bekundete ein Mädchen, dass es ledig sei. Im Bereich des Gesichtes trimmte Brackitra ihr Haar als kurze Fransen bis knapp über die Augenbrauen. Einen Scheitel vermochte man im fülligen Haar dagegen nicht auszumachen. In ihrem schmalen Gesicht ließen sich Sommersprossen erahnen. Sie hatte blaue Augen, die von leicht brünetten Augenbrauen gerahmt wurden. Sie trug ein grünes, ein Fingerbreit weniger als bodenlanges, ärmelloses, gutbürgerliches Kleid aus Baumwolle mit einer weißen Schürze aus Leinen, welche ihr etwa bis zu ihren Knien reichte. Die Ränder der Schürze waren mit weißen Rüschen besetzt. Gestickte Blumenmuster zierten das Kleid ab dem unteren Saum bis eine Handbreit unter den Gürtel. Auch im Brustbereich zierten Blumenmuster das Kleid. Unter dem Kleid trug sie außerdem eine weiße Bluse aus Leinen und über dem Kleid trug sie einen zum Kleid passenden Blazer aus Baumwolle. Unter ihrem Unterrock wusste ich eine naturfarbene Strumpfhose aus Baumwolle. Ihre Füße steckten in braunen Halbschuhen mit Absätzen, deren Höhe etwa drei Fingerbreit bemaß. Solche Schuhe passten keineswegs zu einer Expedition auf schlammigen Wegen im Wald! Solche feinen Schuhe waren für die gepflasterten oder allenfalls festgetretenen Straßen der Stadt gefertigt. Mit Sicherheit würde diese Nacht Brack wieder von ihrer Sklavin abverlangen, ihre Schuhe bis zum nächsten Tag zu putzen. Dass sich Leyla mit ihren Frontätigkeiten die ganze Nacht um die Ohren schlage, hatte Brack noch nie gekümmert.
Im Wald selbst wusste jeder vernünftige Mensch die Gefahr durch Räuber, Bären, Pumas und Wölfe. Aber gehörte Brack denn überhaupt zu den Leuten mit einem gewissen Mindestmaß an Vernunft? Es dämmerte bereits. Wo wollte diese Brackitra nur hin? Wenn wir zu weit in den Wald vordrängen, entrann mit Sicherheit keine von uns. Pumas und Wölfe betrachteten unsereins nur als willkommenen Leckerbissen, und Räuber würden drei recht hübsche jungfräuliche Mädchen auch nicht einfach ungeschoren durch ihr Revier lustwandeln lassen. Die standen eher im Ruf, alle Frauen, deren sie habhaft wurden, zu erbeuten und zu vergewaltigen. Entweder löste dann die Familie der Geraubten ihre Tochter oder Frau aus oder man fand sie irgendwann mit durchgeschnittener Kehle in einem Straßengraben. Oder die Geraubte blieb überhaupt bei den Räubern, ob freiwillig oder nicht ganz so freiwillig. Wilde Gerüchte behaupteten sogar, dass diese Räuber tatsächlich Menschenfresser seien. Aber Reisenden aus fernen Ländern glaubte man besser nur bedingt. Jedoch selbst wenn man sich nicht um diese Art von Gerüchten kümmert, die zweifellos aus den wilden Phantasien der reisenden Händler entsprangen, die Dorphane ohnehin bei jeder Gelegenheit schlechtredeten, war es als junges, hübsches Mädchen sicher nicht lustig, als Beute diesen Verbrechen in die Hände zu fallen. Ich wusste Brack als viel zu feige, um leichtfertig ihr Leben zu riskieren. Die Banditen würden insbesondere diese blonde, hübsche Göre regelrecht noch an Ort und Stelle „fressen“! Mit Sicherheit wusste sich auch Brack als besonders begehrte Beute. Ein hübsches Mädchen zu sein bedeutet eben auch, im Visier gewisser Täter zu stehen. Soweit ginge Brack also bestimmt nicht! Bestimmt wartete gleich nach den ersten Büschen Bracks Falle auf mich. Meine Ratlosigkeit aber auch Neugier steigerten sich, je tiefer Brack in den Wald eindrang. Selbstverständlich würde ich meine Treuherzigkeit schon in sehr naher Zukunft bitter bereuen, aber eine Flucht stand auch nicht zur Diskussion. Kehrte ich einfach um, würden mich Brack und Leyla gleich morgen früh in der Schule dermaßen mit Spott und Schmähungen überschütten, dass mir das bisschen Prügel heute Abend sicher als das geringere Übel erschien. Alle meine Forschungsergebnisse wären auf alle Zeit wertlos. Verzweifelt suchte ich einen Ausweg.
Leyla war ein Jahr jünger als Brack und ich. Diese schritt hinter mir, als wolle sie verhindern, dass ich plötzlich umkehre und ihnen den Spaß vermassele. Dabei entsprach auch Leylas Aufmachung nur dem feinen Leben der gutbürgerlichen Jungfern innerhalb der Stadt. Leyla band ihr glattes, schwarzes Haar in Zöpfe, die ihr links und rechts über die Schultern fielen. Unüblich für diese nördlichen Regionen hatte sie braune Augen und überhaupt einen dunklen Teint. Leyla war die älteste Tochter von Doktor Elijahs. Ihre Eltern waren einst aus dem sogenannten Orient in Begleitung eines reichen Geschäftsmanns in das gelobte Land des grenzenlosen Reichtums Dorphane gelangt. Sie hatten hier ein bedeutend besseres Leben gefunden und waren gleich hiergeblieben. Leyla trug ein rosarotes Kleid aus Baumwolle mit einer Bluse aus Leinen darunter. Ihr Kleid war in der Länge etwa zwei Fingerbreit bemessener, sodass bei jedem Schritt ihre Füße unter dem Saum ihres Kleides verführerisch sichtbar wurden. Ihre Schürze war in hellrosa Karomustern ausgeführt. Die zartrosafarbene Bluse unter dem Kleid zierte ein sehr feines Karomuster, welches von winzigen gestickten Darstellungen von Blumen angereichert wurde. Die Stickereien an ihrem Kleid waren dagegen nicht so üppig ausgeführt, wie beim Kleid ihrer Freundin Brack. Für ihren Blazer bevorzugte sie mintgrün mit dunkelgrünen Blumenmustern. Ihre schwarzen Schuhe entsprachen in ihrer Ausführung den Schuhen ihrer Freundin Brack. Unter ihrem Kleid trug Leyla einen alpinweißen Unterrock aus Leinen und eine naturfarbene Strumpfhose aus Baumwolle. So eine Qualität an Stoffen für ihre Kleidung konnten sich nur besonders wohlhabende Leute aus der Stadt leisten. Leylas Vater gehörte als einer der besten Ärzte zweifellos dazu. Eigentlich war Leyla richtig hübsch. Ihr dunkler Teint betonte ihrer Schönheit, obwohl ihre leicht untersetzte Statur sie etwas pummelig erscheinen ließ. Aber es stand ihr wirklich gut. Dass ihr die Jungs nicht zu Füßen lagen, beruhte zweifellos an Leylas devoter Unterwerfung unter Bracks Fuchtel.
Wehleidig blickte ich an meinem eigenen Kleid hinunter und testete kurz mit der Hand den Zustand meiner Frisur. Immerhin sorgten in Dorphane nicht länger wie in anderen Ländern meine rostroten Haare für Verteufelung seitens der Sacerdotes, den ruchlosen Priestern des alten Glaubens. Das trauten sich diese verruchten Irrlehrer im Hoheitsbereich unserer wahrhaftigen Göttin und Königin Evelyn von Dorphane längst nicht mehr. Im Land unserer übermächtigen Göttin und Königin durfte ich mir also den Luxus leisten, mein leicht gewelltes Haar einer Jungfrau gerecht offen und lose über die Schultern fallen zu lassen, ohne dass mich deswegen jemand anfeindete. Knapp unterhalb der Schultern wendete sich das Haar in einer Naturlocke leicht nach innen. Ich habe grüne Augen – auch wieder so eine Sache, welche die Sacerdotes am liebsten verteufeln würden – und buschige Augenbrauen. Meine Figur war noch etwas schlanker und sportlicher, als die von Brack, und die wurde schon von den Jungs geradezu besessen umworben. Am Saum meines cremefarbenen Kleides erkannte ich bereits den Dreck des Waldbodens sich anhaften. Grüne Stickereien umrandeten den Saum, welche in Form von Stängelgeflecht das Laubwerk zu den Mohnblumen darstellen sollten. Meine Schürze war ebenso cremeweiß wie meine Bluse aus Leinen. Meine mintgrüne Weste war genau dem Kleid entsprechend mit tiefgrünen Stickmustern zu den Mohnblumendarstellungen ausgeführt. Mein Unterrock bestand aus cremefarbenen Leinen und meine Strumpfhose aus naturfarbener Baumwolle. Als Schuhwerk benutzte ich mintgrüne Halbschuhe. Hoffentlich würde ich nichts von dieser teuren Kleidung auf dieser waghalsigen Expedition zerreißen! Ich gehörte nicht zu den wohlhabenden Mädchen, deren Eltern sich so einfach so schöne Kleidung leisten konnten.
Mittlerweile erfüllte die Dunkelheit der Nacht den Wald. Der schaurige Ruf der Käuzchen hallte durch das Dickicht. In weiter Ferne vernahm ich das Heulen eines Wolfes. Als erfahrene Forscherin wusste ich, dass es spätestens jetzt kein Entrinnen mehr gab, es sei denn mit guter Erfahrung und einer gewissen Mindestausrüstung. Von beiden hatte Brack verlässlich noch nie gehört, geschweige denn dass sie solches überhaupt besaß. In anderen Worten: sie ahnte damit auch nicht, dass wir längst in der Falle saßen. Permanent prüfte ich jeden Baum auf Fluchtmöglichkeit, sollte es jetzt gleich heiß zugehen. Hörte man einmal die Wölfe in der Ferne, kann einen innerhalb von Minuten das ganze Rudel schon umzingelt haben. Dann war’s das! Da hilft nicht mal mehr Glück! Andere Wölfe antworteten. Kein Zweifel. Die Wölfe hatten uns schon bemerkt! Wir waren nur noch Wolfsfutter! Und Beute wird gefressen! Das steht unumstößlich fest! Wir alle drei würden innerhalb der nächsten Sunde gefressen werden! Diese leichtsinnige, dumme Brack! Ich will gar nicht ausführen, wie sich das anfühlt, wenn man sich schon innerlich darauf vorbereiten darf, verlässlich gefressen zu werden. In wenigen Minuten wird meine Geschichte nun also enden! Die Jagd auf uns ist eröffnet. Das Wild sind wir! Vielleicht hasten wir noch etwas durch das Unterholz, nur um uns dann plötzlich umstellt zu sehen. Ein letzter Kampf um unser Leben, den wir verlieren werden. Unsere Jäger werden uns zu Fall bringen. Meine letzte Erfahrung in dieser Welt wird der stechende Schmerz sein, wenn mir die Raubtiere ihre Zähne in mein Fleisch schlagen. Aber vielleicht gab es gegenwärtig doch noch eine vage Hoffnung, wenigstens lebend aus der Affäre zu entrinnen?
Als dann der Weg auch noch stetig anstieg, wollte ich nun wirklich nicht mehr weitergehen. Ich versuchte, Brack von ihrem Vorhaben für diesen Abend abzubringen. Ich beschwor sie, dass sie mich morgen nach der Schule im bestens bekannten Keller verprügeln dürfe. Brack, und natürlich auch Leyla, höhnten indes nur, dass ich Angst vor den finsteren Schatten der Bäume und den schaurigen Rufen der Käuzchen habe. Hinter mir drängte Leyla, vielleicht ebenfalls mit der Intension, vom Licht der Lampe zu profitieren. Einmal weniger verstand ich Bracks Eifer für ihren neuesten Streich. Ahnte sie denn wirklich selbst nicht, dass es für uns alle drei längst kein Zurück mehr gab? Vom Fuß des Berges her verdichtete sich das Wolfsgeheul. Sie hatten uns also bereits umzingelt. Wenn wir umkehrten, liefen wir den Jägern der Nacht geradewegs in die Fänge, wenn ihnen nicht ein Puma oder gar ein Bär zuvorkäme. Wenigstens begnügte dieser sich mit nur einer von uns und die anderen beiden könnten flüchten – um den Wölfen als Futter zu dienen. Mit gewissem Schalk hoffte ich, dass die Bestien ihre Bevorzugung mit den Jungs von der Schule auf Brack als Beute teilten. Geschähe ihr völlig recht! Andererseits wusste ich, dass Brack zum Schutz ihres eigenen Lebens in so einem Fall Leyla sogar beauftragte, sich den Tieren zum Fraß zu opfern, und diese würde nicht zögern, es zu tun. Leyla könnte ein so viel besseres Leben genießen. Das bisschen Anfeindungen, weil sie eine Dunkelhäutige sei, wären wirklich zu ertragen. Mit Sicherheit hätten sich ein paar Jungs gefunden, welche die Schönheit Leylas für sich entdeckten und sie in weiterer Folge beschützten. Und Leyla hatte einen reichen Vater, der überdies den Ruf als einer der besten Ärzte der Stadt genoss. Normalerweise müssten sich die Jungs um so einen Leckerbissen schlagen. Aber Leyla hielt sich mit unfassbarer Loyalität an Brack!
Der Weg den Berg hinauf dauerte an. Zu meiner Überraschung meinte ich immerzu, dass die Wölfe in gewisser Entfernung hinter uns blieben. Das Heulen entfernte sich nicht, näherte sich aber auch nicht. Noch nie hatte ich erlebt, dass Wölfe zu ihrer sicheren Beute konsequent einen großen Abstand einhielten. Wölfe besaßen ein feines Gespür für Gefahr. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht! Nach Hause konnte ich nicht mehr kommen! Auf jeden Fall wurden wir alle drei in nächster Zeit gefressen! Aber mittlerweile wusste ich nicht mehr sicher zu entscheiden, ob ich nicht bevorzugen würde, von den Wölfen gefressen zu werden. Irgendetwas viel Schlimmeres verfolgte uns wohl bereits, vor dem sich sogar die Wölfe fürchteten. Brack beachtete weder die akute Gefahr durch die Wölfe, noch alarmierte sie deren unnatürliches Verhalten. Brack deklarierte sogar, dass das Geheul die gruselige Stimmung erst so richtig schön gruselig mache. Na, die würde sich gleich anschauen! Ich selbst hielt mich bereit, den nächstbesten Baum zu erklimmen. Mit dem Kleid und den Stadtschuhen mit den drei Fingerbreit hohen Absätzen, den glatten Sohlen und den zarten Schuhspitzen gelänge mir dies zwar nicht ganz so schnell, wie mit meiner Forschungsausrüstung, aber klettern konnte ich. Ich wusste, dass ich meine Schuhe in einem einzigen Moment von mir schleudern musste und die Füße meiner Strumpfhose würden beschädigt werden, wenn ich den Halt des Wollgewebes an der Baumrinde nutzte, um schneller den Baum hinaufzukommen. Aber wenigstens könnte ich eine einigermaßen realistische Chance haben, doch noch lebend und vielleicht sogar unversehrt aus der Geschichte herauszukommen. Brackitra und Leyla dürften dagegen wohl noch nie auf einen Baum geklettert sein. Denen würde ich ganz bestimmt nicht helfen, mir auf dem Baum Gesellschaft zu leisten.
Und jetzt bog Brack auch noch vom Weg ab und steuerte in das Gebüsch hinein. Vor sehr langer Zeit dürfte hier ein Weg gewesen sein, aber diesen erahnte man kaum noch. Ich blieb stehen. Wiederholt beschwor ich Brack, doch wenigstens für die Nacht an dieser Kreuzung das Lager aufzuschlagen! Außerdem müssten wir alle am nächsten Morgen wieder in der Schule sein! Eigentlich voll die unsinnige Ausrede! Wenn wir jetzt umkehrten, dann nur, um uns den Wölfen zum Fressen auszuliefern. Und die würden keinesfalls zögern. Wir hatten keine Stunde mehr zu leben! Aber vielleicht war das wirklich die bessere Variante. Wenn jedoch bei Brack auf etwas Verlass ist, dann ist es auf ihren törichten Sturkopf. Nach wie vor wollten Brack und Leyla nicht auf mich hören. Sie bewarfen mich mit Schmähungen und beschimpften mich als feige. Ich hielt Brack ihre Unwissenheit vor, aber diese konterte mit der Gegenfrage, ob ich wisse, wohin dieser Weg führe? Sie wisse es nämlich! Ich hielt Brack vor, dass sie behauptet habe, der geheimnisvolle Ort befände sich ganz in der Nähe! Brack beteuerte, dass wir schon innerhalb einer Stunde dort einträfen, und morgen früh würde ganz bestimmt niemand etwas von unserem nächtlichen Ausflug bemerken. So leicht gab ich mich dieses Mal nicht geschlagen. Ich stritt mit ihr, dass sie das jetzt schon so oft erklärt habe, dass ich es nicht länger glauben wolle. Wiederholt stellte sich sicher, dass Brack und Leyla kein Seil mit sich führten, mich an einem Baum anzubinden und den Wölfen zu überlassen. Tatsächlich hielt neben Brack mit ihrer Sturmlaterne nur Leyla ein Brett und einen Hammer in ihren Händen, wozu auch immer. Außerdem saßen sie doch selbst schon lange in der Falle! Die Wölfe unterschieden zwischen einer Rothaarigen einerseits und einer Blonden und einer Dunkelhäutigen andererseits nur, welche Gruppe mengenmäßig die lohnenswertere Beute abgebe. Während ich mit Brack und Leyla stritt, suchte ich die Bäume ab, auf welchen ich mich zuerst vor Brack und dann vor den Wölfen retten wolle. Brack und Leyla würden daraufhin mit Sicherheit umkehren und den Wölfen geradewegs vor die Fänge laufen. Somit entstünde für mich eine gewisse Sicherheit, als dass zumindest die Wölfe ihre Beute hätten und mich den Rest der Nacht auf meinem Weg nach Hause nicht belästigten. Doch das Unterholz gab keine Möglichkeit her, an einen Baum zu gelangen, dessen untere Äste weit genug herunterreichten, dass ich mich schnell genug hinaufschwingen hätte können. Das Heulen der Wölfe drängte von hinten. Also entschied ich, weiterhin Brack mit ihrer Sturmlaterne zu folgen, wohin auch immer dieser Weg führte. Ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben, vielleicht doch noch wenigstens lebend aus der Angelegenheit zu entkommen.
Nächtliches Abenteuer
Meinen Hang zu mysteriösen Geheimnissen erbte ich vermutlich von meinem Onkel Hubert. An kaum ein Ereignis meiner Kindheit erinnere ich mich heute noch so gut, wie an eben jenes. Ich war noch ein kleines Kind gewesen und kaum über die Tischkante geblickt, als Onkel Hubert zu Besuch kam. Begeistert breitete er für uns seinen neuesten Fund auf dem Esstisch aus. Ich verstand zwar nicht Mamas und Papas Anerkennung für Papas jüngeren Bruder, der sich ohnehin kaum blicken ließ. Auch die Teile, welche Onkel Hubert auf den Tisch anordnete, wirkten nur als wertlose Ansammlung von Knochen– und Tonsplittern. Aber unter Onkel Huberts Händen wurde das Zeug lebendig! Geschickt setzten seine schwieligen Hände die winzigen Teile zusammen und formten etwas aus den formlosen Teilen. Mit großen Augen und wohl mit offenem Mund verfolgte ich Onkel Huberts Arbeit. Auf meine Umgebung hatte ich völlig vergessen. Natürlich störte Mama die faszinierende Arbeit, als dass sie von Onkel Hubert forderte, jetzt endlich den Tisch für das Essen freizuräumen. Rücksichtslos verdrängte sie Onkel Hubert buchstäblich vom Tisch. Ein paar Teile seiner Sammlung fielen herunter. Natürlich suchte Onkel Hubert die Teile, aber einige Teile blieben verschollen Erst einige Tage nach Onkel Huberts Abreise entdeckte ich die wertvollen Teile beim Spielen unter dem Tisch. Ich sammelte die Teile ein und versteckte sie gut eingehüllt unter meiner Matratze.
Noch im selben Jahr war Onkel Hubert zu meinem Geburtstag gekommen und hatte mir eine wunderschöne Tasse aus sehr feinem Porzellan geschenkt. Mit meinen damaligen vier Jahren war ich jedoch recht ungeschickt. Es kam, wie es kommen musste. Kurz nach dem Auspacken und meiner Freude über diese wunderschöne Tasse fiel mir das edle Stück hinunter. Heulend ging ich vor dem Unglück auf die Knie und fasste nach den Scherben, unwillig das grausame Schicksal zu akzeptieren. Da schoben sich Onkel Huberts schwielige Hände zwischen mich und die Scherben. Tröstend redete er auf mich ein, dass das Ganze doch gar so nicht schlimm sei. Was quatschte der da? Meine wunderschöne, kostbare, neue Tasse war kaputt! Sah der denn das nicht? So leicht wollte ich mich nicht trösten lassen. Doch dann griff Onkel Hubert in seinen Beutel und entnahm eine wundersame Paste. Stück um Stück nahm er die Scherben der Tasse auf und fügte sie wieder zusammen. Staunend verfolgte ich, wie sich aus den Scherben wieder meine Tasse formte. Schließlich hielt er mir die wiedererschaffene Tasse entgegen. Meine Tasse! Meine ganz persönliche Tasse! Mein Onkel Hubert hatte mein Herz im Sturm erobert. Was dann weiter geschah, weiß ich fast nur noch aus den Erzählungen meiner Eltern, und natürlich von meinem Onkel Hubert. Ich musste wohl in die Küche gerannt sein, holte soviel ich tragen konnte wahllos Teller und Becher und Schmiss diese Onkel Hubert vor die Füße. Das war ein schöner Scherbenhaufen! Die Reaktion der Erwachsenen fiel gemischt aus. Mama kreischte ob des Unglücks. Papa verlor alle Fassung ob des teuren Schadens. Mein Onkel Hubert musste wohl auch recht perplex geschaut haben. Und ich strahlte meinen Onkel Hubert an und konnte es kaum erwarten, dass Onkel Huberts Zauberhände alles wieder zusammenfügten.
Wenngleich Mama und Papa und natürlich mein Onkel Hubert mir später die Geschichte schmunzelnd erzählten, so wusste ich wenigstens, woher die gekitteten Sprünge in unserem Geschirr herrührten. Durch meinen Onkel Hubert lernte ich, meine eigenen Funde auszuwerten, indem ich in Bibliotheken nach den Gegenständen forschte. Ein Jahr vor meiner Einschulung konnte ich bereits fließend lesen und schreiben. In den Büchern der Stadtbibliothek erfuhr über meine Funde am Ufer des Arundel. Das Schmökern in den Büchern eröffnete für mich ständig neue Welten. Anfangs schob mich der Bibliothekar über die Mittagspause hinaus, ließ mich aber innerhalb von Wochen einfach in der Bibliothek schmökern, bis ich von selbst nach Hause wollte. Als er von seiner Mittagspause zurückkehrte und die Stadtbibliothek wieder aufsperrte, brütete ich noch immer so konzentriert über den Büchern, dass ich ihn oft nicht einmal bemerkte. Er stellte mir etwas zu essen hin, was ich erst nach Stunden entdeckte. Notgedrungen befriedigte ich meinen Hunger und konnte kaum erwarten, mich wieder in den Büchern zu vertiefen. So manchen Morgen entdeckte er mich in den Gängen zwischen den Regalen, wie ich zwischen meinen geliebten Büchern eingeschlafen war. Er teilte mit mir sein Frühstück und schickte mich nach Hause. Ich wollte nicht gehen, aber er bestand, dass meine Eltern wenigstens gelegentlich wieder ein Lebenszeichen von mir sehen wollten. Meine Eltern wussten mich unter der Obhut des Bibliothekars gut aufgehoben und gewöhnten sich an den Umstand, dass ich viele Tage lang nicht nach Hause kam.
Auf meinen Forschungen nach Artefakten stieß ich immer weiter die Ufer des Arundel hinauf. So lernte ich eines Tages einen alten Einsiedler eines fremden Volkes kennen. Der Mensch hockte am Ufer und wusch irgendetwas im Wasser. Unbedarft gesellte ich mich zu dem Mann und zeigte ihn ein paar Teile, zu welchen ich keine Bedeutung wusste. Wie erschrak ich, als der Mann mir sein Gesicht zuwandte. Seine braune Haut hatte mehr Falten, als das Gesicht meiner Großmutter. Im Mund standen kaum mehr Zähne. Dann fing der Mann auch noch an, mit Grabesstimme Worte zu mir zu reden, die ich noch nie gehört hatte. Der Fremde hatte Geduld. Er griff nach einem Stein und sagte mit seiner hohlen, rauchigen Stimme „Takun“. Ich begriff zuerst nicht. Der Mann wiederholte. Dann hielt er den Topf in die Höhe, den er gerade gewaschen hatte und sagte „Ukwén“. Erstaunt blickte ich ihn an. Der Mann präsentierte mir wieder den Stein und sagte „Takun“. Dann deutete er erneut auf den Topf und sagte „Ukwén“. Schließlich schlug er ins Wasser und sagte „Hondura“. Ich begriff. Das mussten die Namen sein, die er für diese Dinge benutzte. Ich kauerte vor ihm nieder und nahm einen Stein auf und sagte „Stein“. Er lächelte wissend. Ein so warmes Lächeln aus einem so derben Gesicht, das konnte ich mir bislang gar nicht vorstellen. „S-t-ein“, wiederholte er, lachte und sagte wieder „Takun“. „Da-kún“, lachte ich zurück, woraufhin er noch mehr lachte. Schließlich nahm er den Gegenstand, den ich ihm eigentlich vorgehalten hatte, aus meiner Hand und hob einen Stock auf. Fasziniert beobachtete ich, wie er die Spitze am Stock mit einem Faden befestigte. Während ich in weiterer Folge die Schule einige Tage schwänzte, lebte ich bei dem alten Mann, lernte dessen Sprache und Schrift. Er zeigte mir, wie man Spuren las, mit Pfeil und Bogen ein Wild erlegte, das Fell gerbte, sich daraus Kleidung nähte und vieles mehr. Ich lernte, mit einem Kanu zu fahren, eines aus Fellen, Weiden- und Haselnussruten und Baumharz zu bauen, es auszubessern und zu fischen. Er zeigte mir unzählige Kräuter und deren Heilkraft. Dieses wunderbare Wissen fand ich bislang nie in der Bibliothek!
Meine schöne Zeit mit dem Alten sollte jedoch viel zu früh ein jähes Ende finden. Eines Tages fand ich die Überreste seiner Leiche im Wasser neben dem Kanu liegen. Das Kanu lag zerschlagen mit Schlagseite im Wasser. Alles war voller Blut. Ein Bär hatte den Alten überrascht und getötet. Offenbar hatte der Alte noch die Flucht versucht. Voll Trauer konnte ich den Alten einige Tage lang nicht beerdigen. Aber so herumliegenlassen wollte sich seine sterblichen Reste auch nicht. Also begrub ich in meinem zarten Alter von elf Jahren den Köper meines heimlichen Mentors. Sozusagen erbte ich ganz allein den gesamten Hausrat des Alten. Ich reparierte Zelt und Kanu, wie mir der Alte das gelehrt hatte. Diese ermöglichten mir weite Abstecher bis in das Vorgebirge, wo der Arundel entsprang. Nach jeder Expedition versteckte ich meine Ausrüstung gewissenhaft, bevor ich nach Dorphane zurückkehrte. In der Schule konnte ich einfach nicht anders, als meine neuesten Errungenschaften in der Forschung zum Besten geben. Gedachte zuerst meine Lehrerin, mich als Strafarbeit fürs Schule schwänzen zu möglichst vielen Vorträgen zu verdonnern, erkannte Frau Meisner schon am zweiten Tag, dass sie mir eigentlich die Bühne gewährte, meine Forschungsergebnisse zu präsentieren. In Folge überging sie mich viele Monate lang in der Reihenfolge, was ich so gar nicht akzeptieren wollte. Da ich trotz Schwänzen mit dem Unterrichtsstoff keineswegs zurückhing, stattdessen aber wieder um vieles reicher von jeder Expedition zurückkehrte, gewöhnte sich Frau Meisner irgendwann mein Schulschwänzen und nahm es einfach hin. Mir war der Preis für meine Vorträge egal, dass mich Brackitra und ihre Leyla hinterher in den Keller beorderten, dort verprügelten und einsperrten. Am Abend entließ mich der alte Jossn-Sepp dort sowieso wieder, verarztete meine Blessuren und schickte mich nach Hause. Ich sprühte so vor Begeisterung über meine Forschungen. Ich musste sie einfach teilen mit egal wem und zu egal welchem Preis. Ich war übrigens die Einzige, welche der Jossn-Sepp aus seinem Keller entließ und verarztete. Irgendwie genoss ich in seinen Augen eine stille Verehrung. Es spielte auch keine Rolle, in welchem Keller Brack mich einsperrte. Der Jossn-Sepp musste uns wohl beim gemeinsamen Verlassen der Schule bemerken und die Situation erkennen. Immerhin tat er mir den Gefallen, sich wenigstens während der Prügel aus der Sache herauszuhalten und erst dann den Keller zu öffnen, wenn diese Brack längst verschwunden war. Jegliches Eingreifen seinerseits hätte meine Situation zwischen Brack und mir nur verschlimmert. Auch heute war uns der Jossn-Sepp im großen Abstand bis sogar etwas in den Waldrand gefolgt.
Die vergangenen Sommerferien hatte ich die freie Zeit von der Schule genossen und so weit wie noch nie zuvor den Arundel hinaufgestoßen. Ich entdeckte die Höhle der Rikrhana und darin das Stammeszeichen des alten Mannes, warum ich vermutlich gleich eine sehr besondere Zuneigung zu diesem längst verschwundenen Nomadenvolk hegte. Die Aussicht auf eine bislang noch nie dagewesene Tracht Prügel im Gegenzug zu meinem neuesten Referat trübte meinen Eifer nicht im Geringsten, gleich der ganzen Klasse die Sensation meiner Entdeckung kundzutun. Und dann eine derartige Wendung in Brackitras Verhalten? Das kam für mich völlig unvorbereitet. Warum verprügelte sie mich nicht einfach so wie sonst auch? Stattdessen wühlten wir mittlerweile in finsterer Nacht durch ein auch am Tage geradezu undurchdringliches Dickicht. Jeden Moment könnten wir einen Puma überraschen oder eher dieser uns. In keinen von beiden Fällen würde dieser zögern, uns nicht gleich alle drei zu erlegen. Mit Schwermut dachte ich an mein Jagdmesser bei meiner Ausrüstung im Versteck am Arundel. Mit diesem hätte ich einen angreifenden Löwen wenigstens klarstellen können, mich als Beute auszulassen und den Wölfen zu überlassen. Mit diesen könnte ich mich möglicherweise arrangieren, indem ich auf einen Baum kletterte und ein paar Tage abwarte, bis die Wölfe die Spur einer anderen Beute aufnahmen. Wie schon erwähnt, kam ich hier lebend sowieso nicht mehr heraus. Grund genug, mit dem Leben abzuschließen und zu akzeptieren, schon sehr bald als Beute gefressen zu werden. Andererseits wollte ich schon noch möglichst lange leben. So lange ich lebe, lebt auch die Hoffnung, dass ich doch noch irgendwie lebend entwische. Beute der Wölfe zu sein, ermöglichte, dass diese Brack und Leyla fressen könnten, während ich auf einem Baum wartete, bis die Wölfe gesättigt abzögen. Also eine Art Funken Hoffnung, am Ende doch noch lebend nach Hause zu kommen. Brack und Leyla werden heute Nacht auf jeden Fall gefressen! Sie ahnten es nur noch nicht. Zu meinem Glück war ich für die beiden nicht verantwortlich. Aber diese dummen Stadtgören als Köder benutzen, erschien mir angebracht. Immerhin hatten sie uns das eingebrockt!
Mir schwante längst, dass Brack sich in dem Dickicht verlaufen hatte. Wie sollte sich auch eine verwöhnte Göre aus der Stadt so ganz ohne Übung in völlig unbekannter Wildnis zurechtfinden? Wiederholt hakte ich nach, ob Brack sich ihrer Sache sicher sei, was diese ebenso wiederholt bestätigte. Irgendwann hielt sie die Lampe höher, sodass ich vage die Begrenzung eines längst überwucherten Weges ausmachte. Bracks Fähigkeiten zur Führung im unbekannten Wald überraschten mich dann doch irgendwie. Immerhin fand ich mich etwas beruhigt, dass Brack mich wenigstens nicht angelogen, sondern diesen Ort tatsächlich schon mehrmals aufgesucht haben musste. Allerdings dauerte der Marsch durch das Unterholz sehr lange und erneut meldeten sich Zweifel in mir, ob sich Brack nicht einfach verirrt habe und dies nicht zugeben wolle.
Schließlich gelangten wir an eine uralte Schranke. Wer war denn so verrückt und errichtete mitten im Urwald eine Schranke? Als reiche dieser Unsinn nicht, befand sich ein Schild daneben. Brack hielt die Lampe hoch, um den Text auf dem verwitterten Schild erkenntlich zu machen. Doch von den einstigen Zeichen deuteten nur vage verwitterte Reste. Gerade dass es sich um ein Verbotsschild handelte, ließ sich irgendwie erahnen. Brack und Leyla höhnten. Spottend drehten sie die Tafel um, drehten närrisch das Schild auf seinem Stiel auf den Kopf und trampelten schlussendlich auf der mit dem Gesicht nach unten am Boden liegenden Tafel herum, diese für alle Zeit „einzustampfen“. Die Schranke selbst bestand lediglich aus einem morschen und mit Moos überwachsenen Schlagbaum auf zwei ebenso verwitterten Halterungen. Bei der leisesten Berührung könnte alles in sich zusammenbrechen. Brack schnappte sich den Schlagbaum und warf ihn auf die Erde. Sodann erklärte sie mit einer gespielt tiefen Verbeugung den „Grenzübergang“ als „extra für Herrin Erika eröffnet“. Mit ungutem Gefühl sah ich dem Treiben nur zu. Andererseits fehlte jeglicher erkennbare, sinnvolle Grund für einen Einwand. Die Schranke und das Schild waren sicher vor langer Zeit errichtet worden und mindestens ebenso lange vergessene Relikte ehemaliger Bewohner dieser Gegend. Aber so ging man nicht mit den Überresten vergangener Besiedelungen um, schon gar nicht, wenn man diese erkunden wolle! Brack und Leyla spotteten meinen Bedenken. Diese morsche Schranke und das nicht mehr lesbare Schild würden nun wirklich gar nichts aussagen!
Endlich setzte sich Brack wieder in Bewegung. Das Gebüsch wurde immer dichter. Es war wie verhext. Als wolle der Wald selbst uns mit allen Mitteln am Weitergehen hindern. In dieses Dickicht stieß verlässlich auch kein Puma mehr vor, von Bären und Wölfen gar nicht reden. Wenn ich hier jetzt einfach umkehrte, dann verliefe ich mich ohne Sturmlaterne zwangsläufig in dem unbekannten Dickicht. Unbeirrt folgte Brackitra den Resten von ehemaligen Grundmauern.
So plötzlich, dass ich fast erschrak, traten wir aus dem Wald auf eine Lichtung. Den einstigen Weg erahnte man für einige Schritte sogar ohne Lampe. Wir steuerten den Weg entlang und gelangten an eine riesige Zugbrücke aus schweren Bohlen über einen gähnenden Abgrund. Entgeistert starrte ich auf die riesige Burg, soweit ich diese in der Nacht überhaupt erkannte. Die Burg schien völlig intakt zu sein, aus unersichtlichem Grund jedoch verwaist, als hätten sich deren Bewohner vor wenigen Augenblicken einfach in Luft aufgelöst. Kaum wagte ich den nächsten Schritt. Staunend begutachtete ich das imposante Gebäude, während ich schließlich die Zugbrücke betrat. Brack und Leyla hatten für solch erhabene Augenblicke natürlich keinen Blick. Respektlos überquerten sie die Zugbrücke und den Platz dahinter. Vor dem erhabenen Tor blieben sie stehen und blickten sich nach mir um. Ich selbst wollte jeden einzelnen Moment auskosten, dieses uralte, erhabene Gebäude zu betrachten, bevor ich es durch mein Betreten entweihte. Irgendwie veränderte sich mein Bild von Brackitra dramatisch. Das hier war eine Goldgrube für jeden Forscher, und Brackitra ahnte augenscheinlich nicht ansatzweise um deren Größe und Wert! Warum hatte ich nur nie etwas über diese Burg in der Bibliothek gefunden? Ihre Nähe zur Königsstadt müsste doch ganze Bücher füllen! Staunend machte ich noch kleinere Schritte. Eine so prachtvolle Burg und wirklich gar niemand hier? Und das alles gehörte jetzt mir? Mir ganz allein?
Brackitra und Leyla pöbelten ungehalten, ich solle mich beeilen. Ich brauchte eine Weile, um meine Fassung wiederzuerlangen.
„Das ist viel zu groß für diese Nacht!“, stieß ich hervor. „Außerdem hüllt die Nacht alles in ihren dunklen Schleier! Lasst uns doch wenigstens diese Burg am Wochenende bei Tag aufsuchen!“, versuchte ich die beiden zu gewinnen.
Eine unheimliche Bosheit meinte ich auch zu verspüren, erwähnte dies jedoch nicht. Immerhin meinte ich, nun den Grund für die ominöse Schranke und das Warnschild zu erkennen. Wie lange mochte es wohl her sein, dass der letzte Mensch seinen Weg zu diesem Tor gesucht hatte? Dass Brack jemals dieses würdevolle Tor durchschritten habe, glaubte ich jetzt nicht mehr. Brack reagierte abwertend. Jetzt seien wir schon hier und hätten uns unsere Kleider hinlänglich zerfetzt und zerschunden! Da lohne sich wenigstens ein Blick hinein! Spürte sie die Bosheit dieses Ortes wirklich nicht oder überspielte sie ihre Angst so überzeugend? Ich wagte einen weiteren Versuch, von dieser Burg vorerst die Finger zu lassen und verwies auf den Umstand, dass das schwere Tor geschlossen sei. Sehr wahrscheinlich ließe sich dieses Tor womöglich gar nicht mehr öffnen! Brack musterte kurz das Tor und probierte. Zu unser aller Erstaunen öffnete sich das Tor geradezu spielend leicht aber mit einem gehörigen Quietschen ein kleines Stück weit. Das Tor mündete in vollkommene Finsternis. Brack triumphierte, der Weg sei frei! Ich möge ihnen als erfahrene Forscherin vorausgehen! Kaum wagte ich den nächsten Schritt, doch Brack und Leyla schoben mich einfach vor das Tor. Panisch versuchte ich den Fluchtversuch, dass hinter dem Tor kein Licht sei! Man könne überhaupt nichts sehen! Als Antwort drückte mir Brack die Sturmlaterne in die Hand. Von uns sei ich doch die am meisten Erfahrene mit solchen Geheimnissen! Leyla versicherte, dass sie selbst sich direkt hinter mir befänden! Dann gaben mir die beiden Freundinnen zugleich einen Stoß und stießen mich in den finsteren Raum hinein. Brack konstatierte, dass sie beide weit hinter mir wären. Schon zog Brack die Türe zu. Ehe ich mich sich versah, stand ich vollkommen alleine in einer weitläufigen, finsteren Halle. Schauerhaft hallte der Knall vom zugeschlagenen Tor in der Finsternis. Eiskalt fuhr mir der Schreck in die Glieder. Brack musste es wohl verdrossen haben, dass mich der Jossn-Sepp immer gleich wieder aus meinem Gefängnis entlassen hatte. Jetzt sperrten sie mich hier ein, wo ich ganz sicher nicht mehr türmen konnte. In Panik drehte ich mich sogleich zum Tor um und suchte den Griff, das Tor wieder zu öffnen. Doch schon hörte ich starkes Klopfen an der Außenseite des Tores, so als hämmere jemand Nägel in das uralte Holz. Das also war der Grund für das Brett mit den Nägeln und den Hammer gewesen, die Leyla mitgeschleppt hatte! Brack und Leyla nagelten den Ausgang einfach zu und machten mir ein Entfliehen unmöglich! Ich sollte hier drin verrecken! Diese Brackitra hatte sich nicht über die Sommerferien gebessert! Sie hatte sich verschlimmert!3) Sie musste die ganzen Sommerferien mit einem Plan verbracht haben, wie sie sich meiner endgültig entledigte! Oder sie wollte jetzt auch noch einen Mord zu ihrer Liste ihrer Freveltaten hinzufügen und ich naive Außenseiterin stellte für sie das perfekte Mordopfer dar. Ich hämmerte mit aller Kraft mit meinen Fäusten gegen das Tor, aber dieses rührte sich nicht mehr. Ich flehte und bettelte, wieder herausgelassen zu werden. Zurück in Dorphane dürften sie mich jeden Tag verprügeln! Stattdessen höhnten die beiden Freundinnen hörbar, dass ich da drinnen womöglich einem psychisch gestörten Mädchenmörder in die Fänge laufe! Leyla tat theatralisch schockiert, was wäre, wenn dem wirklich so sei? Kurz hörte ich noch in meinem finsteren Gefängnis, wie die beiden Kameradinnen davonliefen. Dann war nur noch Stille! Ich lehnte gegen das Tor und heulte um Erbarmen. Aber auf der anderen Seite des Tores war niemand mehr. Die Sturmlaterne stand am Boden und leuchtete schwach in die stockdunkle Nacht. Resigniert sank ich zu Boden und heulte. Wie hatte ich nur so naiv sein können, zu glauben, ausgerechnet Brack und Leyla würden sich für meine Forschungen interessieren? Wie hatte ich nur so dumm sein können und ausgerechnet dieser Brack in diese finstere Burg zu folgen? So langsam dämmerte mir, wo ich mich vermutlich in Wahrheit befand. Nein, diese Burg hatte ich bei meinen Studien uralter Bücher keineswegs übersehen! Ich hatte mich nur bis dato an das königliche Zutrittsverbot gehalten und meine Forschungen auf die Aufzeichnungen in der Bibliothek beschränkt!4)
Die Aufzeichnungen über diese Burg, welche mir je in die Hände gelangt waren, hielten sich ungewöhnlich karg. Trotz dessen, dass diese Burg seit jeher gar nicht weit entfernt von der Königsstadt wie ein Wahrzeichen auf dem Gipfel vom Berg Ochonan thronte, fand ich selbst in der Universitätsbibliothek kaum Aufzeichnungen, welche ich eindeutig dieser Burg zuordnen konnte. Berichte von Menschen, welche je die Burg erforscht hatten, gab es gar keine. Ich wusste lediglich, dass diese Burg lange vor der Entstehung Dorphanes gebaut worden sein musste. Dazumal bestand aber das gesamte Land nur aus Eis und Schneefeldern. Eisbären und Karibus zogen ihre einsamen Wege, indes eiskalter Wind dünne Wolken aus Pulverschnee gnadenlos über das Land trieb. Gerade ein paar Abschriften irgendwelcher Dokumente aus Itasún verrieten, dass ein entfernter Urahn von König Robert von Itasún diese Burg erbaut haben musste.
Notgedrungen richtete ich mich auf. Ich brauchte einen anderen Ausgang! Mein Überlebensinstinkt trieb mich an. Brack hatte sich verrechnet, wenn sie annahm, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben in einer ausweglosen Situation feststeckte! Na, der würde ich es zeigen, sobald ich zurück in Dorphane diese Zicke in die Finger bekam! Jetzt war Schluss mit lustig und sich verprügeln lassen! Dieses Mal würde ich diese fiese Göre zurechtstutzen. Vorausgesetzt, ich träfe sie jemals wieder lebend an, was schon sehr unwahrscheinlich war. Im günstigsten Fall gelange ich nach schweren Kämpfen nach Hause und bekäme zu hören, dass Brack und Leyla vermisst würden. Oder ein Jäger hätte inzwischen ihre Überreste gefunden. Niemand auf der Schule ahnte, dass mich der Alte auch im Kampf unterrichtet hatte. Bisher hatte ich meine Fähigkeiten auf der Schule nicht gezeigt, aber das würde ich jetzt ändern! Ich atmete tief durch, um einen klaren Kopf zu bekommen. Brack käme keinesfalls zurück und würde mich wieder rauslassen! Genau genommen würde auch sie nicht mehr lange genug leben, um mich überhaupt wieder rauslassen zu können! Im besten Fall rannte sie geradewegs zurück zu den Wölfen. Es gab kein Zurück mehr für uns drei! Möglicherweise saß ich gerade in der besseren Falle. Ich musste nur überleben!
Ich bückte mich und hob die Lampe vom Boden auf. Der Schein der Lampe erstarb in der Finsternis der unbekannten, riesigen Halle. Suchend tastete ich mich Schritt für Schritt in die Halle hinein. Krampfhaft hielt ich mit der anderen Hand mein Notizbuch fest an meine Brust gedrückt. Das beruhte vermutlich auf einem psychologischen Effekt, irgendwo Halt zu suchen. Außerdem, wenn ich das wertvolle Buch hier in der Finsternis verlöre, fände ich es vermutlich nicht wieder. Ein Paar Säulen aus Granit erschienen im Licht der Lampe, aber die Wände des Raumes blieben in der Dunkelheit verborgen. Meine Schritte hallten in dem finsteren Dom wider. Zaghaft rief ich in die Dunkelheit. Vielleicht wohnte ja doch irgendwer hier und schlief einfach nur. Aber eigentlich wusste ich, dass niemand antworten würde. Daher gab ich den Versuch auch gleich wieder auf. Frustriert schalt ich mich für meine Dummheit, Brack überhaupt gefolgt zu sein. Wieder passierte ich ein Säulenpaar. Wieder entdeckte ich am Ende vom Licht der Lampe kein Ende vom Raum. Suchend schwenkte ich die Lampe herum und seufzte, was ich eigentlich da gerade tue und was ich mir davon erhoffe? Wie erschrak ich, als eine tiefe Männerstimme, wohl aus nächster Nähe, konstatierte, dass dies eine sehr gute Frage sei! Verängstigt fuhr ich herum, entdeckte aber niemanden.
„Wer hat das gesagt?“, fragte ich schaudernd.
„Höflich wäre es, wenn du dich erst mal selbst vorstellst!“, gab sich die Stimme zurückhaltend.
„Erika!“, kam es zitternd von meinen Lippen und ich fühlte mich überrumpelt.
„Was tust du in meiner Burg, Erika?“, verlangte die Stimme unverzüglich zu erfahren.
„Es – es tut mir leid!“ bettelte ich verängstigt. „Ich bin von ein paar Schulkameradinnen hier eingeschlossen worden. Aber wenn Ihr mir einen Weg hinaus zeigen würdet, würde ich nur zu gerne wieder gehen!“, versuchte ich die Stimme für mich zu gewinnen.
„Wer seid Ihr und wo seid Ihr?“, suchte ich den Sprecher, als die Stimme einfach schwieg und ich nach wie vor niemanden entdeckte.
„Der Herr dieser Burg!“, gab sich die Stimme knapp.
„Dann müsstet Ihr doch einen Ausgang kennen!“, flehte ich.
„Es gibt keinen Ausgang!“, gab sich die Stimme desinteressiert.
„Was?“, konnte ich nicht glauben, was ich da gerade hörte.
„Das hier ist meine Burg und kein Hartkäse mit endlos vielen Löchern drin!“, belehrte mich die Stimme herablassend. „Es ist besser, du findest dich damit ab! Das macht es uns allen leichter!“
„Wer seid Ihr? Wo seid Ihr?“
In aufkommender Panik schwenkte ich die Lampe suchend um mich herum, aber die Stimme schwieg. Stattdessen berührte ich etwas mit den Füßen. Als ich die Lampe darauf richtete, erkannte ich das Skelett eines Menschen. Zerfetzte und blutige Kleidung zeugten vom gewaltsamen Tod des Unglücklichen. Die Ausrüstung lag zerbrochen rund um die Fundstelle herum. Spinnweben und eine dicke Staubschicht verrieten, dass dieser Unglückliche schon vor langer Zeit hier gestrandet sei. Entsetzt fuhr ich mit einem Aufschrei einen Schritt zurück.
Während ich unschlüssig über mein weiteres Vorgehen stagnierte, hörte ich plötzlich grelle Schreie zweier mir wohlvertrauter Stimmen. Doch noch ehe ich die Stimmen Brackitra und Leyla zuordnen und mich verwundern konnte, wie das möglich sei, plumpsten zwei Körper weit von mir entfernt, wohl irgendwo in der Nähe des Eingangstores zu Boden.
„Eure Kameradin, ist das die da hinten?“, verlangte eine Stimme im sonoren Bass, die transzendent den Raum erfüllte, als spreche die Luft selbst, zu erfahren.
Das war doch gar nicht möglich! Gab es hier am Ende noch mehr Leute? Womöglich nahte meine Chance, dieser verruchten Burg zu entwischen! Eine angenehme Kraft ging von der Stimme aus und wies den Schrecken der Burg um mich herum in Schranken.5)
„Wer ist da?“, fuhr ich herum und suchte mit der Laterne, ob ich jemanden in dem schwachen Licht entdecke.
Zwei Stimmen, die sonore Stimme von vorhin und eine eindeutig weibliche Stimme wie von einer Fee, die eine ebenso solide Geborgenheit verströmte, meldeten sich transzendent durch die Dunkelheit. Statt aber mir zu helfen, verwunderten sie sich, warum ich nichts sehe, als habe ich keine Augen im Kopf?
„Ginge es mit etwas weniger Frechheit, wenn’s möglich wäre? Seht ihr denn etwas in dieser pechschwarzen Finsternis?“ 6)
Die Stimmen ignorierten meine Fragen, lästerten über meine Lampe und sprachen ihre Verwunderung aus, wieso ich eigentlich damit so wild herumfuchtle? Zwei weitere weibliche Stimmen wie von Feen meldeten sich und taten meine Lampe als belanglos ab. Während ich noch überlegte, was das jetzt nun zu bedeuten habe, vernahm ich eilige Schritte zweier Paar Füße auf dem kalten Steinboden. Verblüfft entdeckte ich tatsächlich und allen Ernstes Brackitra und Leyla aus der Dunkelheit im Licht der Lampe auftauchen. Wie waren denn die hereingekommen? Das Tor war doch eindeutig zugenagelt! Und geöffnet hatte es sich zwischenzeitlich auch nicht! Das hätte ich sofort gesehen! Noch ehe ich die Fassung zurückerlangte, haschte Brack nach der Lampe. Diese gehöre ihr! Ich zog instinktiv die Lampe weg, nur dass Leyla danach haschte. So leicht wurde ich die beiden nicht los. Ich kämpfte gleichermaßen um meine Hoheit um die Lampe, wie ich versuchte, das Licht am Leben zu erhalten. Sahen denn die dummen Zicken nicht, dass wenn die Lampe herunterfiele, das Licht verlösche? Nein, die begriffen das nicht! Leyla gelang ein Schlag nach meiner Hand, als ich gerade wieder Brack die Lampe entwand. Ich verlor den Halt und die Lampe zerschellte am Boden.
„Jetzt sieh, was du angerichtet hast!“, keifte mich Brack an.
„Ich?“, rechtfertigte ich mich. „Was tust du überhaupt hier drin?“
„Was soll jetzt aus uns werden?“, heulte indes Leyla irgendwo zwischen uns am Boden um Licht. Dann ein spitzer Aufschrei aus Leylas Mund. Na klar, sie hatte sich an einer Scherbe geschnitten. Sie kreischte vor Pein. Unvermittelt hörte ich die transzendente erste weibliche Stimme, als befanden wir uns genau in ihr drin. Ich vermeinte eine Präsenz wie von einem mächtigen Geist zu spüren, der uns umhüllte, aber ich wusste mich nicht zu entscheiden, ob ich diesen fürchten müsse. Das Wesen strahlte grenzenlose Macht aus, aber das Böse der Burg floh vor ihr.
„Pass gefälligst auf!“, mahnte die Stimme, als habe sie das Böse der Burg selbst noch gar nicht bemerkt.
Ein leises Klirren verriet, dass die Scherbe zu Boden gefallen war. Leyla indes entspannte sich genau neben mir, als sei der Schmerz der Wunde ebenso spurlos verschwunden. Ich spürte, dass ich diese Wesen ehren musste. Diese Wesen waren meine Hoffnung, hier irgendwie herauszufinden! Gerade wollte ich dieses Wesen bitten, ganz nah bei mir zu bleiben. Stattdessen heulte Leyla gleich wieder los.
„Es ist dunkel! Ich habe Angst!“, flennte Leyla indes bettelnd, als habe sie nicht begriffen, dass unser Leben von der Gunst dieser Wesen abhing.
Lernte denn diese Leyla wirklich gar nichts dazu? War sie durch ihre devote
Unterwerfung ausschließlich unter Bracks Herrschaft so verblendet?
„Warum hast du dann dieses Angst mitgenommen, wenn es wegen dieses Dunkel kaputt geht?“, schnarrte die erste weibliche Stimme indes unwirsch zurück.
Ich konnte es nicht fassen. Die Dunkelheit und die Angst setzten uns allen zu, aber in der Stimme dieser Feen, oder was auch immer, klangen diese Probleme geradezu lächerlich.
„Dunkel nennen es die Menschen, wenn sie nichts sehen“, hörte ich eine der weiteren weiblichen Stimmen sanft. „Aus irgendeinem Grund können Mensehen mit ihren Augen an bestimmten Phasen einer Periode und an bestimmten Orten nichts sehen. Das ist so, wie mit diesem Blinden in der Stadt.“
Hatte die jetzt gerade von uns als „die Menschen“ gesprochen? Was für Wesen befanden sich nur im Raum, die wir weder sahen, noch verstanden, und von welchem Blinden war jetzt plötzlich die Rede? Dennoch fühlte ich mich sogleich zu dieser Stimme hingezogen. Diese Stimme liebte ich am meisten. Zu ihr wollte ich hinlaufen und mich dort bergen. Am besten sofort darin auflösen, egal was das für mich bedeutete. Zu meinem Leidwesen schien dieses Wesen aber weit entfernt zu sein.
„Und warum geht dabei dieses Angst kaputt?“, verwunderte sich die männliche Stimme.
„Und wie sieht dieses Angst aus?“, begehrte die erste weibliche Stimme zu erfahren. „Die hat doch nichts dabei!“
Fassungslos versuchte ich, dem Dialog zu folgen. Gar nicht so einfach mit einer heulenden Leyla und einer zeternden Brackitra genau neben mir. Am Ende war die Burg gar nicht verlassen, sondern diese Wesen wohnten hier? Das erklärte jedenfalls den hervorragenden Zustand der Burg und warum unsereiner hier eigentlich nichts verloren hatte.
„Ich glaube, als Angst bezeichnen die Menschen ihre Sorge um ihr Überleben oder ihr Wohlergehen“, vernahm ich einen Erklärungsversuch der zweiten weiblichen Stimme. „Dann machen die Menschen auch immer ganz komische Sachen. Ihr habt ja gesehen, wie die beiden draußen gezittert haben.“
„Welche beiden? Hallo, ich bin auch noch da! Ich will auch wissen, um was es gerade geht!“
Brack und Leyla verstummten dagegen jäh.
Aha, also diese beiden!
„Ist das so, wie deine Vermutung über das Sich-nicht-helfen-lassen-wollen der Menschen?“, plauderte indes die männliche Stimme einfach weiter, als sei hier alles in bester Ordnung und sie lediglich über unser ungebührliches Eindringen etwas verstimmt.
„Wie heißt ihr eigentlich?“, sprach uns die dritte der weiblichen Stimmen so direkt an, dass an eine Flucht nicht zu denken war.
Auch diese Stimme verströmte Ruhe und Kraft. Aber was für eine! Die Frage traf uns härter als ein Schlag aus der Pranke eines Bären. Irgendwie schien diese dritte weibliche Stimme jedoch zu der zweiten weiblichen Stimme dazuzugehören. Trotz der guten Hoffnung, welche ich aus dem Klang der Stimmen schöpfte, hatten diese eine Autorität zu eigen, der man sich einfach nicht widersetzen durfte. Natürlich besaß ich keine Vorstellung, in welche Richtung ich mich wenden sollte, um diese Personen mit ihren transzendenten Stimmen anzusprechen. Die Dunkelheit umgab uns wie dicke Tinte. Die Stimmen vernahmen wir buchstäblich um uns herum. Und als reiche das alles nicht, hallte der Raum und erschwerte die Orientierung ganz allgemein, aus welcher Richtung ein Geräusch an uns herandrang. Brack und Leyla schwiegen eindeutig verlegen. Ich triumphierte. Wenn ich mich zu gehorchen beeilte, erhoffte ich mir die nötige Gunst, dass mir diese Stimmen hülfen, aus dieser Burg abzuhauen. Aber Brack ließ mich kaum ausreden.7) Das entsprach wieder dieser Zicke, die niemanden etwas gönnte, alles für sich beanspruchte und sich natürlich überall vordrängte. Ihre Verachtung gegenüber meiner Person während ihrer Vorstellung ließ keine Wünsche offen.
„Und ich heiße Leyla!“, beeilte sich Leyla, als Brack endlich schwieg, als liefe sie Gefahr, übergangen zu werden.
„Bitte, es ist hier so dunkel! Ich habe Angst!“, hängte Leyla flehend an.
So merkwürdig wie es in meiner verfahrenen Situation erscheinen mag, aber in der Gegenwart dieser Stimmen wollte ich gar kein Licht. Die Angst und die Bedrängnis dieser ungreifbaren Bosheit verschwanden einfach. Ich fühlte mich in ihrer Nähe sogar so wohl, dass ich sie nie mehr verlassen wollte. Diese pechschwarze Finsternis war dazu sogar ein wichtiger Bestandteil. So ein Gefühl hatte ich bislang gar nicht gekannt! Ich brauchte nur die Stimmen zu hören, so um deren Nähe zu wissen. Natürlich wusste ich sogleich, dass wir jetzt diesen Wesen als Beute gereichten. Jetzt war es also soweit! Aber – so verrückt das klingt –von ihnen gefressen zu werden, störte mich plötzlich überhaupt nicht mehr. Es erschien mir nur gerecht. Ich hatte seit meinem achten Lebensjahr nicht unwesentlich von der Jagd gelebt. Der alte Mann hatte mir alles beigebracht. Das ganze Thema Jagd war mir bestens vertraut. Wir drei sind Beute! Beute muss gefressen werden, sonst ist sie keine Beute! Als wir in den Wald von Ochonan eingedrungen waren, hatten wir uns selbst zu Fleisch gemacht, das nur noch so lange leben darf, bis es von seinen Jägern gefangen und in weiterer Folge aufgefressen wird! Nun waren wir drei also von unseren Jägern gestellt worden! Als nächster Punkt in der Liste wurden wir gefressen! Höchste Zeit, sich damit abzufinden. Hier endete unser Weg! Davonlaufen konnten wir nicht. Die Dunkelheit hielt uns gefangen. Und auf jeden Fall die bessere Wahl, als von Wölfen, Bären oder anderen niederen Kreaturen gefressen zu werden. Ich schloss die Augen und schluckte. Ich bereitete mich darauf vor, jetzt für diese Wesen, die zwar eine angenehme Ausstrahlung hatten, aber die ich weder kannte, noch sah, als Abendessen herhalten zu müssen. Der Tisch war für diese Wesen gedeckt. Jeden Moment könnte das Essen beginnen und unser Leben enden.8) Die Bitte um Licht war glatte Zeitverschwendung. Hoffentlich vermasselte diese dumme Leyla jetzt nicht alles!
„Schon wieder dieses Dunkel und dieses Angst!“, knurrte die männliche Stimme indes. „Wo hast du denn dieses Angst eingesteckt?“
„Und was ist an diesem Dunkel so schlimm, was auch immer das sei?“, ergänzte die erste weibliche Stimme neugierig.
„Zumindest geht hier gerade nichts kaputt, sonst wüsste ich das!“
Fast musste ich lachen, als die männliche Stimme die Anfrage ergänzte. Vielleicht war es ja wirklich besser, bei Licht gefressen zu werden. Diese Wesen hatten Humor. Zumindest dürften wir erfahren, wessen Essen wir seien.