Erinnern heißt Kämpfen -  - E-Book

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Beschreibung

Seit Jahrzehnten engagieren sich Überlebende und Angehörige von Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt gegen das Vergessen und gegen die Ignoranz rechter Gewaltverbrechen in Deutschland. Ihr Engagement hat viele Gemeinsamkeiten: Sie halten das Gedenken aufrecht, solidarisieren sich, fordern Aufklärung und Konsequenzen. Sie erzählen, wie nach Anschlägen die Opfer und Betroffenen wie Beschuldigte behandelt wurden. Sie gründeten sich in Reaktion auf passive staatliche Behörden bzw. aktive Vertuschungsversuche und schaffen Raum für Selbstermächtigung. Und vor allem: Sie fordern Aufklärung – denn ohne ihre Einmischung wären beispielsweise der Mord an Oury Jalloh oder der Tod von Amed Ahmad in Vergessenheit geraten. Sie zeigen den Angehörigen und Betroffenen, dass sie nicht alleine sind. Ihre Stimmen mahnen die erschreckende Kontinuität des Rassismus in Deutschland an. Denn seit Jahrzehnten wiederholen sich rassistisch motivierte Ausschreitungen, Angriffe und Morde. Der NSU-Komplex bleibt weiterhin unaufgeklärt. Die Terroranschläge in Halle im Oktober 2019 sowie in Hanau im Februar 2020 und die Gefahr von Prepper-Gruppen, die Waffen und Munition horten, um sich für einen Bürgerkrieg aufzurüsten, und die seit Jahren andauernden rassistischen Angriffe in Berlin-Neukölln sind nur die Spitze des Eisberges, der die Gefahr aufzeigt, die von rechten Gewalttäter*innen ausgeht. Mit Beiträgen von Çaǧan Varol, Rachel Spicker, Sibel Leyla sowie zahlreichen Initiativen und Angehörigen von Todesopfern rechter Gewalt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ali Şirin ist Sozialwissenschaftler, Social Justice- sowie Antirassismus-Trainer und arbeitet hauptberuflich im Zentrum für Erinnerungskultur in Duisburg. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Jugendarbeit, Empowerment, Diversität und Moderation von Lesungen bzw. Podiumsdiskussionen. Er ist Mitgründer und Mitglied bei DIVE – dem Netzwerk für diversitätsbewusste Jugend- und Bildungsarbeit und ist aktiv im Bündnis Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich Dortmund.

Ali Şirin (Hg.)

Erinnern heißt Kämpfen

Kein Schlussstrich unter unsere Stimmen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Ali Şirin (Hg.):

Erinnern heißt Kämpfen

1. Auflage, Oktober 2024

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2024

ISBN 978-3-95405-205-9

© UNRAST Verlag, Münster 2024

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, der Übersetzung sowie der Nutzung des Werkes für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Umschlagfoto: moteus, Berlin

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Vorwort

12. August 1979, Merseburg

»Er liebte es neue Orte kennenzulernen« – Erinnerungen der Angehörigen Delfín Guerras | Initiative 12. August

Gedicht von Alexander Chávez Guerra

Lagunas del Silencio

Lücken der Stille

Gedicht von Yasmani Torriente Guerra

pensamiento

nachdenken

22. August 1980, Hamburg-Billbrook

Der Beginn der Welle rassistischer Gewalt in den 1980er-Jahren | Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân

Die vergessenen Morde von Hamburg | Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân

Zitatesammlung von Ngu Thoi Trong

26. Mai 1982, Hamburg

Ich will leben, wie ich es mir wünsche | Initiative in Gedenken an Semra Ertan

Vorwort für den Gedichtband Semra Ertan: Mein Name ist Ausländer | Benim Adım Yabancı. Gedichte | Şiirler

24. Juni 1982, Nürnberg

William Thomas Schenck Jr. – Ein fast vergessenes Mordopfer rechten Terrors in Nürnberg | Birgit Mair

26. August 1984, Duisburg-Wanheimerort

»Ich werde weiterkämpfen – für die Wahrheit und die Gerechtigkeit« | Aynur Satır mit Ali Şirin

Rede Aynur Satır am 26. August 2023

Rede von Sibel İşini am 26. August 2023 anlässlich des Gedenkens der ermordeten Menschen 1984 in Duisburg

25. November 1990, Eberswalde

Wir sind hier – Bruder Amadeu | Joaquim Francisco Joao, übersetzt von Marieta Böttger

8. Juli 1992, Ostfildern-Kemnat

»Wir sind doch so ein friedliches Dorf« von Gabriele Fischer

22. bis 24. August, 1992, Rostock-Lichtenhagen

Vorstellung: Asociația Centrul de Cultură al Romilor Dolj, Roma Center, Dokumentationszentrum ›Lichtenhagen im Gedächtnis‹

23. November 1992, Mölln

Auszüge aus den Möllner Reden im Exil 2021

Symphonie der Solidarität von Ibrahim Arslan

Erinnerungen von Emircan-Hamza Arslan

Erinnerungen von Mertcan Arslan

Yelize Annesinden Mektup von Hava Arslan

Ein Brief von der Mutter an Yeliz von Hava Arslan

Rede von Namık Arslan

Brief von Yeliz Arslan (heute Burhan) an Yeliz Arslan

22. Dezember 1992, Köln-Ehrenfeld

Ein Mensch, zwei Gesichter – ein kraftvolles, ein ängstliches | Fatma Ceylan im Gespräch mit Ali Şirin

27. Dezember 1992, Neuss

30. Jahrestag des Anschlags in Solingen | Orhan Çalışır

Zusatz zu meiner Rede vom 29. Mai 2023 für die Veröffentlichung – Oktober 2023

29. Mai 1993, Solingen

Die Solinger Brandanschläge und deren Wirkungsweise in der Gegenwart aus einer biographischen Perspektive einer betroffenen Solingerin | Birgül Demirtaş

Hatice Genç im Gespräch mit Birgül Demirtaş

30. Juni 1994, Hannover

In Erinnerung an Halim Dener | Ayşe Güvendiren

Auszug aus dem Theaterstück »Die Geschichte von Goliat und David« von Ayşe Güvendiren

18. Januar 1996, Lübeck

Wir, die Überlebenden, melden uns zu Wort

23. Juni 1999, Nürnberg

Mehmet O., Überlebender des NSU-Bombenanschlags 1999 in Nürnberg | Birgit Mair

9. September 2000, Nürnberg

In Erinnerung an Enver Şimşek | Semiya Şimşek

In Erinnerung an Enver Şimşek | Abdulkerim Şimşek

Brief von Enver an seine Frau

Des Soldaten Envers Worte

9. Juni 2004, Köln

›Ignoranz ist das andere Gesicht des Rassismus‹. Gespräch mit Muhammet Ayazgün vom 14.12.2023, geführt und vom Türkischen ins Deutsche übersetzt von Çaǧan Varol

»Der Prozess war ein Theater …« Gespräch mit Arif Saǧdıç vom 18.12.2023, Köln

Das Problem mit der Staatsräson. Kontinuitäten der Nicht-Aufklärung im NSU-Komplex und deren gesellschaftliche Folgen | Çaǧan Varol

15. Juni 2005, München

In Erinnerung an Theodoros Boulgarides | Rede von Mandy Boulgarides am 22. Juli 2022 beim Gedenken der Initiative München OEZ

4. April 2006, Dortmund

In Erinnerung an Mehmet Kubaşık vom Bündnis Tag der Solidarität | Kein Schlussstrich Dortmund

»Ich möchte, dass man meinen Vater niemals vergisst« | Interview mit Gamze Kubaşık

Rede von Gamze Kubaşık am 4. April 2023 in Dortmund

Offener Prozess – NSU-Aufarbeitung in Sachsen. Uns eint das Gedenken | Zeran Oman

5. April 2012, Neukölln

Redebeitrag zum 10. Jahrestag der Ermordung von Burak | Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş

Redebeitrag zum 10. Jahrestag der Ermordung ihres Sohnes Burak Bektaş | Melek Bektaş

Rede der Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş zum Gedenken an den Mord an Luke Holland (Berlin-Neukölln 20.09.2023)

April

NSU-Watch: Aufklären und Einmischen von NSU-Watch

22. Juli 2016, München

Auszug aus einer Rede von Mandy Boulgarides

München erinnern: Der Anschlag am 22.Juli 2016 am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) war rechter Terror von Anghörigen der Opfer

Rebebeitrag am 22. Juli 2023 von Arberia Segashi, Schwester von Armela

Redebeitrag von Sibel Leyla, Mutter von Can

22. Juli 2016, München (Türkische Version)  Sibel Leyla’nın konuşması, Can’ın Annesi

Redebeitrag von Margareta Zabërgja an ihren Bruder Dijamant

Redebeitrag von Gisela Kollmann, Oma von Guiliano: »Ich muss es rausschreien, damit es alle hören«

Redebeitrag vom 22. Juli 2023 von Nayde Mechmet, Mutter von Hüseyin Dayıcık

Deutsche Version

Türkische Version

Redebeitrag von Engin und Yasemin Kılıç, Eltern von Selçuk

Redebeitrag von Hacı Dağ, Ehemann von Sevda

17. September 2018, Kleve

Redebeitrag zum 5. Jahrestag des Todes von Amed Ahmad | Initiative Amed Ahmad

Redebeitrag zum 5. Jahrestag des Todes von Amed Ahmad | Fadile und Malek Ahmad

9. Oktober 2019, Halle

Von der Soligruppe 9. Oktober / TEKİEZ

Eine Wunderschönheit in jeder Ecke: TEKİEZ – Raum des Erinnerns und der Solidarität | İsmet Tekin

In Erinnerung an Jana L. und Kevin S.: Fensterbild von Talya Feldman

Erinnern heißt auch: die Ruhe stören (Nathan A. Biffio): Zitatkampagne

7. Oktober 2023 | Rachel Spicker

Auswirkungen der antisemitischen Vorfälle hier in Deutschland

Handlungsfähigkeit von Überlebenden und Betroffenen weiterhin zu ermöglichen und wiederherstellen

18. Juni 2020, Bremen

Justice for Mohamed Idrissi

21. Juni 2020, Kassel

»Gehen wir alle zusammen!« Kämpfe für Anerkennung, finanzielle Entschädigung und Gerechtigkeit der Soligruppe B. Efe 09 | Soligruppe B.Efe 09

13. August 2020, Amsterdam

In Erinnerung an Sammy Baker von seinen Eltern Justine Seewald-Krieger & Kai Baker

8. August 2022, Dortmund

Mouhamed Dramé, am 8. August 2022 von der Dortmunder Polizei erschossen. Rede zur Demonstration 19. November in Dortmund 2022 von den Eltern von Sammy Baker

500 Tage Kampf um Aufklärung und Gerechtigkeit | Solidaritätskreis Justice4Mouhamed William Dountio & Friedrich Kraft

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Vorwort

»Kein Schlussstrich!« Dies ist ein wichtiger kurzer Satz. Überlebende und Angehörige rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt engagieren sich für Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen. Sie leisten Erinnerungsarbeit, weil sie von staatlichen Behörden allein gelassen werden bzw. nicht die Unterstützung erhalten, die sie sich wünschen. Sie engagieren sich, weil Antisemitismus und Rassismus in unserer Gesellschaft nicht immer ernst genommen, gar verharmlost werden.

Die Betroffenen gestalten mit Unterstützung von Aktivist*innen selbst ihre Erinnerungsarbeit. Sie wollen Ihre Liebsten nicht vergessen, nicht in Vergessenheit geraten lassen. Ihre unermüdlichen Kämpfe sind für uns ein Leitbild. Sie haben Wut im Bauch, aber keinen Hass, sie bekämpfen Hass mit Liebe und trotz vieler Rückschläge sowie Enttäuschungen bleiben sie zuversichtlich. Die Solidarität unter den Überlebenden und Angehörigen fängt sie auf, wenn alles hoffnungslos erscheint, sie ist eine Stütze, wenn die Trauer, der Schmerz überwiegt, sie geht einher mit der Hoffnung auf eine bessere, schönere Gesellschaft. Sie schenken sich untereinander Kraft und Mut.

Gerade in diesen Zeiten des Rechtsrucks ist ihr unermüdlicher Einsatz von einem unschätzbaren Wert, aber auch zugleich ein trauriger Beleg für unsere staatlichen Instanzen hinsichtlich fehlender Aufklärung und Konsequenzen. Aus diesem Grunde organisieren sich viele der Überlebenden und Angehörigen der Opfer samt der Initiativen in Deutschland, um gemeinsam sich mehr Gehör zu verschaffen, selbst ihre Erinnerungsarbeit zu gestalten, Anerkennung einzufordern und gesellschaftlichen Druck auszuüben. Solidarisch unterstützen sie sich gegenseitig an den Jahrestagen, organisieren gemeinsam Veranstaltungen, geben sich Kraft und Zuversicht. Freundschaften sind über die Jahre entstanden. Sie geben auch deswegen nicht auf, weil sie mitansehen müssen, dass von den rassistischen Verhältnissen in Deutschland eine große Gefahr für Menschen ausgehen.

Die Erinnerungsarbeit geht über das Gedenken an den Jahrestagen hinaus. Neben Kundgebungen und Demos finden auch Lesungen, Podiumsdiskussionen, Filmabende und auch Kinderfeste statt. Erinnern heißt Kämpfen – Kein Schlussstrich unter unsere Stimmen – Dieses Buch ist auch ein Teil dieser Erinnerungsarbeit. Mit dem Buch möchten wir auf die Kontinuität des Antisemitismus und Rassismus in unserer Gesellschaft, auf die Kämpfe und Erinnerungsarbeit der Überlebenden und Angehörigen aufmerksam machen. Wir haben mit diesem Buch einige der wichtigen Stimmen im Kampf für eine bessere, schönere Gesellschaft zusammengestellt.

Ali Şirin

12. August 1979, Merseburg

»Er liebte es neue Orte kennenzulernen« – Erinnerungen der Angehörigen Delfín Guerras von der Initiative 12. August

Am 12. August 1979 starben bei einer rassistischen Hetzjagd in der Stadt Merseburg die beiden jungen Männer Delfín Guerra und Raúl Garcia Paret. Sie waren erst wenige Wochen zuvor in die DDR gekommen, um dort als sogenannte »Ausländische Werktätige« oder auch »Vertragsarbeiter« eine vierjährige Ausbildung zu machen. Heute erinnert in Merseburg nichts mehr an das Verbrechen, obwohl es einer der frühesten dokumentierten Fälle tödlicher, rassistischer Gewalt nach 1945 in Deutschland ist. Seit 2019 organisiert die »Initiative 12. August« jährliche Gedenken, um den Teppich des Schweigens und des Vergessens in der Kleinstadt und darüber hinaus zu lüften. Aktivist*innen der Initiative reisten nach Kuba und suchten die Angehörigen der Verstorbenen. Seit Ende 2021 stehen sie in engem Austausch mit Angehörigen Delfín Guerras, mit seinen zwei Neffen, Yasmani und Alexander, und deren Müttern, Rosa und Caridad, die Schwestern Delfíns.

Für diesen Beitrag haben Mitglieder der Initiative mit den Angehörigen per Whatsapp gechattet und ihnen Fragen zu ihren Erinnerungen und Wünschen gestellt. Die Antworten der Schwestern und der Neffen wurden in einen gemeinsamen Text gebracht, den die Familienmitglieder überarbeiten konnten. Diese Art der gemeinsamen Textproduktion erweckt den Eindruck, die Familie spreche mit einer Stimme. Doch Rosa, Caridad, Alexander und Yasmani haben ihre ganz eigenen Erinnerungen und Ansichten eingebracht. Für ihre Offenheit und Ihr Vertrauen dankt ihnen die Initiative sehr.

Initiative 12 August: Wie war Delfin als Kind und Jugendlicher? Könnt ihr uns Geschichten aus der Zeit erzählen?

Familie Guerra: Delfín war ein ruhiger und wohlerzogener Junge, der von allen und vor allem von seiner ganzen Familie geliebt wurde. Er ging mit seinen Mitmenschen sehr liebevoll um. Er liebte es Sport zu machen, vor allem Baseball zu spielen. In dem Ort, in dem wir lebten, gab es ein Baseballstadion mit dem Namen Martires de pino tres. Dort hat er seine Liebe für Baseball entdeckt. Er spielte auf der ersten Base. Er und Caridad waren sehr sportlich. Caridad machte Leichtathletik. Später zogen sie gemeinsam nach La Havanna zu ihrer Tante Ana Luisa Guerra, die unserem Vater und Großvater Marino bei der Erziehung von Delfín und Caridad half. Denn ihre Mutter verließ die Familie früh. Neben dem Sport liebte Delfín es auch Musik zu machen. Die Leute in Deutschland sollen wissen, dass er ein anständiger Junge war, der nie jemandem Probleme gemacht hat.

Es gibt vor allem eine Geschichte, über die wir alle noch lange lachen mussten: Wir gingen damals in ein Café, das Sirvese Usted (Bedienen Sie sich) hieß. Und er bediente sich und holte sich so viel zu essen, als wäre es für eine ganze Fußballmannschaft, aber es war nur für ihn. Wir mussten so lachen, weil er so dünn war, aber so viel essen konnte.

Warum hat sich Delfín dazu entschlossen, nach Deutschland zu gehen?

Familie Guerra: Als er 19 Jahre alt war, fing er an, als Maschinenführer in einer Glasfabrik in San José zu arbeiten. Dort hat er dann von der Möglichkeit erfahren, nach Deutschland zu gehen. Er liebte es, zu reisen und neue Orte kennenzulernen. Er wollte ein neues Land, eine andere Kultur und eine andere Sprache kennenlernen, neue Freundschaften knüpfen und er wollte sich auch beruflich weiterbilden. Es war eine Art Ausbildungsprogramm, für vier Jahre, wenn ich mich richtig erinnere.

Als Delfin erfuhr, dass er ausgewählt wurde, um in Deutschland zu arbeiten, war er sehr glücklich. Obwohl wir alle traurig waren, dass er gehen würde, freuten wir uns auch sehr für ihn, dass sein Wunsch erfüllt wurde. Außerdem freuten wir uns, dass viele seiner Arbeitskollegen mit ihm gehen sollten.

Leider haben wir nie einen Brief von ihm erhalten. Das lag aber auch daran, dass er gerade einmal einen Monat in Deutschland war, bevor er starb. Damals war die Kommunikation zwischen so weit entfernten Ländern sehr schwierig.

Wie habt ihr als Familie von seinem Tod erfahren?

Familie Guerra: Wir haben von seinem Tod nur über seinen Arbeitsplatz in der Glasfabrik erfahren. Die kubanische Regierung sagte zu Marino, dass sein Sohn ertrunken wäre. Delfín konnte nicht schwimmen. Deshalb glaubten wir auch, dass er tatsächlich ertrunken war. Wir haben Unterstützung von der Partei und der Poder Popular in San José de las Lajas erhalten.

Wir alle sind nie wirklich über seinen Tod hinweggekommen. Ich erinnere mich immer noch, als wäre es gestern. Aber nichts kann mir meinen Bruder zurückbringen. Unser Vater hat bis an sein Lebensende sehr an dem Tod Delfíns gelitten. Als wir es damals erfuhren, konnten wir tagelang weder Schlafen noch Essen. Ich hätte mir gewünscht, dass man uns die Wahrheit über seinen Tod gesagt hätte. Dann hätte mein Vater auch in Frieden ruhen können – wenn er die Wahrheit gewusst hätte.

Wir haben mit einigen von Delfíns ehemaligen Kolleg*innen gesprochen, die mit ihm in Deutschland waren und fast alle haben gesagt, dass mein Bruder ertrunken ist. Nur einige wenige haben gesagt, dass er bei einer Auseinandersetzung in einer Bar umgebracht wurde, als die Kubaner von den Deutschen angegriffen wurden. Deshalb sind wir der Initiative sehr dankbar für ihre Arbeit und für das angemessene Gedenken, das sie jedes Jahr am 12. August veranstalten.

Was möchtet ihr den Menschen in Deutschland gerne mitteilen?

Familie Guerra: Ich möchte, dass die Leute in Deutschland wissen, dass mein Bruder sich nie schlecht verhalten hat, dass er ein ruhiger und anständiger Junge war, der nie Probleme mit jemandem hatte. Ich wünsche mir, dass er allen immer als der gute Sohn, Bruder und Freund in Erinnerung bleibt, der er war.

Ich möchte den Menschen in Merseburg für die Unterstützung und ihr Engagement danken, die sie für Delfín und seinen Kollegen Raúl leisten. Es fällt mir nicht leicht, die richtigen Worte zu finden, um meine Dankbarkeit auszudrücken. Auch wenn ich nicht alle Leute dort kenne, bin ich sehr froh, dass eine von ihnen bis hierher nach San José gekommen ist, um uns zu finden.

Ich möchte Ihnen noch sagen, dass der August der traurigste Monat für uns ist. Am 10. August ist Marino, unser Vater, gestorben. Am 11. August starb unser Onkel Carlos, der auch Delfín mit großgezogen hat. Delfín ist am 12. August gestorben. Auch wenn sie in unterschiedlichen Jahren gestorben sind, so liegen ihre Todestage direkt hintereinander. Und deshalb ist der August für uns mit so vielen schmerzlichen Erinnerungen verbunden.

Gedicht von Alexander Chávez Guerra

Lagunas del Silencio

Veo un cielo gris, un lugar que guarda silencio, se escuchan historias pero no tiene un final, dos almas no encuentran paz, dos sangres claman por justicia. Un río susurra fuertemente, el muro vigila, un puente es testigo de un día inolvidable, el 12 de agosto, dos jóvenes perdieron sus vidas.

Tío, no te pude conocer, lo lamento, pero siempre te recordaremos por ser muy especial.

La calma me sostiene.

El tiempo se impone, pero ni el racismo ni la injusticia impedirán el monumento a su memoria.

Lo he pensado y luego lo soñé, que la verdad se escuche algún día. Porque mujeres y hombres repletos de energía, hoy somos pocos, pero mañana creceremos en contra del racismo y el homicidio, y lucharemos junto a la familia y la iniciativa.

Lücken der Stille

Ich sehe einen grauen Himmel, einen Ort, der Stille bewahrt, Geschichten werden erzählt, aber es gibt kein Ende, zwei Seelen finden keinen Frieden, zwei Blutsverwandte rufen nach Gerechtigkeit, ein Fluss flüstert laut, die Mauer wacht, eine Brücke ist Zeuge eines unvergesslichen Tages, dem 12. August, an dem zwei junge Menschen ihr Leben verloren.

Onkel, ich konnte dich nicht kennenlernen, es tut mir leid, aber wir werden dich immer als etwas ganz Besonderes in Erinnerung behalten

Die Ruhe hält mich aufrecht.

Die Zeit vergeht, aber weder Rassismus noch Ungerechtigkeit werden verhindern, dass ein Denkmal zu deinem Gedenken errichtet wird.

Ich habe darüber nachgedacht und dann davon geträumt, dass die Wahrheit eines Tages gehört wird. Denn Frauen und Männer voller Energie, heute sind wir wenige, aber morgen werden wir gegen Rassismus und Mord wachsen und zusammen mit der Familie und der Initiative kämpfen.

(Wörtliche deutsche Übersetzung)

Gedicht von Yasmani Torriente Guerra

pensamiento

se ve un río

lleno de lágrimas y flores

se ve un rio

sin matices ni colores

se escuchan voces

gritando desesperadas

y se oyen gritos

de agonía y desesperanza

se tiñe el cielo de rojo

se pinta la tierra con sangre

se siente el odio en el viento

y el tiempo no se detiene

ya se encienden las velas

del dolor y la tristeza

y un padre de familia

espera a un hijo ausente

sentimientos de impotencia

inundan nuestras mentes

la duda nos carcome

y el llanto nos conmueve

pensamientos e ilusiones

cabangan velozmente

sabemos lo que viene

pero no queremos verlo

todavía no es el fin

todavia no ha terminado

la muerte no es en vano

mientras la justicia reine

unamos nuestras voces

y alcemos nuestras manos

extendamos nuestros brazos

hacia la humanidad

que tiemble la injusticia

y se acabe l a maldad

y que todos vivamos juntos

en gozo, amor y paz.

nachdenken

man sieht einen fluss

voll von tränen und blumen

man sieht einen fluss

ohne nuancen

ohne farben

man hört stimmen

verzweifelnd schreien

und man hört schreie

der agonie und der verzweiflung

der himmel färbt sich rot

die erde ist mit blut gefärbt

der hass ist im wind zu spüren

und die zeit steht nicht still

man zündet bereits die kerzen an

mit schmerz und der traurigkeit

und ein familienvater

wartet auf einen abwesenden sohn

gefühle der hilflosigkeit

überschwemmen unseren verstand

der zweifel nagt an uns

und tränen rühren uns

gedanken und illusionen

rasen schnell

wir wissen, was kommen wird

aber wir wollen es nicht sehen

es ist noch nicht das ende

es ist noch nicht vorbei

der tod ist nicht umsonst

solange die gerechtigkeit regiert

lasst uns unsere stimmen vereinen

und erheben wir unsere hände

lasst uns unsere arme ausstrecken

zur menschlichkeit

lasst die ungerechtigkeit erzittern

und das böse beenden

und mögen wir alle zusammen leben

in freude, liebe und frieden.

(Wörtliche deutsche Übersetzung)

22. August 1980, Hamburg-Billbrook

Der Beginn der Welle rassistischer Gewalt in den 1980er-Jahren von Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân

Zum Ende der 1970er-Jahre wurden rassistische Einstellungen der Bevölkerung, in den Medien und von politischer Seite in der Öffentlichkeit immer präsenter. Zeitgleich häuften sich die Aktionen von rechtsterroristischen Gruppierungen. Trotzdem erklärte das Bundesamt für Verfassungsschutz noch im Sommer 1980, dass vom bundesdeutschen Rechtsextremismus ›keine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung‹ ausgehen würde. Ende des Jahres 1980 hatten rechte Terrorist*innen in Hamburg, beim Münchener Oktoberfestattentat und dem antisemitischen Mord in Erlangen 18 Menschen ermordet und mehrere hundert zum Teil schwer verletzt, es war der Beginn einer Welle rechter Gewalt in Deutschland.

Zu dieser Zeit entstand auch das rechtsterroristische Netzwerk Deutsche Aktionsgruppen (DA). In unterschiedlicher personeller Zusammensetzung verübten diese mehrere Anschläge auf Unterkünfte für Geflüchtete, auf das Wohnhaus eines Politikers und auf eine Ausstellung über den Nationalsozialismus im Landratsamt in Esslingen.

Als zwei Mitglieder der DA bei Gesinnungsgenossen in Hamburg übernachteten, erfuhren sie am 21.08.1980, aus dem Hamburger Abendblatt, dass Hessen 29 Menschen aus einer Unterkunft für Geflüchtete per Zug nach Hamburg umverteilt hatte, ohne die Hamburger Behörden zu informieren. Das Abendblatt titelte: »Asylbewerber nach Hamburg geschickt«.[1] Unter dieser Überschrift schrieb das Hamburger Abendblatt weiter darüber, dass »Hamburg derzeit schon mit 9000 Asylbewerbern überlastet«[2] sei. Jeden Monat würden bis zu 500 Asylsuchende hinzukommen. 1500 von ihnen würden »inzwischen auf Staatskosten in Hotels und Pensionen« untergebracht. In dem Artikel wird die Hamburger Halskestraße namentlich als Adresse einer Unterkunft benannt. Auf der zweiten Seite folgte ein Kommentar, in dem es hieß: »Ob die Ausländer nur Scheinasylanten oder wirklich verfolgte sind: Die kaum noch zu bewältigenden Asylprobleme lassen sich nicht […] lösen,« wenn »sich die Bundesländer in Nacht- und Nebelaktionen gegenseitig mit Asylbewerbern überziehen. Auch Hamburg, die Weltoffene Stadt mit liberaler Tradition, kann nicht unbegrenzt Problemausländern Gastrecht gewähren. […] Hanseatische Gastfreundschaft hat leider Grenzen.«

Dieser Bericht und der Kommentar veranlassten die beiden Mitglieder der Deutschen Aktionsgruppen in der folgenden Nacht die im Artikel beschriebene Unterkunft mit drei Molotow-Cocktails anzugreifen. Die Molotow-Cocktails entzündeten das Zimmer, in dem die beiden Vietnamesen Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân schliefen. Nguyễn Ngọc Châu starb noch am Tag des Anschlages am 22. August 1980 an den schweren Verbrennungen. Đỗ Anh Lân erlag neun Tage später seinen Brandverletzungen.

Vor den Würfen schrieben die Täter*innen noch »Ausländer raus« an die Fassade der Unterkunft. Da sie auf ihrem Weg nach Hamburg beobachtet wurden, wie sie die gleiche Parole auf Verkehrsschilder geschrieben hatten, konnten sie bald identifiziert werden. Am 1. September 1980 wurden 16 mutmaßliche Mitglieder der DA verhaftet. Gegen nur vier von ihnen wurde im Januar 1982 der, laut einer Pressemeldung, bis dato »bedeutendste Prozess gegen mutmaßliche Rechtsterroristen in der Geschichte der Bundesrepublik« eröffnet. Der Prozess fand vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim statt. Der Umgangston vor Gericht wurde in der Presse als freundlich beschrieben und auch die Haftbedingungen für die Angeklagten wurden als relativ milde dargestellt. Die Bundesanwälte sollen darüber hinaus vielfach zugunsten der Angeklagten argumentiert haben und es wurde deutlich, dass erst nach den Morden an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernommen hatte. Der Senat des OLG Stuttgart verschärfte gleich zu Beginn des Prozesses die »zu dürftige« und »inkonsequente Anklage« des Generalbundesanwalts. Den Anklagen wurde nun auch für die weiteren begangenen Anschläge achtfacher versuchter Mord vorgeworfen. Der politische Hintergrund der Taten kam in der Anklageschrift dagegen kaum zur Sprache. Auffällig bei dem Netzwerk der DA war die generationsübergreifende Gruppenstruktur aus Familienangehörigen und Bekannten, die den Sicherheitsbehörden vorher nicht durch ihre extrem rechte Einstellung oder rechte Gewalttaten aufgefallen waren. Die Angeklagten wurden vom OLG in Stuttgart zu Freiheitsstrafen zwischen sechs Jahren und lebenslänglich verurteilt. Einige der Unterstützer*innen der Deutschen Aktionsgruppen wurden in anderen Prozessen zu Haftstrafen zwischen zehn Monaten und vier Jahren und zehn Monaten verurteilt.

Die rassistischen Anschläge der DA gehörten zu einem frühen Zeitpunkt zu den ersten Anschlägen von rechten Terrorgruppen, die sich auf den wachsenden Rassismus in Gesellschaft und Politik bezogen. Das ein tendenziöser Artikel aus einer Tageszeitung dazu führte, dass zwei Menschen aus rassistischen Motiven ermordet wurden, verdeutlicht, die Verschränkung von rassistischer Gewalt und gesellschaftlicher Stimmung.

Der Anschlag in der Hamburger Halskestraße war der Auftakt zu einem Jahrzehnt, in dem in Hamburg die rassistische und rechte Gewalt eskalierte. Es gab über ein Dutzend Brandanschläge, mehrere Morde und unzählige körperliche Angriffe auf Menschen, die kein Platz in einem rechten Weltbild haben.

Die vergessenen Morde von Hamburg von Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân

»Mein Sohn dachte, er sei in Deutschland sicher vor Bomben«, sagt Frau Do Mui. Deutschland malten sie und ihr Sohn sich als ein Land aus, in dem er ein gutes, friedliches Leben führen könnte, und sie eines Tages vielleicht auch. »Und dann töteten sie ihn in Deutschland mit einer Bombe?«

Zehn Jahre nach der ersten Gedenkkundgebung in Erinnerung an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân, die 1980 bei dem rassistischen Brandanschlag in der Hamburger Halskestraße starben, wird im kommenden Jahr die Gedenkveranstaltung in der dann umbenannten Chau-und-Lan-Straße stattfinden können. Damit ist ein wichtiger Schritt erreicht, um der Erinnerung an den Mord und die Opfer, die über Jahrzehnte vergessen waren, im Gedächtnis der Stadt Hamburg sichtbar zu machen.

Nachdem der tödliche Anschlag der Neonazis und die Beerdigung Nguyễn Ngọc Châus und Đỗ Anh Lâns damals große Aufmerksamkeit in der Hamburger Öffentlichkeit fanden, mussten 34 Jahre vergehen, bis sich eine Initiative gründete, um dieses Vergessen und Beschweigen zu beenden.

Vorangegangen waren eine Veranstaltung mit dem Journalisten Frank Keil, der schon 2012 mit seinem Artikel »Der blanke Hass« auf diesen ersten rassistischen Mord in der Hamburger Nachkriegsgeschichte aufmerksam gemacht hatte, und eine Gedenkkundgebung am Ort der Tat. Beides fand im Rahmen einer umfangreichen Veranstaltungsreihe anlässlich des Prozesses gegen den NSU statt.

Bei den Diskussionen im Vorbereitungsbündnis der Veranstaltungsreihe, wie ein würdiges Gedenken an die Opfer des NSU aussehen könnte, wurde das fehlende Erinnern an die Opfer der Deutschen Aktionsgruppen augenfällig. Das Haus, in dem die Geflüchteten 1980 untergebracht waren, war nun ein Hotel, die Gräber nach Ablauf der Ruhefrist aufgelöst, öffentliches Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân gab es keins. Hamburg hatte sich der Morde entinnert.

Nach der ersten Kundgebung im August 2014 gab es Folgetreffen bei dem Überlebende des Anschlags, Zeitzeug*innen und Bekannte der beiden Opfer, sowie Menschen aus antirassistischen und antifaschistischen Zusammenhängen zusammen die Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân gründeten. Die Initiative wollte den Mord an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân wieder im kollektiven Gedächtnis verankern. Dafür haben wir Forderungen ausgearbeitet mit denen wir seitdem in der Öffentlichkeit arbeiten. Herr Ngu Thoi Trong hat sie in seiner Rede 2020 noch einmal wiederholt: »Wir kämpfen heute für eine Gedenkstätte für Chau und Lan. Wir wollen, dass die Halskestraße und die dortige Bushaltestelle in ›Chau und Lan Straße‹ umbenannt wird. Wir fordern das seit sechs Jahren, öffentlich, mit vielen Freund*innen!«.

Wir fordern inzwischen nicht mehr nur eine Infotafel, sondern eine Gedenkstätte/ einen Gedenkort, weil wir in diesem von vielen Menschen als unwirtlich empfundenen Stadtraum einen Platz zum Verweilen, Informieren und Innehalten schaffen wollen. Vor allem aber, weil Đỗ Anh Lâns Mutter, Frau Do Mui sich einen solchen Ort wünscht. Zusätzlich haben wir irgendwann realisiert, dass die Umsetzung eines Gedenkortes in der Halskestraße – unter anderem wegen des fehlenden politischen Willens – langwierig sein würde. Deshalb haben wir vor ein paar Jahren beschlossen, zunächst ein Denkmal auf dem Friedhof Öjendorf zu errichten.

Seit 2014 haben wir jedes Jahr im August bei unserer Gedenkkundgebung eine provisorische Gedenktafel aufgestellt, Blumen abgelegt und am Ende alles wieder mitgenommen, damit es nicht weggeschmissen wird. Immer wieder sind wir bei unserem Bemühen um ein angemessenes Gedenken auf Widerstände gestoßen. Uns wurde gesagt, dass eine Gedenktafel nicht möglich wäre, weil es in der Halskestraße keinen Platz gäbe, die Straße könne nicht umbenannt werden, weil sich die LKW-Fahrer*innen dann verfahren würden, die Eigentumsverhältnisse der Fläche konnten nicht ermittelt werden, obwohl diese in städtischer Hand ist. Aber dennoch – obwohl es momentan in der Halskestraße noch nicht so aussieht – haben wir in den letzten Jahren doch einiges erreicht:

Wir haben viele Unterstützer*innen gefunden, auch dank ihres Engagements kennen inzwischen viele Menschen die Geschichte von Chau und Lan. Die Morde von Billbrook sind wieder im kollektiven Gedächtnis verankert.

Seit dem Jahr 2020 erinnert auf dem Friedhof Öjendorf ein Gedenkstein an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân.

Mit der nunmehr vom Bezirk Mitte beschlossenen Umbenennung eines Teilstücks der Halskestraße, die Anfang 2024 stattfinden soll, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer dauerhaften und sichtbaren Erinnerung an die Ermordeten getan worden.

Im Zuge der angestrebten Straßenumbenennung gibt es die Zusage des HVV (Hamburger Verkehrsverbund), dass einer Umbenennung der Bushaltestelle vor Ort dann nichts mehr im Wege stehen würde.

Wie oben schon erwähnt, soll am Ort der Tat einen Gedenkort geschaffen werden. Dafür erstellen wir momentan ein Konzept, um gegenüber der damaligen Unterkunft für Geflüchtete diesen Gedenkort zu errichten.

Warum also Gedenken und Erinnern? Damit wir uns, immer wieder klarmachen, in welcher Zeit und welcher Gesellschaft wir leben. Dass das eine Zeit und eine Gesellschaft sind, die das Potential haben, immer neue Fälle wie den von Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu hervorzubringen. Damit wir alles tun, damit alles getan wird, um dies endlich zu beenden.

Trong fasste es bei einer Rede 2020 zusammen:

»Als in Lichtenhagen Vietnamesen angegriffen wurden, hat man gesagt, so was hätte man noch nie erlebt, vorher. Als die NSU-Täter*innen gemordet haben, hat man gesagt, dass es noch nie eine rechte Terrorgruppe gegeben hätte. Als in Hanau zu viele Menschen ermordet werden, hat man gesagt, der Täter ist krank. All diese Sachen kennen wir seit über 40 Jahren, all das haben Chau und Lan und wir Überlebende durchgemacht. Weil wir die Opfer vergessen, geschieht es immer wieder.

Wir müssen alle gemeinsam dem Rassismus ein Ende machen. Deshalb muss man den Opfern gedenken, man muss ihre Geschichte erzählen und man muss gemeinsam um sie trauern und darf sie nicht vergessen.«

Zitatesammlung von Ngu Thoi Trong

Say their names!

Liebe Freundinnen und Freunde,

mein Name ist Ngu Thoi Trong, ich bin vor über 40 Jahren aus Vietnam geflohen.

Fünf Nächte und fünf Tage war ich auf dem Meer unterwegs. Wir waren in Lebensgefahr, bis wir von einer Gruppe solidarischer Menschen, vom Rettungsschiffes Cap Anamur gerettet wurden.

Ich kam nach Hamburg in die Halskestraße. Ich lerne hier neue Menschen kennen, wie den jungen Lehrer Nguyễn Ngọc Châu und den sympathischen Đỗ Anh Lân. Wir dachten unser Leben beginnt jetzt hier, neu. Wir dachten wir wären in Sicherheit.

Bis zur Nacht des 22. August 1980. Es hat laut geknallt im Haus und plötzlich waren da Rauch und Flammen überall.

Meine zwei Freunde waren mitten in den Flammen, wir versuchen sie zu retten. Doch wir können ihnen nicht mehr helfen. Sie kämpfen ums Überleben, doch die Verletzungen kosteten beiden das Leben. Sie waren erst 18 und 20 Jahre alt.

(Trong bei der Gedenkkundgebung Jahr 2020)

Gisela v. Goldammer: »Es ging aber im Grunde einfach nur darum, für die beiden da zu sein. Sehr gut kennenlernen konnten wir sie ja leider nicht. Nur zwei Monate – dann ist das passiert.«

Heribert v. Goldammer: »Wenn auf so brutale Art zwei Menschen umgebracht werden, ist das sehr schwierig für eine Stadt. Sie ist nicht auf die Idee gekommen, ein Denkmal zu errichten.«

(Aus einem Interview von 2015, Gisela und Heribert von Goldammer waren die Paten von Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân)

»Die Frage, ob die Halskestraße […] nach Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân benannt wird, ist keine Frage von kurzen oder gut oder schlecht aussprechbaren Namen, es ist eine Frage des politischen Willens […]. Eine Entscheidung darüber, was erinnert und wem gedacht werden soll. Eine Entscheidung, ob man eine Straßenbenennung auch als ein Mittel ansieht, dem Vergessen und Verharmlosen von Rassismus und rassistischen Gewalttaten in Zeiten von Pegida, AfD, identitärer Bewegung usw. entgegenzutreten.«

Redner der Initiative bei der Gedenkkundgebung 2016

»Als vietnamesisch-deutsche Person 2. Generation, die in Ostdeutschland aufgewachsen ist, ist es mir wichtig mich mit den Migrationsgeschichten Deutschlands auseinanderzusetzen. Auch wenn die Geschichte der Vertragsarbeiter*innen in der damaligen DDR eine etwas andere ist, als die von den Boat People in der BRD, ist sie Teil unserer kollektiven Geschichte. Erinnern heißt für mich auch kämpfen! Ich solidarisiere mich mit den Opfern und ihren Angehörigen, sowie allen anderen Opfern rassistischer Gewalt.«

N. A. Phan

26. Mai 1982, Hamburg

Ich will leben, wie ich es mir wünsche von Initiative in Gedenken an Semra Ertan

Gedenken an Semra Ertan

Geboren 1957 in Mersin, Türkei, zog Semra Ertan 1971 nach Deutschland zu ihren Eltern, die in Kiel als Arbeitsmigrant*innen lebten. In einem Brief, adressiert an einen Verleger, hielt sie fest: »Schon seit ich 15 bin, schreibe ich und tue es noch heute.« Als einige ihrer Gedichte 1981 in Anthologien erschienen, erkundigte sie sich bei mehreren Verlagen nach der Möglichkeit einer eigenen Buchveröffentlichung. Nach und nach fasste Semra Ertan Mut, dass sie eines Tages einen eigenen Gedichtband würde publizieren können. Zu einer eigenständigen Veröffentlichung kam es jedoch nie.

1982, kurz bevor sie verstarb, wurde Semra Ertan Mitglied beim deutschen Schriftsteller*innenverband. Dabei war es ihr erklärtes Ziel, sich mit anderen Schriftsteller*innen zu vernetzen und gewerkschaftliche Unterstützung zu erhalten. Dieses Engagement steht stellvertretend für das gesamte Werk Semra Ertans, deren künstlerische Praxis von den politischen Gegebenheiten ihrer Zeit untrennbar war – einer Zeit, in der Migrant*innen ein Großteil gesellschaftlicher Teilhabe verwehrt wurde. Semra Ertan hat sich gegen diese Umstände schreibend und aktivistisch zur Wehr gesetzt.

1982 hielt sie fest: »Warum diese Vorurteile?, frage ich mich. Die Menschen, die Vorurteile haben, sehen uns nicht als Menschen. Ich weiß nicht, wohin ich gehöre, weder kann ich in der Türkei noch in Deutschland leben. Wenn ich in die Türkei gehe, ohne eine Ausbildung, werde ich wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt. «[3]

Semra Ertan hat sich zeitlebens gegen Rassismus, Klassismus und für feministische Themen eingesetzt. Sie dolmetschte unentgeltlich für Nichtdeutschsprachige bei Behördengängen. Sie demonstrierte gegen die NPD-Tarnorganisation »Hamburger Liste für Ausländerstopp«, die 1982 zur Bürgerschaftswahl antrat. Ihr Kampf gegen rassistische, klassistische und sexistische Zuschreibungen war vielseitig. Als dichtende Arbeiterin thematisierte sie gesellschaftliches Unrecht genauso wie ihre große Hingabe zum Schreiben. Als Frau äußerte sie sich zu fehlender Geschlechtergleichheit. Dabei war sie – als Teil der arabisch-sprachigen alevitischen Minderheit – nicht nur in Deutschland gesellschaftlicher Ablehnung ausgesetzt, sondern erfuhr auch in der Türkei Ausgrenzung und Diskriminierung. Ihre ganzen Lebensumstände bedrückten sie so stark, dass sie darunter seelisch wie körperlich litt – aber am Schreiben hielt sie fest.

Die Einzigartigkeit von Semra Ertans Lebenswerk ist unbestreitbar. Und doch haben wir uns gefragt, wie viele weitere Archive anderer Denker*innen und Künstler*innen verlorengegangen sein könnten, weil ihnen Blick und Gehör verwehrt wurden. Die Widerständigkeit von Arbeitsmigrant*innen aus den 1970er-Jahren ist dementsprechend nur selten Teil des Narrativs über die sogenannten »Gastarbeiter«.

Semra Ertan schreibt:[4]

Ich will leben,

Wie ich es mir wünsche,

Schmerzlos,

Ohne Sorgen,

Ich will lieben,

Geliebt werden,

Wie es sich mein Herz erträumt,

Mit reinem Herzen,

Möchte ich erfahren,

Die Schönheit der Welt,

Schöne Menschen,

Ich will leben,

Wie es sich mein Herz erträumt.

Am 26. Mai 1982 hat sich Semra Ertan in Hamburg an der Simon-von-Utrecht-Straße aus Protest gegen den zunehmenden Rassismus in Deutschland öffentlich verbrannt. Zwei Tage später starb sie an den Folgen. Sie hatte zuvor gegenüber dem NDR und dem ZDF eine Erklärung an die Öffentlichkeit abgegeben. Außerdem war sie einige Tage zuvor mit den folgenden Worten in den Hungerstreik getreten:

»Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden. Das ist alles. Ich will, dass die Menschen sich lieben und akzeptieren. Und ich will, dass sie über meinen Tod nachdenken.«[5]

Wir sind dankbar für das große Interesse an Semra Ertan und ihren Gedichten. Bereits 18 Monate nach dem Erscheinen im Dezember 2020 ist die erste Auflage des Gedichtbandes Mein Name ist Ausländer / Benim Adım Yabancı vergriffen. Seitdem ist viel passiert: Zahlreiche Lesungen, Veranstaltungen und Gedenkfeiern fanden in den letzten Monaten in unterschiedlichen Städten und Orten statt.

Semra Ertan‹s Gedanken, Wünsche und ihre Poesie wurde schon vor der Buch-Veröffentlichung vor allem in intersektional-feministischen, antirassistischen und in antifaschistischen Initiativen gewürdigt. In der Dominanzgesellschaft wurde sie erst mit dem Gedichtband sichtbarer. Im September 2021 verlieh die Akademie der Wissenschaften und der Literatur ihr posthum eine außerordentliche Alfred-Döblin-Medaille für ihre Gedichtsammlung. Von lyrik-empfehlungen.de erhielt der Gedichtband eine besondere Leseempfehlung für Neuerscheinungen 2020/21.

All das hätten wir uns im Sommer 2018 nicht vorstellen können, als wir als Initiative in Gedenken an Semra Ertan das erste Mal zusammensaßen. Neben Cana und Zühal nahmen Vertreter*innen der Gemeinwesenarbeit St. Pauli, des St. Pauli-Archivs, antirassistischer und antifaschistischer Initiativen sowie weitere Interessierte an dem Treffen teil. Ihre Geschichte und ihr poetisches Werk ermutigten uns, die Initiative zu gründen – mit dem Ziel, das Gedenken an Semra Ertan wieder in die Öffentlichkeit zu tragen.

Seitdem veranstalten wir jährlich im Mai um ihren Todestag eine Gedenkfeier auf St. Pauli, zu der jedes Jahr viele Menschen und Initiativen Grußworte und Reden beitragen. An der Kreuzung Simon-von-Utrecht-Straße / Detlev-Bremer-Straße haben wir eine vorläufige Gedenktafel installiert. Ziel ist weiterhin die Benennung eines Platzes nach Semra Ertan in Hamburg. In Kiel, wo sie von 1971 bis zu ihrem Tod 1982 gelebt hat, ist 2023 an der Ecke Schanze/Falkensteiner Straße ein Platz nach ihr benannt worden.

Die Würdigung und Sichtbarkeit, die Semra Ertans Werk mittlerweile erfährt, ist nicht selbstverständlich und geht mit Privilegien und Verantwortung einher und auch wir kämpfen gegen Vereinnahmung, Stigmatisierung und erfahren die direkten Auswirkungen der Kontinuität von Rassismus und rechtem Terror. Viele Angehörige, Betroffene, Überlebende und Gedenkinitiativen werden in Deutschland von Politik und Öffentlichkeit weiterhin ignoriert, Forderungen nicht ernst genommen und nicht erfüllt. Heute finden immer noch Täter-Opfer-Umkehrungen statt: Betroffene von Rassismus, Polizeigewalt, Antisemitismus, Sexismus, Ableismus und Klassismus, Rechtem Terror und LGBTIQ*-Feindlichkeit und weiteren Diskriminierungen werden als Gefahr angesehen, wenn sie von ihren Erfahrungen berichten. Diese und viele weitere Perspektiven werden von der weißen, kapitalistischen, klassistischen, kolonialen, patriarchalen Dominanzgesellschaft ausgeschlossen. Bis sie als Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit rechtem Terror anerkannt werden, ist noch ein langer Weg. Geschehnisse rechten Terrors in Deutschland sind keine Einzelfälle und müssen in ihrer strukturellen Verankerung und Geschichte als Kontinuitäten anerkannt werden. Diesen Weg können wir nur gemeinsam und in Solidarität beschreiten.

Das Gedenken an Semra Ertan findet in Verbindung mit anderen Gedenkinitiativen, Opfern von rechter, antisemitischer, faschistischer Gewalt und Polizeigewalt statt. So sind Netzwerke und Freundschaften entstanden. Wir sind sehr dankbar für die vielseitige Unterstützung, die wir von Angehörigen, Initiativen und solidarischen Menschen erfahren, und froh, Teil eines großen Bündnisses zu sein, das für ein würdiges Gedenken und gegen Rassismus und Antisemitismus kämpft.

Initiative in Gedenken an Semra Ertan, September 2023

Weitere Informationen: https://semraertaninitiative.wordpress.com

Kontakt: [email protected]

Vorwort für den Gedichtband: Semra Ertan. Mein Name ist Ausländer | Benim Adım Yabancı. Gedichte | Şiirler[6]

Meine liebe Schwester Semra,

37 Jahre sind vergangen, Du warst 25 Jahre alt, als Du Deinen kleinen, zarten Körper verbranntest aus Verzweiflung und Protest gegen den alltäglichen Rassismus. Aber Du hast uns nicht für immer verlassen, mehr als 350 Gedichte von Dir sind geblieben und werden heute wieder gelesen. Gedichte über Deinen Widerstand, Deinen Zorn, Deine Freude am Leben und – eines Deiner schönsten Gedichte – ein Gedicht über die Liebe.

Begegnung

(…)

Woher könnte ich denn wissen, dass du mich liebst,

Wenn deine Augen nicht sprechen würden?

Wie könnte ich denn sowas denken?

1979

Liebe Semra, Du warst eine Einzelkämpferin, der Rassismus ist seither nicht weniger geworden. Aber heute sind wir eine starke Gemeinschaft. Und Deine Gedanken, Deine Gedichte helfen, unser Bewusstsein dafür zu schärfen, wo wir stehen, wogegen Widerstand Not tut und wo wir Verbündete finden. Heute wärest Du nicht so grausam allein wie damals. Mit Deinen Gedichten bist Du ein wertvoller Teil unseres Kampfes für ein besseres, ein menschenfreundliches Deutschland geworden.

Vor Deiner mutigen Tat hast Du an den NDR und das ZDF geschrieben:

»Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben,

sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden.”

Du bist nicht gestorben, Du und die vielen Opfer des Rassismus, sie leben weiter in uns, sie werden nicht vergessen, ihre Namen nicht ausgelöscht. Sie sind wie Sterne, die uns den Weg zeigen.

Eines Deiner Gedichte hat Eingang gefunden in Schulbücher und andere Veröffentlichungen. Es ist – Du bist – Teil unserer Geschichte, unseres kollektiven Bewusstseins geworden.

Mein Name ist Ausländer,

Ich arbeite hier,

Ich weiß, wie ich arbeite

(…)

1981

Meine liebe Schwester Semra, wegen Dir habe ich die Naturwissenschaft verlassen und bin Therapeutin geworden. Und meiner Tochter, 1986 geboren, habe ich Deinen Namen gegeben. Mit Filmen und Texten über Dich ist sie Deine starke Verbündete geworden.

Zühal, München, 26. Mai 2019

Brigitte Williams an der Gedenkplatte 2023 (©Birgit Mair)

24. Juni 1982, Nürnberg

William Thomas Schenck Jr. – Ein fast vergessenes Mordopfer rechten Terrors in Nürnberg von Birgit Mair

Jahrzehntelang gab es keine Gedenktafel am Ort der rassistischen Mordserie, die sich am 24. Juni 1982 in Nürnberg ereignete. Auch über die drei Mordopfer Rufus Surles, Mohamed Ehab und William Schenck [phonetisch: Skenk] sowie über die drei Schwerverletzten war kaum etwas bekannt. Dies änderte sich erst im Jahr 2022, vierzig Jahre später, als Brigitte Williams[7], gebürtige Fränkin und Witwe von William Schenck, einem Aufruf der örtlichen Tageszeitung Nürnberger Nachrichten folgte und am 15. Juni 2023 auf Einladung der Stadt Nürnberg erstmals öffentlich auftrat.[8]

Die Autorin dieses Beitrags führte Anfang 2023 mehrere Interviews mit Brigitte Williams durch und erhielt Einblick in zahlreiche private Dokumente. Es ist der ausdrückliche Wunsch der Witwe, dass ihr geliebter erster Ehemann nicht in Vergessenheit gerät. In diesem Beitrag wird das kurze Leben von William Thomas Schenck Jr., so sein vollständiger Name, beleuchtet.

Auch schon 1982 business as usual: Die Mordopfer spielten in der Berichterstattung nur eine untergeordnete Rolle

Obwohl der damalige Täter, der 26-jährige Nürnberger Neonazi Helmut Oxner, Teil nationaler und internationaler Neonazinetzwerke war, galt er als »Alleintäter«.[9] Während bürgerliche Medien den rechten Terroranschlag fälschlicherweise als »Amoklauf«[10] bezeichneten und teilweise ausführlich über den Täter und sein soziales und politisches Umfeld berichteten, war über die Mordopfer und die Schwerverletzten nur wenig zu erfahren. Im Gegenteil: Das damals noch existierende Boulevardblatt Abendzeitung Nürnberg erging sich in rassistischen Klischees über das Twenty Five. Die Disco hätte einen schlechten Ruf. Oft würde es zu Drogendelikten, Gewalt und sogar Prostitution kommen.

Der letzte Tag im Leben des William Schenck

Der in Nürnberg lebende 23-jährige William Schenck fragte am späten Abend des 24. Juni 1982 seine gleichaltrige Ehefrau Brigitte, ob sie nicht auch noch Lust hätte, zum Tanzen in die Stadt zu gehen. Doch Brigitte Schenck war müde und wollte zuhause bleiben. So zog der junge Mann alleine los und ging ins Twenty Five. William und Brigitte kannten die Nürnberger Innenstadtdiskothek in der Königstraße, in der unter anderem viele Schwarze Angehörige der US-Armee verkehrten, gut. Dort wurde Menschen mit dunkler Hautfarbe unproblematisch Einlass gewährt. In der Nähe befand sich das selbstverwaltete Jugendzentrum »KOMM«, das der Neonaziszene ebenso ein Dorn im Auge war. [11]

An besagtem Abend befanden sich etwa dreißig Gäste im Twenty Five, einer von ihnen William Schenck. Der Neonazi Helmut Oxner stieg am 24. Juni 1982 kurz vor Mitternacht schwer bewaffnet die Wendeltreppe zum Twenty Five hinunter, das sich im Kellergeschoss befand. Dort wurde er wie jeder andere Gast aufgefordert, Eintritt zu bezahlen. Er weigerte sich und schoss mit einem großkalibrigen Revolver auf die Umstehenden. William Schenck, der sich zufällig im Kassenbereich aufhielt, wurde von einer Kugel im Kopf getroffen und verblutete noch am Tatort. Oxner stürmte weiter und erschoss den US-amerikanischen Sergeant Rufus Surles auf der Tanzfläche. Der 27-jährige Surles war in den Zirndorfer Pinder-Barracks stationiert und kam zum Tanzen in das zwölf Kilometer entfernte Nürnberg. Wie das erste Mordopfer hatte auch er eine schwarze Hautfarbe. Weitere Kugeln des Neonazi-Terroristen verletzten Yang ae Y., eine US-Amerikanerin mit koreanischen Wurzeln, schwer.

Mittlerweile gelang es dem Kellner Ali K., Oxner die Waffe zu entreißen. Und dies, obwohl der 26-jährige türkeistämmige Kellner bereits durch eine Kugel im Halsbereich getroffen worden war.[12] Es ist anzunehmen, dass der mutige Angestellte durch sein beherztes Eingreifen ein noch größeres Blutbad verhinderte. Der Mörder, der zwei weitere Pistolen mit sich führte, floh nun aus der Disco und setzte seine rassistische Anschlagserie auf offener Straße fort. Er grölte »Es lebe der Nationalsozialismus« und schoss gezielt auf Menschen, die nicht seinem rassistischen Weltbild entsprachen. Mohamed Ehab[13], ein 21-jähriger Ägypter, wurde tödlich getroffen und verblutete in der Luitpoldstraße; ein junger Mann aus Libyen, Sultan A., wurde schwer verletzt. Die beiden Techniker nahmen an einer Fortbildung in Deutschland teil und hielten sich an diesem Tag zufällig als Touristen in Nürnberg auf.

Hochzeitstorte mit weißen Brautpaar-Figuren

William Thomas Schenck Jr. trug den amtlichen Beinamen »Jr.«, damit er nicht mit seinem gleichnamigen Vater verwechselt wurde und war das älteste von drei Kindern. Er hatte eine jüngere Schwester und einen kleineren Bruder.

Schenck wurde am 4. Juli 1958 in Newark im Bundesstaat New Jersey geboren. Am 4. Juli, dem Nationalfeiertag (»Independence Day«) Geburtstag zu haben, war in den USA etwas ganz Besonderes, erinnert sich Brigitte Williams, die Witwe. Brigitte Sens und William Schenck (von seiner Familie und seinen Freunden Hasaan genannt) lernten sich 1977 in einer Diskothek in Nürnberg kennen. Eine Freundin, die dunkelhäutige Kinder hatte, nahm Brigitte mit in ein Tanzlokal in der Nürnberger Luitpoldstraße, wo es keine rassistischen Einlasskontrollen gab. An den Namen des Lokals erinnert sich die Witwe nicht mehr. Doch sie weiß noch, dass sie Hasaan dort das erste Mal sah und dass sie begeistert war von seinem charmanten Auftreten und der Energie, die der gutaussehende 20-jährige versprühte. Sie verliebten sich.

Brigittes Vater hatte kein Verständnis für eine Beziehung seiner Tochter mit einem Schwarzen und warf sie aus der elterlichen Wohnung. Brigitte bezog eine winzige Wohnung in der Bauerngasse in Nürnbergs Stadtteil Gostenhof, wo sie sich mit ihrer neuen Liebe treffen konnte. Zwei Jahre später, am 4. Dezember 1979, heirateten die beiden standesamtlich in Nürnberg. Nach der Trauung ging es gemeinsam mit den Trauzeug*innen zum Essen in ein Nürnberger Restaurant. Die Eltern des Brautpaars waren nicht dabei. Auf einem Foto, das Brigitte Williams bis heute besitzt, sieht man die Hochzeitstorte mit weißen Brautpaar-Figuren. Ein schwarzer Bräutigam war damals nicht zu bekommen, erinnert sich Frau Williams.

Als switchboard operator in Schwabach

Das Paar lebte in einer kleinen, gemütlich eingerichteten Wohnung in der Seeleinsbühlstraße 16 im Nürnberger Westen, nicht weit entfernt vom Saal 600 des Justizpalastes, in dem von 1945 bis 1949 der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und die Nürnberger Nachfolgeprozesse stattfanden. US-Soldaten waren damals im Stadtbild der ehemaligen Stadt der NSDAP-Reichsparteitage sehr präsent und bei den Alt- und Neonazis verhasst. Teile des Zeppelinfeldes, auf dem einst die Nazi-Paraden stattfanden, wurden nun von den GIs für Sportwettkämpfe und Paraden genutzt; die ehemalige SS-Kaserne in Nürnberg hieß nun Merrell Barracks, benannt nach einem im Kampf gegen Nazi-Deutschland ums Leben gekommenen US-Soldaten.

William Schenck arbeitete seit Februar 1977 als switchboard operator in den O’Brien-Barracks in Schwabach. Er wurde bei Bedarf angerufen und managte dann tageweise den Fernsprechverkehr in der Kaserne. Ein Foto zeigt ihn vor einem riesigen Apparat mit hunderten von Knöpfen und einem Telefon mit Wählscheibe. In der Kleinstadt südlich von Nürnberg waren bis 1992 zwei Bataillone des 6. Luftabwehrregiments bzw. 3. Feldartillerieregiment der US-amerikanischen Streitkräfte untergebracht. Die Kaserne war nach Thomas O’Brien benannt, der im Kampf gegen die Nazis sein Leben verloren hatte.[14]

Geburtstagsgrüße an die Tochter

In der öffentlichen Wahrnehmung ist bis dato weitgehend unbekannt, dass William Schenck der Vater von zwei Kinder war, die in den USA bei ihrer Mutter lebten: Tochter Takiya und Sohn Ali. Bei ihren Besuchen in den USA lernte Frau Williams die beiden Kinder, ihre Schwiegermutter Gloria und eine Großmutter kennen. Im Fotoalbum von Brigitte Williams findet sich ein Foto ihres Ehemanns aus dem Jahr 1977, das diesen in Uniform zeigt. Auf der Rückseite sind die berührenden Zeilen zu lesen, die er seiner Tochter zum Geburtstag schrieb: »To Takiya – happy birthday – I send you all my love – don’t give your mother a hard time. From your father« Er unterschrieb mit »Hasaan Muhammad«, seinem muslimischen Namen.

William Schenck war Moslem und nannte sich Hasaan

William Schenck war bereits in den USA zum Islam konvertiert, was in der Öffentlichkeit bis dato ebenfalls nicht bekannt war.[15]