Erlebte und erzählte Lebensgeschichte - Gabriele Rosenthal - E-Book

Erlebte und erzählte Lebensgeschichte E-Book

Gabriele Rosenthal

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Beschreibung

Wie stellen Menschen die Ereignisse in ihrer Lebensgeschichte und der Geschichte ihrer Familie(n) dar, wenn sie davon erzählen? Wie stehen das Erzählen und das Erleben in der Gegenwart im Zusammenhang mit dem Erleben und dem Erzählen in der Vergangenheit? Dieses Buch beantwortet diese Fragen mit einer theoretisch-empirischen Untersuchung der gegenseitigen Wechselwirkungen von Erinnern, Erleben und der Präsentation des Erlebten zu verschiedenen Zeitpunkten eines Lebensverlaufs und der damit zusammenhängenden Verläufe der Kollektivgeschichten. Die Autorin greift in dieser mittlerweile klassischen Studie vor allem Ansätze der Phänomenologie sowie der Gestalttheorie auf – und in der Zeit seit der 1. Auflage (1995) zunehmend auch der Figurationssoziologie nach Norbert Elias. Die Neuausgabe enthält daher eine neue Einleitung und ein zusätzliches Kapitel zu dieser späteren Erweiterung ihres Ansatzes einer soziologischen Biographieforschung.

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Gabriele Rosenthal

Erlebte und erzählte Lebensgeschichte

Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Wie stellen Menschen die Ereignisse in ihrer Lebensgeschichte und der Geschichte ihrer Familie(n) dar, wenn sie davon erzählen? Wie stehen das Erzählen und das Erleben in der Gegenwart im Zusammenhang mit dem Erleben und dem Erzählen in der Vergangenheit? Dieses Buch beantwortet diese Fragen mit einer theoretisch-empirischen Untersuchung der gegenseitigen Wechselwirkungen von Erinnern, Erleben und der Präsentation des Erlebten zu verschiedenen Zeitpunkten eines Lebensverlaufs und der damit zusammenhängenden Verläufe der Kollektivgeschichten. Die Autorin greift in dieser mittlerweile klassischen Studie vor allem Ansätze der Phänomenologie sowie der Gestalttheorie auf – und in der Zeit seit der 1. Auflage (1995) zunehmend auch der Figurationssoziologie nach Norbert Elias. Die Neuausgabe enthält daher eine neue Einleitung und ein zusätzliches Kapitel zu dieser späteren Erweiterung ihres Ansatzes einer soziologischen Biographieforschung.

Vita

Gabriele Rosenthal ist emeritierte Professorin für Qualitative Methoden der Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

Vorbemerkung

1.

Einleitung

1.1

Problemstellung

1.2

Was »bringt« eine gestalttheoretische Betrachtung von Lebensgeschichten?

2.

Zur Gestalthaftigkeit des Erlebens

2.1

Das sich dem Beobachter Darbietende

2.1.1

Die Darbietung der Dingwelt

2.1.2

Die Darbietung von Prozessen

2.1.3

Die Darbietung von sozialen Prozessen

2.2

Das vom Handelnden Intendierte

2.3

Die formale Organisation des sich Darbietenden

2.3.1

Zur Herkunft der Organisation

2.3.2

Die Organisiertheit: Thema, Feld, Rand

2.3.3

Die fragwürdige Identität des Themas

2.3.4

Thema und thematisches Feld einer erzählten Geschichte

2.3.5

Thematische Feldanalyse einer Lebenserzählung

3.

Zur Gestalthaftigkeit von Erinnerung und Erzählung

3.1

Erlebnis – Erinnerung

Atomisiertes vs. gestaltetes Gedächtnis

Abrufen oder Reproduzieren

3.2

Erinnerung – Erzählung

Das Ausgelassene

Die Einfügungen

4.

Zur Gestalt erzählter Lebensgeschichten

4.1

Lebensgeschichtliche Voraussetzungen zur Gestaltung einer Lebenserzählung

4.1.1

Erlernte Muster, kognitive Kompetenz und biographische Notwendigkeit

Exkurs: Erzählte Lebensgeschichten von Kindern?

4.1.2

Biographische Handlungsspielräume und Wechsel in der Lebensführung

Exkurs: Erzählte Lebensgeschichten von Ordensschwestern und -brüdern?

4.1.3

Mögliche Kongruenz von erlebter Lebensgeschichte und biographischer Gesamtevaluation

Exkurs: Erzählte Lebensgeschickte einer Domina?

Exkurs: Der Verlust der Lebenserzählung und seine Entsprechung mit der modernen Reproduktionsmedizin

4.1.4

Ein nicht »zerstörter« Lebenszusammenhang

Exkurs: Überlebende der Shoah

4.2

Das einfache Erfassen der Geordnetheit

4.3

Die Geordnetheit nach biographischen Wendepunkten

4.3.1

Entwicklungspsychologisch relevante Wendepunkte

4.3.2

Sozial typisierte Statusübergänge

4.3.3

Interpretationspunkte

4.4

Formale Faktoren zur Gestaltverbindung

4.4.1

Thematische Ähnlichkeit von Erlebnissen ist dominanter als deren zeitliche und räumliche Nähe

Temporale Verschiebungen

4.4.2

Thematische Gruppierungen und Aufspaltung in thematische Felder: »Bürgerliche Biographie« und »Homosexuelle Biographie«

4.4.3

Die Zugehörigkeit eines Erlebnisses zu einem thematischen Feld ist dominanter als thematische Ähnlichkeit

4.4.4

Interpretationspunkte und Aufspaltung in thematische Felder: »Mein Leben mit Eltern« und »Mein Leben ohne Eltern in Israel«

4.4.5

Eine konsistente biographische Gesamtsicht ist dominanter als einzelne thematische Felder

5.

Die heilende Wirkung biographischen Erzählens

5.1

Zur Gestaltmehrdeutigkeit der erlebten Lebensgeschichte

5.2

Die heilende Lebenserzählung für Überlebende der Shoah

6.

Methodologische Implikationen

6.1

Prinzipien der Gesprächsführung zur Gewinnung einer Lebenserzählung

Aufmerksames und aktives Zuhören

Hilfestellung beim szenischen Erinnern

6.2

Prinzipien einer rekonstruktiven Fallanalyse

Zum Vorgehen

7.

Sozialkonstruktivistisch-figurationssoziologische Biographieforschung   Artur Bogner & Gabriele Rosenthal

7.1

Einleitung

7.2

Zur sozialkonstruktivistischen Biographieforschung

7.3

Zum Problem einer übermäßigen Fokussierung auf einzelne Individuen und der Vernachlässigung von Machtungleichheiten

7.4

Sozialkonstruktivismus und Figurationssoziologie

7.5

Schluss und methodologische Konsequenzen

Anhang

Transkriptionszeichen

Kategorien für die Sequenzierung

Literatur

Vorwort zur Neuausgabe

Der vorliegende Band ist eine erweiterte Neuauflage meiner 1995 im Campus Verlag veröffentlichten Habilitationsschrift aus dem Jahre 1993. Diese Schrift und meine darauf beruhenden biographietheoretischen Aufsätze, die zum Teil in mehreren Sprachen veröffentlicht wurden, zählen mittlerweile zu wichtigen Beiträgen für die soziologische Biographieforschung sowohl im deutschsprachigen als auch im internationalen Raum. Eine deutsche Neuauflage und ebenso eine englische Ausgabe dieser Schrift1 waren mir deshalb seit längerem ein Anliegen. Dieses Anliegen ist begründet durch die bis heute dauernde Bedeutung dieser Arbeit sowohl für meine eigenen Arbeiten – durchgehend gemeinsam mit Kolleg*innen durchgeführte empirische Forschungsprojekte – als auch für viele der von mir meist im Rahmen von Dissertationen und anderen Qualifikationsarbeiten betreuten Forschungsarbeiten.

Diese Forschungen beruhen weiterhin auf der damals vorgelegten Konzeption eines dialektischen Verhältnisses von Erleben, Erinnern und Erzählen bzw. generell dem Sprechen über die erlebte und tradierte Vergangenheit. Die Frage nach diesem Verhältnis, verbunden mit einer verstärkten Erforschung der Wechselwirkungen mit den familialen und allgemeiner gesellschaftlichen oder kollektiven Diskursen sowie den kollektiven Gedächtnissen unterschiedlicher Gruppierungen von Menschen, zieht sich wie ein roter Faden durch meine späteren Arbeiten (Rosenthal 2010). Als Soziologin interessieren mich dabei besonders die Auswirkungen von kollektiv belastenden Vergangenheiten auf die individuelle und gesellschaftliche Gegenwart. Zum Beispiel leite ich gegenwärtig gemeinsam mit Maria Pohn-Lauggas ein Forschungsprojekt zu Sklaverei und Sklavenhandel im individuellen und kollektiven Gedächtnis in Brasilien und Ghana2. Wesentliches Anliegen bei diesen Forschungen ist, nicht nur die gegenwärtigen Handlungs- und Deutungsmuster bzw. Diskurse zu rekonstruieren, sondern auch und vor allem deren Genese zu erforschen. Dies bedeutet also immer wieder, der Frage nachzugehen, inwiefern das Sprechen über die Vergangenheit auf Erinnerungen des Erlebten (zu dem auch das Erleben von Tradierungen über die Vergangenheit gehört) beruht und inwiefern wir damit Hinweise auf das damals Erlebte erhalten.

Während diese Frage im Vordergrund dieses Buches stand, sind die späteren methodischen Modifikationen – d.h. der stärkere Einbezug anderer Erhebungsmethoden – dem Bemühen geschuldet, stärker als früher die zu unterschiedlichen Zeiten vorherrschenden Diskurse und die Verhaltensmuster im gegenwärtigen Leben zu rekonstruieren. Darauf werde ich im Folgenden noch etwas eingehen. Meine empirisch-theoretischen Forschungsarbeiten konzentrierten sich bis 1995 auf die Frage nach den gesellschaftlichen und individuellen Folgen der kollektiven Verbrechen während des Nationalsozialismus. Sie waren auch danach großenteils auf das Themenfeld der kollektiven Gewalt und ihrer Folgen fokussiert (vgl. Bogner 2021). Mit Artur Bogner forschte ich u.a. zu extremtraumatisierten, ins zivile Leben zurückgekehrten Kindersoldat*innen der sogenannten Lord’s Resistance Army (LRA) in Norduganda (Bogner/Rosenthal 2018)3. Damit war mir auch weiterhin die Frage auferlegt, inwiefern erzählte Lebensgeschichten durch die Komponenten eines durch Traumatisierung beschädigten Gedächtnisses (siehe Kapitel 4.1.4), durch die zu unterschiedlichen Zeiten herrschenden, häufig die Gewalt verleugnenden Diskurse und durch die häufige Außenseiterposition von Opfern kollektiver Gewalt bestimmt sind. Bei Interviews mit Opfern kollektiver Gewalt sind wir Sozialwissenschaftler*innen nicht nur bei der Gesprächsführung besonders gefordert, um die Befragten im Erinnerungs- und Erzählprozess zu unterstützen. Zudem ist es notwendig, bei der Analyse bzw. der Auswertung der Interviews die Differenzen zwischen der Gegenwartsperspektive und den Perspektiven der Befragten zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Vergangenheit zu entschlüsseln. Das ist eine Herausforderung, die sich umso mehr bei Interviews mit (ehemals) an Gewaltverbrechen aktiv Beteiligten stellt, die oft sehr bemüht sind, diese Beteiligung zu leugnen oder aus ihren Lebenserzählungen diese Thematik und die entsprechenden Lebensphasen soweit als möglich auszusparen oder sogar eine andere Biographie zu erfinden (vgl. Rosenthal 2001; 2002b). Doch ganz unabhängig davon, mit Angehörigen von welchen Gruppierungen wir Interviews führen oder deren schriftliche biographische Selbstzeugnisse benutzen, sind wir immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass wir nicht direkt von Texten auf die Verhaltens- und Handlungsmuster der Sprecher*innen oder Schreiber*innen und erst recht nicht auf das in der Vergangenheit Erlebte schließen können.

Die methodologischen und methodischen Implikationen der in diesem Band vorgestellten grundlagentheoretischen Konzeption zu den gegenseitigen Wechselwirkungen von Erinnern, Erleben und der Präsentation des Erlebens sowie die von mir vorgeschlagene Methode biographischer Fallrekonstruktionen (siehe Kapitel 6.2) sind weiterhin in den methodischen Designs meiner Forschungsarbeiten bestimmend. Dies ist vor allem dem Anliegen einer historisch fundierten Sozialforschung geschuldet, die soziale Phänomene in ihren Prozessen der Entstehung, Reproduktion und Veränderung zu verstehen und zu erklären versucht. Dabei werden sowohl die kollektiv- als auch die lebensgeschichtlichen Verläufe rekonstruiert, die zu einem bestimmten Verhalten oder Handeln, zu bestimmten Weisen des Erinnerns und zur Etablierung von bestimmten Diskursen führten. Seit ungefähr 20 Jahren erfolgte – insbesondere aufgrund meiner Zusammenarbeit mit Artur Bogner – theoretisch und methodisch eine Integration mit der Figurationssoziologie nicht nur aufgrund der zunehmend bewusster verfolgten Methodik einer historischen Soziologie, sondern vor allem mit einer deutlichen Berücksichtigung der in allen menschlichen Beziehungen stets wirksamen, sich stetig verändernden Machtbalancen und Machtungleichheiten. Die Annahme der ständigen Gegenwart von Machtbalancen und Machtungleichheiten setzt einen zumindest teilweise »strukturellen« Machtbegriff voraus, wie man ihn bei Norbert Elias, aber durchaus auch z.B. bei Max Weber oder Richard M. Emerson findet (vgl. Bogner 1989: 36–41; 1991). Bei Weber bezeichnet Macht eine »Chance« zu einer bestimmten Form von Handlung, impliziert also nicht per se die entsprechende Form der Intention oder deren aktive Realisierung oder passive Wahrnehmung.

Mit einer verstärkten figurationssoziologischen Perspektive verschob sich die auf den einzelnen Interviewten fokussierte Sicht, wie der vorliegende Band – obwohl damals keineswegs so intendiert – nahelegen könnte, zu einer bereits im Forschungsdesign stärker angelegten Fokussierung auf Wir-Gruppen und andere, weniger deutlich vernetzte oder integrierte Gruppierungen von Menschen. Im Vordergrund stand nun zunehmend die Rekonstruktion der Verflechtungszusammenhänge von einzelnen Fällen, der Figurationen zwischen verschiedenen Gruppierungen, Wir-Gruppen und Organisationen und damit einhergehend der sich im historischen Verlauf wandelnden Machtbalancen und Machtungleichheiten zwischen den verschiedenen Gruppierungen4. Diese Erweiterung um eine figurationssoziologische Perspektive bestimmt auch viele der von mir betreuten Forschungsarbeiten. Um diese Weiterentwicklung zu einer sozialkonstruktivistisch-figurationssoziologischen Biographieforschung zu verdeutlichen, enthält diese Ausgabe abschließend ein gemeinsam mit Artur Bogner verfasstes Kapitel (siehe auch Bogner/Rosenthal 2017a; 2017b).

Parallel zu einer stärker figurationssoziologischen Perspektive veränderte sich mein methodisches Vorgehen maßgeblich durch meine Felderfahrungen im »Globalen Süden«. Diese lehrten mich, biographische Fallrekonstruktionen – die stets im Zentrum meiner Arbeiten blieben – noch stärker mit anderen interpretativen oder rekonstruktiven Methoden zu kombinieren. Zunehmend konsequenter orientierte ich mich am Prinzip der Offenheit (vgl. Rosenthal 2015a: Kapitel 2) nicht nur hinsichtlich der Modifikation der ursprünglichen Forschungsfrage oder des geplanten Samples, sondern vor allem auch hinsichtlich einer verstärkten Flexibilität im geplanten Einsatz und in der Kombination der Erhebungsinstrumente. Hier darf nicht unerwähnt bleiben, dass meine eigene Forschungsplanung, der Einsatz von bestimmten Methoden und die daraus resultierenden Forschungserfahrungen auch durch etliche der von mir betreuten Dissertationen geprägt waren. Es wird mir kaum gelingen, in diesem Kontext auf all diese Arbeiten einzugehen – bei denen durchgehend der in diesem Band vorgestellte Ansatz biographischer Fallrekonstruktionen Pate stand. Doch einige seien zumindest genannt. Eine explizierte Kombination einer sozialkonstruktivistischen Biographieforschung mit einer Diskursanalyse in der Tradition von Michel Foucault und der Wissenssoziologie erfolgte zunächst von Bettina Völter (2000; 2003; Schäfer/Völter 2005) im Rahmen des unten beschriebenen Forschungsprojekts »Der Holocaust im Leben von drei Generationen«5. Wie auch in den anderen zitierten Arbeiten sind Völters Fallanalysen, die sich auf die Fallebene sowohl der einzelnen Biographie als auch der Familie beziehen, durch eine sorgfältige Rekonstruktion der Familiengeschichte und Familiendynamik gekennzeichnet.

Des Weiteren bestimmte diese Methodenkombination die Forschungen von Maria Pohn-Lauggas (2014; 2017; 2021)6 zunächst zu so genannten »Trümmerfrauen« in Österreich und später (mit dem Einbezug von Bildanalysen)7 zu Widerstandskämpfer*innen im Nationalsozialismus. Weitere Dissertationen, in denen eine begründete Verknüpfung von biographischen Analysen und wissenssoziologischer Diskursanalyse vorgestellt wurde, sind u.a. die von Ina Alber (2016a; 2016b) zu zivilgesellschaftlichem Engagement in Polen und von Rixta Wundrak (2009; 2010; 2018) zur chinesischen Community in Bukarest. Neben der Rekonstruktion von kollektiven Diskursen bietet es sich sehr oft an, teilnehmende Beobachtungen in die Analyse von Fallrekonstruktionen – sowohl von einzelnen Individuen wie auch Familien, sozialen Gruppierungen und oder Ortsteilen – mit einzubeziehen (vgl. Bahl/Worm 2018; Becker/Rosenthal 2022). Damit wird es möglich, die Darstellungen in den Interviews mit den Verhaltensmustern und konkreten Interaktionszusammenhängen im gegenwärtigen Alltag der Befragten zu kontrastieren.

Der konsequente und nicht einfach nur nebenbei erfolgte Einbezug von teilnehmender Beobachtung in die Analyse wurde zunächst von Michaela Köttig (2004; 2005) in ihrer Arbeit über rechtsextrem orientierte junge Frauen und Mädchen vorgestellt. Diese Arbeit entstand noch in einer Zeit, in der – ganz im Unterschied zu den Anfängen der soziologischen Biographieforschung in den USA oder Polen – in der deutschsprachigen Biographieforschung in erster Linie nur mit autobiographischem Material (neben Interviews auch Briefen oder Tagebüchern) gearbeitet wurde. Michaela Köttig legte als eine der ersten Biographieforscher*innen einen methodologisch begründeten Vorschlag zur Kombination von biographischen Fallrekonstruktionen und der Analyse von in Beobachtungssituationen dokumentierten Interaktionen vor. Zur Zeit der einige Jahre später von Rosa María Brandhorst (2015; 2023) vorgestellten Analyse zu Migration und transnationalen kubanischen Familien hatte sich diese Verbindung in der soziologischen Biographieforschung schon als mehr oder weniger selbstverständlich etabliert. Diese Autorin verdeutlichte mit ihrer Feldforschung sowohl in Kuba als in auch Deutschland die Vorteile eines »multi-sited« Vorgehens (im Sinne einer »multi-sited ethnography«), das in der Soziologie leider noch nicht allgemein üblich ist8. Die empirische Untersuchung zu Strukturen und Widersprüchen polizeilicher Arbeit von Miriam Schäfer (2021), in der die Erhebung von biographischen Interviews vor allem aufgrund einer zuvor durchgeführten teilnehmenden Beobachtung im Einsatz- und Streifendienst möglich war, verdeutlichte die Potenz der Verknüpfung einer Beobachtung und Analyse der beruflichen Handlungspraxis mit einer Untersuchung von lebensgeschichtlichen Erfahrungen von in diesem Berufsfeld Handelnden. Die Kombination von Interviews, Gruppendiskussionen und teilnehmenden Beobachtungen prägte auch maßgeblich die Dissertationen, die in den von mir im Folgenden etwas näher beschriebenen Forschungsprojekten entstanden sind. Während Johannes Becker (2013; 2017) und Eva Bahl (2017; 2021) einen starken Akzent auf einen ethnographischen Zugang wählten, war es bei Hendrik Hinrichsen (2020; 2021) und Arne Worm (2017; 2019) insbesondere die Verbindung von Einzel- mit Gruppeninterviews. Auch hier standen jedoch die biographischen Fallrekonstruktionen methodisch im Zentrum der Analyse.

Was bedeutet nun im Einzelnen diese methodenplurale Forschung und vor allem die Flexibilität in der Erhebungssituation? Im Rahmen unseres Forschungsprojekts zu Drei-Generationen-Familien von Überlebenden der Shoah und Nazi-Täter*innen (Rosenthal 1997) benutzen meine Mitarbeiter*innen und ich eine Kombination von Einzelinterviews mit Familiengesprächen. Diese Untersuchung war eine sehr wichtige empirische Grundlage für den vorliegenden Band und zwar sowohl für die Frage nach den Wirkungen von Traumatisierungen auf Erinnerungs- und Erzählprozesse als auch für die nach einer damit zusammenhängenden traumasensiblen, aber dennoch die Erinnerung unterstützenden Gesprächsführung (siehe die Kapitel 5 und 6.1). Aufgrund der durch die belastende Familienvergangenheit mitbedingten, meist überaus schwierigen Familiendynamik – und zwar in Familien sowohl von Überlebenden als auch von NS-Täter*innen – bot es sich hier an, erst nach der Auswertung der Einzelinterviews gezielt zu überlegen, welche Auswahl bzw. Zusammenstellung von Familienmitgliedern wir den bereits Interviewten für ein Familiengespräch vorschlagen wollten.

Diese Art einer Vorab-Planung veränderte sich in den folgenden Projekten durch eine verstärkte Orientierung an den Erfahrungen im Feld. Dies bedeutete: Sowohl der Ablauf des Einsatzes als auch die Wahl der Methoden erfolgte entsprechend den auftretenden Problemen, aber auch den sich unerwartet ergebenden Zugängen zum Feld und entsprechend dem, was relativ gut oder nicht gut funktionierte. M.a.W.: Ob wir mit Gruppeninterviews, Familiengesprächen, Einzelinterviews oder teilnehmenden Beobachtungen die Forschung begannen oder durchführten, war abhängig von dem, was sich im Forschungsfeld ergab. In einer Untersuchung zu Etablierten und Außenseitern in Israel und im Westjordanland9 (Rosenthal 2015b) war es in den palästinensischen Gruppierungen häufig so, dass sich entweder Gleichaltrige oder Familienangehörige zu einem Gespräch einfanden, das zunächst als Gespräch mit nur einem Individuum gedacht war, oder auch unerwartet mehrere Besucher*innen in den Familien auftauchten und sich dazu gesellten. Dies erfordert die Kompetenz, in der Situation zu entscheiden, ob wir die zunächst kontaktierte Person weiter wie in einem Einzelinterview interviewten oder ob wir die Art der Gesprächsführung allmählich in ein Familien- oder Gruppengespräch umschalteten. Auch viele andere Aspekte in unseren Planungen wurden entsprechend den Erfahrungen im Feld verändert. Es kam immer wieder vor, dass wir Interviews (u.a. mit Hilfe von Onlinemedien) mit Angehörigen von Gruppierungen oder mit Familienmitgliedern einbezogen, die sich nicht im geographischen Raum unserer Forschung aufhielten. Damit erweiterte sich teilweise der geographische und nationale Kontext. Dieser Verlauf zeigte sich sehr deutlich im Zusammenhang eines Projekts zu den Figurationen von Geflüchteten und Alteingesessenen in Jordanien10. Hier konnten wir weit mehr relevante Gruppierungen sowohl bei den Altansässigen als auch bei den Geflüchteten bzw. Familien von ehemals Geflüchteten empirisch rekonstruieren, als dies in der Forschungsliteratur meistens der Fall ist (Hinrichsen/Becker 2022). Die Erweiterung des Samples hat generell auch Auswirkungen darauf, ob wir den geographischen Raum der Beobachtung erweitern oder stärker einschränken, darauf wie lange wir überhaupt im Feld bleiben und ob wir unsere Forschungsfrage verändern oder begrenzen müssen. All dies erfordert gegebenenfalls auch die Fallebene zu ändern: also statt »Biographie« bzw. Individuum die Fallebene »Freundesclique« oder »Familie« oder auch die einer Nachbarschaft oder eines Ortsteils zu wählen.

Im Kontext eines Projekts zur Konstruktion von Grenzgebieten11, in dem wir Geflüchtete in Israel und Nordafrika interviewten, hatten wir z.B. nicht geplant, mit den Interviewten weiterhin in Kontakt zu bleiben. Zunächst hatte sich – eher aus Gründen der Fürsorge für unsere Befragten zum Zweck einer emotionalen Unterstützung oder einfach der Bewahrung einer Kommunikationsverbindung für nicht vorhergesehene Fragen oder Probleme – in einigen Fällen ein Kontakt über Onlinemedien etabliert. Doch zunehmend wurde für uns deutlich, dass gerade auch deren weitere Migrationsrouten und deren verschiedene Erfahrungen mit nationalen und anderen kollektiven Grenzen wichtig für unsere Analysen sein könnten. Auch tauchten bei unserem Quellenstudium über die jeweils relevanten Kollektivgeschichten immer wieder neue Fragen auf. Dies führte dann zu gezielten weiteren Online-Interviews oder einem schriftlichen Austausch oder Nachfolgeinterviews, die in der üblichen Form des direkten Gesprächs geführt werden konnten (vgl. Rosenthal u.a. 2017). Damit erweiterte sich auch der von uns betrachtete geographische bzw. nationale Kontext, in dem die Befragten lebten; dies erforderte weitere Recherchen über die rechtlichen Lebensbedingungen in den jeweiligen Ländern, in denen die Befragten mittlerweile leben oder in der Zwischenzeit gelebt haben.

Dadurch war die in unserer Forschungspraxis zunehmend etablierte Methode von Online-Interviews während der Covid-19-Pandemie in zwei damals laufenden Forschungsprojekten ausgesprochen hilfreich, da wegen der Pandemie die geplanten Feldaufenthalte in Jordanien und Brasilien nicht oder überwiegend nicht stattfinden konnten (vgl. Bahl/Rosenthal 2021)12. Auch für gegenwärtig noch laufende Promotionsarbeiten war diese Möglichkeit und die Erfahrung sehr gewinnbringend, dass selbst biographisch-narrative Online-Interviews mit Menschen, zu denen zuvor kein Kontakt bestand, realisierbar waren. Für die Arbeit von Lucas Cé Sangalli (forthcoming), der einen Vergleich von in Deutschland und Jordanien lebenden sudanesischen Migrant*innen vorlegte, lag für die in Jordanien lebenden Interviewpartner*innen nur ein Sample von Online-Interviews vor. Außerdem führte er Online-Interviews mit Expert*innen im Sudan. Victoria Taboada Gómez (2021), die über die Lebensgeschichte von indigenen Frauen in Paraguay promoviert, und die die dazu geplante zweite Feldforschung aufgrund der Covid-19-Maßnahmen erst deutlich später durchführen konnte, ergab sich der Vorteil, die Unterschiede zwischen Online-Interviews und Interviews von Angesicht zu Angesicht untersuchen zu können.

Mit einem derartigen Vergleich von Face-to-Face- und Online-Interviews – und ebenso mit dem Vergleich zwischen mehreren Interviews mit einer Person, die jedoch von unterschiedlichen Interviewer*innen durchgeführt wurden – wird es möglich, gezielter die Wirkung von unterschiedlichen Rahmungen auf die biographischen Selbstpräsentationen, auf die Abwehr oder das Zulassen von Erinnerungs- und Erzählprozessen zu analysieren. So war es mir auch möglich, die im Folgenden dargelegte theoretische Konzeption einer prozessualen Dialektik zwischen Erleben, Erinnern und Erzählen (vgl. Kapitel 3) empirisch weiter zu fundieren. Gemäß dieser Konzeption sind Erinnerungsprozesse sowohl vom Erleben in der Vergangenheit als auch von der sich ständig verändernden Gegenwartsperspektive und der jeweiligen konkreten Erzählsituation bestimmt. Ahmed Albaba, Lucas Cé Sangalli und ich (Rosenthal et. al. 2022) diskutierten am Beispiel eines aus Mauretanien über Spanien nach Frankreich geflüchteten Mannes, der in sehr unterschiedlichen Settings von verschiedenen Interviewer*innen zwischen 2014 und 2021 mehrmals interviewt wurde, wie sich nicht nur die Rahmung der Gespräche und die damit präsentierte Kollektiv- und Lebensgeschichte hinsichtlich des Erlebens seiner Versklavung und generell der weiterhin existierenden Sklaverei in Mauretanien je nach der ethnischen, religiösen und nationalen Zugehörigkeit der Interviewer*innen veränderte. Vielmehr waren diese Präsentationen deutlich von den jeweiligen Lebenskontexten des Mannes, den Milieus, in denen er sich bewegte, und den dort vorherrschenden Diskursen bestimmt und unterschieden sich damit sehr erheblich.

Die Methodenkombination von biographischen Fallrekonstruktionen und einer wissenssoziologischen Diskursanalyse habe ich in meinen Arbeiten bis zum Zeitpunkt der Erstausgabe des vorliegenden Buches in Ansätzen schon länger verfolgt. Die methodologische Reflexion und die konsequente Umsetzung dieser Verbindung habe ich jedoch erst später verstärkt und bewusst vorangetrieben (vgl. dazu das Kapitel 7 in diesem Band). Die Kapitel 1 bis 6 dieses Buchs entsprechen, abgesehen von der Aktualisierung einiger Literaturangaben, dem Text der ersten Ausgabe. Dies bedeutet auch, dass ich in diesen Kapiteln die zur Zeit der Erstausgabe geltende Rechtschreibung beibehalten habe.

An dieser Stelle möchte ich mich noch bei Lukas Hofmann herzlich bedanken, der mich engagiert bei der Herausgabe der neuen Ausgabe unterstützt hat.

Gabriele Rosenthal

Berlin, im Oktober 2023

Vorbemerkung

Die Gesprächsbereitschaft und Offenheit all meiner Interviewpartner*innen hat es mir ermöglicht, Einblick in die verschiedensten Lebenswelten zu erhalten. Ihnen allen gilt mein besonderer Dank.

Die Verbundenheit und der Dank, den ich gegenüber meinen Gesprächspartnern in Israel empfinde, die mich als nicht-jüdische Deutsche in meiner Forschung unterstützten, lassen sich kaum in Worten ausdrücken. Viele von ihnen haben mich über die Jahre hinweg durch ihre Sympathie für meine Arbeit und durch ihre detaillierten Rückmeldungen, insbesondere nach meinen Vorträgen in Israel, immer wieder zur Fortführung und Publikation meiner Analysen motiviert. Meine Freundin, Dr. med. Viola Torok, die selbst das Vernichtungslager Auschwitz überlebte, hat mich ganz wesentlich in meiner wenig sentimentalen und objektivierenden Form der wissenschaftlichen Präsentation des Themas »Überlebende der Shoah« unterstützt. Ich danke ihr vor allem für ihr Vertrauen.

Ohne Prof. Dan Bar-On Ph.D. von der Ben-Gurion University of the Negev wäre dieser Teil der Studie nicht zustande gekommen. Nicht nur, daß er mich nach Israel eingeladen hat und mir dort so viele Kontakte ermöglichte, er hat mit seiner Supervision meiner Interviews und mit seiner Empathie wesentlichen Anteil an meinem wissenschaftlichen aber auch persönlichen Lebensweg. Ihm und allen Angehörigen des Departments of Behavioral Sciences möchte ich an dieser Stelle für die herzliche Aufnahme danken.

Die Leichtigkeit, mit der ich diese Arbeit schreiben konnte, in der ich mich von disziplinären Zwängen befreite und mich auf die für manchen viel leicht verstaubt wirkenden Gestalttheoretiker einließ, ist vor allem Prof. Dr. Fritz Schütze zu verdanken. Seine Liberalität und sein Vertrauen in meine Fähigkeiten waren eine ganz wesentliche Unterstützung für mich. Ihm sowie den anderen am Habilitationsverfahren beteiligten Kolleg*innen herzlichen Dank.

Des weiteren möchte ich mich für die vielen Anregungen von Roswitha Breckner (Berlin), Christiane Grote (Essen), Dr. Lena Inowlocki (Rotterdam) und Yael Moore (Tel Aviv) bedanken. Sie haben mir immer wieder dabei geholfen, Tiefen zu überwinden und Angriffe gegen meine Arbeit nicht blockierend wirken zu lassen.

Wolfram Fischer hat mich bereits 1985 auf die Fährte von Aron Gurwitsch gesetzt. Damals hätte ich es nicht für möglich gehalten, wieviel mir die Lektüre dieses viel zu wenig beachteten Phänomenologen geben könnte. Ich danke ihm vor allem dafür, daß er mir an Tagen, an denen ich an meinen Ideen zweifelte, immer wieder Mut gemacht hat.

Gabriele Rosenthal

Berlin, im September 1994

1.Einleitung

1.1Problemstellung

Der in den 70er Jahren einsetzende Boom biographischer Forschung hält weiter an; in den unterschiedlichsten Fachdisziplinen werden erzählte und niedergeschriebene Lebensgeschichten als Datenbasis verwendet13. So versprechen sich Soziologen und Psychologen von biographischen Materialien (aus Interviews, Tagebüchern, Aufsätzen, Briefen) Einsicht in bestimmte Milieus und in die Perspektive der Handelnden; Anthropologen nähern sich auf diese Weise fremden Kulturen, und Vertreter der Oral History nutzen biographische Interviews als weitere Quelle für ihre Analyse historischer Epochen. Auch findet die biographische Methode zunehmend Verwendung in diversen Praxisfeldern wie in der Seelsorge oder in Bewerbungsgesprächen.

Ist die Biographieforschung nur ein modischer und bald wieder verpuffender Trend, der wenig zur sozialwissenschaftlichen Forschung und kaum etwas zur Theoriebildung beiträgt? Nach meiner Einschätzung hat sich die Biographieforschung in den letzten Jahren weit über das hinausbegeben, was man als einen modischen Trend bezeichnen könnte. Es wird auch zunehmend deutlich, daß sich aufgrund des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, Biographien als Mittel sozialer Strukturierung etablieren und damit Biographieanalysen immer zwingender werden. Insbesondere in der Bundesrepublik wurden fundierte Konzeptionen und programmatische Entwürfe zur Theoriebildung von Soziologen wie Peter Alheit, Wolfram Fischer-Rosenthal, Martin Kohli und Fritz Schütze14 – um nur einige zu nennen – in die Diskussion gebracht. Auch wurden die aus diesen Konzeptionen hervorgegangenen Methodologien und Methoden zur Rekonstruktion von Lebensgeschichten in den letzten Jahren kontinuierlich weiterentwickelt, und die von Fritz Schütze (1977; 1983) vorgestellte narrative Methode hat sich mittlerweile über seinen Mitarbeiter*innenkreis15 hinaus in der Soziologie etabliert. Des weiteren wurde überzeugend aufgezeigt, inwiefern das Konzept »Biographie« einen Weg aus der dualistischen Sackgasse von Subjekt und Gesellschaft weist (vgl. Fischer-Rosenthal 1990b). Die Phase, in der biographische Quellen nur instrumentell als Informationsquelle verwendet wurden, wird allmählich – insbesondere in der Soziologie – abgelöst durch eine Phase, in der die Biographie als soziales Konstrukt bzw. als soziale Realität eigener Art (Kohli 1983) selbst zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analysen wird16. Bei der »Erforschung des Biographischen als soziale Größe« geht es sowohl um die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Biographien als auch um die sozialen Prozesse ihrer Konstitution (Fischer-Rosenthal 1991b: 253). Fischer-Rosenthal gliedert die sozio-biographische Leitfrage weiter auf: »Welchen Sinn und welche Bedeutung hat Biographie für Gesellschaftsmitglieder im Laufe sozialisatorischer und sozio-historischer Entwicklungen erlangt? Welche Funktionen nimmt sie ein auf der lebensweltlichen Ebene des sozialen Handelns und welche im Gesamtgesellschaftlichen? Wie werden biographische Strukturen erzeugt, erhalten und verflüssigt?« (ebenda)

Die Konzeption der Biographie als soziales Gebilde, das sowohl soziale Wirklichkeit als auch Erfahrungs- und Erlebniswelten der Subjekte konstituiert und das in dem dialektischen Verhältnis von lebensgeschichtlichen Erlebnissen und Erfahrungen und gesellschaftlich angebotenen Mustern sich ständig neu affirmiert und transformiert, bietet die Chance, den Antworten auf eine der Grundfragen der Soziologie, dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, näher zu kommen. In der ›biographischen Selbstpräsentation‹17 finden wir nicht nur Zugang zum lebensgeschichtlichen Prozeß der Internalisierung der sozialen Welt im Laufe der Sozialisation, sondern auch zur Einordnung der biographischen Erfahrungen in den Wissensvorrat und damit zur Konstitution von Erfahrungsmustern, die zur gegenwärtigen und zukünftigen Orientierung in der Sozialwelt dienen. Diese Einordnung, die die Erfahrungen als sinnhafte konstituiert und die biographische Gesamtsicht und die damit verbundenen biographischen Entwürfe des Subjekts erzeugt, kann keinesfalls als zufällige, individuelle Leistung verstanden werden. Auch sie ist vielmehr sozial konstituiert. Sie vollzieht sich in der Interaktion mit anderen und orientiert sich an sozialen Vorgaben, an »Rezepten« dafür, »wie was wo« einzuordnen ist (Schütz/Luckmann 1979: 172 ff.). Aber ebensowenig, wie diese Einordnung in den Intentionen der Subjekte aufgeht, geht sie in gesellschaftlichen Vorgaben auf. Eine Biographieforschung, die nur angebotene Muster und nicht deren sich in der biographischen Handlungspraxis vollziehende Ausbuchstabierung durch die Biographen sowie deren Verknüpfung mit den jeweiligen biographischen Erfahrungen und Erlebnissen analysiert, bleibt bei einer Konzeption des Subjekts als passiver Projektionsfläche gesellschaftlicher Prozesse stehen.

Die Konstitutionsanalyse der relativ stabilen, aber sich im Laufe des Lebens aufgrund sozialer Erfahrungen verändernden biographischen Gesamtsicht ist zentrales Anliegen dieser Arbeit. Im Unterschied zu biographischen Globalevaluationen, die die gegenwärtig bewußt präsentierten und intentional gezielten Einschätzungen des Biographen über sein bisheriges und zukünftiges Leben repräsentieren, handelt es sich bei der biographischen Gesamtsicht um einen latent wirkenden Mechanismus, der sowohl den Rückblick auf die Vergangenheit, als auch die gegenwärtigen Handlungen und Zukunftsplanungen steuert. Globalevaluationen, die sich in Lebenserzählungen in kommentierenden Einschätzungen wie: »Ich hatte bisher ein erfülltes Leben« äußern, weichen mitunter erheblich von der biographischen Gesamtsicht, die sich aus den biographischen Erfahrungen konstituiert, ab (vgl. Kapitel 4.1.3). Die biographische Gesamtsicht ist keine intentionale Leistung des Individuums, sondern die latente Ordnungsstruktur der Erfahrungs- und Handlungsorganisation.

Wenn die Sozialforscher*innen den biographischen Selbstzeugnissen auch den Stellenwert einer Quelle neben anderen einräumen oder sie sogar in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen, bemühen sie sich meist dennoch um methodische Prüfverfahren, die ihnen bei der Unterscheidung zwischen Wahrem und Unwahrem im Sinne von tatsächlich Stattgefundenem und Erfundenem – helfen sollen. Derartige Bemühungen basieren meist auf einer dualistischen Konzeption von erlebter und erzählter Lebensgeschichte. Diesem Dualismus geht oft bereits der von Ereignis und Erlebnis voraus. Die erlebte Lebensgeschichte zerfällt in objektiv Stattgefundenes und subjektiv Gedeutetes, damals Erlebtes und im Erinnerungsprozeß subjektiv Verfälschtes. Man macht sich dann also nicht nur auf die Suche nach dem vormals Erlebten, sondern nach den Ereignissen selbst, die, gereinigt vom Subjektiven, die Weihen der Objektivität erhalten. Was sich damals ereignet hat, soll hier und heute erforscht werden. Wer sich nur auf die Suche nach dem damals tatsächlich Ereigneten begibt, verkennt ebenso wie der, der nur das damals Erlebte erfassen will, den konstitutiven Anteil der aktuell erzählten Lebensgeschichte. Leben und Text werden bei solch verkürzter Betrachtung als zwei voneinander trennbare Dinge gesehen, wobei dem Text die Funktion zukommt, Auskunft über das zu geben, worauf er verweist: über die Wirklichkeit außerhalb des Textes. Der Text stört hier sozusagen beim Vordringen zur objektiven Wirklichkeit. Die dualistische Konzeption von erlebter und erzählter Lebensgeschichte folgt meist aus dem prinzipiell konzeptionellen Dualismus zwischen dem sich der Wahrnehmung des Subjekts Darbietenden, also einem Gegenstand oder einem Ereignis, und dessen Wahrnehmung. Im Erleben selbst sind damit die ersten »Fehlerquellen« zu suchen. Des weiteren kann es zu Korrekturen im Erinnerungsprozeß kommen, der Autobiograph kann einiges nicht »gespeichert« oder im Laufe der Jahre wieder vergessen haben. Die dritte »Fehlerquelle« liegt dann in der Erzählsituation, in der sich der Autobiograph dem im Gedächtnis Gespeicherten zuwendet und es – je nach Einstellung gegenüber diesem konstanten Objekt – in der Erzählung gefärbt oder verfälscht wiedergibt. Sowohl in der Erlebens- als auch in der Erzählsituation bietet sich, entsprechend dieser Vorstellung, dem Autobiographen etwas Konstantes, etwas mit einem harten und unveränderbaren Kern Ausgestattetes dar, das dann je nach Perspektive in unterschiedlichem, mehr oder weniger adäquaten Lichte gesehen und dargestellt wird.

Versteht man die erlebte Lebensgeschichte als etwas Konstantes, als etwas Stattgefundenes und im Gedächtnis Fixiertes, bedeutet dies, daß sie sich dem Autobiographen darbietet, wie sie sich im darbietet, weil sie so ist, wie sie ist. Der Gestalttheoretiker Kurt Koffka (1935/1963: 75) umschreibt diese Position mit den Worten: »things look as they look because they are what they are«. Stellt man dann immer wieder fest, daß der Biograph sein Leben nicht so wahrnimmt, wie es war, muß man bei dieser Position nach Gründen suchen, die die Wahrnehmung fehlleiteten. Also nicht das Wahrgenommene unterliegt Modifikationen, konstituiert sich im Wahrnehmungsakt – es bleibt vielmehr immer das Gleiche, sondern die Zuwendung zu ihm, seine Betrachtung modifiziert sich oder läßt es in unterschiedlichem Licht erscheinen. Bedingt wird die »Verzerrung« oder einseitige Betrachtung entweder durch spezifische Situationsbedingungen während der Textproduktion – wie durch den Interviewereinfluß , durch interne Gegebenheiten des Wahrnehmenden – wie das Bedürfnis, das Leben in rosarotem Licht zu sehen – oder durch ein defizitäres Gedächtnis. Entsprechend geht man bei dieser Position also davon aus, daß bereits die Wahrnehmung des einmal stattgefundenen Ereignisses durch äußere Einflüsse verursacht war: »thinks look as they do because the proximal stimuli are what they are« (Koffka 1963: 80). Übertragen auf die Betrachtung der lebensgeschichtlichen Ereignisse bedeutet dies, daß sie erscheinen wie sie erscheinen, weil die situativen und dem Organismus äußeren Stimuli ihr damaliges Erleben bewirkten. Sie sind aufgrund dieser Stimuli schon als ›verzerrte‹ gespeichert worden. Entscheidend an dieser Konzeption ist, daß sie von einer Konstanz des Wahrzunehmenden, der objektiven Ereignisse, ausgeht. Zu diesem konstanten Objektiven kommt dann a) in der Situation des Erlebens und b) im Rückblick auf dieses Ereignis jeweils durch den Wahrnehmungs- und Erinnerungsakt noch etwas Subjektives hinzu. Gelingt es den Sozialforscher*innen, dieses unerwünscht Hinzukommende wieder abzuziehen, dann kommen sie zu den Ereignissen, wie sie wirklich waren. Die erlebten Ereignisse spielen dabei die Rolle eines objektiven Reizes, der von allen Menschen dann auch gleich empfunden werden müßte. Obwohl sich dies nun keineswegs mit der empirischen Erfahrung deckt, wird die Konstanzannahme nicht aufgegeben, sondern die Unterschiede zwischen Ereignis und Erlebnis werden mit zusätzlichen, zum Stimulus hinzutretenden Faktoren erklärt.

Selbst bei denjenigen Sozialwissenschaftler*innen, die dem Subjektiven, den Deutungen der Autobiograph*innen, einen wichtigen Stellenwert einräumen bzw. seine Analyse zum Verstehen sozialen Handelns für notwendig erachten, findet sich zum Teil noch der Glaube an die von subjektiven Erfahrungen und Deutungen unabhängige »objektive Welt«. Die frühe sozialwissenschaftliche Biographieforschung, die während des Ersten Weltkrieges mit der Migrationsstudie von William Isaac Thomas und Florian Znaniecki (1918-1920) an der Universität in Chicago einsetzte und dann in den zwanziger Jahren am dortigen soziologischen Department durch die Initiative von Ernest W. Burgess und Robert E. Park18 aufblühte, war motiviert durch die Einsicht in die Notwendigkeit des »getting inside of the actor’s perspective«. Es wurden die Vorteile der biographischen Fallstudie zur Erfassung subjektiver Perspektiven von Mitgliedern unterschiedlicher Milieus erkannt. Doch auch diese so verdienstvollen Arbeiten bergen teilweise Züge des Dualismus zwischen Subjektivem und Objektivem in sich, obwohl dies im Gegensatz zu den theoretischen und methodologischen Positionen der Pragmatisten bzw. interaktionistischen Handlungstheoretiker steht. Diese Tendenzen werden auch in späteren Arbeiten kaum überwunden, sondern in der weiteren Rezeption eher aufrechterhalten resp. weiter verstärkt, indem die Perspektive des Handelnden als das Subjektive, Innere und das beobachtbare Verhalten als das Objektive, Äußere verstanden wird19. Die von Thomas und Znaniecki eingeführte Unterscheidung zwischen Einstellungen als individuellen Handlungsdispositionen, als »Vorgang des individuellen Bewußtseins« einerseits und sozialen Werten als »Gegebenheit mit einem empirischen, den Mitgliedern einer sozialen Gruppe zugänglichen Inhalt und mit einer Bedeutung, hinsichtlich derer diese Gegebenheit ein Objekt der Handlung sein kann« andererseits (dies. 1918–1920/1965: 75), die sie in ihrer methodologischen Vorbemerkung zum »Polish Peasant« diskutierten, kann durchaus so wie etwa von Sigrid Paul (1987: 27) interpretiert werden, als einerseits individuelle Handlungsdisposition und andererseits objektiv gegebene soziale Tatsachen.

Betrachtet man die erzählte Lebensgeschichte als die individuelle Sinngebung eines objektiven Ablaufs, kann man ihren Wert als zuverlässige Quelle zur Erfassung des »faktischen Lebenslaufs« bestreiten und sie wie Martin Osterland (1983) als »retrospektive Illusion« betrachten20 – eine Position, die einige Jahre später auch von Pierre Bourdieu (1986/1990) in völliger Unkenntnis der soziologischen Biographieforschung unterstützt wurde21. Osterland zieht aus seiner Auffassung die Konsequenz, daß die erzählte Lebensgeschichte nur zur Erfassung aktueller Deutungsmuster dienen könne. Ist die erzählte Lebensgeschichte dann also nur eine ›Erfindung‹, wie es von Max Frisch (1968: 9) formuliert wurde: »Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er dann unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält«. Wenn wir diese Erfindung nicht als eine verstehen, die auf dem Erlebten basiert und keineswegs beliebig ist22, begeben wir uns mit einer Position, wie sie von Osterland vertreten wird, nur auf die andere Seite des Dualismus. Während die einen auf der Suche nach der »äußeren Welt« sind und damit alle Innerlichkeit des Erlebens im äußeren, durch Reize ausgelösten Verhalten aufgehen lassen, sind die anderen auf der einseitigen Suche nach der Innerlichkeit. Diejenigen, die Deutungsmuster ohne die Rekonstruktion ihrer biographischen Genese und damit der lebensgeschichtlichen Handlungskonstellationen zu rekonstruieren beabsichtigen, nehmen also an, Deutungen über Vergangenes unabhängig vom Vergangenen interpretieren zu können.

Machen sich also die einen auf die einseitige Suche nach den Ereignissen, auf die die erzählte Lebensgeschichte verweist, gehen die anderen auf die einseitige Suche nach den Deutungsmustern in der Gegenwart der Erzähler*innen. Bei beiden, wenn auch von entgegengesetzten Polen aus, wird die Wechselwirkung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem verfehlt. Es wird nicht gesehen, daß sich sowohl das Vergangene aus der Gegenwart und der antizipierten Zukunft konstituiert als auch die Gegenwart aus dem Vergangenen und dem Zukünftigen. Inwiefern sich die biographische Vergangenheit in der Gegenwart der Erzählung manifestiert, hat insbesondere Fritz Schütze (1981; 1984) in seinen empirischen Arbeiten herausgearbeitet. Schützes Analysen zeigen die Korrespondenz der Erzählstrukturen mit den Erlebensstrukturen, der Strukturen der Erfahrungsaufschichtung mit denen des Erzählaufbaus, was keineswegs eine Homologie von Erzähltem und Erlebtem impliziert.

Mit der Zurückweisung der dualistischen Positionen ist jedoch noch keineswegs der Anspruch eingelöst, einen besseren Weg als die kritisierten gefunden zu haben. Wie kann man überhaupt aus dem Dualismus – haben wir es doch unaufhebbar immer mit dem Dualen zu tun – herausfinden? Sicher nicht – so Waldenfels (1980) –, indem wir meinen, Innen und Außen, Objektives und Subjektives fielen einfach zusammen. Ebensowenig reicht es, auf eine dialektische Konzeption zu pochen und sich damit hinter dieser oder anderen vielleicht Respekt, aber nicht Verstehen hervorrufenden Begrifflichkeiten zu verstecken. Was bedeutet eine wechselseitige Durchdringung von Ereignetem, Erlebtem und Erzähltem? Über was gibt uns die erzählte Lebensgeschichte Auskunft? Welche methodischen Verfahren können uns beim Verstehen und Erklären dieses sozialen Phänomens helfen?

Aufbauend auf einer phänomenologischen Interpretation der Gestalttheorie, wie sie Aron Gurwitsch (1929; 1957/1974) geleistet hat, und der damit verbundenen konsequenten Zurückweisung der Konstanzannahme, möchte ich in dieser Arbeit – gestützt auf meine empirischen Analysen erzählter Lebensgeschichten – diesen Fragen nachgehen. Als empirische Grundlage dienen rund 110 biographisch-narrative Interviews, die in unterschiedlichen Forschungskontexten von mir selbst oder von Student*innen der von mir geleiteten Lehrprojekte geführt wurden. Im »Hitlerjugend-Projekt« (Rosenthal 1986; 1987) an der Freien Universität Berlin wurden Angehörige der HJ um die Erzählung ihrer Lebensgeschichte, konzentriert auf die NS- und Nachkriegszeit, gebeten. Im Projekt: »Leben mit der NS-Vergangenheit« (Rosenthal 1990) an der Universität Bielefeld befragten wir Angehörige von drei Generationen (Jg. 1899-1929) mit der gleichen Fokussierung. Im Projekt »Biographie« (Rosenthal 1989) an der Universität Bielefeld baten wir – wie in allen folgenden Projekten – Angehörige unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Berufsgruppen und Milieus um die Erzählung ihrer gesamten Lebensgeschichte. In Hessen sprach ich mit Veteranen des Ersten Weltkrieges (Jg. 1888-1900). Im Rahmen einer Gastdozentur in Israel interviewte ich europäische Juden, deren Leben vom Nationalsozialismus tangiert wurde, d.h. sowohl die aus Europa Geflüchteten als auch die Überlebenden der Shoah (Rosenthal 1995). Außerdem standen mir Interviews der von mir betreuten Diplomand*innen und aus einem von mir methodisch begleiteten Projekt von Dan Bar-On in Beer Sheva, Israel zur Verfügung.

Die Lebensgeschichten von Überlebenden der Shoah stehen in dieser Arbeit neben Biographien von Menschen mit ganz anderen Erfahrungshintergründen, bis hin zu Biographien von Mitläufern und Tätern des Nationalsozialismus. Damit sind für mich als nicht-jüdische Interviewerin wie für mich als Interpretin dieser Lebensgeschichten sehr unterschiedliche Erfahrungen, Gefühle und auch politische und moralische Verantwortlichkeiten verbunden. Bei der Diskussion meiner Analysen gehe ich dagegen auf die gemeinsamen konstitutiven Mechanismen der Biographiekonstruktionen ein. Kann man dies als einen von Henryk Broder (1993: 8) sarkastisch formulierten »Verstoß gegen das Erste Gebot der Wissenschaft vom Holocaust – »Du sollst nicht vergleichen« –« betrachten? Ohne Vergleiche würden die Extremerfahrungen von Überlebenden in den Bereich des Unbenennbaren und der Sprachlosigkeit versinken. Selbst wenn wir – entgegen meiner Intention – zur Entwicklung von zusätzlichen Biographiekonzeptionen für schwer traumatisierte Menschen neigten, wäre dies ohne Bezug zu anderen Biographien nicht möglich. Dennoch, um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich an dieser Stelle betonen: Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen. Vergleichen bedeutet vielmehr, die strukturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu rekonstruieren.

Verharren wir dagegen in der Diskrepanz und in der Betrachtung von Auschwitz als einen anderen Planeten, dessen Überlebende nicht mehr zu dieser Welt gehören, tragen wir zur weiteren Isolierung der Opfer bei. Mit einer unterstellten unüberwindbaren Diskrepanz zwischen uns und den Überlebenden der Shoah verhindern wir eine empathische zwischenmenschliche Begegnung. Ruth Klüger (1992: 109 f.) schreibt als Überlebende von Auschwitz über das ihr von Deutschen auferlegte Schweigen: »Über eure Kriegserlebnisse dürft und könnt ihr sprechen, liebe Freunde, ich über meine nicht. Meine Kindheit fällt in das schwarze Loch dieser Diskrepanz. […] Und ich schweige und darf nur zuhören und nicht mitreden. Menschen derselben Generation waren wir, gutwillig und der Sprache mächtig, doch der alte Krieg hat die Brücken zwischen uns gesprengt, und wir hocken auf den Pfeilern, die in unsere neuen Häuser ragen. Doch wenn es gar keine Brücke gibt von meinen Erinnerungen zu euren, warum schreib ich das hier überhaupt« (1992: 109 f.).

Wie bereits erwähnt, werde ich mich in dieser Arbeit in einer phänomenologischen Interpretation der Gestalttheorie der Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte zuwenden. Ich werde mich dabei auf diesen Theorieansatz konzentrieren und Diskussionen aus anderen Theorietraditionen nur zur zusätzlichen Erläuterung und Fundierung hinzuziehen. Diese Beschränkung ist einerseits dem Anliegen geschuldet, die Gestalttheorie für die biographische Theoriebildung und Forschung fruchtbar zu machen. Anderseits halte ich die seit den 80er Jahren einsetzenden neueren Diskussionen z.B. im Bereich der narrativen Psychologie23 oder der Psychoanalyse24 über das Verhältnis zwischen Leben und Text für Neuauflagen und Wiederentdeckungen eines seit langem und m.E. theoretisch anspruchsvoller geführten soziologischen Diskurses. Desweiteren bietet uns eine gestalttheoretische Betrachtung zur Frage des Zusammenhangs zwischen Leben und Text mehr Einsichten in die dialektische Beziehung zwischen der Darbietung des Lebens (Noema), und der Zuwendung zum Leben (Noesis). Donald Spence (1982), der die archäologische Lesart der Psychoanalyse zurückweist, bei der von einer Ausgrabung von »historischen Wahrheiten« resp. vergangenen Realitäten ausgegangen wird, begibt sich dagegen ganz auf die Seite der »narrativen Wahrheit«. Indem Spence argumentiert, die »historische Wahrheit« sei für den Analytiker nicht zu erkennen, da ihm die Werkzeuge dazu fehlten, begibt er sich mit seinem konstruktivistischen Ansatz, dem eine Methodologie fehlt, auf die andere Seite des Dualismus. So wichtig seine Studie für die psychoanalytische Praxis und den kritischen Diskurs innerhalb der psychoanalytischen Community auch sein mag, theoretisch ist sie weit entfernt von einer dialektischen Konzeption der Lebensgeschichte und Lebenserzählung, wie sie u.a. auch von dem Philosophen Widdershoven (1993), der sich auf die Analysen von Husserl und Merleau-Ponty stützt, gefordert wird.

Die erlebte Lebensgeschichte kann weder als ein sich konstant darbietendes Objekt verstanden werden, das je nach Perspektive und Stimmung vom Autobiographen unterschiedlich erinnert und präsentiert wird, noch als ein durch die Zuwendung beliebig konstruierbares Objekt. Ich vertrete vielmehr die Annahme: Die erzählte Lebensgeschichte konstituiert sich wechselseitig aus dem sich dem Bewußtsein in der Erlebenssituation Darbietenden (Wahrnehmungsnoema) und dem Akt der Wahrnehmung (Noesis), aus den aus dem Gedächtnis vorstellig werdenden und gestalthaft sedimentierten Erlebnissen (Erinnerungsnoemata) und dem Akt der Zuwendung in der Gegenwart des Erzählens. Erlebte und erzählte Lebensgeschichte stehen in einem sich wechselseitig konstituierenden Verhältnis.

Diese Grundannahme wird in der folgenden Arbeit auf den Ebenen – Erleben – Erinnern – Erzählen in den Kapiteln 2-4 entfaltet. Dabei lasse ich mich von den Einzelannahmen leiten:

Auf der Ebene von Ereignissen und Erlebnissen (vgl. Kapitel 2):

Ereignisse sind nicht wahrnehmbar, wie sie sind, sondern nur im Wie ihrer Darbietung.

Nicht nur der Wahrnehmungsakt produziert die Organisation des sich Darbietenden, sondern auch das sich der Wahrnehmung Darbietende gibt eine Strukturiertheit vor.

Das sich Ereignende und das Erleben konstituieren sich wechselseitig.

Auf der Ebene von Erinnerungen und Erzählung (vgl. Kapitel 3):

4.

Die Erlebnisse können sich dem Biographen in der Gegenwart der Erzählung nicht darbieten, wie sie erlebt wurden, sondern nur im Wie ihrer Darbietung, d.h. nur im Wechselverhältnis zwischen dem sich in der Gegenwart der Erzählung Darbietenden und dem Intendierten.

5.

Nicht nur die Erzählung produziert das Geordnetsein der Geschichte, sondern auch das aus dem Gedächtnis vorstellig werdende Erinnerungsnoema gibt bereits eine Strukturiertheit vor.

Auf der Ebene von erlebter und erzählter Lebensgeschichte (vgl. Kapitel 4):

6.

Nicht nur die Präsentation der Lebensgeschichte produziert das Geordnetsein, sondern auch die erlebte Lebensgeschichte gibt eine Strukturiertheit vor.

7.

Der Zusammenhang der Sequenzen – ob nun Erzählungen, Argumentationen oder Beschreibungen – einer biographischen Selbstpräsentation ist ein gestalthafter.

Im weiteren werde ich auf die heilende Wirkung biographischen Erzählens eingehen (Kapitel 5), die m.E. auf der Gestaltmehrdeutigkeit der erlebten Lebensgeschichte und der damit verbundenen Möglichkeit zur Umstrukturierung im Erzählprozeß beruht.

Die methodologischen Implikationen einer gestalttheoretisch-phänomenologischen Konzeption (Kapitel 6), lassen sich zusammenfassend mit den Prinzipien: »Raum zur Gestaltentwicklung« und »Rekonstruktion der Gestalt von erlebter und erzählter Lebensgeschichte« umschreiben.

1.2Was »bringt« eine gestalttheoretische Betrachtung von Lebensgeschichten?

Bevor wir in die theoretische Diskussion einer phänomenologischen Interpretation der Gestalttheorie und ihrer Übertragbarkeit auf erzählte Lebensgeschichten einsteigen, seien vorgreifend und anhand eines empirischen Beispiels erste Hinweise zu den methodologischen Konsequenzen dieses Ansatzes und seines Ertrags bei der Analyse von Lebensgeschichten gegeben.

Wenn wir davon ausgehen, daß die einzelnen Teile der erzählten Lebensgeschichte in einem gestalthaften Zusammenhang stehen, impliziert dies weitere Annahmen, die jeweils forschungspraktisch weitgehende Konsequenzen haben.

1. Einzelne Teile oder Segmente einer biographischen Selbstpräsentation besitzen keine Eigenschaften unabhängig von ihrer Integration in einen Gesamtzusammenhang. Teile von Gestalten existieren nur durch ihre funktionale Bedeutsamkeit für die Gestalt. Jedes Teil enthält Verweise auf das Ganze.

Diese Annahme impliziert bereits eine Interviewführung, bei der dem Autobiographen ›Raum zur Gestaltentwicklung‹ gegeben und der Gestaltungsprozeß nicht mit Fragen durchbrochen wird (vgl. Kapitel 6.1). Bei der Auswertung sind dann die einzelnen Sequenzen der biographischen Selbstpräsentation konsequent im Gesamtzusammenhang ihres Auftretens und in ihrer Organisiertheit zu rekonstruieren. Bei der Interpretation eines Teils bedarf es jeweils der Hypothesenbildung über seine funktionale Bedeutsamkeit für die Gesamtgestalt.

Die im Sinne der strukturalen Hermeneutik zunächst vorgenommene Dekontextualisierung von Sequenzen und die Einbettung in gedankenexperimentell entworfene Kontexte ist für die Rekonstruktion des Entstehungskontextes sehr hilfreich, vorausgesetzt es folgt die Rückbeziehung dieser Sequenzen in die Gesamtgestalt – oder nennen wir es Gesamtkonfiguration – der biographischen Selbstpräsentation. Nehmen wir dagegen an, wir könnten Teile losgelöst vom Gesamtzusammenhang ihres Auftretens interpretieren, unterliegen wir zwar der Illusion von Teilen mit unveränderbarem Kern, doch da Teile immer nur als Teile eines Ganzen interpretierbar sind, sind wir dennoch genötigt, sie in ein von uns entworfenes Ganzes einzuordnen. Dieses von uns entsprechend unserer alltagsweltlichen oder wissenschaftlichen Konzepte entworfene Ganze kann dann mit der Gestalt im Entstehungszusammenhang strukturell völlig inkompatibel sein.

2. Die biographische Selbstpräsentation konstituiert sich nicht über die Summe ihrer Teile, sondern über deren Organisiertheit. Interpretieren wir in bester hermeneutischer Absicht Teile aus einem Interview im Zusammenhang ihrer Verwendung und summieren bei der Gesamtinterpretation des Falles die Interpretationen dieser Teile, verfehlen wir auch hier die ursprüngliche Gestalt. Bei der Rekonstruktion erzählter Lebensgeschichten bedürfen wir damit eines Analyseverfahrens, bei dem der Gestaltungsprozeß bei der Präsentation und die Gestaltetheit der temporalen und thematischen Verknüpfungen von Erlebnissen rekonstruiert werden (vgl. Kapitel 2.3.5; Kapitel 6.2).

3. Ähnliche Gestalten sind möglich, selbst wenn sie in keinem ihrer Teile übereinstimmen. Und umgekehrt: Gestalten können sehr verschieden sein, obwohl sie in vielen ihrer Teile übereinstimmen. Welche Lebensgeschichten sich strukturell ähneln bzw. welche dem gleichen Typus angehören, kann also nicht anhand ihrer Bestandteile bestimmt werden. Eine Typenbildung in diesem gestalttheoretisch-strukturalistischen Verständnis bedeutet, die Gestaltetheit der Lebenserzählung und der zugrunde liegenden Regeln ihrer Konstitution zu rekonstruieren und nicht wie bei einer deskriptiven Typenbildung einzelne Merkmalskriterien summativ zusammenzufassen. Nur dann kann der kontrastive Vergleich im Sinne des Vergleichs von strukturell ähnlichen mit strukturell verschiedenen Lebensgeschichten gelingen, der zu einer weiteren Überprüfung der bei der Einzelfallanalyse bereits vorgenommenen Typenbildung dient.

Um die gestalttheoretische Betrachtung eines Teils einer biographischen Selbstpräsentation zu verdeutlichen, soll ein Beispiel aus einer Fallinterpretation (vgl. Kapitel 4.4.4) hier vorgestellt werden. Es handelt sich um das von einem Autobiographen im Interview initiierte Gesprächsende, das für die Interviewerin unerwartet kam. Die Bedeutungszuschreibung ›unerwartet‹ ist nur möglich, da die Interviewerin ein Konzept über die Gesamtgestalt einer Lebenserzählung hat, dem der Autobiograph, der seine Lebensgeschichte nur bis ins Jahr 1944 präsentierte, nicht gerecht wurde. Welche Bedeutung das Gesprächsende in seiner Selbstpräsentation einnimmt, ob er vielleicht meint, den zeitlichen Rahmen schon längst überschritten zu haben, können wir nur mit dessen Einbettung in den Kontext des Interviews entschlüsseln. Doch wie weit müssen wir bei der Rekonstruktion des Kontextes gehen?

Zunächst einige Informationen über das Interview. Bei dem Autobiographen handelt es sich um einen jüdischen Israeli, der 1938 aus Deutschland nach Palästina zwangsemigrierte. Herrn Jarok, wie ich ihn nenne, hatte ich gebeten, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Nachdem er etwa 1 Stunde lang erzählt hatte, brach er das Interview ziemlich abrupt, leicht aggressiv und unerwartet mit den Worten ab: »Ich kann nicht mehr. Ich hab Ihnen nun genug erzählt. Machen Se das Band aus«. Er bot mir noch einen Kaffee an und komplimentierte mich dann ohne weitere Terminvereinbarung aus seiner Wohnung. Erst nach einigen Wochen nahm er den Kontakt zu mir wieder auf, erklärte sich zu einem weiteren Interview bereit, bei dem er dann in der temporalen Linearität seiner Lebensgeschichte über sein Leben nach 1944 weitererzählte.

Irritiert und betroffen über den aus meiner Perspektive zunächst mißlungenen Verlauf des Interviews, suchte ich nach einer Erklärung. Unabhängig vom Kontext des Interviews lassen sich da schnell einige Hypothesen formulieren, wie z.B.: Herr Jarok gehört zu den Menschen, die nicht stundenlang erzählen, oder: er hatte sich auf kein so langes Gespräch eingestellt. Berücksichtigt man den »äußeren Kontext« des Interviews jedoch noch unabhängig vom Sinnzusammenhang des Gesprächsabbruchs, könnte man weiter annehmen, dieser Mann habe kein Vertrauen zu einer nicht-jüdischen deutschen Interviewerin. Doch ziehen wir auch den »inneren Kontext« seines Abbruchs in Betracht: Herr Jarok war in der Präsentation seiner erlebten Lebensgeschichte bei der Situation angelangt, in der er im Jahre 1944, schon seit sechs Jahren in Palästina lebend, die wahrscheinliche Ermordung seiner Eltern und seines jüngeren Bruders durch die Nazis in Europa realisierte. Eine aus Treblinka geflohene Jüdin war in seinen Kibbuz gekommen und hatte über den Völkermord in Polen, wohin auch Herrn Jaroks Familie deportiert worden war, eine ganze Nacht lang erzählt. Hier läßt sich nun u.a. die Hypothese formulieren, daß diese Erinnerung an die »schrecklichste Situation in meinem Leben« seine Trauer und die damit verbundenen Schuldgefühle aktualisierte, die dann in Aggressionen gegen die Deutschen und die Interviewerin umschlugen. Trauer und Schuldgefühle führten zur Aussage: »Ich kann nicht mehr«, und die Aggressionen richteten sich gegen die anwesende deutsche Nicht-Jüdin, der er eine weitere Mitarbeit verweigerte.

Methodologisch betrachtet, könnte man nun meinen, wir haben interpretiert, wie es eine hermeneutische Auswertung erfordert. Wir haben diesen Teil des Interviews, den Abbruch, im Sinnzusammenhang seines Auftretens betrachtet, haben auch die äußeren Kontextdaten des Interviews berücksichtigt. Doch wir haben den Abbruch weder im Gesamtzusammenhang der erzählten noch der erlebten Lebensgeschichte gesehen. Suchen wir dagegen im gestalttheoretischen Sinne nach der funktionalen Bedeutsamkeit des Abbruchs für diese biographische Selbstpräsentation, erschließt sich eine weitaus weitreichendere und über die Situation des Interviews hinausgehende Bedeutung: Wir sehen eine lebensgeschichtliche Erzählung bis zum Zeitpunkt, als der Autobiograph den Tod seiner Eltern und seines Bruders realisierte, danach einige Wochen Unterbrechung bzw. Zeitabstand und dann eine Fortsetzung der Erzählung seines Lebens ohne Eltern in Israel. Als Gestalt betrachtet, können wir jetzt folgende Hypothese über den Zusammenhang dieser Teile formulieren: Herr Jarok muß sehr viel Mühe darauf verwenden, sein Leben in zwei Teile, die sich nicht berühren, zu spalten. Er macht dies nicht argumentativ, wie wir es von anderen Lebensgeschichten, z.B. Konversionserzählungen kennen, sondern er versucht, zwei voneinander unabhängige Figuren zu zeichnen. Mehrere Wochen Distanz zwischen den Interviews ermöglichen ihm, nicht allzu viele Berührungslinien zwischen diesen beiden Figuren entstehen zu lassen. Ein Hinweis für die Plausibilität dieser Annahme ist u.a. seine Äußerung zu Beginn des 1. Gesprächs, deren Bedeutung ich damals nicht realisiert habe: »Ich kann Ihnen mehreres anbieten: Mein Leben in Deutschland, mein Leben in Israel. Wählen sie aus«. Darauf bat ich ihn, mir sein gesamtes Leben zu erzählen. Er reagierte darauf: »Oh das wird wohl kaum möglich sein«. Diesen Hinweis ignorierte ich, da er sich nicht in meine Konzeption über die Gesamtgestalt einer biographischen Selbstpräsentation fügte, und meinte: »Fangen Sie doch einfach mal in der Kindheit an«. Ich habe ihn mit seinem Bedürfnis, die beiden Lebenshälften sich nicht nahekommen zu lassen, also nicht ernst genommen und vielleicht damit schon an dieser Stelle Aggressionen gegen mich geweckt.

Mit der Betrachtung des Teils ›Abbruch‹ im Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte, haben wir jetzt nicht nur Hypothesen darüber, weshalb dieser Autobiograph das Interview beendete und erst nach einigen Wochen weitererzählte, sondern auch über die Gesamtgestalt seiner erzählten wie auch erlebten Lebensgeschichte. Für die weitere Fallanalyse bedeutet dies, zunächst zu rekonstruieren, welche Teile seiner biographischen Selbstpräsentation zu welcher Figur gehören und wie sie innerhalb der zwei Figuren organisiert sind. Desweiteren geht es um die funktionale Bedeutsamkeit dieses Ereignisses im Jahre 1944 für die Lebensgeschichte von Herrn Jarok. Dieses Ereignis repräsentiert ja auch einen Bruch in seinem Leben und es sind bei der weiteren Fallanalyse folgende Fragen zu stellen: Weshalb realisierte Herr Jarok nicht schon vor 1944 den Völkermord in Europa, und wieso kam diese Einsicht so bruchartig? Wie ging und geht er mit diesem Bruch um, und wie manifestiert sich sein Versuch eine Berührung beider Lebensphasen in seiner Lebenspraxis zu vermeiden?

Die Analyse der erzählten und erlebten Lebensgeschichte von Herrn Jarok zeigte dann auch, daß die gesamte biographische Selbstpräsentation dem Versuch geschuldet ist, seine Vergangenheit in Deutschland, das Zurücklassen der Familie und deren Ermordung, nicht mit seinem Leben in Israel zu verknüpfen – gestalttheoretisch formuliert: die lebensgeschichtlich bestehenden Verbindungslinien zwischen diesen beiden Figuren auf keinen Fall zu berühren. Diese Trennung nimmt er nicht nur bei seiner biographischen Selbstpräsentation vor, er versucht auch in seinem Leben in Israel, der deutschen Vergangenheit immer wieder auszuweichen. Mit dieser Trennung ist dann auch die Interaktionsdynamik mit mir als Deutscher, die über die Vergangenheit arbeitet, verbunden. Einerseits will Herr Jarok keinen Kontakt mit mir, andererseits sucht er ihn. U.a. macht ihn auch diese Dynamik aggressiv.

Wenn wir auf der Ebene stehen geblieben wären, daß die Erinnerung an jenes Erlebnis Herrn Jaroks Schuldgefühle aktualisierten und er diese in Aggressionen gegen die deutsche Nicht-Jüdin kanalisierte, hätten wir zwar einen wichtigen Bestandteil seiner Problematik mit der Verfolgungsvergangenheit erfaßt, der sich an vielen weiteren Stellen im Gespräch noch zeigte. Doch es wäre uns verborgen geblieben, wie er mit dieser Problematik umgeht, bzw. wie er versucht, ihr auszuweichen. Nur eine weitere gestalttheoretische Betrachtung wird es ermöglichen, das Zusammenspiel zwischen seinem Umgang mit der Vergangenheit und seiner Problematik mit der Vergangenheit zu entschlüsseln.

Wenn wir nun diese biographische Selbstpräsentation mit einer strukturell ähnlichen vergleichen wollen, können wir uns bei der Auswahl der als nächstes zu analysierenden Lebensgeschichte zwar an einzelnen konstitutiven Bestandteilen wie »Verlust der Familie im Holocaust und damit verbundene Überlebensschuld« orientieren, doch diese Faktoren müssen nun keineswegs zu einer ähnlichen Gestaltbildung führen, bei der der Autobiograph versucht, zwei Figuren getrennt zu halten. Sie können vielmehr eingebettet in einer anderen biographischen Selbstpräsentation eine völlig andere funktionale Bedeutsamkeit einnehmen, ebenso wie die Aufspaltung der erzählten Lebensgeschichte in zwei Figuren einer anderen Funktion dienen kann. M.a.W.: Ob es sich beim Vergleich von zwei Lebensgeschichten um den Vergleich innerhalb eines Typus handelt oder um den Vergleich von zwei unterschiedlichen Typen, kann erst nach Abschluß beider Fallanalysen bestimmt werden.

2.Zur Gestalthaftigkeit des Erlebens

2.1Das sich dem Beobachter Darbietende

2.1.1Die Darbietung der Dingwelt

Verwirft man die Annahme von der Konstanz des Wahrzunehmenden und damit die Konzeption von »objektiven« Stimuli, die bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts anhand einer Fülle empirischer Untersuchungen im Bereich der Wahrnehmung von den Gestalttheoretikern Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka überzeugend in Frage gestellt wurde, bewegt man sich nicht mehr in der Welt der Dinge, sondern in der Welt des Noematischen. Anstatt ich an den »konstanten« und nicht erfaßbaren Dingen zu orientieren, orientiert man sich dann an dem, was erfaßt werden kann, dem Erlebten: »Die Gegenstände im normalen Wortsinn entfallen, und übrig bleiben lediglich Noemen25