Erna und die drei Wahrheiten - Anke Stelling - E-Book

Erna und die drei Wahrheiten E-Book

Anke Stelling

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Beschreibung

Einfach nur Erna!

Warum steckt in „Gemeinschaft“ auch „gemein“? Solche Fragen interessieren Erna Majewski, 11. Sie besucht eine Gemeinschaftsschule und lebt, wie ihre Freundinnen Liv und Rosalie, im gemeinschaftlichen Wohnprojekt. Dass das ganze Gemeinschaftsgetue ungerecht und sogar verlogen sein kann, erleben Erna und ihre Freundinnen, als nach dem Schulfasching jemand mutwillig die Klos ruiniert hat: Weil der Täter sich nicht meldet, sollen jetzt alle dafür büßen. So eine Gemeinheit! Liv lässt das kalt, aber Erna ermittelt. Und sie findet heraus, was passiert ist. Aber soll sie es auch verraten? Schließlich gibt es laut einem Sprichwort drei Wahrheiten – deine, meine und die Wahrheit. Und wer kann die schon ertragen?

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Seitenzahl: 206

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ANKE STELLING

ERNA

UND DIE

DREI

WAHRHEITEN

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2017

© 2017 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: VGB-Werbung

Umschlagillustration: © Felicitas Horstschäfer

TP · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-18463-6V001

www.cbt-buecher.de

INHALT

Erna

Die Beste

Aussehen

Mit Samthandschuhen

Agnetas Entschluss

Harmonie

Kompromiss

Geld haben

Neid

Recht haben

Notwendigkeit

Glitzertussi

Verhältnisse

Wettbewerb

Wahrheit oder Pflicht

Happy

Nachtleben

Spaß

Neue Regeln

Datenschutz

Unkontrollierbar

Mitleidenschaft

Zucker und Weissmehl

Fasten

Komplimente

Detektivarbeit

Diskriminierung

Haltung

Süchtig

Freiheit

Mittelpunkt

Fangfragen

Geld ausgeben

Reich

Sippenhaft

Zivilcourage

Konversation

Demütigen

Mitwissen

Schade

Weiterreden

Begleiten

Ohne Zweifel

ERNA

Man gewöhnt sich ja dran. Vom ersten Tag an wird man mit seinem Namen angesprochen – wenn man vom ersten Tag an einen hat. Ich habe meinen erst eine Woche nach meiner Geburt bekommen: Kein Wunder, für so was Bescheuertes wie ERNA muss man lange nachdenken.

Annette behauptet, Erna sei nicht bescheuert, sondern habe als Großmuttername voll im Trend gelegen, und sie habe nur einen gesucht, der nicht so massenhaft vorkam wie Johanna, Mathilda oder Charlotte. Und ich solle froh sein, dass es nicht Emma geworden ist, denn davon gab’s dann allein in meiner Kitakrabbelgruppe drei – Emma Pollack, Emma Schlüter und Emma Ravensburger.

»Und warum gab’s die?«, habe ich gefragt und mir die Antwort gleich selbst gegeben: »Weil Emma schön ist und Erna hässlich.«

Annette lacht bei so was nur. Sie ist sich sicher, dass ich eines Tages alles so sehe wie sie. Aber jetzt sind schon mehr als elf Jahre vergangen, und Erna ist immer noch ein bescheuerter Name.

»Du hast es in der Hand«, sagt Annette, »du bist die Einzige, die so heißt, und wenn du cool bist, werden alle, die dich kennen, mit Erna nichts als Coolness verbinden.«

Kann schon sein. Aber ich erinnere sie daran, wenn sie das nächste Mal sagt, ich soll mich doch nicht dauernd selbst so unter Druck setzen, soll nicht immer und überall die Beste sein wollen.

DIE BESTE

Ich sitze in meinem Zimmer und kämpfe mit der Nähmaschine. Es ist Freitagnachmittag, und am Montag feiern wir Fasching bei uns an der Schule.

Ich habe einen halb zerschnittenen Damenlederrock in Annettes Stoffschrank gefunden – es ist praktisch nur noch das Futter mit ein paar Fetzen Wildleder übrig –, aber wenn ich diesen Restrock bis hoch unter die Achseln ziehe, sieht er aus wie ein ärmelloses, ziemlich zerrissenes Kleid. Wenn ich jetzt noch weitere Lederreste und Fellstückchen drannähe, vielleicht sogar so was wie Knochen oder Federn, dann wirkt das Ganze, als ob es aus der Steinzeit stammt, wie das Kleid einer Waldfee oder Kriegerin –

Irgendwas stimmt nicht mit der Fadenspannung. Ich hab den Faden jetzt schon zweimal aus- und wieder eingefädelt und auch die Spule raus- und wieder reingesetzt, aber es gibt immer noch so ein Gewirr auf der Rückseite, sobald ich anfange zu nähen. Ich will aber Annette auch nicht bitten, mir zu helfen: weil das Kostüm bis jetzt noch mein Geheimnis ist.

Ich näh das Fell einfach von Hand an.

Ich mach gern solche Sachen, und ich bin gerne jemand anderes. Am liebsten hätte ich jede Woche ein Thema und würde dazu verkleidet in die Schule gehen. Letztes Jahr, als unser Schulhaus hundert Jahre alt wurde, sollten wir uns anziehen wie die Kinder vor hundert Jahren, und dann haben wir einen Tag lang »alte Schule« gespielt, richtig mit In-Reihen-Sitzen und Aufstehen und Fingernägelkontrolle und Rohrstock. Das hat Spaß gemacht, und die meisten sahen echt klasse aus: Die Jungs hatten Hemden an und die Mädchen lange Röcke. Blöd war nur, dass meine Haare zu kurz waren für Zöpfe, aber Annette hat mir den Tipp mit dem Kopftuch gegeben, und damit waren die Haare verdeckt, und ich sah total brav aus. Jetzt gehen meine Haare wieder fast bis zur Schulter, was gut ist, weil Urwaldbewohnerinnen auch keine Kurzhaarfrisuren tragen, sondern ungezähmte, zausige Zotteln. Ich will mir vorne in die Haare noch Perlen flechten oder ich näh mir ein Stirnband. Bei den Naturvölkern ist man mit elf schon fast erwachsen. Bei uns nicht. Sogar mit zwölf ist man hierzulande noch nichts Richtiges, jedenfalls nicht Teenager – das ist man erst ab dreizehn, weil dann erst dieses »teen« in der englischen Zahl drinsteckt. Nicht, dass es besonders toll wäre, ein Teenager zu sein, aber es ist zumindest irgendwas, also: etwas anderes als Kind.

Bei den Naturvölkern ist der zwölfte Geburtstag der Eintritt ins Erwachsenenalter, aber ich wette, dass ich auch mit zwölf weiterhin zur selben Zeit wie Tom ins Bett muss. Christoph und Annette finden nämlich, dass die Wohnung nach acht Uhr abends den Erwachsenen gehört – und die Erwachsenen, das sind die Eltern, ganz egal, wie alt die Kinder werden.

Ich versuche, mich nicht darüber aufzuregen.

Mein Halbjahresziel im Bereich »Soziales Lernen« ist, mich nicht dauernd über alles so aufzuregen. Das musste ich vor vier Wochen, als das Winterhalbjahr zu Ende war, unter Aufsicht von Birgit, meiner Lehrerin, ins Protokoll des Halbjahresgesprächs eintragen.

»Ich zähle innerlich bis zehn, bevor ich mich äußere. Ich argumentiere ruhig und sachlich.«

Ich würde das wirklich gerne können, aber es ist schwer. Diese verdammte Nähmaschine!

»Eins, zwei, drei, vier … Halt! Stopp! Ich fühle mich gemobbt!«

Das ist auch was, das wir sagen sollen, und dazu die Hand ausstrecken. Bloß dass diese Nähmaschine es einfach nicht begreift!

Ich kann nicht ruhig bleiben, wenn ich mich aufrege. Wenn um mich herum alle Quatsch reden und niemand versteht, was ich meine – Birgit, unsere Lehrerin, übrigens auch. Birgit ist eine, bei der ich permanent nur zählen und die Hand ausstrecken könnte, zum Beispiel wenn sie versucht, in der Lerngruppe Streit zu schlichten. So wie heute, als Holger, unser Sportlehrer, uns bei ihr verpetzt hat. Wobei Lehrer ja nicht petzen, sondern nur »Informationen weitergeben« – dass ich nicht lache!

»Eins, zwei, drei, vier …«

Ich denke an was anderes. Jetzt ist Wochenende, und bis Montag hat Birgit ohnehin vergessen, was los war, das ist immer so.

Annette sagt, das sei eine Eigenschaft, die Lehrer- und Erzieherinnen mitbringen müssten, weil sie sonst verrückt würden. Ich solle das wertschätzen, sagt sie, soll mich freuen, dass Birgit dadurch, dass sie alles sofort wieder vergisst, uns Kindern auch immer wieder eine neue Chance gibt.

»Es kann auch gut sein, die Dinge nicht so ernst zu nehmen«, sagt sie. Ha!

Annette ist die Königin des Ernstnehmens. Wehe, jemand benutzt ihre Nagelschere und legt sie nicht genau dahin zurück, wo er sie herhat. Darüber kann sie sich wahnsinnig aufregen. Aber wenn ich Tom verbiete, in mein Zimmer zu kommen, weil dann alles durcheinandergerät, dann – »Halt! Stopp!« Und die Hand nach vorne. Aber es hilft nichts. Schon gar nicht, wenn sich der Spruch auch noch reimt, dann wird nämlich sofort ein Spottvers daraus. »Halt! Stopp! Ich fühle mich gemobbt!«, singt Tom mit verstellter Stimme und latscht trotzdem rein.

Das sieht wirklich gut aus mit dem Fell vorne unterm Busen.

Also – »Busen« ist eigentlich zu viel gesagt, ich hab noch keinen richtigen. Aber weil das Kleid keine Ärmel hat, sieht es ein bisschen so aus. Überhaupt sehe ich in so einem Kleid viel erwachsener aus als in Jeans und Pulli, das ist wirklich toll. Ich freu mich schon so auf den Montag!

Ich geh auch an den anderen Tagen gerne in die Schule. Am liebsten mag ich Deutsch, Mathematik, Kunst, Theater und Englisch. Was ich nicht mag, ist Gruppenarbeit. Und ich hasse Reflexionskreise, Lerngruppenräte und Halbjahresgespräche. Weil man da offen sagen soll, was einen stört, aber wenn man’s dann tut, heißt es, man soll sich nicht aufregen. Also versuche ich, einfach den Mund zu halten und zu zählen – was schwierig ist, wenn Birgit ihrerseits von etwas redet, wo sie selbst überhaupt nicht dabei gewesen ist! Wie zum Beispiel heute in Sport.

Aber sicher, ich geb mir Mühe. Ich will schließlich mein Halbjahresziel erreichen!

Ich will gelassener werden.

Ich will die anderen immer ausreden lassen.

Ich will mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angehen. Ich will nichts haben, was ich nicht kriegen kann.

Ich will niemanden enttäuschen.

Ich will nicht enttäuscht sein, wenn ich nicht die Beste bin, bin ich aber. Also: enttäuscht. Und: die Beste!

Verdammt, das klingt so was von eingebildet … Aber was bleibt mir denn anderes übrig? Ich heiße Erna, ich muss nun mal die Beste sein.

Ob ich mit meinem Kleid den Kostümwettbewerb gewinne?

Dieses Jahr gibt es eine richtige Jury. Aus Achtklässlern. Die Achtklässler sind die Ältesten bei uns an der Schule, weil unsere Schule noch im Aufbau ist. Und sie sind natürlich alle ziemlich eingebildet und schminken sich und dealen mit Feuerwerkskörpern auf dem Schulhof. Aber dass es eine Jury gibt, finde ich gut. Letztes Jahr gab’s keine, sondern alle haben auf Zettel geschrieben, welches Kostüm sie am besten finden, aber das war natürlich Unsinn, weil dann manche einfach zehn oder noch mehr Zettel für sich selbst ausgefüllt haben, und am Schluss haben die Erzieherinnen die Zettel weggeworfen, und es gab überhaupt keinen Gewinner.

Ich denke mal, dass ich gute Chancen habe.

Immerhin sehe ich in dem Kleid nicht mehr aus wie neun.

AUSSEHEN

Ich bin ziemlich klein für mein Alter. Annette sagt, ich soll mir darum keine Sorgen machen. Ich soll überhaupt nicht so viel über Äußerlichkeiten nachdenken. Weil doch wichtiger ist, wie man ist, als wie man aussieht –

Ich zupfe an meinem Kleid herum und überlege, ob es jetzt so bleiben kann. Das ist schwierig zu beurteilen ohne Ganzkörperspiegel.

Ich könnte zu Rosalie raufgehen, die hat einen riesigen Spiegel bei sich im Zimmer, weil sie mal Ballett gemacht hat. Rosalie ist meine Freundin hier im Haus, und unser Haus ist ein Gemeinschaftshaus, wo es normal ist, wenn man bei anderen klingelt oder mit ihnen Abendbrot isst. Früher war ich ständig bei Rosalie zu Hause, aber jetzt nicht mehr. Ich weiß nicht genau, warum – irgendwie haben wir nicht mehr so viel gemeinsam. Ich mag sie schon noch. Sie ist groß und dünn und ziemlich schlecht gelaunt – ich weiß, das klingt jetzt komisch, aber das mag ich an ihr: dass sie nicht so aufgedreht ist und alles »toll« und »süß« und »irre geil« findet. Das nervt mich nämlich oft an meinen Freundinnen in der Schule.

Rosalie ist irgendwie cooler. Obwohl sie allen Grund dazu hätte, eingebildet zu sein mit ihrem riesigen Zimmer, ihrem riesigen Spiegel, ihren endlos langen Beinen und Haaren. Blond natürlich auch noch, hellblond. Aber sie ist gar nicht so, wie sie aussieht. Dass sie als Model gehen könnte, scheint sie nicht weiter zu interessieren, und mit Ballett hat sie, wie gesagt, aufgehört.

Aber irgendwie trau ich mich nicht, zu ihr raufzugehen und ihr mein Kostüm zu zeigen. Ich glaube, sie fände es seltsam, wie viel Mühe ich mir damit gebe.

Wenn ich drei Wünsche frei hätte, wären das alles Dinge, die Rosalie hat: 1. lange dünne Beine, 2. ein größeres Zimmer, 3. eine Mutter, die jeden Samstag mit mir shoppen geht, die mir alles kauft, was ich will.

Verdammt, das klingt so was von oberflächlich … Aber es stimmt.

»Du wächst schon noch«, sagt Christoph. Und Annette: »In Afrika hungern die Kinder.«

Ich weiß. Es ist mir auch peinlich, aber es ist nun mal die Wahrheit.

»Es gibt drei Wahrheiten: meine, deine und die Wahrheit«, sagt ein chinesisches Sprichwort. Das hat Annette ausgedruckt und unten im Haus ans Schwarze Brett gehängt – nachdem sie heulend aus einer der Versammlungen gekommen ist, die die Erwachsenen hier bei uns im Haus regelmäßig abhalten. Ich glaube, sie hasst Gruppenarbeit auch.

GRUPPENARBEIT

Tom, mein kleiner Bruder, lernt gerade »Wortfamilien« in Deutsch.

Annette sitzt mit ihm am Esstisch in unserer Wohnküche und beaufsichtigt, wie er mit seinem neuen Füller sein Arbeitsheft ausfüllt – ha!, da haben wir schon zwei Wörter aus derselben Wortfamilie: »Füller« und »ausfüllen«, aber Tom kapiert’s nicht.

Er malt dem Affen, der in seinem Arbeitsheft die Regeln erklärt, eine Sonnenbrille, und Annette schnauzt ihn an, dass er das lassen und sich konzentrieren soll.

Ich sitze daneben und überlege, ob ich Annette nicht doch schon mein Kostüm zeigen soll, aber sie achtet nicht auf mich. Sie hat sich vorgenommen, ab sofort »Toms Lernfortschritte zu begleiten«. Freitags soll er deshalb jetzt immer seine Schulsachen mit nach Hause bringen und sie spielt dann eine halbe Stunde lang Aushilfslehrerin.

Eine Wortfamilie zu »fliegen«.

»Fliegen«, sagt Annette, »was gibt’s dazu für ein Nomen?« Tom sagt nichts. Er hat keine Lust, er will Minecraft spielen.

»Der Flie…!«, sagt Annette erwartungsvoll, und Tom guckt sie an, »der Papier…!«

»Hä?«, sagt Tom. »Es heißt das Papier.«

Ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu lachen. Annette seufzt. »Flieger! Der Papierflieger!«

Tom sind Wortfamilien egal.

Dass Annette sauer wird, ist ihm nicht egal, er hat schon Tränen in den Augen, weil sie ihn so anschnauzt. Dass man Verben verdammt noch mal immer klein schreibt!, es sei denn –

Sie guckt mich an. »Es sei denn? Erna?«

»Sag ich nicht«, sage ich.

»Es sei denn, sie sind substantiviert! Das Fliegen!« Und dann lächelt sie tatsächlich und freut sich.

Annette mag Wortfamilien. Am liebsten würde sie selbst das Arbeitsheft ausfüllen, ich seh’s ihr an.

Tom malt dem Affen einen zweiten Schwanz. Vorne.

Wir sind eine Familie: Tom, Annette, Christoph und ich. Tom und ich sind die Kinder, Annette und Christoph die Eltern. Und die Erwachsenen. Für immer!

Ich frage mich, warum es für Kinder als Kinder von Eltern kein anderes Wort gibt als für Kinder im Unterschied zu Erwachsenen. Das müsste man mal ändern, da müsste man sich wirklich was einfallen lassen.

Es gibt ja andere Wörter für Kinder, »Sprösslinge« zum Beispiel. Aber das ist ein albernes Wort, das kann man nicht ernsthaft verwenden. Obwohl es gut ist, weil es auf die Abstammung hinweist, nicht auf das Alter. Annette ist der Stamm, Tom und ich sind die Sprösslinge, die von ihr abgehen. Abstammen. Super Wortfamilie! Stamm – abstammen. Und »Sprössling« ist eigentlich auch ein super Wort. Sprießen – Spross – Sprössling. Es muss einen Grund geben, warum es so albern klingt. Wegen dem »-ling« am Ende? Man soll ja auch nicht »Flüchtling« sagen. Das finden zumindest manche. Andere finden, dass es Quatsch ist, sich von einem Wort diskriminiert zu fühlen. Was die wohl dazu sagen würden, dass ich gern ein extra Wort für erwachsene oder halbwüchsige Kinder von Eltern hätte?

Annette lässt nicht locker. Tom will seine Ruhe, aber er weiß auch, dass er die erst kriegt, nachdem er mindestens eine Viertelstunde lang mit Annette über Wörter nachgedacht hat. Wobei ja in Wahrheit nur Annette über Wortfamilien nachdenkt, und Tom darüber, wen er in seiner Minecraft-Welt foltern wird, sobald er Annette entkommt.

Auf unserer Schule muss man ständig in Gruppen zusammenarbeiten. Das gehört zum Schulkonzept, genau wie die Jahrgangsmischung, also: dass immer drei Klassenstufen gemeinsam lernen. Eins bis drei, vier bis sechs, sieben bis neun und so weiter. Es ist eine Gemeinschaftsschule, in der niemand aussortiert wird, egal ob gut oder schlecht, also: schnell oder langsam, klug oder – nicht so klug, sag ich mal, dumm soll man nämlich nicht sagen. Jeder soll genau so lernen, wie er mag und wie er kann – was einige Eltern nervös macht. Annette zum Beispiel. Sie hat Angst, dass Tom nicht mag und deshalb auch nicht kann und vielleicht niemals können wird, also sitzt sie jetzt hier und sagt ihm Wortfamilien vor. Eigentlich findet sie Gemeinschaftsschulen gut, sagt sie. Genau so wie Gemeinschaftswohnen, weshalb sie mit den anderen Erwachsenen in unserem Haus alles bespricht und die Schlüssel außen in der Wohnungstür stecken und man die Wäsche gemeinsam unten in der gemeinsamen Waschküche wäscht. Gemeinschaft, gemeinsam, gemein.

»Warum ist ›gemein‹ in derselben Wortfamilie wie ›Gemeinschaft‹?«, frage ich. Annette sieht mich an. »›Gemein‹ ist erst mal nichts Schlechtes.«

»Gemein ist gemein. Fies!«, sagt Tom.

»Du musst im etymologischen Wörterbuch nachschlagen«, sagt Annette. Mach ich.

Während Annette immer fieser wird zu Tom, lese ich nach, dass »gemein« etwas ist, das allen gehört. Und deshalb nicht besonders wertvoll sein kann, sondern eben nur ganz normal und gewöhnlich. Einfach, wertlos, niedrig. Und von niedrig geht’s weiter zu niederträchtig, und niederträchtig ist dasselbe wie fies.

Seltsam, wie die Wörter sich im Lauf der Zeit verändern. Wie etwas Gutes oder Neutrales über die Jahre, und ohne dass man’s merkt, zu etwas Schlechtem werden kann.

Auch das muss einen Grund haben, aber welchen, steht im etymologischen Wörterbuch nicht drin.

Gründe interessieren mich, weshalb ich ziemlich vielen Leuten auf die Nerven gehe – zumindest glaube ich, dass das ein Grund dafür sein kann.

Liv, meine beste Freundin in der Schule, der ich oft auf die Nerven gehe, sagt: »Weil halt. Ist doch egal«, und wenn ich dann immer noch wissen will, was genau der Grund ist, ist sie noch genervter und macht die nächste Gruppenarbeit nicht mit mir, sondern mit Jolanda.

Jolanda ist meine zweitbeste Freundin. Eigentlich ist das ja doof, dieses Gerede von bester und allerbester und drittbester Freundin. Weil das auch nur dazu führt, dass sich immer jemand schlecht fühlt. Gleichzeitig muss man aber auch irgendwie unterscheiden, nicht?

Ich weiß nicht, ob Liv sagen würde, dass ich ihre beste Freundin bin. Es gibt nicht viel, das uns verbindet – ich kann zum Beispiel nicht besonders gut Fußball spielen. Und Liv kickt in jeder freien Minute und ist in der Landesauswahl der Mädchen.

Eigentlich passe ich viel besser zu Jolanda, die auch gerne liest und bastelt und Theater spielt. Aber genau deshalb gibt’s dann auch Krach, über Harry Potter oder die Hauptdarstellerin von Ostwind.

Bei Liv ist es so, dass ich sie einfach total gerne mag. Wenn ich sie morgens sehe, krieg ich immer gute Laune; ich finde, dass sie schön aussieht und gut riecht – oh Gott, das klingt jetzt so, als ob ich in sie verknallt wäre. Das wäre ein gefundenes Fressen für Mattis, den Chef der Jungen in unserer Lerngruppe, der immer rauskriegen will, wer in wen verliebt ist, und denkt, »Lesbe« sei ein Schimpfwort. Aber anders kann ich’s nicht beschreiben, ich mag sie einfach. Ich bin froh, dass sie meine Nebensitzerin ist, und ich find’s traurig, wenn sie lieber mit Jolanda zusammenarbeitet als mit mir.

MIT SAMTHANDSCHUHEN

Annette hat das Lehrerinnensein für heute aufgegeben. Tom darf zusammenpacken und noch ’ne Runde zocken; jetzt könnte ich Annette mein Kostüm vorführen, aber ich mach’s nicht. Es wird eine Überraschung für alle, auch für die Familie! Vielleicht schleich ich mich nachher mal kurz raus und guck mich im Fahrstuhl an, da drin hängt nämlich auch ein großer Spiegel.

Annette deckt den Abendbrottisch.

Gleich muss ich erzählen, was den Tag über so los war, das müssen Tom und ich immer beim Abendbrot. Annette will wissen, was uns »bewegt«. Komischer Ausdruck, oder? Unsere Muskeln, würde ich sagen, aber sie meint natürlich innerlich, im Kopf und Bauch und Herzen.

Ich blättere im etymologischen Wörterbuch. Das wird mein neues Hobby, woher kommt »Bewegung«?

»Hilf mir mal!«, sagt Annette. Ja ja, mach ich schon.

»Und Tom?«

Der hat offenbar genug getan für heute.

Wir sitzen beim Abendbrot. Christoph ist nicht da, er arbeitet oft abends.

»Wie war’s im Klassenrat?«, fragt Annette und reicht mir den Thunfischsalat.

»Lerngruppenrat«, verbessere ich. Das kann sie sich nicht merken, dass es »Lerngruppe« heißt – weil ja verschiedene Klassenstufen in einer Gruppe zusammen lernen.

»Doof«, sage ich und schmier mir mein Brot.

»Warum?«

»Holger hat sich bei Birgit über uns beschwert.«

»Holger?«

»Unser Sportlehrer.«

Die Namen der Lehrer kann sie sich auch nicht gut merken.

»Und warum?«

»Er hat gesagt, dass wir uns daran erinnern sollen, dass wir gemeinsam Mattis eine Chance geben.«

»Was denn für ’ne Chance?« Tom spricht mit vollem Mund.

»Iss erst mal runter«, sage ich, »das ist eklig.«

»Was denn für ’ne Chance?«, fragt Annette ebenfalls.

»Die Chance, auf der Schule zu bleiben. Weil er doch immer gleich ausrastet. Und er hat schon ’ne Verwarnung, und wenn er jetzt wieder Scheiße baut, fliegt er endgültig.«

»Wie bitte?« Annette sieht mich an. »Was denn für ’ne Verwarnung, warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Keine Ahnung«, sage ich, aber das ist gelogen. Ich hab’s ihr nicht erzählt, weil ich da auch drin verwickelt war. »Jedenfalls ist er jetzt sozusagen auf Bewährung.«

»Aha«, sagt Annette. »Er muss sich zusammenreißen.«

»Genau«, sage ich. »Kann er aber nicht. Also darf auf keinen Fall was passieren, worüber er sich aufregt. Weil er dann nicht mehr weiß, was er tut. Und darauf sollen wir alle gemeinsam achten, aber das geht irgendwie nicht.«

Annette nickt.

»Ich versuch’s ja«, sage ich, »aber er regt sich eben ständig auf. Jedes Mal, wenn er nicht gewinnt.«

»Und euer Sportlehrer findet jetzt, ihr sollt Mattis immer gewinnen lassen?« Annettes Stimme klingt zweifelnd.

»Keine Ahnung. Jedenfalls hat er sich bei Birgit über uns beschwert.«

»Was war denn in Sport?«

»Mattis hat gewählt. Seine Mannschaft, für Fußball. Und ich hab gesagt, das geht nicht, wenn er mit Georg und Liv und Franz in einer Mannschaft spielt, weil die alle im Verein sind, und das ist nicht gerecht. Aber er wollte es natürlich, weil die die besten sind. Und hat behauptet, dass Luca und Vincent ja auch im Verein sind.«

»Stimmt ja auch«, sagt Tom.

»Ja, klar, du Superhirn, aber die sind klein. Die sind Vierte, falls du’s noch nicht gemerkt hast.«

Annette runzelt die Stirn. »Und dann?«, fragt sie.

»Dann hab ich verlangt, dass wir das anders aufteilen. Und daraufhin ist Mattis natürlich gerastet und hat behauptet, ich würd mich immer einmischen, und dass mich das überhaupt nichts angeht.«

»Und Holger?«

»Der hat auch gesagt, ich soll mich raushalten.«

»Komisch. Echt?«, sagt Annette. »Wer hat denn die andere Mannschaft gewählt?«

»Bence.«

»Und warum hat Bence dann nicht Liv oder Georg oder Franz zu sich genommen?«

»Weil der eben guckt, dass Mattis nicht ausrastet! Aber das ist ja wohl echt total bescheuert! Das ist ungerecht und bringt am Ende nichts!«

Annette nickt.

»Und was hat Bence im Klassenrat gesagt?«

»Lerngruppenrat. Der sagt nie was.«

»Warum?«

»Weiß ich nicht.«

Weiß ich wirklich nicht. Bence ist auch sechste Klasse, und eigentlich ist er schlau, aber auch so ein bisschen vereinzelt, also: viel allein. Er hat keine richtige Clique, jedenfalls nicht mit den Angeber-Jungs aus unserer Gruppe – Mattis, Freddie und so weiter. Er hat einen Freund in einer anderen Lerngruppe, bei den Rapunzeln.

»Und Birgit? Hat die denn nicht verstanden, worum es dir ging?«

»Nö. Die findet ja auch, dass ich mich zu viel einmische. Und dass man Mattis nur mit Samthandschuhen anfassen darf! Das Einzige, was sie gesagt hat, ist eben, dass Holger sich über uns beschwert hat. Was heißt über uns, über mich. Jedenfalls hat sie mich dabei so angeschaut.« Ich mache Birgit nach, ihre vorwurfsvollen, möchtegern einfühlsamen Kitatantenaugen.

»Und wer hat dann gewonnen?«, will Tom wissen.

»Mattis’ Mannschaft natürlich, du Vollhonk.«

»Erna. Tom kann jetzt wirklich nichts dafür.«

Ich esse. Keiner kapiert was. Warum erzähl ich das alles überhaupt?

»Und im Lerngruppenrat, wie ist der ausgegangen?«

Ich zucke mit den Schultern. »Gar nicht. Ich hab nichts weiter dazu gesagt.«

Annette wiegt den Kopf. »Dann kann Birgit dich ja auch nicht verstehen.«

»Will sie ja auch nicht! Das Einzige, was sie will, ist ihre Ruhe.«

Annette seufzt. »Das glaub ich nicht. Du hättest ihr sagen müssen, was dein Standpunkt ist. Dazu habt ihr doch den Klassenrat.«

»Lerngruppenrat, verdammte Scheiße!« Ich werfe mein Messer auf den Teller, Mann, das kann doch echt nicht wahr sein! Hört sie mir überhaupt zu?

»Lerngruppenrat, sorry! – Hier kann nun wirklich keiner was dafür.«

Ach nein? Erst zwingt sie mich dazu, es zu erzählen, und dann hört sie nicht hin und kapiert nichts, vielen Dank.

Sie steht auf und beginnt, den Tisch abzuräumen. Tom holt sich Nachtisch.

Bei uns darf man sich nach dem Abendessen Süßigkeiten nehmen, das haben Annette und Christoph sich ausgedacht, als wir noch klein waren: damit wir nur einmal am Tag welche essen. Inzwischen ist die Regel natürlich veraltet, weil wir uns selbst Süßigkeiten kaufen oder in der Schule jemand was dabei hat.

Diese ganzen Regeln sind allesamt nur vorgeschoben, sind nichts als dummes Getue, genau so wie der Lerngruppenrat.

Ich bin sauer und verschwinde in mein Zimmer.

Nach etwa einer halben Stunde klopft’s.

»Was ist?«, frage ich. Es ist Annette.

»Ich kann mir vorstellen«, sagt sie, »dass das blöd für dich war.« Ja, ja. Sicher.

»Vielleicht sprichst du’s nächste Woche noch mal an.« Ich zucke mit den Schultern.

»Ihr habt’s echt nicht leicht.«

Was heißt »ihr«? Ich