Horchen - Anke Stelling - E-Book

Horchen E-Book

Anke Stelling

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Beschreibung

»Ich habe in mich hineingehorcht und entschieden, alle Freiheiten zurückzugeben und mich ganz unserem himmlichen Herrn zu unterwerfen.« Katja Rothenberger, 30, kann sich nicht beklagen – sie hat eine glückliche Kinderladenkindheit, einen umsichtigen Freund, eine Berliner Wohnung mit Holzfußboden und eine gut gegliederte Doktorarbeit. Woher nur kommt ihre Unzufriedenheit? Katja reist in die ostsächsische Kleinstadt, in die Reinhardt, ihr Jugendpfarrer, nach der Wende strafversetzt worden ist – er war ihre erste große Liebe. Dort begegnet sie Gernot, einem Anhänger einer fundamentalchristlichen Sekte, der Katja das bietet, was ihr offenbar in ihrem Leben gefehlt hat: Führung statt Freiheit, Gefolgschaft statt Sinnsuche. Selbstbestimmt wie sie ist, liefert sich Katja den neuen Regeln aus – und gerät in eine lebensbedrohliche Liebe zwischen totaler Hingabe und absoluter Abhängigkeit.

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Anke Stelling

Horchen

Roman

Roman

Fischer e-books

So tritt nun auf mit deinen Beschwörungen und der Menge deiner Zaubereien, um die du dich von deiner Jugend an bemüht hast, ob du dir helfen und es abwenden kannst.

Jesaja 47, 12

Hortensien

Elke will auf den Markt. Oder will Katja auf den Markt, weil sie denkt, dass Elke auf den Markt will?

Wer hat eigentlich vorgeschlagen, ausgerechnet auf den Markt am Kollwitzplatz zu gehen, wo doch alle erwachsenen Kinder vom Prenzlauer Berg mit ihren Eltern, die übers Wochenende zu Besuch sind, auf den Markt am Kollwitzplatz gehen?

Die Bürgersteige entlang der Wörther Straße sind voll von gut gekleideten, jung gebliebenen Sechzigjährigen, die hinter ihren weniger gut gekleideten, aber kreativen Kindern und Schwiegerkindern herschlendern; wenn sie Glück haben, dürfen sie auch schon einen Kinderwagen schieben oder das Laufrad unterm Arm tragen – Katja vergräbt die Hände in den Hosentaschen und versucht, nicht auf die Ritzen zwischen den Steinplatten zu treten.

Es gibt Schlimmeres, als an einem sonnigen Samstagvormittag das Gleiche zu tun, was alle anderen auch tun, und der Markt am Kollwitzplatz ist wirklich schön, dort gibt es Kürbisse und Biopute und eine Gulaschkanone und Crêpes, dort gibt es sogar einen Stand mit handgemachten Maultaschen, die schmecken wie frisch aus dem Schwabenländle. Und Sonnenblumen, eimerweise Sonnenblumen.

Elke ist begeistert, aber Norbert bleibt neben der Gulaschkanone stehen und will nicht ins Gedränge. Er hat diesen angestrengten Blick, den er immer bekommt bei Menschenansammlungen, und Katja wird unsicher, wessen Laune wichtiger ist für den weiteren Verlauf des Vormittags – Elkes oder Norberts. Zum Glück bleibt Lars bei Norbert zurück und bietet ihm eine Zigarette an, und Norbert nimmt sie, obwohl er normalerweise im Stehen nicht raucht, nur beim Kaffeetrinken, im Sitzen, an einem schattigen Plätzchen im Café.

Gleich.

Sobald Elke alles fürs Abendessen besorgt hat, darf Norbert ins Café, und bis dahin bleibt Lars bei ihm stehen und gibt sich männersolidarisch. Apropos Solidarität – war es nicht Lars’ Idee gewesen, mit den Schwiegereltern auf den Markt am Kollwitzplatz zu gehen?

Katja eilt hinter Elke her, die vor dem Blumenstand stehengeblieben ist.

Wunder-, wunderschöne Blumen. Hortensien in allen Schattierungen von Rosa, Weiß und Blau.

»Mensch, die will ich euch schenken, die machen sich bestimmt prächtig auf eurem Balkon.«

 

Norbert will ins Café. Oder will Katja ins Café, weil sie denkt, dass Norbert ins Café will? Will Norbert nicht eigentlich lieber allein ins Café statt mit Elke und Katja und Lars und zehn Plastikbeuteln mit Biorind und Bohnen und Maultaschen darin, und zwei riesigen Hortensien, die der Bedienung den Durchgang verstellen? Die Bedienung ist keine, wie Norbert sie mag, keine mit Schürzchen und schwarzen Strumpfhosen, sondern eine wie Katja, im T-Shirt und mit fahrigem Blick, weil sie es niemals allen wird recht machen können. Elke rührt begeistert in ihrer Latte macchiato.

»So was fehlt uns halt in Stuttgart.«

Norbert zündet sich eine von seinen teuren, orientalischen Zigaretten an und sortiert seine Beine zwischen den Plastikbeuteln.

Lars sitzt da und schweigt. Katja macht sich Sorgen, denn Elke will reden, Elke will ununterbrochen reden, schließlich fahren sie morgen früh schon wieder los, und bis dahin muss alles beredet sein, muss sich ein umfassendes Gefühl von Verständnis und Einverständnis und intensiver Begegnung hergestellt haben, ein Gefühl, mit dem Elke traurig, aber beseelt wieder nach Hause fahren kann. Mensch, schade, dass es schon wieder vorbei ist. So schön war’s bei euch.

Katja hat alles bereitgestellt, was notwendig ist: Markt, Café, Lars – den perfekten Schwiegersohn, der sowohl mit Elke redet als auch mit Norbert schweigt.

Jetzt schweigt er, und Katja fällt ebenfalls nichts mehr ein, was sie sagen könnte. Elke betrachtet die Kinderwagen, schweigt. Noch hält sie sich zurück, aber spätestens heute Abend beim großen Essen, wo traditionsgemäß auch die großen Themen auf den Tisch kommen – zusammen mit dem Rinderfilet und den frischen grünen Bohnen –, wird Elke eine Bemerkung machen. Wird scheinbar unschuldig irgendeine Klassenkameradin von Katja erwähnen, die bereits ihr Zweites kriegt. Norbert wird Mousse au Chocolat beisteuern, und weiß Lars eigentlich, dass es die ausgiebig zu bewundern gilt? Na klar, Lars weiß alles. Lars wird irgendeinen seltsamen, selbstgebrannten Zwetschgenschnaps hervorzaubern und ihn Norbert servieren, Lars wird sich interessiert anhören, wie viel Prozent Kakao die Schokolade haben muss, die Norbert für seine Mousse au Chocolat verwendet: Achtzig Prozent? Na, das ist ja ein Ding.

Apropos, Schokolade. Schokolade müssen sie noch kaufen.

Norbert drückt seine Zigarette aus und sticht skeptisch in die Schwarzwälder Kirschtorte.

»Keine Sorge«, sagt Katja, »die können sie hier.«

»Gehen wir noch bei der Synagoge vorbei?«, fragt Elke. »Ich hab gelesen, da darf man jetzt wieder rein.«

»Ohne mich«, sagt Norbert.

»Synagoge, Papa, keine Kirche.«

»Gotteshaus«, sagt Norbert, »ich hab meine Kippa nicht dabei.«

Er nimmt die rote Papierserviette, in die seine Kuchengabel eingewickelt war, und legt sie sich auf den Kopf.

Lars lacht.

Elke seufzt und sieht zur Seite.

Schon wieder ein Kinderwagen.

Wenn Elke erst den Wagen mit dem Enkelkind darin schieben darf, wird es keine Gesprächspause mehr geben, aber noch ist es nicht so weit, noch muss Katja sich ein anderes Thema einfallen lassen und selbst für Unterhaltung sorgen.

»Habt ihr eigentlich nie das Gefühl«, sagt sie, »dass ihr was falsch gemacht habt mit eurer Erziehung?«

Elke hebt die Augenbrauen. »Nein, wieso?«

»Normale Menschen finden es seltsam, dass die Bewohner dieses Viertels den ganzen Tag nur im Café rumhängen.«

»Ich nicht«, sagt Elke. »Ich find das gut, was ihr tut. Dass Karriere bei euch nicht so wichtig ist.«

»Ist sie aber. Alle im Café tun so, als ob sie wahnsinnig wichtig wären und ganz dringende Projekte verfolgen. Dabei lassen sie sich in Wahrheit nur von ihren Eltern aushalten.«

»Wir halten dich doch gar nicht aus.«

»Ach nein? Und wer hat das Rinderfilet bezahlt und die Hortensien?«

»Lass mir doch den Spaß. Ich hätte so gern so eine Wohnung wie ihr.«

Die Wohnung. Die Wohnung ist Elkes Traum. Drei Zimmer, abgezogene Dielen und Stuck, im Erdgeschoß italienische Feinkost und vom Balkon ein Blick bis hinunter zum Alex. Ab heute nicht mehr, ab heute sind die Hortensien im Weg.

»Wenn ich daran denke, wie wir angefangen haben –«

Elke hatte immer Geschmack, aber nie genug Geld, um ihn auch auszudrücken, Elke ist das Siebte von acht Kindern, und Elke hat kein Abitur – was ihr aber niemand mehr anmerkt.

»Dann ist ja gut«, sagt Katja, »dass wir jetzt euer Leben leben. Wie damals in der Bretagne: Hortensienüberschäumte Gehwege, Café Crème und Croissants. Guten Appetit auch.«

Elke lehnt sich stirnrunzelnd zurück, verschränkt die Arme, freut sich, dass es endlich intensiv wird.

»Wie hättest du es denn gerne?«, fragt sie.

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was ich selber schön finde.«

»Du übertreibst. Ich hab doch ganz vieles erst von dir gelernt.«

»Und was bitte?«

»Ich hab immer bewundert, wie gut ihr in euch hineinhorchen könnt. Dass ihr euch selbst zum Maßstab nehmt und nicht das, was sich angeblich gehört.«

»Kann schon sein. Bloß blöd, dass das auch eure Idee war – dass es gut sein soll, in sich hineinzuhorchen.«

Norbert hat aufgegessen und sieht mit verdrießlichem Blick vor sich hin.

»Okay«, sagt Katja. »Lasst uns über das Wetter reden. Heiß heute, nicht wahr?«

»Ja, heiß«, sagt Norbert. »Und am Klimawandel sind wir auch schuld.«

Er grinst zu Lars hinüber, der freundlich zurückgrinst.

Elke wartet, was Katja wohl erwidert; Elke kriegt nie genug von solcherlei Gesprächen, und Katja tut ihr den Gefallen und macht weiter.

»Nein nein, ihr seid bestimmt nicht schuld. Ihr habt ja eure Kinder, die wissen, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Wir sind Kinder einer Erde, die genug für alle hat –«

Norbert hebt abwehrend die Hände. Elke lutscht am Löffel ihrer leergetrunkenen Latte macchiato. »Stimmt«, sagt sie leise. »Das hab ich mir so ja noch nie überlegt.«

Liebe Elke,

stell Dir vor, dass ich unglücklich bin, und Du kannst nichts dafür. Du hast alles richtig gemacht, hast mir alles gegeben, was ich im Leben brauche, ich hab alles, was Du Dir immer gewünscht hast, aber es bedeutet mir nichts. Was ich stattdessen will, weiß ich auch nicht. ›Man kann nicht alles haben‹, hast Du mich gelehrt, und ich komme immer wieder zurück zu diesem Spruch, dieser Erkenntnis, die durch nichts zu widerlegen ist.

Du hast recht.

Alles, was Du mich gelehrt hast, halte ich für absolut zutreffend, ich bewundere, wie Du Dein Leben meisterst, ich will sein wie Du, ich BIN wie Du, aber ich halte es nicht aus. ›Was tun?‹, könnte ich Dich fragen, und dann würde eines unserer langen Gespräche folgen, und bestimmt hättest Du wieder recht, Du hast immer recht, ich denke wie Du, ich bin wie Du, und deshalb nützt es auch nichts, Dich zu fragen, was ich tun soll. Denn ich weiß es schon längst, ich bin klug. Ich bin so klug, dass ich kotzen könnte.

Katja steht hinter den Hortensien und sieht dem Auto nach, mit dem Elke und Norbert davon fahren.

»Magst du noch einen Kaffee?«, fragt Lars aus der Küche.

Katja geht hinein und betrachtet Lars, dessen Haare über einem Ohr abstehen. Oben werden sie schon dünn.

»Wenn du Elke anschaust, stellst du dir dann vor, dass ich irgendwann so aussehen werde wie sie?«

»Nein«, sagt Lars und stellt die Espressokanne auf den Herd.

»Werd’ ich aber.«

Lars lächelt. »Findest du das schlimm? Sie sieht doch gut aus.« Er gießt Milch in einen Topf, hält den Milchschäumer hinein. Nach einer Weile sagt er:

»Ich glaub nicht, dass du mal so aussiehst wie Elke. Sie hat ihr ganzes Leben im Gesicht. Ihre Einstellung.«

»Kein Make-up, meinst du.«

»Nein. Ich meine ihren Glauben. Ihren Spaß am Diskutieren. Diese Falte zwischen den Augenbrauen, die sagt, gut, ja, aber man könnte es auch andersrum betrachten.« Er lacht.

»Findest du, ich sollte Make-up auflegen?«

»Nein. Find ich nicht.«

»Aber dann säh ich nicht mehr aus wie Elke.«

Lars seufzt. Er gießt sich den Kaffee in eine riesige Tasse und greift nach der Zeitung.

»Die Hortensien sehen Scheiße aus«, sagt Katja. »Wenn du nichts dagegen hast, schmeiß ich sie weg.«

 

Auf dem Tisch stehen die Reste des Frühstücks. Katja isst noch mehr Schokoladencroissants, weich und fettig und süß, sie muss gegensteuern mit etwas Salzigem, schneidet Salami ab, schmiert Butter auf den letzten Kanten Ciabattabrot, spült mit Orangensaft nach. Der Hartkäse schwitzt, der weiche Käse läuft aus der Rotschmierenrinde, Katja fasst hinein, leckt die Finger ab, beschließt, ihn vollends aufzuessen, weil er sonst schlecht wird.

Katja wird schlecht.

»Willst du den ganzen Tag hier in der Wohnung sitzen?«

Lars sieht hoch. »Geh doch raus, wenn dir langweilig ist.«

»Und du?«

»Ich will hier sitzen und Zeitung lesen.«

»Wozu sind wir eigentlich zusammen, wenn doch nur jeder das tut, wozu er ganz alleine Lust hat?«

»Ich bin seit drei Tagen mit dir und deinen Eltern zusammen.«

»Ach so? Hat dich irgend jemand dazu gezwungen?«

»Ich sag nur, dass wir drei Tage am Stück zusammen waren.«

»Das nennst du zusammen sein? Mit Elke und Norbert durch die Gegend laufen und Essen kochen und Hortensien aussuchen? Ich hab nicht das Gefühl, mit dir zusammen gewesen zu sein.«

»Ich schon. Wenn du was anderes machen willst, dann sag’s mir.«

»Tu ich doch.«

»Ach ja? Ich hab nicht gehört, dass du was vorgeschlagen hättest.«

»Doch. Ich will, dass wir was zusammen machen.«

»Und was?«

»Weiß ich nicht! Irgendwas!«

»Und ich soll jetzt einen Vorschlag machen.«

»Nö. Du willst ja lieber die Zeitung lesen.«

 

Katja verschwindet ins Schlafzimmer. Elke hat das Bett gemacht, geht davon aus, dass Lars und Katja in den Laken schlafen, die sie und Norbert drei Nächte lang benutzt haben – warum auch nicht, es spart Wasser und Waschmittel und ist gut für die Umwelt.

Der Gedanke, dass Katja sich ekeln könnte, ist Elke fremd; wenn Katja in Stuttgart ist, kriegt sie nie frische Bettwäsche, soll sogar Elkes Badewasser übernehmen, Ich lass es dir drin, Spatz, es ist ja noch warm.

Aber Katja ekelt sich. Irgendwann zwischen zwölf und vierzehn hat sie begonnen, sich vor Elke zu ekeln, wollte auf keinen Fall mehr in ihr Badewasser, auch nicht mehr in ihr Bett. Komm kuscheln, hat Elke gesagt, und Katja hat sich nicht getraut, es ihr abzuschlagen, wieso auch, sie hat immer gern mit Elke gekuschelt, wollte nirgends lieber sein als in Elkes Bett, Elkes Armen, Elkes Herz. Plötzlich nicht mehr, plötzlich fand sie alles eklig, was Elke berührt hat, Elkes Kopfkissen, in das nachts Elkes Spucke lief, Elkes Hände, die nach allem Möglichen rochen, nach Essen, nach Auto, nach ihr. Als Katja nicht mehr in ihr Bett kam, kam Elke stattdessen in Katjas, Rutsch mal, und Katja hielt den Atem an und versuchte, die Decke zwischen sich und Elke zu bringen. Unauffällig, voll Scham über ihren Ekel.

Mit Norbert ist es leichter. Seit dem Tag, an dem Katja anfing, sich vor Elke zu ekeln, sitzt sie bei Norbert auf dem Schoß. Damit Elke sieht, dass Katja sie trotz allem noch liebt.

 

Lars steht in der Tür.

»Willst du mit zum Flohmarkt kommen?«

»Übertöpfe aussuchen für die Hortensien, ja?«

Lars antwortet nicht, wartet ab.

»Glaubst du daran?«, fragt Katja.

»An was.«

»An das Hineinhorchen.«

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht genau, was Elke damit meint.«

»Sie meint, dass sie uns dazu befähigt haben, auf unsere innere Stimme zu hören. Weil wir schon als Kinder ununterbrochen das tun durften, was uns Spaß macht. Spaß, Spaß, Spaß, Hauptsache, wir sind glücklich.«

»Und?«

»Ich bin aber nicht glücklich.«

»Das seh ich.«

»Und ich hasse Flohmärkte.«

 

Lars hat kein Problem damit, zurückgewiesen zu werden. Lars ist es allemal lieber, alleine zum Flohmarkt zu gehen, als sich neben Katja in Elkes Bettwäsche zu legen und zu warten, was als Nächstes kommt.

Lass uns ein Kind machen, wird Katja sagen, ein Kind, damit die ganze Scheiße wenigstens evolutionstechnisch einen Nutzen hat. Guck sie dir doch an, die Leute in diesem Viertel, glaubst du, dass sie aus irgendeinem anderen Grund Kinder kriegen als dem, endlich wieder was zu tun zu haben? Ihre Eltern glücklich zu machen, ihrer Beziehung einen Sinn zu geben, jemand Neues zu haben, dem sie Klamotten kaufen können? Ich will auch ein Kind, ich will auch ein neues Thema, eine Aufgabe, einen Grund, morgens aufzustehen.

Lars flieht zum Flohmarkt, während neben Katja das Baby liegt, rosig und duftend, neugeboren und weise, unsagbar niedlich, wie es mit seinen Fäustchen in die Luft boxt und gluckst. Katja merkt nicht mehr, dass Sonntag ist, die Tage verschwimmen in Milch und in Liebe, in der Aufregung, die es bedeutet, das Kind auch nur anzusehen. Elke darf losgehen, einen Kinderwagen kaufen, einen hübschen Wagen, dunkelblau und weiß, so einen, wie sie ihn sich immer gewünscht hat, als sie ihn sich noch nicht hat leisten können, aber jetzt hat Norbert Geld, und Elke hat endlich wieder ein Kind, ein Baby, das sie liebt, das sich nicht stört an Gerüchen und Gerede.

Sieh mal, wie es sich bewegt.

Lars kommt vom Flohmarkt, hat einen altmodischen Strampelanzug gekauft, nimmt das Baby hoch, zieht es aus, zieht ihm den ungewaschenen Strampelanzug an, trägt es summend durch den Flur in die Küche.

Lass uns ein Kind machen, wird Katja sagen, lass uns alle gemeinsam im Bett liegen und an nichts mehr denken außer an den neuen kleinen Erdenbürger.

Lars ist weg, bevor es soweit kommt. Katja liegt da, eingehüllt in Elkes Geruch, an dem es nichts auszusetzen gibt. Sanft ist er und mild, eine Spur Quittengesichtscreme, weitgehend naturbelassen. Katja kann sich nicht mehr rühren, kann nur warten, dass es vorbei geht. Dass dem Sonntag ein Montag folgt. Heute Abend wird Elke anrufen, Schön war’s bei euch, und Katja wird sich aufrappeln, sich schämen, ihrer Stimme einen fröhlichen Klang abtrotzen, hoffen, beten, dass Elke nichts gemerkt hat von der Anstrengung, der Überwindung, dem ewigen Luftanhalten, um Elkes Geruch nicht einatmen zu müssen.

 

Lars kommt vom Flohmarkt mit zwei antiken Weingläsern und einem Comicheft, nach dem er schon lange gesucht hat.

»Ich will kein Kind, solang nicht klar ist, was mit uns selber wird.«

»Was soll schon werden?«

»Eben. Das meine ich.«

Katjas Gesicht ist bleich, sie sitzt mit untergeschlagenen Beinen und Knoten in den Haaren am Küchentisch, sieht Lars zu, der Karotten schnippelt, kaut an ihren Nagelhäutchen, riecht an ihren Fingern, reibt sie gegeneinander, schnippst kleine schwarze Kügelchen auf den Fußboden, schluckt Fetzen von Nagelhaut.

»Willst du deshalb nicht mehr mit mir schlafen?«

Lars geht zum Herd, wirft die Karotten in die Pfanne.

»Allein der Gedanke, dass ich schwanger werden könnte, macht dich impotent.«

Die Karotten riechen süß, Lars löscht mit Schlagsahne ab.

»Wir könnten das so regeln: Du machst mir ein Kind, und ich verspreche, dass ich mich alleine drum kümmer’, du kommst nur ab und zu vorbei wie eine liebe Nachbarin und bringst mir einen Topf mit Suppe oder ein Szegediner Gulasch.« Lars antwortet nicht. Katjas Kopf tut weh, die Kopfhaut juckt. Lars lässt Spülwasser ein, wäscht die Rotweingläser ab, reibt sie sorgfältig trocken.

»Hast du Lust auf ein Glas Wein?«

Katja fährt sich mit den Fingern durch die Haare, zieht sie sich nach vorn übers Gesicht. Sie sieht nichts mehr, hört nur das Ploppen des Korkens, das Gluckern beim Einschenken, gluck-gluck-gluck, eine perfekte Tonleiter.

 

Später sitzt Lars vor dem ›Tatort‹, liegt mehr, als er sitzt, den Oberkörper waagerecht, den Kopf abgeknickt Richtung Fernseher. Die Balkontür steht offen, die Hortensien zeichnen sich vorm rosafarbenen Himmel ab. Lars hat sie gegossen, das Wasser tropft auf den Zement, bildet große, dunkelgraue Flecken. Katja stellt sich hinein, sieht hinunter zum Alex, sieht auf das regelmäßige Blinken des Fernsehturms.

Ich kann nichts tun, sagt das Blinken, kann nur hoffen, dass die Flugzeuge mein Signal empfangen und ausweichen, anstatt mir in die Spitze zu rauschen.

Aber selbst wenn, wen würde es stören? Die ›Tatort‹Übertragung. Die wäre dann für den Rest des Abends unterbrochen.

Trostspaghetti

Nach ihrer Arbeit gefragt, holt Katja erstmal tief Luft, hält sie kurz an, lässt dann mit einem Seufzer die Luft wieder nach außen strömen und lacht.

Nicht so einfach, sagt sie.

Ich habe Theaterwissenschaft studiert, hat sie bis vor ungefähr drei Jahren in der Regel geantwortet, aber das ist zu lange her und gilt deshalb nicht mehr.

Ich arbeite an meiner Promotion, könnte sie sagen, aber das ist gelogen, denn sie hat seit einem halben Jahr das Manuskript nicht mehr angerührt, und der Gedanke, dass demnächst ihr Stipendium ausläuft und sie kellnern gehen muss, um überhaupt daran weiterarbeiten zu können, macht Katja so müde, dass sie die Promotion lieber nicht erwähnt.

Sag, du bist Dramaturgin, schlägt Lars vor, darunter kann sich keiner was vorstellen.

Katja versucht, Situationen zu vermeiden, in denen Leute sie nach ihrer Arbeit fragen könnten. Aber dann ruft Elke an und erzählt, sie habe auf der Straße Katjas ehemalige Deutschlehrerin getroffen.

Sag noch mal, was ich sagen soll, was genau du tust.

Warum ist das denn so wichtig?, fragt Katja.

Weil die Leute wissen wollen, wie’s dir geht, was du machst, was aus dir geworden ist.

Sag, ich mach Theater. Sag, ich mach Kunst. ›Was mit Kunst‹. ›Frei‹. Sag ihnen, ich bin frei.

 

Der Professor ist älter, als Katja ihn in Erinnerung hatte. Kleiner, schmalschultrig, und dass er ein Hörgerät trägt, war Katja während des Studiums nie aufgefallen. Er spricht italienisch mit dem Kellner und empfiehlt danach die Kalbsschnitzel.

Katja isst. In der Soße ist Weißwein, an den Kalbsschnitzeln stecken Salbeiblättchen, sorgfältig mit Zahnstochern fixiert.

»Deine Gliederung ist gut«, sagt der Professor und legt die ersten zwanzig Seiten von Katjas Doktorarbeit auf das krümelige, fettbespritzte Tischtuch. Er räuspert sich, setzt seine Lesebrille auf und sieht Katja über den Rand der Brille hinweg in die Augen, etwas, von dem sie nicht wusste, wie sehr sie es die letzten paar Jahre vermisst hat.

»Ich mag, wie du deine Brille aufsetzt, obwohl du gar nicht vorhast zu lesen.«

»Ich hab vor zu lesen«, sagt der Professor widerwillig. »Ich hab dir ein paar Anmerkungen an den Rand geschrieben und will wissen, ob du sie verstehst.«

»Sag einfach, ob du glaubst, dass ich mit dem Zeug noch irgendwas anfangen kann.«

Der Professor zieht die Augenbrauen hoch und schweigt.

Der Kellner kommt, bringt noch mehr Rotwein und zwei Teller mit Tiramisu. Der Kakao liegt zentimeterdick auf der Creme, klebt an Katjas Gaumen, klebt am Rand ihres Rotweinglases, sie leckt ihn weg. Der Professor nimmt die Brille ab, legt sie ordentlich auf das dünne Manuskript, rückt vom Tisch ab und zieht seine Hosenbeine zurecht.

»Wenn du willst, leih ich dir ein Buch, das mir in deinem Alter geholfen hat.«

»Woher willst du wissen, wie alt ich bin?«

»Jung«, sagt er, »du bist jung. Du hast verdammt nochmal überhaupt keinen Grund, jetzt schon so nervös zu sein.«

 

Katja ist ihrer Zeit schon immer voraus gewesen. Sie konnte lesen, bevor sie in die Schule kam, und wenn Elke und Norbert nicht dagegen gewesen wären, hätte Katja spätestens in der Mittelstufe eine Klasse übersprungen. Sie war besessen davon, die Beste zu sein, aber unauffällig, mit einem Anschein von Ruhe und Gleichgültigkeit. Katjas Lehrer hatten Angst vor ihr, einer hat sogar gesagt, sie habe übersinnliche Kräfte, und er sei nicht bereit, sich seinen Unterricht unentwegt von ihr stören zu lassen. Katja hat dennoch nicht lockergelassen, sie war stark. Wusste so gut Bescheid, dass sie gar nicht gemerkt hatte, was sie alles nicht wusste, was zwangsläufig außen vor blieb, während sie den Blick starr auf die nächste Aufgabe gerichtet hielt, den nächsten Beweis ihrer Unaufhaltsamkeit.

Jetzt ist sie nur noch eine von vielen, und keiner sagt ihr mehr, was zu tun ist. Das Publikum ist fort, und all das, was sie während ihrer Zeit als Erste und Schnellste und Tüchtigste verpasst hat, erscheint ihr übermächtig und geheimnisvoll.

Was das ist?

Nun –

 

Der Professor bezahlt die Rechnung. Er hält Katja die Tür auf, und Katja geht hindurch, wartet, bis er nachkommt, lässt ihr Fahrrad stehen, setzt sich zu ihm ins Auto, gibt acht, welche Richtung er einschlägt auf dem Weg zu seiner Wohnung.

»Ich bin nicht sicher, ob es klappt«, sagt er, aber Katja ist zuversichtlich. Sie kennt den Geruch im Treppenhaus, feuchte Scheuerlappen und Bohnerwachs, den Geruch im Wohnzimmer, Bücher, kalter Rauch; sie erkennt sogar das Schlafzimmer wieder, die bügelfreie Bettwäsche des alleinstehenden Herrn, den Kopfkissenkeil, der die Wirbelsäule entlastet; Katja dreht sich einmal um die eigene Achse, um den Professor zu betrachten, der mit hängenden Armen dasteht und wartet – an den Schläfen riecht er genau wie Norbert, und sein Körper ist einfach nur ein Körper, der reagiert, wenn man ihn anfasst, da macht sich Katja nun wirklich keine Sorgen.

»Wenn du willst, lassen wir es drauf ankommen«, sagt sie, und er will.

Das Einzige, was er noch nicht probiert hat im Leben, ist ein Kind, und also erscheint es ihm mit einem Mal verheißungsvoll, und Kondome hat er ohnehin nicht im Haus.

 

Katja zieht sich an. Schon jetzt rechnet sie im Kopf, ob es nicht vielleicht zu spät war, ob eine der winzigen Spermazellen überhaupt die Chance hat, auf ein Ei zu treffen, wenn sie es denn schaffen bis zum Muttermund hinauf.

Der Professor schnarcht leise.

Katja zieht die Tür hinter sich zu. Die Stadt liegt im Zwielicht, leichter Morgennebel; der Kiosk am S-Bahnhof hat noch nicht geöffnet. Mit einem Seufzer springt die Rolltreppe an, als Katja durch die Lichtschranke tritt; die Treppe rollt noch eine Weile weiter, ihr Geräusch ist das Einzige, was auf dem leeren Bahnsteig zu hören ist, eine zuverlässige Maschine, diensteifrig, geölt.

 

Mitten ins Abendessen hinein klingelt das Telefon, der Professor ist dran, möchte Katja sprechen. Lars reicht das Telefon weiter, Katja geht damit hinaus in den Flur.

»Ich erinnere mich an alles«, sagt der Professor. »Nicht, dass du glaubst, es war nur der Suff.«

»Ist okay«, sagt Katja.

»Wann kann ich dich wiedersehen?«

»Von mir aus – jederzeit.«

»Und der Mann am Telefon?«

»Das ist Lars. Wir sitzen gerade beim Essen.«

Katja kehrt zu ihrem Teller zurück, gießt noch mehr Soße über die kaltgewordenen Spaghetti, nimmt den Mund so voll, dass sie gleichzeitig kauen und schlucken kann, die Nachfuhr nicht so schnell abbricht. Lars’ Spezialsoße, Lars’ Trostessen in allen Lebenslagen, Lars’ ungeheure Fähigkeit, aufzutischen, was Katja schmeckt. Lars seinerseits will nicht wissen, wer der Mann am Telefon war.

Er räumt den Tisch ab, nachdem Katja die Schüsseln und Töpfe bis auf den Grund ausgekratzt und alles aufgegessen hat.

 

Später liegt Lars im Bett und schläft, sein Gesicht im Kissen sieht freundlich aus, vielleicht lächelt er im Traum, wovon träumt er wohl?

Von nichts, antwortet er, wenn Katja ihn danach fragt, und sie sagt Doch, du kannst dich nur nicht erinnern.

Katja schläft nicht, Katja denkt sich Namen für das Baby aus. Grete, Hedwig, Horst. Ein Ziehen in den Brüsten soll verraten, ob es geklappt hat, aber Katja spürt das Ziehen im ganzen Körper, in den Brüsten, in den Beinen und natürlich im Hals. In ihrem Hals zieht es so sehr, dass Katja noch mal aufsteht und zum Kühlschrank geht, eine Viererpackung Dany plus Sahne auslöffelt und die leeren Plastikschälchen unbarmherzig ineinander rammt.

 

Am Dienstag trifft Katja den Professor wieder, und diesmal will er sie schon zur Begrüßung küssen. Hinter der Theke steht der italienische Kellner und lächelt ein undurchsichtigitalienisches Gigolo-Lächeln, der Professor sagt »Setz dich« und, nachdem er seinen Mund fest auf Katjas Lippen gedrückt hat, »setz dich, meine Liebe, dann sehen wir, wie’s weitergeht«.

Wenn es letztes Mal vielleicht schon zu spät war, ist es dieses Mal auf jeden Fall zu spät. Der Schleim, der aus der Scheide kommt, soll Fäden ziehen, und tat er’s?

Durchsichtig soll er sein, nicht zu fest; ob der Professor überhaupt ordentlich aufgeklärt wurde? Was weiß ein sechzigjähriger Professor der Theaterwissenschaften über den Zyklus der Frau? Er wird sich längst um seine Zeugungsfähigkeit gesoffen haben.

Doch da ist dieses Ziehen in den Brüsten, das Zeichen, dass bald alles anders sein wird. Katja liebt den Professor für sein Nichtwissen.

Sie wird ihm das Baby in die Arme legen, er wird sich ein bisschen ungeschickt anstellen, froh sein, es zurückgeben zu dürfen, wenn es schreit.

Ich gebe dich in Lars’ warme Hände. Lars summt für dich und kocht, du darfst in der Wippe auf dem Tisch liegen und zusehen, wie er Karotten schneidet, du magst es, wenn er beschäftigt ist. Du siehst gerne zu, wenn andere Dinge tun, die du noch nicht begreifst, wenn sie mit Sachen hantieren, für die du noch keine Wörter hast. Du genießt es, wenn Lars schläft, regungslos neben dir, ohne die Gefahr, sich auf dich drauf zu rollen und dich zu erdrücken. Dir reicht seine schützende Anwesenheit, sein Geruch. Lars ist ein Guter, ein ganz ein lieber Vater. Einer, der einfach nur da ist, der alle Bruce-Springsteen-Texte von ’82-’94 auswendig kennt, der dir was vorsingt, bis du schläfst, der selber schläft, regungslos, traumlos, zufrieden. Wir drei, nein, wir vier sind eine wirklich moderne Familie, keiner von uns hat Vorurteile, keiner beharrt auf seinen eingebildeten Ansprüchen, nur du, kleine Hedwig, du kriegst natürlich zu trinken, wann immer du willst.

 

Der Professor redet von Urlaub, einem Haus in der Uckermark, das er Katja mal zeigen muss, einer Reise mit dem Boot, einer Wiese in den Alpen.

Katja hört nicht zu, ist mit dem Ziehen beschäftigt. Das Ziehen und die lang vermisste Aufmerksamkeit eines Lehrers, seine schöne dunkle Stimme, der verschwörerische Blick des Kellners, als er die Kalbsschnitzel aufträgt, Lars’ Trostspaghetti von letzter Woche, Bruce Springsteens ›Hey, little Girl‹ – all das vermischt sich zu einem Gefühl der Gewissheit, mit dem Katja erneut in das Auto des Professors steigt. Sie ist auf dem richtigen Weg; Lehrer haben sich schon immer für sie interessiert, und Katja hat von jeher großes Interesse daran gehabt, Lehrer für sich zu interessieren.

Was der Professor will, ist nicht recht klar. Urlaub?