Freddie und die Bändigung des Bösen - Anke Stelling - E-Book

Freddie und die Bändigung des Bösen E-Book

Anke Stelling

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Beschreibung

Freunde halten immer zusammen. Oder etwa nicht?

Freddie und Mattis sind Freunde seit der Kita. Jetzt werden sie beide zwölf, und immer noch bringt Mattis die meisten Erwachsenen auf die Palme mit seiner großen Klappe und jeder Menge dummen Ideen. Im Gegensatz zu Mattis will Freddie eigentlich nicht im Mittelpunkt stehen. Vielmehr macht er bei allem, was Mattis so anzettelt, einfach mit – und sei es nur, um das Schlimmste zu verhindern. Am Ende hat Mattis es jedenfalls Freddie zu verdanken, dass er doch nicht von der Schule fliegt. Denn Freunde halten zusammen, immer. Findet Freddie. Oder?

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Seitenzahl: 226

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ANKE STELLING

Roman für Kinder

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© 2020 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Franziska Walther

Umschlagillustration: Franziska Walther

TP · Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-25567-1V001

www.cbj-verlag.de

Inhalt

Hausschuhe und Pfandflaschen

Softeis und Fladenbrot

Urknall und Weltklasse

Schokoschuh und Inselstaat

Bauchschmerzen und Zigarettenschachtel

Kopfstand und Gästematratze

Flashmob und Gleichstand

Kopfkino und Gummibärchen

Kampfbericht und Elternschweigen

Bierballspielen und Teetrinken

Ehrenmänner und Muttersöhnchen

Ausnahmezustand und Glückwünsche

Backflip vom Einer und Tuc-Kekse durch vier

Ausfliegen und Auffliegen

Drauf scheißen und verschissen haben

Pappwaffel und Blutwurst

Nachtreten und aufrappeln

Sterntaler und Kennziffern

Buletten und Kampfanzug

Dasselbe und zwei Cola

Hausschuhe und Pfandflaschen

Das hier ist die Geschichte von Freddie. Ich überlege, wie ich ihn beschreiben soll; ist nicht ganz einfach, einen Menschen so zu beschreiben, dass andere ihn sich vorstellen können.

Er ist elf, wird bald zwölf, und das könnte was über ihn aussagen – wenn man glaubt, dass das Alter eine Rolle spielt. Tut es wohl. Es macht vermutlich schon einen Unterschied, ob einer elf ist oder siebzehn: Mit elf darf man weniger. Weiß vielleicht auch weniger, gleichzeitig weiß keiner, was ein anderer so weiß. Hängt ja auch davon ab, was er schon erlebt hat. Und ob er schlau ist. Oder dumm.

Freddie ist schlau, allerdings nicht besonders gut in der Schule. Weil er oft keine Lust hat, die Sachen zu machen, die in der Schule gefragt sind, und zu Hause hat er auch keine Lust, Malreihen zu üben oder Vokabeln zu lernen. Er spielt lieber Brawl Stars und Minecraft und guckt Videoclips auf Youtube. Darüber weiß er viel, aber das interessiert wiederum die Lehrer und Lehrerinnen in der Schule nicht.

Freddie ist jeden Tag acht Stunden in der Schule, außer freitags, da geht die Schule nur bis halb zwei. Die Gebrüder-Grimm-Schule, die Freddie besucht, ist eine Ganztagsschule, was Nina, Freddies Mutter, super findet – weil sie selbst den ganzen Tag arbeiten muss und Freddie dann nicht so viel allein zu Hause ist und Brawl Stars spielt. Sondern was Ordentliches lernt.

Ordentlich ist Freddie. Er bringt seine Wäsche in den Wäschekorb und stellt das Geschirr in die Spülmaschine und sortiert seine Stifte nach Farben. Mattis, Freddies bester Freund, findet das komisch. Gleichzeitig leiht er sich gerne Freddies Stifte, weil seine eigenen dauernd weg sind oder ausgetrocknet oder stumpf. Er isst auch gerne Freddies Pausenbrot, wenn er seine eigene Brotbox im Chaos zu Hause vergessen hat.

Wie einer ist, lässt sich besonders gut im Vergleich zu anderen erzählen.

Im Vergleich zu Mattis ist Freddie ordentlich und angepasst. Weil Mattis eben dauernd sein Zeug vergisst, seine Stifte nicht anspitzt und im Unterricht gerne dazwischenruft. Dieses Schuljahr hat er schon zwei Verwarnungen von der Schulleitung kassiert.

Im Vergleich zu den meisten Mädchen aus Freddies Klasse ist Freddie dann aber wiederum nicht besonders ordentlich – weil die auch noch Schönschrift üben und ihre Hausschuhe tragen.

Hausschuhe tragen geht als Junge nicht. Nicht, wenn man auch nur irgendwas auf sich hält. Obwohl – Mattis könnte vermutlich Hausschuhe tragen. Wenn einer als Chaosbruder gilt und der zweitbeste Fußballspieler der Jahrgangsstufe ist und sich ständig mit den Lehrer- und Erzieherinnen anlegt, kann er auch Hausschuhe tragen, ohne peinlich zu wirken. Aber Stifte sortieren und Hausschuhe tragen – ihr seht schon, es ist kompliziert.

Außerdem wisst ihr vermutlich ohnehin, wie es ist. Weil ihr auch in die Schule geht. (Oder gegangen seid.)

In Deutschland gibt es Schulpflicht seit 1919, und sie ist im Grunde eine gute Idee, weil sie Leute davor schützt, für ihre Familie Geld verdienen zu müssen, bevor sie was gelernt haben. Gleichzeitig ist die Schulpflicht ziemlich grausam für Leute, die nicht so gern den ganzen Tag mit fünfundzwanzig anderen auf engstem Raum zusammen sind – und sich da ständig messen und vergleichen lassen.

Das meiste, vielleicht sogar alles, hat zwei Seiten: eine gute und eine schlechte. Und irgendwie muss man damit klarkommen.

Freddie kommt insgesamt ganz gut klar, denke ich. Das will ich auch denken – weil ich ihn mag. Er ist nett, der Freddie. Keiner, mit dem alle sofort befreundet sein wollen, aber das ist auch so was Seltsames: Manche stechen irgendwie raus. Aus den sechsundzwanzig Leuten in einer Klasse. Oder gar den sechshundert an einer Schule! Freddie nicht, den kann man erst mal übersehen. Oder denken: »Ach so, ja. Der Freddie. Bester Freund von Mattis, schon immer, seit der Kita schon. Warum eigentlich?«

»Hey, Mattis, was magst du an Freddie?«

»Was?«

»Warum Freddie dein Freund ist!«

»Hä? Was willst du?« (Mattis ist nicht besonders auskunftsfreudig.)

»Ich will wissen, was du an Freddie magst!«

»Was weiß ich, keine Ahnung.«

Ich frag nicht weiter.

»Wer bist du überhaupt?«, fragt Mattis misstrauisch.

Wir stehen beim Netto in der Schlange.

Netto ist der Supermarkt ganz in der Nähe der Gebrüder-Grimm-Schule. Da trifft man sie, die Grimm-Schüler, wenn sie sich vor oder nach der Schule Kekse und Chips und Softdrinks kaufen. Während der Schulzeit trifft man auch manchmal welche, aber nur die großen, die das Schulgelände verlassen dürfen – oder welche, die’s nicht dürfen und trotzdem machen, so wie Mattis. Vielleicht ist er deshalb misstrauisch: weil er Angst hat, dass ich ihn verpetzen könnte.

»Ich? Ich bin nur die Erzählerin.«

Mattis zieht die Augenbrauen zusammen. Sagt nichts mehr, aber er ist jetzt auch dran mit Bezahlen: Zwei Anderthalb-Liter-Flaschen Eistee hat er vor sich aufs Band gelegt.

Ich finde das ja eklig, vor allem, weil die Getränke bei Netto nicht gekühlt sind. Ungekühlter Eistee ist wahnsinnig süß, und draußen hat es jetzt, um halb elf am Vormittag, schon mehr als fünfundzwanzig Grad. Aber bitte. Man kann ja so tun, als wären’s drei Liter flüssige Gummibärchen.

Mattis bezahlt, klemmt sich unter jeden Arm eine Flasche und haut schnell ab; gleich ist die Hofpause vorbei, aber Mattis schafft es gerade noch, mit seinen zwei Eistee-Flaschen an Frieder, dem Erzieher, vorbei ins Schulgebäude zu flitschen, die Treppe hoch zum Klassenzimmer der Stadtmusikanten.

In der Gebrüder-Grimm-Schule haben die Klassen Märchennamen statt Nummern, und es sind auch keine Klassen, sondern Lerngruppen, weil immer drei Jahrgangsstufen zusammen lernen. Bei den Stadtmusikanten die Jahrgänge vier bis sechs.

Freddie und Mattis gehören also zu den Ältesten in ihrer Gruppe, und Birgit, die Lehrerin, sagt, dass sie deshalb Vorbildfunktion hätten und sich dessen bitte bewusst sein sollen. Wie sie sich benehmen, würde zum Maßstab für die Jüngeren, sagt Birgit, und deshalb wolle sie, dass sie sich besonders gut verhalten. Ihre Hausschuhe tragen. Nicht während der Schulzeit zu Netto gehen. Nicht zwei Flaschen Eistee im Spind bunkern, oder wenn, dann auch den Mitschülern und Mitschülerinnen was davon abgeben. Und die Flaschen, wenn sie leer sind, zurück zu Netto zum Pfandautomaten bringen, statt sich damit auf dem Gang zwischen den Spinden zu verdreschen –

Freddie sagt nichts, wenn Birgit solche Reden hält. Er mag Birgit, aber gleichzeitig ist sie seine Lehrerin. Und wenn sie Lehrerin ist, hört er ihr nicht richtig zu, nein, anders, dann hört er sie nicht, dann wird er nämlich zum Schüler, und Schüler hören eben nie richtig zu.

»Wem gehören die leeren Flaschen da draußen?« Birgits Stimme klingt streng.

Sie will mit dem Unterricht beginnen, aber vorher will sie noch ein bisschen Ordnung schaffen – es kann nicht sein, dass das Schulhaus wie eine Müllhalde aussieht.

Keiner meldet sich.

»Wer hat Putzdienst diese Woche?«

Das ist eine rhetorische Frage: Die Leute, die Dienst haben, sind neben der Tafel angepinnt. (Also, nicht die Leute, aber ihre Namen.)

»Eric?«, sagt Birgit.

Eric erhebt sich widerwillig. Murmelt was in seinen nicht vorhandenen Bart. (Er ist elf.) (Also, Eric, nicht der Bart.) (Der ja auch gar nicht vorhanden ist.)

»Wie bitte?«, fragt Birgit.

»Nichts«, sagt Eric.

Jeder in der Lerngruppe weiß, wem die leeren Flaschen gehören, alle wissen’s außer Birgit, aber niemand wird es laut sagen: Es ist den Ärger nicht wert. Keiner will sich mit Mattis anlegen, dafür gibt es ja den Dienst. Pech für Eric, nächste Woche ist wer anderes dran. Nicht mal die Sechstklässlerinnenmädchen, Liv, Erna, Jolanda, haben Lust, ein Grundsatzgespräch anzufangen.

Eric kommt mit den zerbeulten Flaschen zurück. Zögert kurz, wirft sie dann aber nicht in den Mülleimer, sondern stellt sie unter seinen Stuhl.

Jetzt geht doch ein kurzes Raunen durch den Raum, merken die Leute auf, ist hinten in der Ecke ein Tuscheln zu hören – interessant, hu ja, es wird doch noch was Interessantes werden aus dieser Situation. Eric hat Anspruch auf die Flaschen erhoben: Wo doch jeder weiß, dass sie Mattis gehören. Mattis wird nicht zulassen, dass seine Flaschen von Eric zu Geld gemacht werden. Wenn Eric sie in den Müll geschmissen hätte, okay, aber jetzt sind sie plötzlich wieder was wert, könnte Eric als der Schlauere dastehen, als der Gewinner, und das wird Mattis nicht zulassen.

Freddie seufzt. Freddie mag solche Situationen nicht. Freddie hat im Grunde ganz gern seine Ruhe, aber vergiss es, nicht an Mattis’ Seite, nicht in der Schule, nicht auf dieser Welt.

Diese Welt ist Freddies Welt. Schule. Zu Hause. Der Fußballverein, zweimal die Woche. Am Wochenende Spiel. Am Wochenende Bundesliga. Bundesliga, Champion’s League, Brawl Stars, Minecraft. Dude Perfect, Julien Bam. Die Sechstklässlerinnenmädchen, wie sie gucken, die Viertklässlerjungs, denen er ein Vorbild sein soll. Und eben Mattis, sein Freund. Auf den er aufpassen muss.

Mattis hat dieses Halbjahr schon zwei Verwarnungen, und kriegt er noch eine, hat das Konsequenzen. Schulkonferenz. Schulverweis?

Freddie kann nicht zulassen, dass Mattis von der Schule fliegt. Eigentlich kann er sich das auch nicht vorstellen: Was passiert denn dann? Muss Mattis dann auf eine andere Schule?

Es gibt die Schulpflicht, also ja. Mattis müsste, tja, vielleicht auf die Heinrich-Heine-Schule. Und er, Freddie, müsste dann ab dem nächsten Schuljahr alleine hier sitzen. Das ist unvorstellbar.

Ich weiß ja nicht, wie’s euch geht: Mir sind Freunde wichtig. Vor allem an Orten, wo man ohnehin nicht allein ist, in der Schule, bei der Arbeit, im Verein. Da ist es gut, zu jemandem zu gehören.

Alleine allein zu sein kann schön sein, zu Hause, nachts oder am Sonntagvormittag im Bett, auch unterwegs, wenn man irgendwo hinmuss und mal in Ruhe seinen Gedanken nachhängen oder fremde Leute beobachten kann.

Aber nicht zu wissen, neben wen man sich setzen soll, mit wem zu Mittag essen, von wem in die Mannschaft gewählt werden – nein danke. Allein unter vielen zu sein ist kein Spaß.

Acht Wochen hat das Schuljahr noch, dann ist’s geschafft. Am Ende des Schuljahres werden die Verwarnungen gestrichen. Zurück auf null. Aber bis dahin?

Freddie spürt Mattis’ Anspannung. Die leeren Flaschen unter Erics Stuhl werden da nicht stehen bleiben, die werden zurück in Mattis’ Besitz gelangen, dafür wird Mattis sorgen, und, was noch wichtiger ist, dafür wird er auf eine Weise sorgen, dass es auch ausnahmslos alle in der Lerngruppe mitkriegen, sogar Laura, die immer allein unter vielen ist und ein Buch liest oder zum Fenster rausschaut. Und natürlich Birgit, die dann einschreiten muss und entscheiden. Was soll Freddie jetzt bloß tun? Nichts, er kann gar nichts tun. Seit zehn Jahren sind er und Mattis beste Freunde, seit dem ersten Kita-Jahr – woran Freddie sich natürlich nicht mehr erinnern kann, aber Nina, seine Mutter, schon –, und Freddie hat alles ausprobiert, um Mattis an etwas zu hindern.

»Ist doch egal«, hat er gesagt oder einen Witz erzählt oder Kekse rausgezogen oder nach Mattis’ Arm gegriffen oder sogar selbst losgeschrien und irgendwas wirklich Dummes gemacht (zur Ablenkung) – nie hat’s was genützt. Mattis ist es einfach nicht egal, und Witze versteht er in solchen Momenten auch nicht, essen will er nicht, ablenken lässt er sich schon gar nicht und die Aufmerksamkeit stehlen als Allerletztes. Mattis tut, was er tun muss, immer, und Freddie ist dagegen machtlos.

»Alter, gib mir meine Flaschen wieder, klar?«, sagt Mattis.

Eric reagiert nicht.

»Mattis?«, fragt Birgit.

Eine rhetorische Frage: Sie wird schon verstanden haben, was hier läuft, Birgit ist nicht dumm und schon seit vielen Jahren Lehrerin. Vermutlich will sie Zeit gewinnen, sich ganz schnell überlegen, wie sie das, was gleich passieren wird, abbiegen kann – runterspielen, einen Witz erzählen, Kekse rausziehen, nach Mattis’ Arm greifen, selbst losschreien oder irgendwas wirklich Dummes machen (zur Ablenkung) – aber Birgit geht’s wie Freddie. Nicht schon seit zehn Jahren, erst seit knapp zwei: seit sie Lerngruppenleiterin der Stadtmusikanten ist, heijeijei, was für ein Elend.

»Entschuldigung«, sagt Mattis, »aber das sind meine Flaschen.«

»Ach«, sagt Birgit, »grade eben war’n sie das noch nicht.«

»Oh doch, ich hab sie nur draußen gelassen, damit hier im Raum nicht so viel Müll rumliegt.«

In der Klasse ist es still. Viel stiller als sonst.

Birgit schließt die Augen und greift sich an den Kopf. Reibt sich die Schläfen.

»Also«, sagt sie dann, »Eric hat Dienst, Eric hat sie reingeholt, Eric kann damit machen, was er will – die Müllmänner von der BSR haben auch immer einen Sack dabei, in dem sie Pfandflaschen sammeln, habt ihr das auch schon gesehen? Wer von euch hat das schon mal gesehen?«

Niemand meldet sich, nicht mal die Kleinsten. Alle warten, was Mattis sagen wird.

»Die Flaschen lagen nicht im Müll«, sagt Mattis.

»Schluss jetzt«, sagt Birgit, »ich diskutier das jetzt nicht mehr.«

Mattis holt sein Handy raus und fotografiert Erics Rucksack.

»Was tust du da?«, fragt Birgit wütend.

»Nichts, gar nichts. Ich will nur diesen gebrauchten Rucksack bei Ebay einstellen. Da kann man Sachen verkaufen. Hat das jemand schon mal gesehen?«

»Gib mir dein Handy.« Birgit hat rote Flecken am Hals.

»Entschuldigung, ich pack’s schon weg.«

Freddie kann nicht anders, er muss lachen. Mattis guckt so unschuldig, Birgit ist fassungslos, und Mattis schlägt sein Matheheft auf, streicht die Seiten glatt und sieht Birgit an, als warte er, dass sie endlich mit dem Unterricht beginnt.

Ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber ich mag, wenn Schüler gegen Lehrer gewinnen. Weil die Lehrer die Chefs sind an der Schule (meint man zumindest) und also die Starken, und wenn ein Schwacher gegen einen Stärkeren gewinnt, ist das toll. Fühlt sich gut an: dass es so etwas überhaupt gibt.

Aber dann folgen sofort eine Menge Anschlussfragen, zum Beispiel: Ist das ein echter Sieg? Oder nur ein Scheinsieg? Schließlich ist Birgit Mattis’ Chef und kann sich leicht rächen, sitzt zum Beispiel in der Schulkonferenz. Und ist Mattis nicht auch irgendwie ein Starker? Was ist mit Eric? Ich fand nämlich eigentlich auch, dass Eric die Flaschen behalten darf, wenn er sie schon aufgehoben hat, und ich fand gut, dass Birgit das gesagt hat, also auf Erics Seite war, und ich krieg ein bisschen Angst, wenn ich mir vorstelle, dass irgendwann Mattis der Chef bei den Stadtmusikanten ist, weil ich nicht weiß, ob er dafür so geeignet ist, und dann denke ich: Wieso muss es überhaupt einen Chef geben? Kann man sich nicht einfach so in Frieden lassen? Aber offensichtlich kann man das nicht, ich kenne jedenfalls keinen Ort, wo mehrere Leute zusammen sind und das klappt, und dann bilde ich mir ein, dass Birgit vielleicht doch den besseren Überblick hat oder zumindest eine pädagogische Ausbildung und deshalb das mit dem Frieden insgesamt besser hinkriegt als Mattis, weshalb lieber sie die Chefin sein und bleiben soll, und schon wünsch ich mir, dass sie den Kampf gewonnen hätte und nicht Mattis.

Ihr seht, es ist verzwickt.

Aber ihr wisst ja ohnehin, wie es ist, ihr geht selbst in die Schule oder seid mal gegangen, vielleicht seid ihr sogar selbst Lehrerinnen oder habt jüngere Geschwister und Ahnung davon, wie es ist, Verantwortung zu tragen und der Chef zu sein. Und Verlieren ist immer unangenehm und ungerecht und macht Lust darauf, sich irgendwie zu rächen, und genau davor fürchtet sich Freddie: dass das jetzt vielleicht ganz lustig war, aber bestimmt noch nicht das Ende. Sondern erst der Anfang. Dieses Buches. Und der letzten acht Wochen des Schuljahrs.

»Birgit?«

»Hm?«

»Alles klar bei dir?«

»Sicher.«

Puh. Dann bin ich ja froh. Und erzähle jetzt mal weiter.

Softeis und Fladenbrot

Ikea ist ursprünglich Freddies Idee gewesen, doch das weiß keiner mehr. Alles, was sich als gute Idee entpuppt und dann Mode oder Gewohnheit wird, scheint aus Mattis’ Kopf zu stammen: weil er derjenige ist, der vorangeht.

Ikea ist so was, zu Ikea fahren sie jetzt ständig. Billige Hotdogs essen, durch die künstlichen Wohn- und Kinderzimmer stromern, auf jedem einzelnen der Betten, die in der Möbelausstellung stehen, Probe liegen. Mit dem Transportwagen durch die Selbstbedienungshalle rasen: Einer sitzt drauf, der andere schiebt. (Der andere ist meistens Freddie.)

Freddie hat Meisterschaft darin entwickelt, den Wagen zu beschleunigen und dann kurz vor den Stehlampen so eben noch zum Halten zu bringen. Nur einmal, vor ein paar Wochen, ist er in einen Stapel Aufbewahrungskisten reingerast, aber das war dann nicht so schlimm, weil die Kisten aus Plastik waren und in der Aufbewahrungsabteilung fast nie jemand ist und aufpasst. Die Angestellten in den gelben T-Shirts sind da, wo’s die teuren Möbel gibt oder die Computer für die Küchenplanung, und Mattis hat sich auch nicht weiter wehgetan, Freddie hat die Kisten ganz schnell wieder aufgestapelt, und dann haben sie den Wagen unauffällig stehen gelassen und so getan, als gehörten sie zu der Frau mit dem Baby, die mit Handy am Ohr und einer Menge Kissen und Vorhängen und Geschenkpapier im Wagen zur Kasse ging.

Heute sitzen sie draußen, wo jetzt Gartenmöbel auf grünen Matten, die wie Gras aussehen sollen, aufgebaut sind. Sie haben ihr Geld schon ausgegeben, für Cola und Softeis, und es ist heiß, viel zu heiß für Anfang Mai, das sagen alle.

»Smart«, sagt Mattis und boxt Freddie auf den Arm – genau an die Stelle, wo’s besonders wehtut.

»Wo denn, bitte?« Freddie reibt sich den Arm.

Mattis wedelt Richtung Parkplatz und grinst. »Irgendwo steht bestimmt einer.«

»Haha.« Freddie boxt zurück. »Smart, Smart, Porsche, Bentley.« (Smart gibt einen, Porsche zwei, Bentley drei Boxer auf den Arm.)

»Nee«, sagt Mattis und nimmt Freddie in den Schwitzkasten, »Bentleyfahrer geh’n nicht zu Ikea.«

»Wieso nicht?«, japst Freddie.

»Ist zu billig.« Mattis lässt los und sieht sich um. »Wieso haben die hier keinen Pool? Was soll man denn mit einem Garten ohne Pool?«

Das Freibad Humboldthain ist noch geschlossen. Alle Berliner Freibäder öffnen erst Anfang Juni, warum, weiß kein Mensch, und Mattis hat am Wochenende vorgeschlagen, einfach über den Zaun zu klettern, Wasser ist nämlich schon drin in den Becken, doch es gibt Wachleute, muskelbepackte Typen in schwarzen T-Shirts, die viel gefährlicher sind als die dünnen Typen in den gelben T-Shirts hier. Also sind sie stattdessen am Sonntag bei Mattis im Garten durch den Rasensprenger gerannt, zusammen mit einem Haufen Kleinkindern; immerhin gab es Wassermelone und Saftschorle und Streit mit der Nachbarin, die Mittagsschlaf halten wollte, und Freddie fand das alles eigentlich ganz schön, aber Mattis nicht. Mattis findet den Garten langweilig und seine Schwester und die anderen Kleinen die Pest. Nur den Streit mit der Nachbarin fand er einigermaßen erträglich, den hat er dann noch ein bisschen ausgeweitet mit Klingelstreichen und einem Scherzanruf, bei dem er behauptet hat, er sei der Pizzabote mit zweimal Margherita.

»Ich hab noch Hunger«, sagt Freddie.

Mattis nickt. »Wir brauchen mehr Eis.«

Er geht zur Drehtür und Freddie geht langsam hinterher. Sie haben kein Geld mehr, aber das ist dann vermutlich jetzt der Spaß an der Sache.

Drinnen ist es deutlich kühler. Und nicht viel los; es ist Dienstag Nachmittag und zu heiß zum Möbelkaufen. Am Softeis-Automat steht eine Familie, die nicht weiß, wie er funktioniert – unsicher steckt die Mutter ihre Waffel in die dafür vorgesehene Halterung und wirft dann den Chip ein. Nichts passiert.

»Sie müssen auf den Knopf drücken«, sagt Mattis zuvorkommend.

»Ach so?« Die Mutter wirft ihm einen Blick zu und lächelt. Sie drückt.

Der Automat brummt und spuckt sein Eis aus.

»Jetzt ich!«, ruft das Kind.

»Ein Wunderwerk der Technik«, sagt der Vater, als er dran ist.

»Ob Sie vielleicht noch zwei Euro für zwei arme, hungrige Jungen übrig haben?« Mattis legt den Kopf schief und zeigt sein charmantestes Lächeln.

»Bei dir piept’s wohl«, sagt der Vater und legt seinem Kind die Hand in den Nacken. Die Mutter sieht erst zu ihrem Mann, dann zu Mattis.

»Tut mir leid«, sagt sie und schüttelt den Kopf.

Der Mann schiebt das Kind zur Tür, die Frau geht hinterher. Mattis sieht ihnen böse nach.

»Sie hätte, wetten? Wir brauchen eine Frau ohne Mann.«

Er sieht sich um.

»Ich weiß nicht.« Freddie zweifelt. »Wir sehen nicht besonders arm und hungrig aus.«

»Sind wir aber.« Mattis’ Gesicht wird noch grimmiger. Er sieht zur Kasse, etwa zehn Meter vom Softeis-Automat entfernt. »Es muss irgendeinen Trick geben, das kann doch nicht sein.« Er stößt probehalber mit der Schuhspitze gegen den Automaten.

Man könnte statt der Eiswaffel einen der leeren Pappbecher unter die Öffnung halten, denkt Freddie, aber einen Chip braucht man trotzdem, und die sind ganz bestimmt genormt. So wie die Chips für Einkaufswagen, wo’s auch auf Millimeter ankommt. Außerdem ist nicht genug los, als dass der Mann an der Kasse nicht in kürzester Zeit auf sie aufmerksam würde, wenn sie versuchen, irgendwas anderes als den dafür vorgesehenen Chip in den Schlitz zu stecken. Der Mann guckt ja jetzt schon. Vielleicht gibt er ihnen ein Eis aus, er wirkt eigentlich ganz nett. Ausländisch, bisschen dick. Solche Männer können unerwartet großzügig sein, so wie der Araber auf der Stargarder, der ihnen regelmäßig ein Falafelbällchen auf einem Zahnstocher schenkt, wenn nichts los ist in seinem Laden.

»Wir probieren’s an der Kasse«, sagt Freddie.

Mattis nickt.

»Entschuldigung«, sagt Freddie zu dem Mann, und dann weiß er nicht mehr weiter. Vielleicht ist der Mann doch nicht so nett, und Freddie kommt es außerdem plötzlich seltsam vor: einen Wildfremden zu bitten, ihnen ein Eis zu spendieren. Warum sollte er?

Mattis springt ein.

»Ob wir vielleicht ’n Chip umsonst kriegen? Merkt die Maschine doch gar nicht, so ein zwei Portionen hin oder her.«

Der Mann sieht sie an. Sein Gesicht ist müde und sein Blick völlig ausdruckslos.

»Hallo?«, sagt Mattis. »Hallo?«

Der Mann dreht den Kopf zur Seite: So als ob hinter ihnen jemand stünde, der als Nächstes dran ist. Da steht aber keiner.

»Hallo?«, sagt Mattis noch mal. »Haben Sie mich verstanden?«

Freddie will Mattis wegziehen. Man kann nicht gleichzeitig um etwas bitten und pampig werden, das ist so was, das Mattis nicht versteht, noch nie verstanden hat oder beachtet. Freddie schon, doch es hilft nichts.

»Hey!«, sagt Mattis und macht sich von Freddie los, »sprichst du Deutsch oder was?« Er fuchtelt mit der Hand vor dem Gesicht des Kassierers herum. »Ob wir ein Eis haben können! Eiscreme, capito?«

»Mattis –«, mahnt Freddie.

»Nee, ehrlich jetzt! Man kann doch mal antworten, oder? Wie kriegt der den Job hier, wenn er kein Deutsch versteht?«

Eine ältere Frau in gelbem T-Shirt kommt quer durch die Halle.

»Mattis –«, flüstert Freddie, aber es ist wie immer: Mattis hat sich festgebissen, er findet, dass er recht hat, und dieses Recht wird er verteidigen, gegen alle, auch gegen die Frau in Gelb.

»Was ist hier los?«

Freddie sieht zu dem Mann an der Kasse, der immer noch dasteht und sich nicht weiter bewegt.

»Gibt’s ein Problem?«, fragt die Frau.

»Ja, allerdings«, sagt Mattis. »Dieser Mann hier spricht kein Deutsch. Gut, dass Sie kommen. Sie können für uns übersetzen.«

»Was wollt ihr denn?« Die Frau mustert sie jetzt genauer.

»Eis«, sagt Mattis bestimmt.

Freddie sieht zu Boden. »Wir haben kein Geld«, murmelt er.

»Wie bitte?«

»Ist doch egal«, sagt Mattis laut, »wir haben freundlich gefragt und keine Antwort erhalten.«

»Ihr geht mal jetzt raus«, sagt die Frau, »das ist kein Spielplatz hier.« Sie wedelt mit der Hand Richtung Tür.

»Drecksladen«, sagt Mattis.

»Wie bitte?«

»Drecksladen!«, brüllt Mattis. »Widerlicher, schwedischer, billiger Dreck!«

Er tritt gegen den Kassentresen und wirft die Arme hoch, und dann geht er, mit seinem Gesicht, das keinen Zweifel zulässt, wie widerlich und billig und verachtenswert hier alles ist, Personal inbegriffen, und Freddie geht schnell hinterher, durch die Drehtür und über den Parkplatz und über die Straße bis zur Straßenbahnhaltestelle, hinter Mattis her, der vor Wut kocht und nicht nach rechts und links schaut, was ziemlich gefährlich ist auf dem Parkplatz und erst recht auf der Straße mit all dem Verkehr.

Freddie weiß, dass er nichts tun kann. Einfach nur warten, bis Mattis sich beruhigt.

An der Haltestelle steht zum Glück keiner.

Mattis lässt sich auf den Sitz fallen und schlägt den Hinterkopf gegen das Glas des Unterstands. Absichtlich. Und als ob dadurch etwas zerbricht und von ihm abfällt, bekommt er wieder sein normales Gesicht, und er lacht.

»So was Beklopptes! Wegen blöden zwei Euro!«

Freddie nickt. Bekloppt, allerdings. Von wem genau – darüber will er jetzt lieber nicht reden. Sondern lässt sich erleichtert neben Mattis auf den Sitz fallen.

Die Straßenbahn kommt und sie fahren nach Hause. Die Straßenbahn ist klimatisiert, das ist gut, und leer ist sie auch um diese Zeit in diese Richtung. Erst als sie an der Landsberger Allee aussteigen, trifft die Hitze sie erneut mit voller Wucht, und im S-Bahnhof hat eine Vietnamesin einen Obststand aufgebaut, voll mit Wassermelone und Kirschen und Erdbeeren, alles saftig und glänzend und bestimmt unglaublich lecker. Hätten sie doch nur Geld.

Ohne Geld ist es elend in der Stadt. An jeder Ecke braucht man welches, überall gibt’s die wundervollsten Angebote. Wie soll man das bitte schön aushalten? Zum Glück fährt die S-Bahn gleich ein.

Die wiederum so voll ist, dass sie keinen Sitzplatz bekommen und Freddie Mattis zwischendurch aus den Augen verliert. Was aber nicht so schlimm ist. Wenn es voll ist, ist was los, und wenn was los ist, muss Mattis nicht selbst etwas losmachen, nicht unbedingt jedenfalls. Sondern kann gucken, was die andern in der S-Bahn so treiben, ältere Jungs mit Undercut und Trainingshosen und Gegröle und Bartschatten, Jungs wie die, die er und Freddie in vier, fünf Jahren sein werden, aber das denke nur ich, Mattis und Freddie gucken einfach nur.

Freddie bringt Mattis nach Hause. So würde das keiner von ihnen nennen, weil das ja klingt, als sei Mattis klein und kenne den Weg nicht. Und natürlich kennt Mattis den Weg, könnte auch alleine gehen, tut es aber nicht. Mattis geht, wenn ich’s mir recht überlege, nie einen Weg allein. Freddie begleitet ihn, holt ihn auch morgens früh ab, um gemeinsam zur Schule zu gehen, obwohl Freddie gleich um die Ecke der Schule wohnt und Mattis vier Straßen weiter. Freddie macht das nichts aus. Er ist morgens immer früh dran, weil Nina will, dass er auf jeden Fall pünktlich zur Schule kommt. Wenn er morgens direkt zur Schule ginge, wäre er viel zu früh, und so sorgt er stattdessen dafür, dass Mattis ebenfalls pünktlich kommt. Was sie allerdings auch nicht so nennen würden.

Es ist einfach normal: Mattis geht nicht gern allein, und Freddie machen Umwege nichts aus.