Erzählen als Widerstand -  - E-Book

Erzählen als Widerstand E-Book

0,0

Beschreibung

Dreiundzwanzig Frauen berichten in diesem Buch von Missbrauch, den sie als Erwachsene im Raum der Kirche erfahren haben. Sie erzählen von spirituellem und sexuellem Missbrauch, immer auch von Machtmissbrauch. Es sind erschütternde Erzählungen, die offenlegen, in welchem Ausmaß auch erwachsene Frauen in der katholischen Kirche von Missbrauch betroffen sind. Einige brechen hier zum ersten Mal ihr jahrelanges Schweigen, andere haben sich bereits an Bistümer und Orden gewandt, um Aufklärung zu erreichen. Den Missbrauch beim Namen zu nennen ist Widerstand gegen die Taten und Widerstand gegen das Vertuschen. Ausgehend von diesen Erzählungen thematisieren theologische Essays die Hintergründe des Missbrauchs. Zudem enthält das Buch Hinweise zum Gespräch und weiterführende Adressen für Betroffene. Damit ist es ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung und Prävention von spirituellem und sexuellem Missbrauch in der Kirche – insbesondere mit Blick auf eine Betroffenengruppe, die bislang kaum zu Wort kam: erwachsene Frauen. Die Herausgeberinnen Dr. Barbara Haslbeck, Dr. Regina Heyder, Prof.in Dr. Ute Leimgruber und Dorothee Sandherr-Klemp sind Theologinnen, die beruflich, ehrenamtlich und wissenschaftlich zu spirituellem und sexuellem Missbrauch arbeiten. Sie sind in der Theologischen Kommission des Katholischen Deutschen Frauenbundes e.V. engagiert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Erzählen als Widerstand

Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche

Herausgegeben von Barbara Haslbeck, Regina Heyder, Ute Leimgruber, Dorothee Sandherr-Klemp

Münster 2020

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von

© 2020 Aschendorff Verlag GmbH & Co KG, Münster

www.aschendorff-buchverlag.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen

ISBN 978-3-402-24742-6 (Print)

ISBN 978-3-402-247743-3 (E-Book-PDF)

ISBN 978-3-402-20216-6 (Epub)

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Erzählen ist Widerstand. Zur Einführung

23 Frauen, 23 Erzählungen. Zahlen und Einsichten

Berichte von betroffenen Frauen

„Dafür sind wir nicht zuständig“

Ellen Adler

Ich habe NEIN gesagt

Anna Althaus

Das Familiengedächtnis

Katharina Aufroth

Immer noch auf dem Weg zu mir selbst

Cornelia Berra

Ich war nicht mehr ich

Momo Eiche

Wenn damals manchmal gestern ist

Sr. Pauletta Fabrizius

Wie sollte ich da wieder herauskommen? Chronik einer geistlichen Begleitung

Sr. Maria Gärtner

Wenn Mauern hochgezogen werden Missbrauch in der Aufarbeitung

Susanne Gerlass

Subtile Weisen, einer Frau den eigenen Raum zu nehmen

Iris Giovanetti

„Ich wollte, dass ihr das wisst, bevor ich sterbe“

Elisabeth Hägele

Das alles im Namen Gottes

Katharina Hoff

Statt Heilung neue Verletzungen

Thea Kleinert

Ich fühle mich bis heute nicht wohl als Frau

Saskia Lang

Ich bin so dankbar, dass Gott mich nicht losließ

Martha Laufbacher

Freiheit durch Vergebung

Miriam Leb

Die Anfass-Sucht

Josefine Mindel

Wie lange noch?

Petra Niemeyer

Wie viel geistliche Freiheit ist erlaubt? Exerzitien als Kontrollinstrument für die Einstellung von Pastoralreferent*innen

Hanna Obst

Deine Seele kämpft für das Leben

Monja Ohle

Eine Trennung vonforum externum und forum internum gab es nie

Franziska Roth

Beichterfahrungen meiner Mutter

Lisa Schäfer

Frauen schämen sich leise

Edith Schwarzländer

Zum Schweigen gebracht und kaltgestellt

Karin Weißenfels

Essays

Spiritueller und sexueller Missbrauch an erwachsenen Frauen. Was aus den Berichten von Betroffenen zu lernen ist

Regina Heyder und Ute Leimgruber

Warum haben die Frauen nicht nein gesagt? Psychotraumatologische und systemische Einsichten

Barbara Haslbeck

Sexuelle und geistliche Gewalt gegen Frauen. Vulnerabilität, Vulneranz und kreativer Widerstand

Hildegund Keul

Wenn Gottes Wort entweiht wird und sich zuletzt doch als heilsam erweist: Die Rolle der Heiligen Schrift in Missbrauchskontexten

Hildegard König

Un-sagbare Not. Ein Buchprojekt gegen Missbrauch und Missachtung

Dorothee Sandherr-Klemp

Hinweise zum Gespräch mit Betroffenen

Barbara Haslbeck

Dokumentation

Informationen für Betroffene

Kirchliche Veröffentlichungen zu Missbrauch an Erwachsenen, Prävention und Aufarbeitung

Autorinnen der Essays

Vorwort

Die Erzählungen berühren und erschüttern: Dreiundzwanzig Frauen berichten in diesem Buch von Missbrauch, den sie als Erwachsene im Raum der Kirche erlitten haben. Sie erzählen von spirituellem Missbrauch, sexuellem Missbrauch, Machtmissbrauch – und davon, wie diese Erfahrungen bis heute ihr Leben zutiefst prägen.

Von Missbrauchserfahrungen zu erzählen und das Geschehene beim Namen zu nennen, erfordert Mut. In jedem einzelnen Beitrag der dreiundzwanzig Autorinnen ist dieser Mut spürbar. Es ist ein Mut, der die Lektüre erst aushalten lässt. Gleichzeitig ist dieses Erzählen ein Akt der Solidarität, denn es macht die oft verschwiegenen Erfahrungen aussprechbar und ermutigt weitere Betroffene zum Sprechen.

Das vorliegende Buch ist einer Initiative des Katholischen Deutschen Frauenbundes e.V. (KDFB) zu verdanken. Als Verband haben wir uns verpflichtet, „mit Frauen und Männern, Mädchen und Jungen solidarisch zu sein, die von Missbrauch betroffen sind“ (Beschluss der Bundesdelegiertenversammlung des KDFB, 21. Oktober 2018). Uns hat die im Herbst 2018 veröffentlichte MHG-Studie zu „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ erschüttert und entsetzt. Gleichzeitig war und ist uns bewusst, dass die in der MHG-Studie mit aller Deutlichkeit benannten strukturellen Ursachen – Klerikalismus und ein autoritär-klerikales Amtsverständnis – einerseits den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen begünstigen und sich andererseits ebenso im bislang nicht wissenschaftlich untersuchten spirituellen und sexuellen Missbrauch an Erwachsenen, besonders an Frauen, manifestieren.

Ein halbes Jahr nach der MHG-Studie, am 5. März 2019, strahlte der deutsch-französische Sender Arte den Film „Gottes missbrauchte Dienerinnen“ aus. Nun war dokumentiert, was wir schon lange ahnten und wussten: Ordensfrauen sind weltweit von spirituellem und sexuellem Missbrauch durch Kleriker betroffen. Im deutschen Sprachraum hat vor allem Doris Reisinger seit 2014 auf diese Thematik aufmerksam gemacht. Als katholischer Frauenverband lässt uns diese Gewalt an Frauen nicht gleichgültig. Erst wenn sie in ihren verschiedenen Dimensionen bewusst ist, können wir ihr widerstehen. Deshalb braucht es dieses Buch: Durch die Perspektive und die Expertise der betroffenen Frauen formt sich beim Lesen der Texte unser Verständnis von spirituellem und sexuellem Missbrauch und von Machtmissbrauch. Wir erkennen die unterschiedlichen Strategien der Täterinnen und Täter und die vielfältigen Dimensionen der Manipulation. Wir erkennen zudem, dass der Kreis der betroffenen Frauen größer ist als bislang vorgestellt: Erstmals schreiben hier Frauen, die außerhalb von Orden und geistlichen Gemeinschaften geschädigt wurden.

Solidarität erschöpft sich nicht in Selbstverpflichtungen und Appellen an Verantwortliche in der Kirche; sie ist immer konkret. Das bedeutet für uns zunächst, dass Betroffene in der Kirche und in unserem Verband mit ihren Erfahrungen zu Wort kommen und gehört werden sollen. Sie sind nie „die anderen“, sondern engagiert im Pfarrgemeinderat, Sitznachbarinnen im Gottesdienst und Mitglieder im Verband.

Solidarität bedeutet gleichzeitig, gegen jene Strukturen vorzugehen, die Missbrauch begünstigen. Dieses Anliegen steht am Anfang des 2019 begonnenen Synodalen Wegs der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, zu dem das vorliegende Buch einen Beitrag darstellt. Insbesondere der in der MHG-Studie, aber auch von Papst Franziskus immer wieder inkriminierte Klerikalismus fordert heraus: Er existiert nicht nur als Anmaßung von Klerikern, sondern auch als Zuschreibung von Katholikinnen und Katholiken.

Die Initiative zu diesem Buchprojekt entstand in der Theologischen Kommission des KDFB. Mein Dank gilt allen Kommissionsmitgliedern, die mehr als eineinhalb Jahre dieses Projekt durchdacht, begleitet und realisiert haben. Nennen möchte ich an dieser Stelle insbesondere die Herausgeberinnen Dr. Barbara Haslbeck, Dr. Regina Heyder, Prof.in Dr. Ute Leimgruber und Dorothee Sandherr-Klemp. Sie standen in Kontakt mit den dreiundzwanzig Autorinnen der Berichte und haben die Veröffentlichung redaktionell betreut. Herzlich danke ich auch den Autorinnen der Essays – neben den Herausgeberinnen Frau Prof.in Dr. Hildegard König und Frau Prof.in Dr. Hildegund Keul –, die erste Interpretationen der Betroffenenberichte vornehmen und zur Weiterarbeit anregen.

Von der Bundesgeschäftsstelle des KDFB haben Frau Hannah Ratermann als geschäftsführende Referentin der Theologischen Kommission, Frau Christiane Fuchs-Pellmann als Bundesgeschäftsführerin und Frau Ute Hücker als Öffentlichkeitsreferentin dieses Projekt begleitet. Frau Magdalena Hürten, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik der Fakultät für Katholische Theologie an der Universität Regensburg, hat die Mühen des Korrekturlesens auf sich genommen. Für einen großzügigen Druckkostenzuschuss danken wir der Stiftung Katholischer Deutscher Frauenbund sowie AGENDA – Forum katholischer Theologinnen e.V. Herrn Dr. Bernward Kröger vom Aschendorff Verlag gilt unser herzlicher Dank für die schon bewährte und gute Zusammenarbeit!

Wir wünschen uns, dass dieses Buch Mut macht, jeder Form von Missbrauch zu widerstehen – im Gespräch über Missbrauchserfahrungen, in der konkreten Solidarität mit Betroffenen, in der Identifikation jener Strukturen, die Missbrauch begünstigen und selbstverständlich auch im Eintreten für Veränderungen in der Kirche.

Ganz besonders danke ich nochmals allen dreiundzwanzig Autorinnen, die den Mut aufgebracht haben, ihre Geschichten zu erzählen. Dieses Zeugnis verpflichtet uns als Verband, es verpflichtet uns als Kirche!

Köln, 22. Juli 2020, am Fest Maria von Magdala, der Apostelin der Apostel

Maria Flachsbarth

Erzählen ist Widerstand. Zur Einführung

Barbara Haslbeck, Regina Heyder, Ute Leimgruber

Die eigene Geschichte zu erzählen und selbst erlebte Ereignisse in Worte zu fassen, ist oft nicht leicht. Schon gar nicht, wenn es sich um Geschehnisse handelt, die mit Scham besetzt sind. Geschehnisse, die mit Geheimnissen, mit Schmerzen und mit Traumata einhergehen. Geschehnisse, die als Missbrauch zu qualifizieren sind. Die Worte, um es zu sagen (Les Mots pour le dire), lautet der Titel eines Buches von Marie Cardinal, in dem sie von ihrer Lebensgeschichte, von psychischer Krankheit und ihrer Heilung erzählt, und er mag programmatisch auch für dieses Buch sein: Die Worte, um „es“ zu sagen, sind schwer zu finden, und gleichzeitig sind sie die einzige Möglichkeit, um die eigene Erfahrung und das Verständnis davon anderen Menschen begreiflich zu machen. Erzählen hat eine Funktion, Erzählen bewirkt etwas. Wenn Menschen in ihrer Würde verletzt wurden, kann die eigene Erzählung sie wieder aufrichten, sie bleiben nicht länger mit dem Unrecht allein. In dem Moment, in dem die „Worte, um es zu sagen“, gefunden und ausgesprochen werden, werden die Erzählenden zu Subjekten ihres Lebens. Nun sind sie es, die den Ereignissen mit ihren Worten eine Gestalt geben und Deutungen zuweisen, sie sind es, die für sich und von sich sprechen. Nicht die anderen, schon gar nicht die Täter*innen. Und es geschieht ein weiteres: Indem die Geschichten nicht mehr verschämt verschwiegen oder verborgen werden, nicht mehr geflüstert, hinter vorgehaltener Hand oder im Geheimen erzählt werden, werden sie zu einer lebendigen, unverschämten Macht. Es gibt sie, weil es geschehen ist – und sie werden gehört. Jetzt können sie nicht mehr überhört, nicht mehr übersehen werden. Erzählen ist Widerstand gegen die unheilvollen Mächte des Missbrauchs, gegen die Taten und gegen das Vertuschen, gegen die eigene Ohnmacht.

„Worte, um es zu sagen“ – Missbrauch in der Kirche

Dass es in der Kirche sexuelle und spirituelle Gewalt an erwachsenen Frauen gibt, war lange ein verschämt-verschwiegenes Thema. Im konkreten Leben der betroffenen Frauen ebenso wie im theologischen und kirchlichen Diskurs. Erst in den vergangenen Jahren ist das Thema etwas mehr in den Fokus von Kirche, Theologie und einer breiteren Öffentlichkeit gekommen, insbesondere mit Blick auf (ehemalige) Ordensfrauen. Als im September 2019 in Siegburg eine Tagung zu Gewalt gegen Frauen in der katholischen Kirche stattfand, veranstaltet von der Arbeitsstelle für Frauenseelsorge und dem Bereich Pastoral der Deutschen Bischofskonferenz und der Deutschen Ordensobernkonferenz in Kooperation mit den Frauenverbänden Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd) und Katholischer Deutscher Frauenbund (KDFB), wurde das Treffen von den mehr als 120 Teilnehmerinnen als „historischer Moment“ bezeichnet. Die befreiende Erfahrung der Teilnehmerinnen war: Erzählen ist erlaubt – gegen alle Täterbotschaften! Und: Erzählen zeigt, dass Betroffene mit den eigenen Erlebnissen nicht allein sind. „Wir sind viele“, so eine der Teilnehmerinnen am Ende der Tagung. Dass es mit einer Tagung nicht getan sein würde, war schnell klar. Es braucht weiterhin die Räume, in denen die Betroffenen reden können, in denen sie eine Stimme haben. Es braucht Räume, in denen ihre Stimme gehört, in denen ihnen geglaubt wird. Es braucht dringend weiteres Aufdecken und Aufarbeiten. Und es braucht Diskurse, in denen die Hintergründe und Ursachen theologisch und systemisch analysiert werden, um zu echten Veränderungen zu gelangen: Im Umgang mit den Betroffenen, in der Theologie, in der Ausbildung der Seelsorgenden und der Ausbildenden selbst, im Verständnis und der Organisation von Kirche und ihren pluralen Handlungsformen.

Einen Beitrag dazu soll das vorliegende Buch leisten. Es versammelt höchst unterschiedliche Erzählungen, gleichwohl ist es keine lose Sammlung. Denn aus den vielen Erzählungen entsteht ein Narrativ, das befreiend sein kann. Frauen haben das Recht auf sexuelle und spirituelle Selbstbestimmung, und es ist nicht rechtens, diese Selbstbestimmung zu verletzen, schon gar nicht mit religiösen Motiven. Dieses Narrativ kann wiederum selbst handelnd und handlungsbegleitend werden, und es kann Gegennarrative entkräften. Eines dieser Gegennarrative behauptet, erwachsene Frauen könnten nicht Opfer von sexuellem Missbrauch werden, ein anderes, es seien „nur“ Einzelfälle, und Kirche tue ohnehin schon alles, um den Betroffenen mit Empathie entgegenzukommen. Und ein weiteres: Opfer haben demütig schweigend zu sein, nicht zornig oder anklagend, sie haben zur Vergebung bereit zu sein, und wo sie nicht vergeben könnten, würde dies ihr eigenes Fehlverhalten offenlegen. Diesen und anderen Gegennarrativen ist laut und deutlich zu widersprechen. Die Geschichten in diesem Buch tun es. Sie leisten dagegen Widerstand, indem sie erzählen. Und sie weisen deutlich auf: Individuelle Täterverantwortung ist nicht von systemischen Ursachen zu trennen. Theologische Denkmuster ermöglichen den Missbrauch ebenso wie organisationale und institutionelle Strukturen. Vertuschung ist an der Tagesordnung. Narzissmus und Klerikalismus, Macht, Manipulation und Unterdrückung, Vulnerabilität und komplizierte Zusammenhänge von Vertrauen, Abhängigkeiten und Bedürfnissen kommen in zerstörerischer Weise zusammen. Missbrauch ist ein komplexes Geflecht aus individuellen und systemischen Faktoren, aus theologischen, psychologischen und traditionell-stereotypen Lesarten der Orte, Räume und handelnden Personen.

Wie ist das Buch entstanden? Wer sind die Autorinnen? Und wie ist es aufgebaut?

Die Theologische Kommission des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB) hat dieses Buchprojekt angestoßen. Im Januar 2020 veröffentlichte die Mitgliederzeitschrift „KDFB Engagiert – Die Christliche Frau“ einen Aufruf: Frauen, die als Erwachsene im Raum der Kirche sexualisierte Gewalt oder geistlichen Missbrauch erlebt haben, wurden gebeten, ihre Geschichten niederzuschreiben und sie für ein Buchprojekt einzusenden. Berufsverbände, Frauenverbände, verschiedene Organisationen und Zusammenschlüsse von Betroffenen haben diesen Aufruf weitergegeben. Darüber hinaus wurde er auf Plakaten und auf Facebook veröffentlicht. Die zugesandten Texte liegen in diesem Buch nun gesammelt vor.

Die Geschichten sind vielfältig. Ebenso wie die Betroffenen unterschiedlich sind. Die Frauen gehören allen Altersstufen an – die ältesten Autorinnen sind Mitte des 20. Jahrhunderts geboren, die jüngsten sind nicht viel älter als 30 Jahre. Einige Frauen erzählen von den Gewalterfahrungen in der Generation ihrer Mütter, Großmütter, ja sogar Urgroßmütter. Alle stammen aus dem deutschsprachigen Raum. Bis auf eine Autorin sind alle Frauen römisch-katholisch. Etliche sind Theologinnen; mehrere haben promoviert. Es schreiben Ordensfrauen, ehemalige Ordensfrauen und ehemalige Mitglieder geistlicher Gemeinschaften sowie Laiinnen. Dass alle betroffenen Autorinnen weiß und deutschsprachig sind, lässt Rückschlüsse auf den Wirkungsradius der Ausschreibung zu. Es ist davon auszugehen, dass auch Women of Colour und Frauen, deren Muttersprache nicht deutsch ist, als Erwachsene von Missbrauch in der Kirche betroffen sind, etwa Schwarze Ordensfrauen oder Geflüchtete. Wir wissen auch von betroffenen erwachsenen Männern, deren Erzählungen jedoch ein eigenes Projekt verdienen.

Die vorliegenden Texte repräsentieren eine große Bandbreite kirchenpolitischer und spiritueller Couleur. Einige der Autorinnen der Berichte haben sich wegen des erlittenen Missbrauchs bereits an Verantwortliche in Diözesen und Orden gewendet, andere Betroffene wollen diesen Weg nicht beschreiten. Dass der Aufruf zur Beteiligung am Buchprojekt in verschiedenen kirchlichen Kontexten verbreitet wurde, spiegelt sich bei den Autorinnen wider: Erreicht wurden jene Frauen, die trotz leidvoller Missbrauchserfahrungen (noch) dabeigeblieben sind und die weiterhin beruflich oder ehrenamtlich hoch engagiert in der Kirche mitarbeiten.

Die Wahl ihres Pseudonyms lag bei den Autorinnen. Ihre Beiträge sind in dem Buch in alphabetischer Reihenfolge angeordnet. Anschließend folgen einige erläuternde wissenschaftliche Essays. Alle Namen, mit denen Täter*innen bezeichnet werden, sind fiktiv; (Erz-)Diözesen, geistliche Gemeinschaften und Ordensgemeinschaften sowie Orte wurden unkenntlich gemacht. Alle Autorinnen haben ihren hier abgedruckten Text nach teils längeren Überarbeitungsphasen, manche davon in Kooperation mit den Herausgeberinnen, explizit zur Veröffentlichung freigegeben.

Das Herzstück dieses Buches besteht aus den Erzählungen von Frauen, die als Erwachsene sexualisierte und/oder spirituelle Gewalt in der Kirche erfahren haben. Sie haben die Autorität, die Geschehnisse als sexuellen und/oder spirituellen Missbrauch zu identifizieren. Die betroffenen Frauen haben die Worte gesucht, nicht selten um sie gerungen und schließlich gefunden, um „es“ zu sagen. Sie erzählen in diesem Buch ihre Geschichte; manche von ihnen zum ersten Mal überhaupt. Jede der Frauen identifiziert im Rückblick die Anfänge ihrer Missbrauchserfahrung. Wäre die weitere Biografie anders verlaufen, dann würden auch einzelne Momente vielleicht anders eingeordnet.

In den letzten Jahren hat sich für Opfer sexuellen Missbrauchs die Bezeichnung „Betroffene“ durchgesetzt. Das ist gut so, da niemand nur und schon gar nicht für immer als Opfer gesehen werden will. Auch im vorliegenden Buch sprechen wir bei den Autorinnen der Beiträge meist von den „Betroffenen“. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass jede Person, die Missbrauch erleben musste, der Übermacht eines anderen Menschen erlag und unverschuldet Opfer geworden ist.

Sexueller Missbrauch, spiritueller Missbrauch, Missbrauch von Macht – Begriffsklärungen

Sexueller Missbrauch

Wir verwenden in diesem Buch den Begriff sexueller Missbrauch, der im deutschsprachigen Raum, nicht nur in der Öffentlichkeit und in den Medien, sondern auch bei den Betroffenen selbst häufig in Gebrauch ist. Sexueller Missbrauch verweist in der Regel auf sexuelle Handlungen von Erwachsenen an Kindern oder Jugendlichen, auch über justiziable Tatbestände hinaus. Gleichzeitig gibt es keine eindeutige und allgemein anerkannte Definition von sexuellem Missbrauch. Wenn z.B. das Strafgesetzbuch von sexuellem Missbrauch spricht, meint es nur die strafbaren Formen sexueller Gewalt (vgl. §§ 176–178 StGB). Häufig wird für sexuellen Missbrauch auch der Begriff sexuelle Gewalt verwendet, um deutlich zu machen, dass mit sexuellen Mitteln Gewalt, d.h. absichtliche körperliche oder psychische Grenzverletzungen ausgeübt werden. Diese Gewalthandlungen reichen von verbalen sexualisierten Belästigungen über Berührungen ohne Einverständnis bis hin zur Vergewaltigung. Wenn von sexualisierter Gewalt die Rede ist, soll verstärkend verdeutlicht werden, dass bei den Taten Sexualität funktionalisiert wird, um Gewalt auszuüben. Wir bevorzugen den Begriff sexueller Missbrauch, da er im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs gebräuchlich ist, verstehen ihn aber gleichbedeutend mit sexuellen und sexualisierten Gewalthandlungen. Folgende Kriterien machen deutlich, dass der Begriff sexueller Missbrauch auch auf erwachsene Frauen zu beziehen ist:

1. Gegen die sexuelle Selbstbestimmung

Mit dem 2016 erlassenen Gesetz zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung ist festgesetzt, dass die sexuelle Selbstbestimmung der Betroffenen der Maßstab zur Beurteilung sexueller Handlungen ist: „Nein heißt Nein“. Man kann auch dann von „sexuellem Missbrauch“ an Erwachsenen sprechen, wenn durch ein Abhängigkeitsverhältnis oder ein Autoritätsgefälle die sexuelle Selbstbestimmung der betroffenen Person beeinträchtigt oder verletzt wird, so dass es Fälle gibt, in denen das Opfer zwar ein „Ja“ erklärt, dieses „Ja” aber nicht tragfähig ist, z.B. aufgrund einer Drohung oder einer beruflichen Abhängigkeit.

2. Gegen den Willen der Betroffenen

Die sexuelle Handlung findet in der Regel gegen den Willen der Betroffenen statt. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass sich die Missbrauchsbetroffenen dagegen wehren. Anders gesagt: Wenn sich eine betroffene Person nicht wehrt oder nicht wehren kann, ist damit nicht bewiesen, dass sie der sexuellen Handlung zugestimmt hat oder dass diese Handlung nicht gegen ihren Willen stattgefunden hat.

3. Gewalt und Zwang

Der Täter oder die Täterin übt in der Regel körperliche, psychische oder emotionale Gewalt oder Zwang aus. Gewalt ist hier in einem schädigenden, verletzenden Sinn (violence) gemeint, d.h. dass die Betroffenen sowohl den Täter*innen als auch deren Handlungen ausgeliefert und somit in ihrer körperlichen, psychischen oder emotionalen Integrität gefährdet sind. Die Täterforschung beschreibt, dass Missbrauch langsam und strategisch aufgebaut wird. Täter*innen setzen Opfer unter Druck, manipulieren sie, machen sie abhängig und bauen zunehmend grenzüberschreitende Übergriffe in den Kontakt ein. Die Betroffenen werden abhängig und sind der Gewalt und dem Zwang des Täters oder der Täterin ausgeliefert. Da die Gewalt so schleichend aufgebaut wurde, entsteht für die Opfer der Eindruck, selbst daran beteiligt zu sein.

4. Macht- und Autoritätsposition

Der Täter oder die Täterin nutzt seine/ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten der betroffenen Person zu befriedigen. Besonders das Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern steht hier im Blick, doch gibt es weitere Machtverhältnisse, die in Rechnung zu stellen sind und in diesem Buch häufig zum Tragen kommen: Machtasymmetrien zwischen Männern und Frauen (Genderaspekt), zwischen Priestern als Autoritätspersonen und den betroffenen Frauen (Aspekt der religiösen Sozialisierung und des Klerikalismus), zwischen Oberin und Novizin (Machtaspekt), zwischen geistlichen Begleiter*innen und Begleiteten (therapeutischer Aspekt), zwischen Vorgesetzten und Angestellten (finanzieller Aspekt).

Spiritueller Missbrauch

Es existiert bislang keine einheitliche Sichtweise, wie „spiritueller Missbrauch“, „geistlicher Missbrauch“ oder auch „spiritualisierte Gewalt“ (Reisinger, 13) zu verstehen sind. Katharina Kluitmann, Vorsitzende und Präventionsbeauftragte der Deutschen Ordensbernkonferenz DOK, schlägt „einstweilen (…) als Arbeitsdefinition vor: Geistlicher Missbrauch ist ein Sammelbegriff, wie man im englischsprachigen Raum sagt, ein Schirmbegriff, für verschiedene Formen emotionalen und/oder Machtmissbrauchs im Kontext des geistlichen, religiösen Lebens, vor allem in Formen der Begleitung (Beichte, ‚Seelenführung‘, geistliche Begleitung …) und in Gemeinschaften und Gemeinden“ (Kluitmann, 184).

Für die Autorinnen der Erfahrungsberichte erwies sich spiritueller Missbrauch als heuristischer Begriff, der es ihnen erlaubt, Geschehnisse vor allem in geistlicher Begleitung, beim Empfang des Beichtsakraments, in Ausbildungskontexten in Gemeinschaften oder in einzelnen, teils lange zurückliegenden seelsorglichen Begegnungen beim Namen zu nennen. Wir haben uns als Herausgeberinnen bewusst entschieden, für die Aufnahme von Beiträgen in diesen Band einen weiten Begriff von spirituellem Missbrauch zugrunde zu legen, um in einer Gesamtschau der Texte das Verständnis spirituellen Missbrauchs weiter zu entwickeln und zu präzisieren.1 Mit Doris Reisinger (geb. Wagner) ist als fundamentale Definition auch für unsere Arbeiten in diesem Buch festzuhalten: „Geistlicher Missbrauch ist die Verletzung des spirituellen Selbstbestimmungsrechtes.“ (Wagner, 79) Spiritueller Missbrauch liegt vor, „wenn Menschen unter Verweis auf religiös begründete Behauptungen unter Druck gesetzt, genötigt oder gezwungen werden, Deutungen ihres eigenen Lebens zu akzeptieren, Handlungen zu vollziehen oder Entscheidungen zu treffen, zu denen sie selbst sich aus freien Stücken nicht entschließen würden“ (Wagner, 79).

An dieser Stelle möchten wir den Versuch unternehmen, die vielfältigen Phänomene des spirituellen Missbrauchs einzuordnen in das Raster, das wir für sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen gewählt haben. Dann lassen sich die folgenden Charakteristika ausmachen:

1. Gegen die spirituelle Selbstbestimmung

Erwachsene haben ein gutes Gespür dafür, welche religiöse Praxis in ihrer je konkreten biografischen Situation stimmig ist und sie in ihrem Gottesbezug und in der Nachfolge Jesu stärkt. Gelingende geistliche Begleitung unterstützt entsprechende Suchbewegungen, sie gibt nichts vor. Spiritueller Missbrauch liegt beispielsweise dann vor, wenn geistliche Begleiter*innen konkrete Frömmigkeitspraktiken verordnen oder untersagen, Gottesbilder aufoktroyieren oder spirituell begründete Entscheidungen für die Begleiteten treffen. Begleiter*innen maßen sich dann an, den Willen Gottes zu kennen oder mit der Stimme Gottes zu sprechen. Wenn die spirituelle oder moralische Urteilsfähigkeit der Betroffenen geschwächt statt gefördert wird, ist dies ein Indiz für spirituellen Missbrauch.

2. Gewalt und Zwang

Seelsorgliche Situationen, beispielsweise Predigten oder Beichtdialoge, können gewalttätig – also schädigend oder potenziell schädigend – und damit nachhaltig verletzend sein. Die Täter*innen reagieren dann nicht oder nicht adäquat auf die spirituellen Bedürfnisse und die Lebensumstände des Gegenübers. Diese spirituelle Gewalt manifestiert sich teilweise sogar physisch, z.B. in der Stimme oder in Gesten der Täter*innen.

Spiritueller Missbrauch geht vielfach mit Zwang einher; Täter*innen begrenzen bzw. beeinträchtigen die Freiheit der Betroffenen. Dies kann etwa der stark empfundene psychische Druck sein, belastende biografische Ereignisse in der Begleitung oder Ordensausbildung offenzulegen. Vielfach üben Täter*innen auch Zwang in Verbindung mit üblichen religiösen Vollzügen aus, indem sie beispielsweise die Eucharistie auf engstem Raum feiern, zur Wahl eines konkreten Beichtvaters zwingen oder Betroffene zu Handlungen gegen die eigene Gewissensüberzeugung nötigen und dabei zugleich die sakramentale Vergebung in Aussicht stellen.

Die Betroffenen sind den Täter*innen und ihren Handlungen und den dazugehörigen Strukturen ausgeliefert und somit in ihrer spirituellen, psychischen und emotionalen Integrität gefährdet. Wenn Menschen in Situationen im äußeren Leben, etwa bei der Wahl des/der Partner*in, des Berufes oder der Psychotherapie, mit spirituellen Begründungen oder „im Namen Gottes“ zu einer bestimmten Entscheidung gedrängt werden, handelt es sich um spiritualisierte Gewalt.

3. Macht- und Autoritätsposition

Spiritueller Missbrauch geschieht häufig in Macht- und Autoritätskonstellationen. Täter*innen sind dann gleichzeitig die geistliche Begleitung und als Ordensobere für die Zulassung von Kandidatinnen zuständig. In solchen Konstellationen gibt es keine Freiheit, spirituelle Anliegen zu besprechen.

Häufig nutzen Täter*innen ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten der betroffenen Personen zu befriedigen. Sie instrumentalisieren Theologie, Liturgie oder Begleitung, um sich selbst narzisstisch in den Mittelpunkt zu stellen, Kontrolle auszuüben, das eigene Autoritätsempfinden zu behaupten oder um Nähe, Bewunderung oder Mitleid zu erfahren. Multiple Machtasymmetrien zwischen Männern und Frauen (Genderaspekt) sowie zwischen Priestern als Autoritätspersonen und den betroffenen Frauen stellen hier ein besonderes Gefährdungspotenzial dar.

Kombination von spirituellem und sexuellem Missbrauch

Die Texte in diesem Buch zeigen, dass sexualisierte Gewalt im Umfeld der katholischen Kirche fast immer mit spirituellem Missbrauch einher geht (umgekehrt gilt dies nicht). In keinem der hier dokumentierten Fälle sexuellen Missbrauchs ist dieser nicht gleichzeitig auch spiritueller Missbrauch. Spiritueller Missbrauch ist in vielen Fällen integrativer Bestandteil der Planung und Vorbereitung der sexualisierten Gewaltausübung der Täter*innen (sog. Grooming-Strategie). Allerdings sollte klar sein: Sobald der Täter oder die Täterin ein geistliches Amt innehat, hat er/sie eine besondere Verantwortung gegenüber den begleiteten Personen, die in seiner bzw. ihrer professionellen Rolle begründet liegt. In einer solchen professionellen geistlichen Beziehung besteht ein Machtungleichgewicht, das den überlegenen Part dazu verpflichtet, keinerlei sexuelle Handlungen auszuführen oder zuzulassen und die Verwundbarkeit bzw. Abhängigkeit der Begleiteten nicht auszunutzen. Dieses Verhältnis ist bereits dann missbräuchlich, wenn der/die Seelsorger*in oder geistliche*r Begleiter*in das Handeln nicht an den Bedürfnissen der Person ausrichtet, sondern wenn das Handeln der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse dient.

Missbrauch von Macht

Dem Aufruf des KDFB, Texte von Missbrauchserfahrungen einzureichen, folgten auch Frauen, deren Beiträge nicht eindeutig als spiritueller bzw. sexueller Missbrauch im engen Sinne zu identifizieren sind. Sie schildern Situationen, in denen sie auf unterschiedliche Weise, z.B. finanziell, in Ausbildungskontexten oder beruflich, abhängig waren und von kirchlichen Autoritäten bevormundet wurden bzw. sich in ihrem spirituellen und/oder sexuellen Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt erlebten. Diese Ohnmachtserfahrungen führten zu massiven psychischen Beeinträchtigungen und zu negativen Konsequenzen beispielsweise für die berufliche Tätigkeit in der Kirche und die Identifikation mit der Kirche. Diese Beiträge können die derzeitige Diskussion um Macht und Missbrauch in der Kirche um eine wichtige Dimension erweitern. Den Betroffenen selbst kommt eine Interpretationshoheit zu über die tatsächlich erlebten und erlittenen dynamischen Mechanismen von Macht und deren Deutung als Missbrauch. Im Zusammenhang dieses Buches werden bestimmte Handlungen oder Konstellationen auch dann als Missbrauch von Macht interpretiert, wenn eine Frau, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einer ihr übergeordneten kirchlichen Person, Organisation oder Gemeinschaft steht, in Konfliktsituationen keine eigenen Entscheidungsmöglichkeiten hat und ohnmächtig zurück bleibt, weil sie nicht ernst genommen wird, weil sie isoliert ist oder weil es keine Beschwerdewege gibt.

Triggerhinweise

Wir wissen, dass die Beschreibungen von sexualisierter Gewalt Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und selbst Missbrauchsbetroffene sind, triggern können. Sie können provozierend oder verstörend wirken. Sie können das Wiedererleben von eigenen traumatischen Ereignissen auslösen. Deshalb weisen wir an dieser Stelle auf die Triggergefahr hin. Wir sind uns bewusst, dass jeder Hinweis unzureichend bleiben muss, weil bei jeder Person andere Themen und Worte Flashbacks auslösen können. Allen Texten, die durch Beschreibungen expliziter sexueller Handlungen triggern können, haben wir einen Triggerhinweis vorangestellt: „Dieser Beitrag enthält Schilderungen von sexualisierten Handlungen, die belastend und retraumatisierend wirken können.“ Leser*innen können dann selbst entscheiden, ob sie sich mit dem Text und seinen Inhalten konfrontieren – oder nicht. Am Ende des Buchs sind zudem Beratungsmöglichkeiten für Betroffene aufgeführt.

Dank

Wir möchten an dieser Stelle den betroffenen Frauen Dank sagen: Danke, dass Sie Ihre Geschichten geschrieben haben. Danke, dass Sie die oft schmerzvolle und schwierige Suche nach den „Worten, um es zu sagen“ unternommen haben. Denn Sie machen damit klar, dass es so nicht mehr weiter gehen darf in der Kirche. Ihre Geschichten sind Zeugnisse dafür, wie Missbrauch von Macht den Körper, den Glauben, die Identität – alles zerstören kann. Sie erzählen für diejenigen, die es selbst nicht (mehr) können und für diejenigen, die nicht selbst Gewalt erlitten haben. Spiritueller und sexueller Missbrauch sind nicht nur etwas, auf das man reagiert, indem man Grenzverletzungen identifiziert und Täter*innen gegebenenfalls bestraft. Ihre Geschichten zeigen, dass es tiefer gehen muss: Eine Kirche, die Missbrauch verhindern möchte, braucht ein anderes Denken und andere Narrative über spirituellen und sexuellen Missbrauch.

Diese Gewalttaten gehen uns alle an. Die Autorinnen machen Leserinnen und Leser zu Mitwissenden der vielen Formen von Missbrauch in der Kirche. Sie schreiben an gegen das Verschweigen und Vertuschen. Ihr Zeugnis muss in der Kirche – in Gruppen, Verbänden und Pfarreien, in Bistümern und Orden – gehört werden und das Denken und Handeln verändern. Ihr Erzählen ist Widerstand.

Literatur

Kluitmann, Katharina, Was ist geistlicher Missbrauch? Grenzen, Formen, Alarmsignale, Hilfen, in: Ordenskorrespondenz 60 (2/2019), 184−192.

Reisinger, Doris, Geistlicher Missbrauch. Selbstbestimmung in spirituellen Fragen ist zentral. in: Forum Weltkirche (1/2020), 13–17.

Wagner, Doris, Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg − Basel − Wien 2019.

Hinweis: Alle im Buch abgedruckten Internetlinks waren zu Redaktionsschluss abrufbar.

23 Frauen, 23 Erzählungen. Zahlen und Einsichten

Jeder Beitrag schildert eine individuelle Situation. Dennoch sind auch Merkmale zu finden, die sich wiederholen. Sie werden hier aufgelistet, um einige Fakten übersichtlich zugänglich zu machen. Die Zahlenangaben sind Mindestangaben. Manche Frauen geben keine Information zu den Themen, die im Folgenden dargestellt werden.

•23 Frauen haben ihre Geschichte beigesteuert; 22 von ihnen sind katholisch, eine evangelisch.

•Neun Frauen sind bzw. waren in einem Orden oder einer geistlichen Gemeinschaft; von ihnen sind sieben wieder ausgetreten.

•Acht Autorinnen schreiben von schweren psychischen Belastungen bis hin zu Suizidgedanken; sieben beschreiben teils massive körperliche Auswirkungen.

•Neun erzählen von früheren Traumata, vor allem in der Kindheit.

•Vier Missbrauchsfälle haben im Ausland stattgefunden.

•Mindestens sieben Frauen wissen um weitere Opfer desselben Täters oder derselben Täterin.

•Mindestens vier Frauen haben ihren Missbrauch öffentlich gemacht, fünf berichten von Vertuschungsaktionen.

•Fünf Autorinnen berichten ausschließlich von spirituellem Missbrauch, bei allen anderen sind spiritueller und sexueller Missbrauch miteinander verknüpft. Mindestens sieben Frauen berichten davon, sexuell genötigt oder vergewaltigt worden zu sein.

•Die Täter sind in elf Fällen Ordenspriester, in fünf Fällen Weltpriester (die genauen Zahlen der Täter gehen über die Zahl der Fälle hinaus, da einige Male mehrere Täter Missbrauchshandlungen begehen), in neun Fällen werden Frauen benannt, die auf unterschiedliche Weise am Missbrauchsgeschehen beteiligt sind, einmal sogar als Förderin einer Vergewaltigung.

•Die Missbrauchstaten stehen in 14 Fällen im Kontext von geistlicher Begleitung bzw. Exerzitien, in fünf Fällen im Kontext von Beichte, in vier Fällen im Kontext von Eucharistie bzw. Liturgie.

•Mindestens acht Frauen erlebten zur Bewältigung ihrer Missbrauchserfahrungen eine Psychotherapie als hilfreich.

•Alle Frauen erlitten den Missbrauch in teils multiplen Abhängigkeitsverhältnissen zu den Täter*innen. Alle haben sie Missbrauch von Macht und die Verletzung ihres spirituellen und/oder sexuellen Selbstbestimmungsrechts erfahren.

•Nur eine Betroffene hat erlebt, dass sich ein Täter oder eine Täterin bei ihr entschuldigt hat.

Alle Namen, Orte und Gemeinschaften wurden anonymisiert. Die Autorinnen der Berichte haben sich selbst ein Pseudonym gewählt.

Berichte von betroffenen Frauen

„Dafür sind wir nicht zuständig“

Ellen Adler

Ich wollte in eine kontemplative Ordensgemeinschaft eintreten. Es gab den Orden, in den ich eintreten wollte, in der DDR nicht, aber als sich einige Jahre später die Grenze öffnete, ergab sich die Gelegenheit. Mein früherer Pfarrer, inzwischen Bischof und noch immer mein geistlicher Begleiter, kannte ein Kloster des Ordens in Österreich. Er schickte mich los. Niemand wusste ja, wie lange die innerdeutsche Grenze offen bleiben würde.

Ich machte mich auf den Weg, um in diesen Orden einzutreten. Den Mietvertrag für mein Zimmer sowie meinen Ausbildungsvertrag kündigte ich, meine Sachen verschenkte ich.

Zwischenstation war erst einmal das Noviziat eines Männerordens in Süddeutschland, auch dies auf Vermittlung des Bischofs. Ich sollte als DDR-Bürgerin auf dem Territorium der Bundesrepublik zunächst einen bundesdeutschen Pass beantragen. Österreich war ja noch nicht in der EU, und ohne Visum war die Einreise für DDR-Bürger noch nicht möglich. In der Wartezeit auf die Dokumente saß ich fast zwei Monate bei dem Männerorden fest. Ich befand mich in einem fremden Gesellschaftssystem, mittellos und ohne gültige Papiere.

Ich hatte mich in diesem Noviziat in Süddeutschland sicher gewähnt, unter Menschen, deren Sehnsucht auf Gott allein gerichtet war. Ich vertraute darauf, dass der Bischof mich an einen guten und sicheren Ort geschickt hatte. Ich glaubte, dass er mich Menschen anvertraut hatte, denen ich vertrauen konnte, weil er ihnen mitgeteilt hatte, dass ich selbst auf dem Weg in einen Orden bin, und weil alle Männer in diesem Hause selbst Ordensmänner waren. Das hatte ich für selbstverständlich gehalten. Ich habe mich furchtbar geirrt.

Der Novizenmeister bat mich nach einigen Tagen zur Beichte, er wollte mit mir auch über meine Berufung sprechen. Es handelte sich um eine „Lebensbeichte“ mit Bekenntnis und Lossprechung. An meiner Beichte nahm auch einer der Novizen des Ordens teil. Als angehender Priester – er hatte bereits ein abgeschlossenes Theologiestudium – sollte er Erfahrungen sammeln. Der Novizenmeister meinte, dass mir in Beziehungen die Lockerheit fehle und ich noch nicht so richtig erkennen könne, welches Geschenk Gott uns macht mit menschlicher Nähe. Ich hatte da früher eine schlechte Erfahrung gemacht, und das sollte seiner Meinung nach erst einmal heilen … Übungen zu „menschlicher Nähe“ wurden „vereinbart“. In immer neuen Gesprächen überprüfte der Beichtvater und Novizenmeister, ob die Maßnahmen Erfolg hatten. Ich lernte einiges über Gehorsam und den Willen Gottes, den es statt meines Willens zu erfüllen gelte. Der Novize, der bei meiner Beichte anwesend gewesen war, nutzte mein Vertrauen aus. Er benutzte meine Isolation: Ich hatte kein (West-)Geld, kein Telefon, keinen Kontakt mit Familie, Freunden, Weggefährten, Mitschwestern. Er benutzte die „geistlich“ aufgeladene Atmosphäre, die Rede von der „Unterwerfung unter den Willen Gottes“. Er benutzte meine Spiritualität, meine Vertrautheit mit dem Schweigen, mit dem Ausharren vor dem Herrn. Er benutzte sein Wissen über Erlebnisse aus meiner Vergangenheit, die in der Beichte zur Sprache gekommen waren. Immer wieder überschritt er Grenzen, immer weiter gingen die Übergriffe. All das geschah in ständiger Rücksprache mit dem Beichtvater und Novizenmeister, welcher auch wiederholt auf die besagten Erlebnisse Bezug nahm.

Der Novize stimmte jede weitere Grenzüberschreitung mit dem Novizenmeister ab. Ich war bei diesen Gesprächen anwesend, aber von mir wurde absolutes Vertrauen in den Willen Gottes und in die Erfahrung des Novizenmeisters gefordert. Nur dann könne man von der Echtheit meiner Berufung ausgehen und die Verletzungen der Vergangenheit könnten auch nur dann heilen. Am Ende nötigte mir der Novize Geschlechtsverkehr auf, unter Verweis auf den Willen Gottes, auf die angeblich heilende Wirkung seines Handelns in Bezug auf die in der Beichte angesprochenen Verletzungen und auf die Autorität des Novizenmeisters, mit dem dies so abgesprochen sei. Einige Stunden danach, am nächsten Morgen, wurden mir meine Personaldokumente sowie eine Bahnfahrkarte ausgehändigt. Ich wurde zum Bahnhof gebracht und in einen Zug nach Österreich gesetzt.

Völlig verwirrt kam ich im Kloster an. Nach einigen Wochen mit durchweinten Nächten und erstarrten Tagen fand die Oberin heraus, dass das, was mir zugestoßen war, nichts mit Heimweh zu tun hatte. Sie konstatierte, dass ich dann ja keine Jungfrau mehr sei und somit untauglich für die Gelübde. Einen Tag später stand ich in Österreich auf der Straße. Ich schaffte es zurück in meine Heimatstadt und zu meinem Heimatbischof. Er hörte sich die Geschichte an, organisierte mir ein Zimmer und einen Arbeitsplatz in einem Pflegeheim. Das Leben musste ja weitergehen.

Ich fuhr einige Wochen später noch einmal in das Noviziat in Süddeutschland. Ich bettelte um eine Erklärung, verstand nicht, was passiert war. Was Gott da mit mir getan hatte. Was ER von mir wollte. Wo Gott gewesen war. Wo ich IHN jetzt suchen sollte. Der Novizenmeister erklärte mir, ich hätte den Novizen verführt. Dieser hätte die Prüfung bestanden, mein „Plan“ sei nicht aufgegangen. Der Novize selbst begegnete mir mit eisiger Verachtung, wie einem widerwärtigen, ekelerregenden, lästigen Ungeziefer.

Ich versuchte, in eine Ehe zu flüchten. Es endete mit einem Ehenichtigkeitsverfahren. Dort wurde untersucht, wie es zu der Eheschließung gekommen war, und die vergrabenen Erinnerungen an den Missbrauch in dem Noviziat in Süddeutschland erwachten neu und sehr massiv zum Leben. Meine Ehe wurde wegen des nur durch diesen Missbrauch abgebrochenen Weges in ein Kloster kirchenrechtlich in beiden Instanzen für nichtig erklärt. Aber das heilt nicht die Erinnerung, das beantwortet nicht die Frage, wie das, was mit mir passiert war, mit Gott zusammen zu bringen ist.

Ich versuchte mehrfach, bei kirchlichen Stellen Gehör zu finden. Niemand fühlte sich zuständig. Meist war diese Feststellung – „da sind wir leider nicht zuständig“ – das letzte Wort, gelegentlich noch gefolgt von einer Idee, wen ich stattdessen ansprechen könnte.

Im Januar 2020 rief ich die Missbrauchsbeauftragte des betreffenden Männerordens an. Sie erklärte mir, dass es Missbrauch an erwachsenen Frauen gar nicht geben könne. Frauen könnten ja einfach nein sagen. Außerdem hätte sie lange Zeit eng mit dem Beschuldigten zusammengearbeitet. Der stünde nicht auf Frauen, sonst müsse sie das ja wissen, sie sei selbst eine nicht unattraktive Frau. Ich müsse auch die Orden verstehen, die seien wie eine Familie und schützten sich gegenseitig. Im Übrigen würde sie den zuständigen Ordensoberen informieren. Ich gab ihr die Kontaktdaten des Kirchenrechtlers in meinem Bistum. Diesem teilte sie mit, dass der zuständige Obere informiert sei und nun tätig werden würde. Damit ließ es der Orden bewenden, es gab nie den Versuch einer Kontaktaufnahme mit mir.

Inzwischen wurde ich von Anwälten, einem Notar und der Kriminalpolizei angehört bzw. vernommen. Die kirchlichen Oberen sind sich im Frühjahr 2020 aber noch immer nicht einig, wer nun eigentlich zuständig ist. Noch immer hat mich deshalb keine Ansprechperson eines Bistums oder des Ordens angehört. Noch immer hat keine Kommission meinen „Fall“ behandelt. Ich habe keinen juristischen, therapeutischen oder seelsorgerlichen Beistand.

Ich denke an Tamar. Ihre Geschichte ist im 2. Buch Samuel aufgeschrieben (2 Sam 13,1–22). Wir hören sie niemals im Gottesdienst, denn sie kommt in der Leseordnung nicht vor.

Tamar wird von ihrem Bruder Amnon missbraucht. Sie verhandelt mit dem Täter, behält die Nerven. Sie argumentiert mit dem Gesetz. Hat sie sich nicht genug gewehrt?

TAMAR ÜBERLEBT. Ihr Bruder Abschalom mahnt sie: „Sprich nicht darüber, meine Schwester, er ist ja dein Bruder. Nimm dir die Sache nicht so zu Herzen!“ (2 Sam 13,20) Aber Tamar bezeugt, was geschehen war. Alle erfahren, was Amnon getan hat. Sie bezeugt allen Frauen, denen solches widerfährt: Du bist nicht die Einzige.

Bei Ijob lese ich: „Würden meine Worte doch geschrieben, würden sie doch in ein Buch eingeritzt, mit eisernem Griffel und mit Blei, für immer gehauen in den Fels.“ (Ijob 19, 23.24) Tamars Worte sind geschrieben. Wir kennen ihren Namen und wir kennen ihre Geschichte. Das macht sie für mich zur Prophetin. Und DAS ist ihre Gerechtigkeit: Ob Amnon lebt oder nicht und wie lange – was spielt das für eine Rolle? Er ist DER Vergewaltiger. Sein Name bleibt für immer mit dieser Tat verknüpft. Tamar aber steht rein da vor der Geschichte. Niemand musste sie mit einer Heirat rechtfertigen wie beschädigte Ware. Nicht der Ehemann gibt einer Frau Wert und Bedeutung.

Ich stelle mir vor, dass sie im Haus ihres Bruders in den Schriften nach einer Antwort gesucht hat. Und sie vielleicht darin gefunden hat, dass die Gotteserzählung ALLES berichtet. Weil Gott kein Schönwettergott ist. Weil so das Volk Gottes entsteht: „Diese Worte sollst du deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt …“ (Dtn 6,7). Tamar konnte im Hause ihres Bruders ihren Nichten und Neffen berichten, wenn sie bei ihr saßen. Irgendwann muss sie so geachtet gewesen sein, dass ihre Geschichte von Bedeutung war. So sehr, dass sie in die Heilige Schrift aufgenommen wurde.

Tamars Leben war nicht, wie sie es sich erträumt hatte. Aber Tamar war klug, sie war zäh und sie hatte einen langen Atem. Sie war allein, aber in Sicherheit: Kein Mann konnte sie mehr heranzitieren, wenn ihm so war. Und sie war frei: frei zu denken, zu studieren, zu schreiben. Nach Tausenden von Jahren hören wir heute ihre Stimme. Nein, Tamar: Schweige nicht! SPRICH DARÜBER, MEINE SCHWESTER!

Ich habe NEIN gesagt

Anna Althaus

Ich war 55 Jahre, als ich das erlebte, was ich strukturelle, sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche nenne.

Bis dahin war mein Leben ein Leben in und mit der Kirche. Nach dem Abitur studierte ich Religionspädagogik. Meine Berufstätigkeit in der Kirche begann ich als Religionslehrerin. Nach vier Jahren entschloss ich mich, als Pfarrhausfrau zu arbeiten. Religionsunterricht gab ich nur noch nebenberuflich. Dafür engagierte ich mich auf vielen Gebieten ehrenamtlich, z.B. in der außerschulischen Sakramentenvorbereitung, publizierte liturgische Vorlagen für Gottesdienste und war Referentin von Brautleutetagen. Als sich mir die Gelegenheit bot, mich zur Ehe-, Familien- und Lebensberaterin weiter zu qualifizieren, griff ich zu. 24 Jahre arbeitete ich als Honorarkraft in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung. Endlich beschloss die Diözese 2014, die rechtlich umstrittenen Honorarverträge in reguläre Anstellungsverhältnisse zu überführen. Da geschah es.

Der Brief

Am 20. Januar 2014 taucht beim Generalvikar ein Brief auf, der mich eines sexuellen Verhältnisses mit dem Priester beschuldigt, bei dem ich als Pfarrhausfrau arbeitete. Es war der Brief eines zutiefst unzufriedenen und enttäuschten Menschen, der unter dem Niedergang der Kirche litt und nach Schuldigen suchte für den Verlust von Glauben und Moral. Gefunden hat er den Schuldigen im Pfarrer und seiner Haushälterin, die, in seiner Vorstellung, im Pfarrhaus in wilder Ehe leben. Nach 30 Jahren als Pfarrhausfrau kenne ich diesen Typus, der seine Ängste und Fantasien über das Leben im Pfarrhaus für wirklich hält. Ich habe sie nie ernst genommen, es war mir einfach immer zu blöd.

Doch diesmal hätte ich gut daran getan, nachdem mir eine Kopie des Briefes zur Kenntnisnahme geschickt wurde. Dem Wunsch des Verfassers des Briefes entsprechend wurde dessen Name unkenntlich gemacht. Zu diesen anonymisierten Vorwürfen sollte ich schriftlich Stellung nehmen. Dieses Vorgehen ging für mich ganz und gar nicht. Ich erlebte mich verleumdet und wurde vom Generalvikar aufgefordert, meine Schuld oder Unschuld zu gestehen. Das hat etwas von Inquisition und passte nicht ins 21. Jahrhundert. Ich verweigerte die Auskunft und bat um den Namen des Briefschreibers, um rechtliche Schritte einleiten zu können. Als Reaktion wurden der Pfarrer und ich für Aschermittwoch zu getrennten Terminen zum Gespräch vorgeladen. Dem Pfarrer wurde dabei eröffnet, dass es nicht nur diesen Brief gebe. Nein, auch dem für mich zuständigen Abteilungsleiter sei zugetragen worden, von wem, das könne leider nicht gesagt werden, dass es Doppelzimmer bei einer Fortbildung gegeben hätte. Das hätte den Abteilungsleiter so in Gewissensnot gebracht, dass er nicht mehr schlafen konnte, bevor er sich entschloss, die Meldung weiter zu geben. Nachdem der Pfarrer seinem Dienstherrn Rede und Antwort stand, war für ihn die Angelegenheit in bestem Einvernehmen geregelt und alles war gut.

Kollegen

Meinen Termin mit dem Generalvikar und dem Abteilungsleiter hatte ich kurzfristig abgesagt. Ich hatte ein ungutes Gefühl und wollte mich den beiden Männern nicht ausliefern. Dass ich mit meinem Gefühl richtig lag, bestätigten mir der neue Vorwurf über ein Doppelzimmer anlässlich einer Fortbildung, über den mich der Pfarrer nach seinem Gespräch mit dem Generalvikar informierte. Die Aussage, dass da dem Abteilungsleiter etwas zugetragen wurde, erschien mir sehr sonderbar. Bei nächster Gelegenheit, und das war der nächste Supervisionstermin mit den Kollegen, wollte ich mir Klarheit verschaffen. So fragte ich, wer der Zuträger des Abteilungsleiters sein könnte. Es war peinliches Schweigen. Keiner hatte eine Ahnung und niemand hatte etwas gesagt. In der Pause nahm mich mein Nebenstellenleiter zur Seite und erzählte. Er sei vom Abteilungsleiter angerufen und befragt worden, was er über ein Verhältnis wisse. Es gebe da einen Brief über Doppelzimmer und was er dazu meine und ob es Schwierigkeiten mit mir gäbe. Nein, Schwierigkeiten gebe es nicht, aber vorstellen könne er sich schon, dass da sexuell eventuell möglicherweise was laufen könnte. Er habe uns mal auf einer Fortbildung gesehen. Dann schaute er mich an und sagte: „Du hast doch was mit dem, oder nicht?“ Ich war geschockt. Da fantasiert tatsächlich die gesamte hierarchische Linie von oben nach unten, vom Generalvikar über den Abteilungsleiter bis zum Nebenstellenleiter, über mein Sexualleben. Ein feiger Briefschreiber versetzt alle in helle Aufregung. Es wird telefoniert und herumgefragt, spekuliert und fantasiert. 35 Jahre persönliche Erfahrungen mit mir sind ausgelöscht. Der Nebenstellenleiter arbeitet seit Jahren mit mir zusammen. Mehrmals hat er mich unangemeldet privat besucht. Er wollte unbedingt in meine Wohnung, weil er etwas aus der Arbeit ganz dringend loswerden musste. Jetzt steht er vor mir und sagt: „Du hast doch was mit dem, oder?“ Nachdem ich mich wieder gefasst hatte, sagte ich: „Sag einfach, was du weißt, und wenn es nicht der Wahrheit entspricht, dann zeige ich dich wegen Verleumdung an.‘‘ Am nächsten Tag hat er seine Aussage gegenüber dem Ordinariat zurückgenommen. Er entschuldigte sich beim Pfarrer und bei mir für seine unwahren Äußerungen.

Geforderte Erklärung

Damit könnte alles gut sein. Der Pfarrer hat seine Aussage gemacht. Er wurde entlastet, in dieser Sache nicht weiter kontaktiert und es wurden keine weiteren Erklärungen von ihm gefordert. Der Nebenstellenleiter hat seine Beschuldigung zurückgezogen. Ich habe um die Identität des Briefschreibers gebeten, um Anzeige erstatten zu können. Alles gut.

Bei weitem nicht. Ich war verstört, konnte nicht verstehen, was ablief und vor allem, dass so etwas überhaupt möglich war. Der kirchliche Apparat läuft nach ihm eigenen Gesetzen. Alles ist möglich, der Schutz von Verleumdern, Bespitzelung, Verführung zur Falschaussage, Umkehr der Beweislast, Sexualverhalten als Einstellungskriterium. Alle geistliche Macht wird aufgewendet, oder sollte ich besser sagen, missbraucht, um zu erfahren, was in meinem Bett los ist.

Ich fühle mich schlecht. Ich fühle mich ausgeliefert. Ich weiß nicht mehr, wem ich trauen kann. Ich weiß nicht, wie ich diese Zudringlichkeiten und Grenzüberschreitungen abwehren kann. Doch vor allem, ich spreche nicht über meine Sexualität. NEIN!!! Ich fühle mich unangenehm intim berührt. Nein, das überschreitet meine Grenzen. Ich fühle mich sexuell bedrängt.

Der Generalvikar schreibt mir: „Ich bitte Sie nun im Hinblick auf eine mögliche Anstellung als Beraterin bei der Diözese für Ehe-, Familien- und Lebensberatung eine Erklärung abzugeben, die etwaige Zweifel klarstellt. Als Text schlage ich vor:

Erklärung.

Auf Grund eines handgeschriebenen Briefes, der bei Generalvikar N. N. eingegangen ist, und einer mündlichen Aussage, die bei Herrn Schmidt abgegeben wurde, und im Blick auf das von mir angestrebte Arbeitsverhältnis mit der Diözese, das eine Achtung der katholischen Grundsätze in der persönlichen Lebensführung voraussetzt, erkläre ich, Anna Althaus, dass ich in meiner Lebensführung das Zölibatsversprechen des Pfarrers, in dessen Dienst ich als Haushälterin stehe, geachtet habe und auch achte, wie es die Regeln der Kirche vorsehen.“

Worum geht es diesem Mann eigentlich? Geht es ihm darum, dass meine Lebensführung den Regeln der Kirche entspricht? Wenn ja, dann hat er alles, was er braucht. Es gibt keinen Vorwurf, der noch offen wäre. Er hat alles. Nur nicht mein Geständnis. Ihm fehlt meine sexuelle Offenbarung, meine Unterordnung unter seine geistliche Macht. Ich habe mich nicht gebeugt. Ich habe NEIN gesagt.

Ich nenne es strukturelle sexualisierte Gewalt, wenn die Personalabteilung des bischöflichen Ordinariates über alle hierarchischen Ebenen hinweg mit Verleumdung und falschen Zeugen arbeitet und dabei Sexualität benützt, um Menschen gefügig zu machen. Für mich ist es Machtmissbrauch, wenn Anstellung gegen Auskunft über Geschlechtsverkehr erfolgt.

Arbeitsprozess

Mein Vergehen ist es, den Generalvikar zurückgewiesen zu haben und NEIN zu sagen. Statt meiner Auskunft habe ich einen Arbeitsprozess angestrebt. So weit, so gut – oder eben nicht.

Der Anwalt der Diözese war ein Albtraum. Sogar die Daten meiner Honorartätigkeit hat er mit „Nichtwissen“ bestritten. Ich musste für alles Beweise liefern. Ja, die Kirche weiß sehr wohl, wie Rechtsstaatlichkeit geht, wenn es zu ihrem Nutzen ist. Letztendlich zog er die Karte des Tendenzbetriebs. Er deutete an, dass ich aus diesem Grund nicht tragbar wäre. Der Nachfrage, was er damit konkret meine, wich er aus. So legte ich dem Gericht das Schreiben des Generalvikars mit der geforderten Erklärung vor. Die Frage des Richters, was das zu bedeuten habe, beantwortete er gereizt mit: „Nichts. Das hat sich erledigt.“ Hier möchte ich der Vollständigkeit halber anmerken: Ein paar Wochen später werde ich in einem Gespräch vom Generalvikar erneut mit der Frage konfrontiert. Er reagiert verärgert, als er wieder keine Auskunft von mir bekommt. So viel zu: „Das hat sich erledigt.“

Im Gerichtssaal geht es jetzt schnell. Der Diözese wird vorgeschlagen, sich mit mir auf Anstellung zu einigen. Ich könnte mich freuen. Zumindest meine Arbeit und mein finanzielles Auskommen wären gesichert. Doch ich bin erschüttert, verstört, bekomme Panik und kollabiere. Als ich wieder zu Bewusstsein komme, sehe ich die Schuhe des Anwalts der Diözese, wie er über mich hinwegsteigend den Gerichtssaal verlässt. Diese rehbraunen Schuhe sind wie ein Bild in meinem Kopf eingebrannt. Über viele Monate tauchten diese Schuhe immer wieder plötzlich vor meinen Augen auf und die Welt stand still. Panik, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Ohnmacht überwältigten mich dann. Es war wie aus der Realität zu kippen in ein Chaos unbeherrschbarer überwältigender Gefühle. Später sagte der Generalvikar lächelnd zu mir: „Anwälte sind nun mal so.“

Klärungsversuche

Mir ging es schlecht, ich war psychisch nicht mehr belastbar. Das anstehende Anstellungsverfahren sagte ich ab. In dieser Kirche konnte ich nicht mehr arbeiten. Und gleichzeitig zweifelte ich an mir: Fühle ich falsch? Sollte ich nicht einfach tun, was man von