Erziehung zur Mündigkeit - Theodor W. Adorno - E-Book

Erziehung zur Mündigkeit E-Book

Theodor W. Adorno

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  • Herausgeber: Suhrkamp
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Erziehung zur Mündigkeit sammelt Vorträge und Gespräche, die von 1959 bis 1969 im Hessischen Rundfunk gesendet wurden. Sie zeigen einen »anderen« Adorno als die meisten seiner Bücher: er wirkt unmittelbare kommunikativer, verständlicher; er leitet den Leser – wie einst den Hörer zum Mitdenken und schließlich zum Selbstdenken an."

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Seitenzahl: 226

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Theodor W. Adorno, geboren am 11. September 1903 in Frankfurt am Main, gestorben am 6. August 1969, lehrte in Frankfurt als ordentlicher Professor für Philosophie und Soziologie und war Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Johann-Goethe-Universität.

Jürgen Habermas schrieb über Adorno: »Wenn die Kraft analytischer Einsichten dem Leiden gleich ist, aus dessen Erfahrung sie stammen, dann ist das Maß der Verletzbarkeit und der Verletztheit Adornos philosophisches Potential.«

Erziehung zur Mündigkeit sammelt Vorträge und Gespräche, die von 1959 bis 1969 im Hessischen Rundfunk gesendet wurden. Sie zeigen einen »anderen« Adorno als die meisten seiner Bücher: er wirkt unmittelbarer, kommunikativer, verständlicher; er leitet den Leser – wie einst den Hörer – zum Mitdenken und schließlich zum Selbstdenken an.

Theodor W. Adorno

Erziehung zur Mündigkeit

Vorträge und Gesprächemit Hellmut Becker 1959-1969

Herausgegebenvon Gerd Kadelbach

Suhrkamp

Umschlagfoto: Wolfgang Haut

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© für die Texte aus EINGRIFFE

Suhrkamp Verlag Frankfurt 1963, aus STICHWORTE

© Suhrkamp Verlag Frankfurt 1969

alle übrigen Texte

© Suhrkamp Verlag Frankfurt 1970

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73845-0

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit 1959

Philosophie und Lehrer 1962

Fernsehen und Bildung 1963

Tabus über dem Lehrberuf 1965

Erziehung nach Auschwitz 1966

Erziehung – wozu? 1966

Erziehung zur Entbarbarisierung 1968

Erziehung zur Mündigkeit 1969

Sende- und Drucknachweise

Vorwort

Theodor W. Adorno, skeptisch gegenüber den Massenmedien und voller Abneigung gegen die meinungsbildenden Organisationen und Institutionen, hätte zu Lebzeiten sich die Genehmigung zur Fixierung seiner Rundfunkvorträge und Gespräche über Probleme der praktischen Pädagogik nur ungern abringen lassen. Er hätte ihrer Publikation schließlich doch zugestimmt, mit einer Vorbemerkung zum Text freilich, wie sie sich findet als Vorspruch zum Rundfunkvortrag »Tabus über dem Lehrberuf« oder als Einleitung zu einer im Argument 29 abgedruckten Arbeit »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute«, welche ein Referat wiedergibt, das Adorno am 30. Oktober 1962 vor dem Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gehalten hat. Dort heißt es:

»Der Autor ist sich dessen bewußt, daß in seiner Art von Wirksamkeit gesprochenes und geschriebenes Wort noch weiter auseinandertreten als heute wohl durchweg. Spräche er so, wie er um der Verbindlichkeit der sachlichen Darstellung willen schreiben muß, er bliebe unverständlich; nichts aber, was er spricht, kann dem gerecht werden, was er von einem Text zu verlangen hat. Je allgemeiner die Gegensätze sind, um so mehr verstärken sich die Schwierigkeiten für einen, dem jüngst ein Kritiker freundlich attestierte, seine Produktion gehorche dem Satz ›Der liebe Gott wohnt im Detail‹. Wo ein Text genaue Belege zu geben hätte, bleiben dergleichen Vorträge notwendig bei der dogmatischen Behauptung von Resultaten stehen. Er kann also für das hier Gedruckte die Verantwortung nicht übernehmen und betrachtet es lediglich als Erinnerungsstütze für die, welche bei seiner Improvisation zugegen waren und welche über die behandelten Fragen selbstverständlich weiterdenken möchten aufgrund der bescheidenen Anregungen, die er ihnen übermittelte. Darin, daß allerorten die Tendenz besteht, die freie Rede, wie man das so nennt, auf Band aufzunehmen und dann zu verbreiten, sieht er selber ein Symptom jener Verhaltensweise der verwalteten Welt, welche noch das ephemere Wort, das seine Wahrheit an der eigenen Vergänglichkeit hat, festnagelt, um den Redenden darauf zu vereidigen. Die Bandaufnahme ist etwas wie der Fingerabdruck des lebendigen Geistes.«

So handelt es sich bei der Fixierung der Bandaufnahmen jener frei gehaltenen Vorträge und der Gespräche, die Adorno mit Hellmut Becker geführt hat, um eine Dokumentation über die praktischen Bemühungen eines Theoretikers, der nicht darauf verzichten konnte und wollte, seine Kritik am »Betrieb«, am »Ganzen« der erreichbaren Öffentlichkeit vorzutragen. Dabei treten auch ganz konkrete Vorschläge zutage, die geeignet sind, das Bild des bloßen Verneiners zu korrigieren. Das Theorie-Praxis-Verhältnis, das hier praktisch-theoretisch gegeben wird, bestimmt diese Dokumentation, die zugleich das Studium der Arbeitsmethode Adornos auf eine bislang ungewohnte Weise nuanciert.

Die hier vorgelegten Arbeiten Adornos – vier Vorträge, die Adorno selbst für den Druck redigiert hat, und vier Gespräche mit Hellmut Becker und Gerd Kadelbach, die nach den Bandaufzeichnungen transponiert wurden – entstanden in Zusammenarbeit mit der Hauptabteilung Bildung und Erziehung des Hessischen Rundfunks, in dessen Reihe »Bildungsfragen der Gegenwart« Adorno mindestens einmal jährlich in dem Dezennium zwischen 1959 und 1969 zu Gast war. Theodor W. Adorno war dem Hessischen Rundfunk auf vielfältige Weise verbunden. Seine ästhetischen Überlegungen zur modernen Musik wurden über diesen Sender ausgestrahlt, teils in monographischen Darstellungen, teils in sehr lebendigen Gesprächen mit den Redakteuren der Hauptabteilung Musik, mit Kontrahenten, Partnern und Freunden. In den Sendungen des Kulturellen Wortes gehörte zu diesen Partnern Erika Mann, mit der er ein Gespräch über die Rückkehr aus der Emigration führte. Mit Lotte Lenya erörterte er die Legende und Wirklichkeit der zwanziger Jahre, und im Abendstudio war er ein engagierter und temperamentvoller Autor. Dabei war ihm wichtig, daß man ihn recht verstand. Mit kritischen Hörerreaktionen zu seinen Beiträgen setzte er sich in aller Ausführlichkeit auseinander, so in einem Abendstudiovortrag über die »Wörter aus der Fremde«, weil ihm vorgeworfen worden war, das Instrumentarium seiner Fachterminologie bleibe für den Laien weithin unverständlich.

Am 16. Juli 1969, sechs Tage vor Beginn seines Urlaubs in Zermatt, aus dem er nicht mehr zurückkehrte, war Adorno zum letzten Male im Frankfurter Funkhaus. Mit Hellmut Becker, dem Direktor des Instituts für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin, führte er ein Gespräch unter dem Titel »Erziehung zur Mündigkeit«. Diese Sendung wurde so zum letzten Gespräch einer Folge von pädagogischen Disputationen, die 1959 mit dem Titel begann: »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«. Der Widerspruch freilich wird sich nur schwer auflösen lassen, der zwischen diesem publizistischen Engagement Adornos und jener Formulierung aus der »Negativen Dialektik« besteht, die dieses Engagement in Frage stellt: »Wer für Erhaltung der radikal schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche Kultur sich enthüllte.« Die Antwort besteht in den Bemühungen Adornos um die Verbreitung politischer Bildung, die für ihn eins war mit der Erziehung zur Mündigkeit.

Frankfurt, Februar 1970

Gerd Kadelbach

Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit

Die Frage ›Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit muß erläutert‹ werden. Sie geht von einer Formulierung aus, die sich während der letzten Jahre als Schlagwort höchst verdächtig gemacht hat. Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen. Der Gestus, es solle alles vergessen und vergeben sein, der demjenigen anstünde, dem Unrecht widerfuhr, wird von den Parteigängern derer praktiziert, die es begingen. In einer wissenschaftlichen Kontroverse schrieb ich einmal: im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst hat man Ressentiment. Aber daß die Tendenz der unbewußten und gar nicht so unbewußten Abwehr von Schuld mit dem Gedanken der Aufarbeitung des Vergangenen so widersinnig sich verbindet, ist Anlaß genug für Überlegungen, die sich auf einen Bereich beziehen, von dem heute noch ein solches Grauen ausgeht, daß man zögert, ihn beim Namen zu nennen.

Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist. Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.

Ich möchte nicht auf die Frage neonazistischer Organisationen eingehen. Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie. Unterwanderung bezeichnet ein Objektives; nur darum machen zwielichtige Figuren ihr come back in Machtpositionen, weil die Verhältnisse sie begünstigen.

Daß die Vergangenheit in Deutschland keineswegs bloß im Kreis der sogenannten Unverbesserlichen, wenn es denn so sein soll, noch nicht bewältigt ward, ist unbestritten. Es wird da immer wieder auf den sogenannten Schuldkomplex verwiesen, oft mit der Assoziation, dieser sei durch die Konstruktion einer deutschen Kollektivschuld eigentlich erst geschaffen worden. Unbestreitbar gibt es im Verhältnis zur Vergangenheit viel Neurotisches: Gesten der Verteidigung dort, wo man nicht angegriffen ist; heftige Affekte an Stellen, die sie real kaum rechtfertigen; Mangel an Affekt gegenüber dem Ernstesten; nicht selten auch einfach Verdrängung des Gewußten oder halb Gewußten. So sind wir im Gruppenexperiment des Instituts für Sozialforschung häufig darauf gestoßen, daß bei Erinnerungen an Deportation und Massenmord mildernde Ausdrücke, euphemistische Umschreibungen gewählt werden oder ein Hohlraum der Rede sich darum bildet; die allgemein eingebürgerte, fast gutmütige Wendung ›Kristallnacht‹ für das Pogrom vom November 1938 belegt diese Neigung. Sehr groß ist die Zahl derer, die von den Geschehnissen damals nichts gewußt haben wollen, obwohl überall Juden verschwanden, und obwohl kaum anzunehmen ist, daß die, welche erlebten, was im Osten geschah, stets über das geschwiegen haben sollen, was ihnen unerträgliche Last gewesen sein muß; man darf wohl unterstellen, daß zwischen dem Gestus des Von-allem-nichts-gewußt-Habens und zumindest stumpfer und ängstlicher Gleichgültigkeit eine Proportion besteht. Jedenfalls haben die dezidierten Feinde des Nationalsozialismus frühzeitig sehr genau Bescheid gewußt.

Wir alle kennen auch die Bereitschaft, heute das Geschehene zu leugnen oder zu verkleinern – so schwer es fällt zu begreifen, daß Menschen sich nicht des Arguments schämen, es seien doch höchstens nur fünf Millionen Juden und nicht sechs vergast worden. Irrational ist weiter die verbreitete Aufrechnung der Schuld, als ob Dresden Auschwitz abgegolten hätte. In der Aufstellung solcher Kalküle, der Eile, durch Gegenvorwürfe von der Selbstbesinnung sich zu dispensieren, liegt vorweg etwas Unmenschliches, und Kampfhandlungen im Krieg, deren Modell überdies Coventry und Rotterdam hieß, sind kaum vergleichbar mit der administrativen Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen. Auch diese Unschuld, das Allereinfachste und Plausibelste, wird abgestritten. Das Unmaß des Verübten schlägt diesem noch zur Rechtfertigung an: so etwas, tröstet sich das schlaffe Bewußtsein, könne doch nicht geschehen sein, wenn die Opfer nicht irgendwelche Veranlassung gegeben hätten, und dies vage ›irgendwelche‹ mag dann nach Belieben fortwuchern. Verblendung setzt sich hinweg über das schreiende Mißverhältnis zwischen höchst fiktiver Schuld und höchst realer Strafe. Zuweilen werden die Sieger zu Urhebern dessen gemacht, was die Besiegten taten, als sie selber noch obenauf waren, und für die Untaten des Hitler sollen diejenigen verantwortlich sein, die duldeten, daß er die Macht ergriff, und nicht jene, die ihm zujubelten. Die Idiotie alles dessen ist wirklich Zeichen eines psychisch Nichtbewältigten, einer Wunde, obwohl der Gedanke an Wunden eher den Opfern gelten sollte.

Bei alldem jedoch hat die Rede vom Schuldkomplex etwas Unwahrhaftiges. In der Psychiatrie, der sie entlehnt ist und deren Assoziationen sie mitschleift, besagt sie, daß das Gefühl der Schuld krankhaft sei, der Realität unangemessen, psychogen, wie die Analytiker es nennen. Mit Hilfe des Wortes Komplex wird der Anschein erweckt, daß die Schuld, deren Gefühl so viele abwehren, abreagieren und durch Rationalisierungen der törichtesten Art verbiegen, gar keine Schuld wäre, sondern bloß in ihnen, ihrer seelischen Beschaffenheit bestünde: die furchtbar reale Vergangenheit wird verharmlost zur bloßen Einbildung jener, die sich davon betroffen fühlen. Oder sollte gar Schuld selber überhaupt nur ein Komplex, sollte es krankhaft sein, mit Vergangenem sich zu belasten, während der gesunde und realistische Mensch in der Gegenwart und ihren praktischen Zwecken aufgeht? Das zöge die Moral aus jenem »Und ist so gut, als wär’ es nicht gewesen«, das von Goethe stammt, aber, an entscheidender Stelle des Faust, vom Teufel gesprochen wird, um dessen innerstes Prinzip zu enthüllen, die Zerstörung von Erinnerung. Die Ermordeten sollen noch um das einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis. Die verstockte Gesinnung derer, die nichts davon hören wollen, fände sich freilich in Übereinstimmung mit einer mächtigen historischen Tendenz. Hermann Heimpel hat mehrfach vom Schrumpfen des Bewußtseins historischer Kontinuität in Deutschland gesprochen, einem Symptom jener gesellschaftlichen Schwächung des Ichs, die Horkheimer und ich schon in der ›Dialektik der Aufklärung‹ abzuleiten versucht haben. Empirische Befunde von der Art, daß die junge Generation vielfach nicht mehr weiß, wer Bismarck und wer Kaiser Wilhelm I. waren, haben den Verdacht des Geschichtsverlusts bestätigt.

Diese deutsche Entwicklung, flagrant erst nach dem Zweiten Weltkrieg, deckt sich aber mit der seit Henry Fords ›History is bunk‹ bekannten Geschichtsfremdheit des amerikanischen Bewußtseins, dem Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung. Es ist kein bloßes Verfallsprodukt, keine Reaktionsform einer Menschheit, die, wie man so sagt, mit Reizen überflutet ist und mit ihnen nicht mehr fertig wird, sondern es ist mit der Fortschrittlichkeit des bürgerlichen Prinzips notwendig verknüpft. Die bürgerliche Gesellschaft steht universal unter dem Gesetz des Tauschs, des ›Gleich um Gleich‹ von Rechnungen, die aufgehen, und bei denen eigentlich nichts zurückbleibt. Tausch ist dem eigenen Wesen nach etwas Zeitloses, so wie ratio selber, wie die Operationen der Mathematik ihrer reinen Form nach das Moment von Zeit aus sich ausscheiden. So verschwindet denn auch die konkrete Zeit aus der industriellen Produktion. Diese verläuft immer mehr in identischen und stoßweisen, potentiell gleichzeitigen Zyklen und bedarf kaum mehr der aufgespeicherten Erfahrung. Ökonomen und Soziologen wie Werner Sombart und Max Weber haben das Prinzip des Traditionalismus den feudalen Gesellschaftsformen zugeordnet und das der Rationalität den bürgerlichen. Das sagt aber nicht weniger, als daß Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft selber als eine Art irrationaler Rest liquidiert werden, ähnlich wie die fortschreitende Rationalisierung der industriellen Produktionsverfahren mit anderen Resten des Handwerklichen auch Kategorien wie die der Lehrzeit, also des sich Erwerbens von Erfahrung, reduziert. Wenn die Menschheit der Erinnerung sich entäußert und sich kurzatmig erschöpft in der Anpassung ans je Gegenwärtige, so spiegelt sich darin ein objektives Entwicklungsgesetz1.

Aus der allgemeinen gesellschaftlichen Situation weit eher als aus der Psychopathologie ist denn wohl das Vergessen des Nationalsozialismus zu begreifen. Noch die psychologischen Mechanismen in der Abwehr peinlicher und unangenehmer Erinnerungen dienen höchst realitätsgerechten Zwecken. Die Abwehrenden selbst plaudern sie aus, wenn sie etwa praktischen Sinnes darauf hinweisen, daß die allzu konkrete und hartnäckige Erinnerung ans Geschehene dem deutschen Ansehen im Ausland schaden könne. Solcher Eifer reimt sich schlecht zusammen mit dem Ausspruch Richard Wagners, der doch nationalistisch genug war, deutsch sein heiße, eine Sache um ihrer selbst willen tun – wenn nicht a priori die Sache selbst als Geschäft bestimmt ist. Die Tilgung der Erinnerung ist eher eine Leistung des allzu wachen Bewußtseins als dessen Schwäche gegenüber der Übermacht unbewußter Prozesse. Im Vergessen des kaum Vergangenen klingt die Wut mit, daß man, was alle wissen, sich selbst ausreden muß, ehe man es den anderen ausreden kann.

Sicherlich sind die angezogenen Regungen und Verhaltensweisen insofern nicht unmittelbar rational, als sie die Tatsachen verzerren, auf die sie sich beziehen. Rational aber sind sie in dem Sinn, daß sie sich an gesellschaftliche Tendenzen anlehnen, und daß, wer so reagiert, sich einig weiß mit dem Zeitgeist. Ein solches Reagieren kommt unmittelbar dem Fortkommen entgegen. Wer sich keine unnützen Gedanken macht, streut keinen Sand ins Getriebe. Es empfiehlt sich, nach dem Mund dessen zu reden, was Franz Böhm so prägnant nicht-öffentliche Meinung nannte. Die sich einer Stimmung anpassen, die zwar durch offizielle Tabus in Schach gehalten wird, darum aber nur um so mehr Virulenz besitzt, qualifizieren sich gleichzeitig als dazugehörig und als unabhängige Männer. Schließlich blieb die deutsche Widerstandsbewegung ohne Massenbasis, und eine solche ist schwerlich von der Niederlage herbeigezaubert worden. Wohl darf man mutmaßen, daß die Demokratie tiefer eingedrungen ist als nach dem Ersten Weltkrieg: der antifeudale, durchaus bürgerliche Nationalsozialismus hat durch Politisierung der Massen, gegen seinen Willen, der Demokratisierung in gewissem Sinn sogar vorgearbeitet. Junkerkaste wie radikale Arbeiterbewegung sind verschwunden; zum ersten Mal ist etwas wie ein homogen bürgerlicher Zustand hergestellt. Aber daß in Deutschland Demokratie zu spät kam, nämlich nicht zeitlich zusammenfiel mit dem wirtschaftlichen Hochliberalismus, und daß sie von den Siegern eingeführt ward, läßt das Verhältnis des Volkes zu ihr schwerlich unberührt. Unmittelbar wird das selten geäußert, weil es einstweilen unter der Demokratie zu gut geht, auch weil es der in politischen Bündnissen institutionalisierten Interessengemeinschaft mit dem Westen, zumal Amerika, entgegen wäre. Aber die Rancune gegen die re-education spricht doch deutlich genug. Soviel wird man sagen können, daß das System politischer Demokratie zwar in Deutschland als das akzeptiert wird, was in Amerika a working proposition heißt, als ein Funktionierendes, das bis jetzt Prosperität gestattete oder gar förderte. Aber Demokratie hat nicht derart sich eingebürgert, daß sie die Menschen wirklich als ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen. Sie wird als ein System unter anderen empfunden, so wie wenn man auf einer Musterkarte die Wahl hätte zwischen Kommunismus, Demokratie, Faschismus, Monarchie; nicht aber als identisch mit dem Volk selber, als Ausdruck seiner Mündigkeit. Sie wird eingeschätzt nach dem Erfolg oder Mißerfolg, an dem dann auch die einzelnen Interessen partizipieren, aber nicht als Einheit des eigenen Interesses mit dem Gesamtinteresse; die parlamentarische Delegation des Volkswillens in den modernen Massenstaaten macht das auch schwer genug. Oftmals wird man in Deutschland, unter Deutschen, der sonderbaren Äußerung begegnen, die Deutschen seien noch nicht reif für die Demokratie. Man macht aus der eigenen Unreife eine Ideologie, nicht unähnlich den Halbwüchsigen, die, wenn sie bei irgendwelchen Gewalttätigkeiten ertappt werden, sich auf ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Teenager herausreden. Das Groteske dieser Argumentationsweise zeigt einen flagranten Widerspruch im Bewußtsein an. Die Menschen, die derart unnaiv die eigene Naivetät und politische Unreife ausspielen, fühlen sich auf der einen Seite schon als politische Subjekte, an denen es wäre, ihr Schicksal zu bestimmen und in Freiheit die Gesellschaft einzurichten. Andererseits stoßen sie aber darauf, daß dem durch die Verhältnisse harte Grenzen gesetzt sind. Weil sie diese Grenzen mit dem eigenen Gedanken nicht zu durchdringen vermögen, schreiben sie die Unmöglichkeit, die in Wahrheit ihnen angetan wird, sich selber zu oder den Großen oder den anderen. Sie spalten sich gleichsam noch einmal, von sich aus, in Subjekt und Objekt auf. Ohnehin definiert es die heute herrschende Ideologie, daß die Menschen, je mehr sie objektiven Konstellationen ausgeliefert sind, über die sie nichts vermögen oder über die sie nichts zu vermögen glauben, desto mehr dies Unvermögen subjektivieren. Nach der Phrase, es käme allein auf den Menschen an, schieben sie alles den Menschen zu, was an den Verhältnissen liegt, wodurch dann wieder die Verhältnisse unbehelligt bleiben. In der Sprache der Philosophie könnte man wohl sagen, daß in der Fremdheit des Volkes zur Demokratie die Selbstentfremdung der Gesellschaft sich widerspiegelt.

Unter jenen objektiven Konstellationen ist die vordringlichste vielleicht die Entwicklung der internationalen Politik. Sie scheint den Überfall, welchen der Hitler auf die Sowjetunion verübte, nachträglich zu rechtfertigen. Indem die westliche Welt als Einheit sich wesentlich durch die Abwehr der russischen Drohung bestimmt, sieht es so aus, als hätten die Sieger von 1945 das bewährte Bollwerk gegen den Bolschewismus nur aus Torheit zerstört, um es wenige Jahre danach wieder aufzubauen. Von dem zur Hand liegenden ›Hitler hat es ja immer gesagt‹ führt ein rascher Weg zur Extrapolation, daß er auch mit anderem recht gehabt habe. Nur erbauliche Sonntagsredner könnten über die historische Fatalität hinweggleiten, daß in gewissem Sinne jene Konzeption, welche einst die Chamberlains und ihren Anhang dazu bewog, den Hitler als Büttel gegen den Osten zu tolerieren, den Untergang des Hitler überlebt hat. Wahrhaft eine Fatalität. Denn die Drohung des Ostens, das Vorgebirge Westeuropas in sich hineinzuschlingen, ist offenbar. Wer ihr nicht widersteht, macht buchstäblich der Wiederholung des Chamberlainschen appeasement sich schuldig. Vergessen wird bloß – bloß! –, daß eben diese Drohung durch die Aktion des Hitler erst ausgelöst worden ist, der genau das über Europa brachte, was er nach dem Willen der appeasers mit seinem Expansionskrieg verhindern sollte. Mehr noch als das einzelmenschliche Schicksal ist das der politischen Verflechtung ein Schuldzusammenhang. Der Widerstand gegen den Osten hat in sich selbst eine Dynamik, welche das in Deutschland Vergangene erweckt. Nicht bloß ideologisch, weil die Parole vom Kampf gegen den Bolschewismus von jeher denen zur Tarnung verhalf, die es mit der Freiheit nicht besser meinen als jener. Sondern auch real. Nach einer schon während der Hitlerzeit gemachten Beobachtung zwingt die organisatorische Schlagkraft der totalitären Systeme ihren Gegnern etwas von ihrem eigenen Wesen auf. Solange das ökonomische Gefälle zwischen dem Osten und dem Westen noch andauert, hat die faschistische Spielart größere Chancen bei den Massen als die östliche Propaganda, während man andererseits freilich auch noch nicht zur faschistischen ultima ratio sich gedrängt sieht. Für beide totalitären Formen aber sind die gleichen Typen anfällig. Man beurteilte die autoritätsgebundenen Charaktere überhaupt falsch, wenn man sie von einer bestimmten politisch-ökonomischen Ideologie her konstruierte; die wohlbekannten Schwankungen der Millionen von Wählern vor 1933 zwischen der nationalsozialistischen und kommunistischen Partei sind auch sozialpsychologisch kein Zufall. Amerikanische Untersuchungen haben dargetan, daß jene Charakterstruktur gar nicht so sehr mit politisch-ökonomischen Kriterien zusammengeht. Vielmehr definieren sie Züge wie ein Denken nach den Dimensionen Macht – Ohnmacht, Starrheit und Reaktionsunfähigkeit, Konventionalismus, Konformismus, mangelnde Selbstbesinnung, schließlich überhaupt mangelnde Fähigkeit zur Erfahrung. Autoritätsgebundene Charaktere identifizieren sich mit realer Macht schlechthin, vor jedem besonderen Inhalt. Im Grunde verfügen sie nur über ein schwaches Ich und bedürfen darum als Ersatz der Identifikation mit großen Kollektiven und der Deckung durch diese. Daß man auf Schritt und Tritt Figuren wiederbegegnet, wie sie in dem Wunderkinderfilm dargestellt werden, hängt weder an der Schlechtigkeit der Welt als solcher noch an angeblichen Sondereigenschaften des deutschen Nationalcharakters, sondern an der Identität jener Konformisten, die vorweg eine Beziehung zu den Schalthebeln aller Machtapparatur haben, mit den potentiellen totalitären Gefolgsleuten. Überdies ist es eine Illusion, daß das nationalsozialistische Regime nichts bedeutet hätte als Angst und Leiden, obwohl es das auch für viele der eigenen Anhänger bedeutete. Ungezählten ist es unterm Faschismus gar nicht schlecht gegangen. Die Terrorspitze hat sich nur gegen wenige und relativ genau definierte Gruppen gerichtet. Nach den Krisenerfahrungen der Ära vor Hitler überwog das Gefühl des ›Es wird gesorgt‹, und gar nicht nur als Ideologie von KdF-Reisen und Blumenkästen in Fabrikräumen. Gegenüber dem laissez faire beschützte die Hitlerwelt tatsächlich bis zu einem gewissen Grade die Ihren vor den Naturkatastrophen der Gesellschaft, denen die Menschen überlassen waren. Gewalttätig nahm sie die gegenwärtige Krisenbeherrschung vorweg, ein barbarisches Experiment staatlicher Lenkung der Industriegesellschaft. Die vielberufene Integration, die organisatorische Verdichtung des gesellschaftlichen Netzes, das alles einfing, gewährte auch Schutz gegen die universale Angst, durch die Maschen durchzufallen und abzusinken. Ungezählten schien die Kälte des entfremdeten Zustands abgeschafft durch die wie immer auch manipulierte und angedrehte Wärme des Miteinander; die Volksgemeinschaft der Unfreien und Ungleichen war als Lüge zugleich auch Erfüllung eines alten, freilich von alters her bösen Bürgertraums. Wohl barg das System, das derlei Gratifikationen bot, das Potential des eigenen Untergangs in sich. Die wirtschaftliche Blüte des Dritten Reiches beruhte in weitem Maß auf der Rüstung zu dem Krieg, der die Katastrophe brachte. Aber jenes geschwächte Gedächtnis, von dem ich sprach, sträubt sich dagegen, diese Argumentationen in sich aufzunehmen. Es verklärt zäh die nationalsozialistische Phase, in der die kollektiven Machtphantasien derer sich erfüllten, die als Einzelne ohnmächtig waren und nur als eine solche Kollektivmacht überhaupt sich als etwas dünkten. Keine noch so einleuchtende Analyse kann die Realität dieser Erfüllung hinterher aus der Welt schaffen und die Triebenergien, die in sie investiert sind. Selbst das Hitlersche va banque-Spiel war nicht so irrational, wie es damals der mittleren liberalen Vernunft dünkte oder heute dem historischen Rückblick aufs Mißlingen. Hitlers Rechnung, den temporären Vorteil maßlos vorangetriebener Aufrüstung über die anderen Staaten auszunutzen, war im Sinn dessen, was er wollte, keineswegs töricht. Wer die Geschichte des Dritten Reiches, zumal die des Krieges sich vergegenwärtigt, dem werden immer wieder die einzelnen Momente, in denen Hitler unterlag, als zufällig erscheinen und als notwendig nur der Verlauf des Ganzen, in dem eben doch das größere technisch-ökonomische Potential des Restes der Erde sich durchsetzte, die sich nicht fressen lassen wollte – gewissermaßen eine statistische Notwendigkeit, keineswegs eine erkennbare Logik Zug um Zug. Die nachlebende Sympathie mit dem Nationalsozialismus braucht nicht gar zu viel Sophistik aufzuwenden, um sich und anderen einzureden, es hätte auch immer ebensogut anders gehen können, eigentlich seien nur Fehler gemacht worden, und der Sturz Hitlers sei ein welthistorischer Zufall, den möglicherweise der Weltgeist doch noch korrigiere.

Nach der subjektiven Seite, in der Psyche der Menschen, steigerte der Nationalsozialismus den kollektiven Narzißmus, schlicht gesagt: die nationale Eitelkeit ins Ungemessene. Die narzißtischen Triebregungen der Einzelnen, denen die verhärtete Welt immer weniger Befriedigung verspricht und die doch ungemindert fortbestehen, solange die Zivilisation ihnen sonst so viel versagt, finden Ersatzbefriedigung in der Identifikation mit dem Ganzen. Dieser kollektive Narzißmus ist durch den Zusammenbruch des Hitlerregimes aufs schwerste geschädigt worden. Seine Schädigung ereignete sich im Bereich der bloßen Tatsächlichkeit, ohne daß die Einzelnen sie sich bewußt gemacht hätten und dadurch mit ihr fertig geworden wären. Das ist der sozialpsychologisch zutreffende Sinn der Rede von der unbewältigten Vergangenheit. Auch jene Panik blieb aus, die nach Freuds Theorie aus ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹ dort sich einstellt, wo kollektive Identifikationen zerbrechen. Schlägt man nicht die Weisung des großen Psychologen in den Wind, so läßt das nur eine Folgerung offen: daß insgeheim, unbewußt schwelend und darum besonders mächtig, jene Identifikationen und der kollektive Narzißmus gar nicht zerstört wurden, sondern fortbestehen. Die Niederlage hat man innerlich so wenig ganz ratifiziert wie nach 1918. Noch angesichts der offenbaren Katastrophe hat das durch Hitler integrierte Kollektiv zusammengehalten und an schimärische Hoffnungen wie jene Geheimwaffen sich geklammert, die doch in Wahrheit die anderen besaßen. Sozialpsychologisch wäre daran die Erwartung anzuschließen, daß der beschädigte kollektive Narzißmus darauf lauert, repariert zu