Es fing so harmlos an - Max Colpet - E-Book

Es fing so harmlos an E-Book

Max Colpet

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Beschreibung

Die bezaubernde Geschichte eines jungen Mädchens und eines Genteman-Gauners, wie sie nur in Paris, der Stadt der Liebe, vorkommen kann. Jeden Abend steht auf dem Perron eines Pariser Bahnhofs die bezaubernde junge Französin Nicole und winkt den Zügen nach. Kein Wunder, dass sie dort als Fräulein Taschentuch bekannt ist. Dabei läßt sie sich dann jeweils, trotz ihres scheinbar großen Abschiedsschmerzes, von irgendeinem fremden Herrn ansprechen und trösten. So war es auch bei einem der Kavaliere, der sie sogar überreden konnte, mit ihm in einen Nachtclub zu gehen. Eines Tages begeht Nicole auf ihren Streifzügen am Bahnhof Ferdinand von Schlieben, der als ehemaliger deutscher Offizier in Paris lebt. Nicole ahnt nicht, dass er als charmanter Heiratsschwindler sein Leben fristet und dass die Polizei ihm auf den Fersen ist. Sie sieht in ihm den Mann ihrer Träume, und auch er sieht in ihr nicht nur ein Opfer für seine Heiratsschwindelei.

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Max Colpet

Es fing so harmlos an

Roman

LangenMüller

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www.langen-mueller-verlag.de

© für das eBook: 2017 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 1979 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8286-6

I.

Paris 1950

Monsieur Leclair wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte seine Frau zum Gare de Lyon gebracht und glücklich in ein Abteil 1. Klasse verfrachtet. Jetzt lehnte sie in ihrer ganzen Üppigkeit aus dem Zugfenster. Ihre scharfe, hohe Stimme drang durch den Lärm und das Stimmengewirr auf dem Bahnsteig. »Augustin! Versprich mir, daß du Carmen regelmäßig fütterst!«

»Oui, ma chère.«

Monsieur Leclair wunderte sich insgeheim, wie seine Frau es übers Herz brachte, ihren geliebten Kanarienvogel für ein paar Tage zu verlassen.

»Und vergiß nicht, ihn nachts zuzudecken!«

»Oui, ma chère.«

Es folgten die üblichen Ermahnungen: das Gas abzudrehen, die Fenster zu schließen, die Sicherheitskette vorzulegen.

Monsieur Leclair nickte mechanisch. Er hatte diese Vorsichtsmaßregeln schon so oft gehört im Laufe seiner zwanzigjährigen Ehe und hörte deshalb nur mit halbem Ohr hin. Er haßte den Bahnhofslärm, dieses Gewirr von Menschen, Koffern, Abschiedsrufen und Letzte-Minute-Küssen. All das war lächerlich, fand er, unwürdig.

Unweit von ihm stand ein hübsches junges Mädchen. Das Gesicht war zart, fast durchsichtig, die Bewegungen jungmädchenhaft. Sie mochte siebzehn Jahre alt sein, höchstens achtzehn. Sie trug einen einfachen Rock und einen Pullover, der eine Nummer zu groß war. Aber sie wirkte nicht plump darin – sondern sehr reizvoll.

Wahrscheinlich verreisen ihre Eltern, dachte Leclair. Oder ihr Bruder. Aber warum machte sie dann ein so trauriges Gesicht? Vielleicht hatte sie sich gerade von ihrem Geliebten verabschiedet? Es mußte schön sein, von einem so zauberhaften jungen Mädchen geliebt zu werden.

»Und geh vom Bahnhof direkt nach Hause …«

Die schrille Stimme seiner Frau rief Monsieur Leclair in die Wirklichkeit zurück. Die Zugtüren wurden zugeschlagen. Wieder nickte der Gatte mechanisch. »Bon voyage!«, sagte er. »Und schreib sofort.« Aber seine Augen suchten das junge Mädchen.

Jetzt setzte sich der Train-Bleu in Bewegung. Die Reisenden beugten sich zu einem letzten Händeschütteln aus dem Fenster. Ein Mann versuchte, noch rasch eine Zeitung zu kaufen, ein anderer bezahlte hastig das Obst, das ihm der Verkäufer hinaufreichte. Leclair, der anstandshalber ein paar Schritte mit dem Zug mitgegangen war, konnte nicht mehr sehen, von wem sich das Mädchen verabschiedete. Er sah nur, wie sie ihr Taschentuch nahm und damit zu winken begann. Erst zögernd, dann immer lebhafter.

Auch in der Menge um sie herum schwenkten viele ihre Taschentücher. Andere winkten mit der Hand. Aber alle diese Gesten verblaßten gegen den Abschiedsschmerz des Mädchens. Verzweifelt, die Zähne auf die Lippen gepreßt, bemühte es sich, die Tränen zurückzuhalten.

Je weiter sich der Zug entfernte, um so heftiger wurde ihr Winken. Man hätte glauben können, daß mit diesem Zug alle Hoffnung aus ihrem Leben entschwand. Das Taschentuch in ihrer schmalen Hand war wie eine weiße Flagge, als wollte sie damit sagen: alles ist aus. Seht, wie verloren ich bin! Ich ergebe mich hilflos meinem Schicksal.

Der Zug war längst am Horizont verschwunden, der Bahnsteig fast leer. Aber das Mädchen stand immer noch da und starrte in die Ferne.

Da trat Monsieur Leclair auf sie zu.

»Nur nicht verzweifeln, ma petite«, sagte er sanft. »Züge gehen – Züge kommen. Die Trennung ist bestimmt nicht für ewig.«

Sie schwieg, als hätte sie ihn nicht gehört.

Er sprach weiter. »Ich weiß nicht, um wen es sich handelt. Ich nehme an, ein sehr guter Freund, jemand, der Ihnen nahesteht…« Das Mädchen schwieg noch immer.

»Wenn er empfindet, was Sie für ihn empfinden, kommt er bestimmt zurück.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht«, sagte sie leise. »Ich weiß, daß ich ihn wiedersehen werde.«

»Na, dann ist doch alles halb so schlimm!« Monsieur Leclair versuchte erneut, sie zu trösten. Er entwickelte eine Beredsamkeit, die ihn selbst erstaunte. »Eines Tages werden Sie wieder hier auf dem Bahnsteig stehen, und der Train-Bleu wird in die Halle donnern. Ihr Freund wird aus dem Zug stürzen – in Ihre Arme. Die Nacht wird zum Tag werden, alles um Sie herum wird sonnig sein, freundlich und hell.«

Sie nickte. »Das ist möglich, aber inzwischen … Ach, Sie können das nicht verstehen!« seufzte sie. »Niemand kann das verstehen.« Sie schluchzte und wandte sich zum Gehen.

Monsieur Leclair folgte ihr. Er war nicht der Mann, der so leicht aufgab. Er hatte sie immerhin zum Reden gebracht. Das war schon etwas.

»Glauben Sie mir, ich verstehe Ihre Situation«, sagte er. »Ich kann mich in Ihre Lage versetzen. Ich war schließlich auch einmal jung.«

Er unterstrich den Satz mit einem breiten Lächeln, doch sie schien keine Notiz davon zu nehmen. Sie hatten inzwischen die Sperre erreicht und gaben dem Beamten ihre Bahnsteigkarten zurück. Jetzt standen sie in der großen, düsteren Halle des Gare de Lyon. Es war der älteste Bahnhof von Paris, und man sah es ihm an. Vor ungefähr hundert Jahren gebaut, hatte er kaum sein Aussehen geändert. Obwohl die meisten Züge inzwischen elektrifiziert worden waren, klebte noch immer der Ruß und Staub der Vergangenheit an den Wänden und an den Glasscheiben, durch die nur schwach und mühevoll das Tageslicht sickerte. Auch der Schein der altmodischen Glühlampen war viel zu kläglich, um der Halle wenigstens jetzt am Abend eine etwas freundlichere Atmosphäre zu geben.

Die Stimmung von Monsieur Leclairs junger Begleiterin wurde nun noch gedrückter. Und irgendwie schien sie froh zu sein, daß sie nicht allein war. Sie schaute zum ersten Male zu ihm auf, und er versuchte erneut, sie zu ermuntern.

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf! Nehmen Sie nicht alles so tragisch! Das Leben geht weiter. Bestimmt sieht morgen schon alles ganz anders aus.« Dabei nahm er sie sanft beim Arm.

Merkwürdigerweise ließ sie es geschehen. Er hatte ein gütiges Gesicht, stellte sie fest, wenn auch das Doppelkinn ein wenig störte. Der Bauch kam zum Glück in dem gutgeschnittenen Anzug nicht so zur Geltung.

»Wie wär’s mit einer kleinen Erfrischung?« fragte er und deutete auf die Tür zum Bahnhofsrestaurant.

»Merci … Ich möchte nichts«, erwiderte sie hastig. »Ich habe weder Hunger noch Durst.«

»Dann leisten Sie mir wenigstens Gesellschaft«, schlug er vor. »Ich muß unbedingt etwas trinken.« Und lächelnd fügte er hinzu, während er die Tür öffnete: »Meine Kehle ist schon ganz trocken vom vielen Reden.«

Das Restaurant war anscheinend renoviert worden. Doch trotz der frischen Farbe, trotz der modernen, zu grellen Beleuchtungskörper und der blinkenden Espressomaschine unterschied es sich kaum von anderen Bistros. Die Luft war verraucht und stickig, der Steinboden übersät mit Zigarettenstummeln und Erdnußschalen. Die Kellner trugen die gleichen, nicht mehr ganz weißen Blusen und Schürzen, die sie schon immer getragen hatten und die wahrscheinlich auch noch die nächste Kellner-Generation tragen würde. Neben einer Reihe von einzelnen Gästen, die vor dem blankgescheuerten Zink des Büfetts standen, um noch schnell vor der Abreise einen Pernod oder ein Glas Pilsener zu trinken, bemerkte man auffallend viele Paare, die offensichtlich die Intimität eines Tisches vorzogen. Sie hatten sich hier ein Rendezvous gegeben oder wollten die letzten gemeinsamen Minuten auskosten, bevor sie sich trennen mußten und der Vorortzug sie oder ihn entführte.

Auch Monsieur Leclair und seine Begleiterin hatten an einem der Tische Platz genommen. Der Kellner brachte ihm einen Martini und ihr ein Sandwich, das sie erstaunlich schnell vertilgte.

»Garçon …!« Er wollte den Kellner bitten, ein zweites für sie zu bringen, aber sie wehrte ab.

»Ich hätte dieses schon nicht nehmen sollen.«

»Warum nicht?«

»Ich kenne Sie doch gar nicht.«

»Richtig, ich habe mich überhaupt noch nicht vorgestellt.« Er erhob sich halb von seinem Sitz. »Mein Name ist Augustin Leclair. Meine Freunde nennen mich selbstverständlich August. Aber jetzt müssen auch Sie mir sagen, wie Sie heißen.«

Das Mädchen zögerte.

»Wenigstens den Vornamen möchte ich gerne wissen … Oder wollen Sie, daß ich ihn errate?«

Sie sah ihn erstaunt an. Er deutete lächelnd auf ihr Taschentuch, mit dem sie verlegen spielte. Ein zierliches N war darauf gestickt. »Nanette … Noemie … Nina?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf.

»Nathalie?«

»So altmodisch ist er nicht«, meinte sie lachend.

Er dachte weiter nach. »Mir fällt kein anderer Name mit N ein«, bekannte er. »Bestimmt ist er sehr ausgefallen.«

»Im Gegenteil, sehr gewöhnlich: Nicole.«

»Nicole«, wiederholte er, »daß ich darauf nicht gekommen bin!«

»Wahrscheinlich paßt der Name nicht zu mir.«

»Das würde ich nicht sagen.«

»Meine Mutter hat mich immer Nicki genannt, mein Vater …« Sie brach plötzlich ab. Tränen standen in ihren Augen. Monsieur Leclair begriff. »Sie haben also keine Eltern mehr?« fragte er mitleidig. »Nein«, sagte sie tonlos, »sie sind beide tot«.

»Geschwister oder sonstige Familie?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann sind Sie also ganz allein in Paris?«

»Ja.«

Er schwieg betroffen. Das habe ich von meiner dummen Neugierde, dachte er. Wozu mußte ich sie an die Vergangenheit erinnern? Nie hätte ich ihr diese Fragen stellen sollen! Sie war schon so aufgetaut… Jetzt ist natürlich alles verdorben. Wie mache ich das nur wieder gut?

Sie kam ihm unbewußt zu Hilfe. »Sie haben recht«, sagte sie, »das Leben geht weiter. Man soll nicht immer klagen und weinen.« Sie steckte resolut das Taschentuch zurück in ihre Handtasche.

Monsieur Leclair nickte zufrieden. »Tränen machen nur häßlich.« Dabei schaute er sie unverwandt an. Wie hübsch sie war, wie frisch, wie natürlich! Dies war einer jener Momente, wo er gerne zwanzig Jahre jünger gewesen wäre.

»Woran denken Sie?« wollte sie wissen.

Als er ihr gestand, woran er gedacht hatte, lachte sie nur. »Ich mag keine zu jungen Männer«, bekannte sie mit überraschender Offenheit.

»Dann ist also Ihr Freund auch nicht mehr so jung?«

»Ende dreißig.«

»Immerhin noch nicht so alt wie ich«, bemerkte Leclair mit einem etwas traurigen Lächeln. Gleichzeitig benutzte er die Gelegenheit, um den Ausspruch eines bekannten Mannes zu zitieren, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnern konnte. »Jeder Mann ist so alt, wie er sich fühlt. Und jede Frau ist so alt, wie sie sich anfühit.«

Nicole lachte. »Das werde ich mir merken«, rief sie vergnügt.

Damit war das Eis endgültig gebrochen. Monsieur Leclair schlug vor, woanders hinzugehen. Es wäre schade, diesen netten Abend jetzt schon zu beenden, fand er. Und als sie einwandte, sie sei nicht danach angezogen, winkte er ab. Sie sehe viel besser aus als all die anderen aufgetakelten Damen. Außerdem könne man das gar nicht so genau sehen im Dunkeln.

Sie starrte ihn entsetzt an: »Wo – wo wollen Sie mich denn hinführen?«

»Nach Saint-Germain-des-Prés, in ein bezauberndes kleines Lokal, wo es nicht darauf ankommt, wie man angezogen ist.«

»Also eine boîte-de-nuit?« Nicole machte noch immer ein entsetztes Gesicht. Monsieur Leclair beruhigte sie. Es sei kein gewöhnliches Nachtlokal, versicherte er ihr, sie könne ihm ruhig vertrauen.

»Und wie heißt es?«

»›Select‹. Haben Sie nie davon gehört?«

»Nein.«

»Es wird Ihnen bestimmt gefallen.«

»Also gut«, willigte sie ein. »Aber nur für ein Weilchen.« Gleichzeitig sagte sie ihm, daß sie telefonieren müsse. Er war ein wenig überrascht.

»Ich muß die Leute, bei denen ich wohne, verständigen«, erklärte sie. »Ich habe ihnen gesagt, daß ich vom Bahnhof direkt nach Hause komme – sie sind sonst beunruhigt.« Das sah er ein.

Nicole verließ den Tisch, während Monsieur Leclair den Arm hob, um den Kellner zu rufen. Dabei fiel sein Blick auf den Ehering an seiner Hand, an den er in der ersten Aufregung überhaupt nicht gedacht hatte. Sonst hätte er ihn wahrscheinlich abgenommen. Er überlegte einen Moment, ob er es jetzt noch tun sollte, aber irgendwie kam es ihm feig und läppisch vor. Außerdem hatte Nicole ihn wahrscheinlich längst bemerkt.

II.

Die Straßen in Saint-Germain-des-Prés waren eng und dunkel. Monsieur Leclair zog es daher vor, seinen Wagen am Boulevard St. Germain zu parken.

»Wir haben nur ein paar Schritte zu laufen«, erklärte er Nicole, die sich neugierig umsah. Sie standen direkt vor dem Café des Flores, dem berühmten Treffpunkt von Künstlern und solchen, die es werden wollen. Es wimmelte von Literaten und Journalisten, Malern und ihren Modellen, Existentialisten und Bürgern wie Leclair, die hierher kamen, um sie wie exotische Tiere zu bestaunen.

Das »Select« lag gleich um die Ecke, in der Rue St. Benoit. Von außen hatte es nichts von einem Nachtlokal. Kein Schild, kein Neonzeichen. Der Eingang sah aus wie eine gewöhnliche Haustür. Leclair zog einen Schlüssel aus der Tasche und wollte sie öffnen. Nicole wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Ich dachte, wir gehen in eine boîte-de-nuit«, protestierte sie stotternd. »Wenn Sie denken, ich …« Bevor sie den Satz beenden konnte, wurde die Tür von innen aufgerissen, und eine Gruppe junger Leute stürmte lärmend an ihnen vorbei. Gleichzeitig drangen Fetzen wilder Jazzmusik ins Freie. Nicole senkte beschämt den Blick, während Leclair sie wortlos beim Arm nahm und in das Lokal führte.

Innen begegneten sie Männern im Smoking und anderen in Bluejeans, Frauen in Abendkleidern und anderen in Overalls. Es war ein wildes Durcheinander von Moden, Sprachen und Sitten. Nur eins schien alle zu vereinen: der heiße, aufreizende Rhythmus der Musik. Dabei gab es gar keine Band. Es wurden nur Platten gespielt, französische und amerikanische »disques«, darunter viele, die man im Laden noch gar nicht kaufen konnte. Es war eine sogenannte »Diskothek«, eine Art Klub, dessen Mitglieder Schlüssel besaßen. Monsieur Leclair war es gelungen, einen Tisch in der Ecke zu bekommen, wo sie nicht so gedrängt saßen.

»Nun, habe ich Ihnen zuviel versprochen?« fragte er stolz.

»Das habe ich nicht erwartet«, gestand Nicole und rückte näher an ihn heran. »Geht es in allen Nachtlokalen so toll zu?«

Er sah sie erstaunt an. »Sie waren noch nie in einem Nachtlokal?«

»Nein. Mein Freund meint, ich sei zu jung dazu.«

Eines der Mädchen, das die Gäste bediente, hatte inzwischen eine Flasche Champagner gebracht, entkorkt und die Gläser gefüllt. Doch Nicole nippte nur daran.

»Nicht gut?« fragte Monsieur Leclair besorgt.

Nicole zuckte die Achseln. »Ich habe auch noch nie Champagner getrunken«, gestand sie. »Mein Freund will nicht, daß ich so etwas trinke.« Sie nahm einen Schluck und kicherte. »Es kitzelt so komisch … wird man davon betrunken?«

»Nicht von einem Glas«, beruhigte sie Monsieur Leclair.

Nicole trank weiter. »Wenn mich mein Freund hier so sähe …«, sagte sie dann. Gleichzeitig bekam sie einen Schluckauf. »Ich hätte das Zeug nie trinken sollen«, stotterte sie.

»Das geht vorüber«, sagte Monsieur Leclair ruhig, während er ihr Glas wieder füllte.

»Wenn er mich hier so sähe …«, wiederholte das Mädchen.

»Unmöglich! Er ist sicher schon in Dijon. Wahrscheinlich sitzt er gerade im Speisewagen.«

»Mit einer anderen Frau?«

»Nein, mit einem langweiligen Buch«, beruhigte Monsieur Leclair sie hastig, denn um ihre Mundwinkel zuckte es schon wieder verdächtig.

Die nächste Platte war ein Tango.

»Den tanzen wir!« rief Monsieur Leclair spontan und griff nach Nicoles Hand.

Sie zögerte.

»Aber ich kann nicht tanzen… Ich habe…«

»… noch nie getanzt«, ergänzte Monsieur Leclair lächelnd. »Dann wird es Zeit, daß Sie es lernen.«

Es ging erstaunlich gut. Sie war leicht und graziös. Es war ein Kinderspiel für ihn, sie zu führen.

»Sehen Sie, wie gut es geht«, sagte er zufrieden.

»Weil Sie ein so guter Tänzer sind.«

Leclair mußte lachen. »Das müßten Sie meiner Frau erzählen. Sie findet, ich tanze wie ein Bär. Es kommt eben auf den Partner an.«

Mein Gott, dachte er, wenn man die Zeit zurückdrehen könnte! Vielleicht wäre dieser Abend dann nicht nur ein flüchtiges Abenteuer, sondern der Anfang einer großen Liebe. Gleichzeitig wurde er sich bewußt, daß er ihr Vater hätte sein können. Na, wenn schon, sagte er sich, es haben schon viele ältere Männer junge Mädchen geliebt.

Er merkte plötzlich, daß die Musik aufgehört hatte und daß er sie noch immer in seinen Armen hielt. Die anderen Paare hatten schon die Tanzfläche verlassen. Ein wenig verlegen geleitete er Nicole zum Tisch zurück.

»Ich war so in Gedanken …«, sagte er zu seiner Entschuldigung.

»Bei Ihrer Frau?« fragte sie lächelnd.

Er zog es vor, nicht zu antworten, sondern hob sein Glas.

»Trinken wir auf unsere Begegnung!«

Nicole lachte.

»Ich meine das ganz ernst«, beteuerte Monsieur Leclair.

»Aber ich lache doch nur, weil Sie so komisch aussehen, wenn Sie ernst sind.«

Jetzt mußte auch er lachen. »Sie sind einfach zauberhaft, Nicole!« Er drückte ihr spontan einen Kuß auf die Wange.

»Moment! Wollen Sie bitte so bleiben!« rief in diesem Augenblick eine Männerstimme. Überrascht sahen sie beide auf. Vor ihrem Tisch stand ein Fotograf und zückte seine Kamera.

Leclair winkte ab. »Wir brauchen kein Foto, danke.«

Doch der Fotograf rührte sich nicht vom Fleck. Er sah genau so aus, wie man sich einen Pariser Fotografen vorstellt, er trug einen kleinen Spitzbart, der ihm fast etwas Diabolisches gab, und eine Baskenmütze. »Es ist immer nett, ein Souvenir zu haben«, meinte er lächelnd. »Eine Erinnerung an einen schönen Abend.«

»Wir sind aber nicht daran interessiert«, wiederholte Leclair.

»Es dauert genau eine Sekunde«, beharrte der Fotograf.

»Also gut, machen wir ihm das Vergnügen«, erklärte Leclair, um ihn loszuwerden, und er schmiegte sich wieder an Nicole.

Der Fotograf strahlte übers ganze Gesicht, während er seine Kamera erneut hochhielt. »Ein bißchen näher zusammen, wenn ich bitten darf! Genau wie vorhin! So ist’s recht!« Er drückte ab. Das Blitzlicht zuckte auf. »Voilà! Es hat nicht mal weh getan«, meinte er grinsend.

Auch die beiden mußten lachen.

Als Nicole und Monsieur Leclair eine Stunde später die Diskothek verließen, hatten sie das Foto längst vergessen.

Sie waren gerade im Begriff, in Leclairs Wagen zu steigen, als der komische Fotograf ihnen nachgehumpelt kam. Sie merkten jetzt erst, daß er hinkte.

»Moment, meine Herrschaften!« rief er. »Sie vergessen Ihr Souvenir!«

»Richtig!« Leclair erinnerte sich.

Der Fotograf schwenkte den noch nassen Abzug in der Hand.

»Meine Arbeit ist immer erstklassig«, erklärte er stolz. »Aber dieses Foto ist mir besonders gut gelungen!«

»Wieviel?« fragte Monsieur Leclair kurz und zückte seine Brieftasche, um den Wortschwall des Fotografen zu unterbrechen.

»Sagen wir für Sie … Künstlerpreis: fünfhundert Francs.«

»Was?« Leclair starrte ihn fassungslos an. »Wieviel?«

»Fünfhundert Francs«, wiederholte der Fotograf ruhig.

Leclair suchte nach Worten. »Das ist doch …«

»… fast geschenkt«, ergänzte der Fotograf grinsend und hielt ihm das Foto unter die Nase. »Sie haben es doch noch gar nicht richtig angesehen, Monsieur … Wie Sie sich zärtlich an die junge Dame schmiegen … Der Ausdruck der Gesichter … Das Glück spiegelt sich in Ihren Augen …«

»Das ist mir egal!« unterbrach Monsieur Leclair ihn erregt.

»Vielleicht interessiert es um so mehr Ihre Frau!«

Leclair schwieg betroffen. Er hatte alles erwartet, nur das nicht. Also darauf lief es hinaus: eine plumpe Erpressung.

»Was sind schon fünfhundert Francs für einen Mann wie Sie«, fuhr der Fotograf fort. »Sie helfen einem armen Künstler, und schließlich ist es immer noch billiger als eine Scheidung.«

»Wenn Sie mich erpressen wollen, dann sind Sie an den falschen Mann geraten!«

»Erpressen …« Der Fotograf machte ein beleidigtes Gesicht. »Was für ein häßliches Wort!«

»Nicht einen Franc bekommen Sie von mir!« Monsieur Leclair steckte resolut seine Brieftasche zurück in den Anzug. »Und jetzt verschwinden Sie! – Oder ich hole die Polizei!«

Nicole hatte die ganze Zeit abseits gestanden und geschwiegen, sie schien in Gedanken ganz woanders zu sein. Außerdem hatte sie einen kleinen Schwips. »Man sagt sich Adieu und denkt, es ist aus …«, summte sie leise. Es war eine Platte aus der Diskothek, die ihr besonders gefallen hatte. Als sie aber jetzt das Wort »Polizei« hörte, erschrak sie plötzlich. »Ich hätte nicht mit Ihnen gehen sollen«, stammelte sie.

»Es wird einen Skandal geben… Mein Freund wird alles erfahren …«

»Nichts wird passieren«, beruhigte sie Leclair.

»Und wenn er das Foto herumzeigt?«

»Das ist nicht so einfach. Dazu muß er meinen Namen wissen und meine Adresse.«

Sie waren inzwischen bei Leclairs Wagen angelangt. Er half Nicole beim Einsteigen. »Und jetzt tun Sie mir den Gefallen und vergessen Sie diesen dummen Zwischenfall«, bat er.

Er mußte in seiner Erregung vergessen haben, in den Rückspiegel zu schauen, denn als er mit seinem Wagen aus der Parklücke fahren wollte, stieß er mit einem Taxi zusammen. Zum Glück war es nicht in voller Fahrt, der Chauffeur hatte wahrscheinlich gerade halten wollen. Der Zusammenstoß war daher nicht allzu heftig und der Schaden gering. An Leclairs Limousine war der Kotflügel ein wenig zerkratzt, beim Taxi die Stoßstange verbogen, wobei nicht einmal mit Sicherheit zu sagen war, ob dieser Schaden nicht von einem anderen Unfall stammte. Denn dieses Taxi war eines von jenen Altertümern, wie man sie nur noch in Paris findet.

Doch das tat dem Stolz des Besitzers keinen Abbruch. Als Monsieur Leclair, der sich nicht lange aufhalten wollte, ihm vorschlug, das Ganze zu vergessen, pflanzte er sich breitspurig vor ihm auf.

»Das könnte Ihnen so passen! Ich habe mein Geld nicht gestohlen!« Er war noch ziemlich jung und – dem Jargon nach zu urteilen – ein echter Pariser.

»Kommen Sie, machen Sie nicht so ein Theater«, erwiderte Leclair, der nun doch seine Würde zu verlieren schien. »Die Stoßstange war sowieso verbogen!«

»Ich werd’ Ihnen auch gleich was verbiegen!« Der Taxichauffeur nahm jetzt eine drohende Haltung an. Monsieur Leclair begriff, daß mit ihm nicht zu spaßen war. Außerdem genierte er sich vor den Passanten, die sich inzwischen versammelt hatten.

»Ist ja schon gut«, sagte er deshalb zu dem Taxichauffeur. »Ich werde die Sache meiner Versicherung melden.«

Aber dem Taxichauffeur genügte das nicht. »Das kann jeder sagen«, erwiderte er.

»Was wollen Sie denn noch?«

»Ihren Namen und Ihre Adresse.«

»Hier!« Leclair reichte ihm seine Visitenkarte.

Der Taxifahrer trat beiseite, um im Licht der Laterne die Karte besser lesen zu können, da tauchte neben ihm eine andere Figur auf.

Es war der Fotograf, der in der nächtlichen Beleuchtung noch gespenstischer wirkte. Er grinste über das ganze Gesicht, während er dem Chauffeur über die Schulter schaute. Dann holte auch er ein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche.

Monsieur Leclair gab sich geschlagen. »Sie können sich die Mühe sparen«, sagte er zu dem Fotografen und zückte seine Brieftasche. »Hier sind zweihundert Francs.«

»Aber …«

»Keinen Sous mehr!«

Der Fotograf nahm achselzuckend das Geld. »Sie haben Glück, daß ich kein Geschäftsmann bin«, erklärte er mit einem schmierigen Lächeln. Gleichzeitig übergab er Leclair die Abzüge und das Negativ.

Damit war der Zwischenfall für Monsieur Leclair aus der Welt geschafft. Nicht aber für Nicole. Schweigend saß sie neben Leclair im Wagen, während sie am Odeon vorbeifuhren. Das Theater war gerade aus. Die eleganten Besucher strömten aus dem Eingang und eilten auf ihre Limousinen zu, deren Türen von den livrierten Chauffeuren aufgerissen wurden.

»Wahrscheinlich gab es heute abend eine Galavorstellung«, bemerkte Leclair, bemüht, mit dem Mädchen wieder eine Konversation zu beginnen.

Doch Nicole antwortete nicht. Sie schaute zur anderen Seite. Dort lag der Jardin du Louxembourg mit seinen alten Kastanienbäumen und der Fontaine Medicis. Wahrscheinlich hatte sie sich dort oft mit ihrem Freund getroffen, dachte Leclair.

Der Wagen bog in die Rue de Panthéon ein. »Würden Sie bitte hier halten?« bat Nicole.

»Wieso? Wohnen Sie hier?«

»Nein, aber nicht weit von hier. Ich kann die paar Schritte laufen.«

»Um diese Zeit?« Monsieur Leclair, der den Wagen gestoppt hatte, sah sie erstaunt an. »Haben Sie denn keine Angst?«

»Nein.«

»Aber Sie scheinen Angst vor mir zu haben.« Nicole schüttelte den Kopf.

»Dann kann ich Sie doch bis vors Haus fahren«, drängte er, »es sei denn …« Er wollte sagen: Es sei denn, Sie haben Lust, noch woanders hinzugehen. In eine kleine Bar. Oder zu mir nach Hause, wobei er sich erinnerte, daß er Carmen noch nicht zugedeckt hatte. Aber er wußte, daß Nicole nicht einwilligen würde, darum brach er mitten im Satz ab.

»Man könnte uns sehen«, fuhr Nicole fort. »Die Leute würden darüber sprechen. Es ist wirklich besser so. Ich weiß, daß Sie dafür Verständnis haben, denn Sie sind ein Kavalier.«

Monsieur Leclair mußte lächeln. Auf dieses Kompliment hätte er in dieser Situation gerne verzichtet. Dennoch sagte er: »Es tut mir leid, daß der Abend einen so häßlichen Abschluß genommen hat.«

»Ach so … Sie meinen den Fotografen.« Nicole lächelte. »Das habe ich längst vergessen. Aber jetzt ist es wirklich Zeit, daß ich gehe …«

»Moment, ich helfe Ihnen.« Er sprang aus dem Wagen und öffnete ihr die Tür.

Sie reichte ihm die Hand. »Au revoir – und nochmals vielen Dank.«

»Au revoir«, wiederholte er, tonlos und enttäuscht.

Ehe er sich versah, war sie verschwunden. Es war, als hätte die Nacht sie aufgesogen.

III.

Im Quartier Latin steht eine Reihe von Häusern, die sämtliche Kriege, Revolutionen und Stürme der Zeit überdauert haben. Sie sind solide gebaut, mit dicken Mauern und festen Fundamenten. Man hört dort nicht, wenn jemand in der Nachbarwohnung hustet oder staubsaugt, und man fährt nicht erschrocken aus dem Schlaf, wenn jemand spät nachts nach Hause kommt. Dafür sind diese Häuser in einem höchst beklagenswerten Zustand, der Putz bröckelt ab, die Wände haben Risse, die Decken feuchte Stellen, und die Wasserrohre platzen, wenn der Frost hereinbricht. Mit einem Wort, diese Häuser schreien nach Renovierung, die der Hauswirt regelmäßig verspricht und nie ausführt.

In einem solchen Haus wohnte auch Saturnin Ripotot, der spitzbärtige Fotograf. Es stand in der Rue de Cujas, einer ziemlich ruhigen Straße und hatte vielen alten Häusern eins voraus: einen Ascenseur, einen Aufzug.

Es war eines jener antiquierten Modelle, denen man gut Zureden mußte, damit sie sich langsam und mit Höllenlärm in Bewegung setzten. Man konnte Gott danken, wenn man glücklich oben ankam, meistens aber blieb man unterwegs stecken.

Doch in diese Gefahr konnte Saturnin nicht kommen, denn neben dem Ascenseur hing ein Schild »Arrêt momentané«

»Im Augenblick ausser Betrieb«. Es hing schon seit Jahren da, und die Mieter hatten sich damit abgefunden. Auch der Fotograf, obwohl er in der obersten Etage wohnte.

Mühsam kletterte er die alte Treppe hinauf, deren abgewetzte Stufen unter seinen Füßen knarrten. »Diese Treppe ist mein Tod«, seufzte er, sich zu dem Taxichauffeur wendend, der ihm folgte und den er jetzt mit »Sylvain« anredete.

Beide hielten einen Moment an, um zu verschnaufen. Eine Aufschrift an der Wand lautete: »Zum Fotografen – 2 Treppen höher«.

»Ich bleibe aber höchstens ein Viertelstündchen«, sagte Sylvain, als sie ihren Weg fortsetzten.

»Gut, gut, mein Junge.« Saturnin klopfte ihm kollegial auf die Schulter. »Ich will ja nur, daß du noch einen Cognac mit mir trinkst!« Es bestand kein Zweifel darüber, daß sie das Gelingen der kleinen Erpressung schon einmal begossen hatten.

Ripotots Appartement war eine merkwürdige Mischung von Boheme und Bürgerlichkeit. Die Räume waren klein, die Wände schräg. Doch gerade das wirkte behaglich. Als sie das Wohnzimmer betraten, das gleichzeitig als Atelier diente, wurden sie von einem kleinen Hund freudig angebellt. Es war ein kurzhaariger, brauner Dackel, der auf den Namen »Filou« hörte, das hieß, falls er hören wollte.

»Frauchen zu Hause?« fragte Saturnin.