Sag mir wo die Jahre sind - Max Colpet - E-Book

Sag mir wo die Jahre sind E-Book

Max Colpet

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Beschreibung

Der erfolgreiche Chanson- und Schlagertexter, Drehbuch- und Librettischreiber Max Colpet hat die turbulente Geschichte seines Lebens im Auf und Ab des internationalen Showgeschäfts, im Wechsel der politischen Ereignisse, die für den Emigranten immer wieder Flucht, Internierung, Armut und neuen Aufstieg bedeuteten, für seine fünfzehnjährige, in Amerika aufgewachsene Tochter Anne geschrieben. Ihr »und ihrer Generation, die vieles nicht weiß, was sie vielleicht wissen sollte«, ist dieses Buch gewidmet. Anekdotenreich und witzig erzählt Max Colpet von seinen Begegnungen und Freundschaften in Berlin, Paris, Hollywood und anderswo im Wechsel der Zeiten. In dem bunten Bilderbogen seines Lebens sind Namen wie Werner Finck, Hans Albers, Gustav Fröhlich, Friedrich Hollaender, Billy Wilder, Robert Siodmak, Roberto Rossellini, Erich Maria Remarque, Anna Magnani, Edith Piaf, Danielle Darrieux und viele andere verzeichnet. Vor allem aber ist es immer wieder Marlene Dietrich, von der Max Colpet die schönsten Geschichten zu erzählen weiß. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 509

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Max Colpet

Sag mir wo die Jahre sind

Erinnerungen eines unverbesserlichen Optimisten

FISCHER Digital

Inhalt

Gewidmet meiner Tochter Anne-Caroline [...]Sag mir, wo die Blumen sind»Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen!« (Königsberg 1914)Die nicht immer so goldenen zwanziger Jahre (Berlin 1928)Wer liest schon die »B. Z. am Mittag«? (Berlin 1930Blick zurück in Liebe (Hamburg 1924)Vorbei die schönen Tage von Arosa (Arosa 1973)Das »Weltkaff« am Lago Maggiore (Ascona 1971)Wie Gott in Frankreich – Erste Begegnung mit Marlene (Paris 1933)Wer zuerst von Liebe spricht, muß zahlen (Paris 1935)»Es wird ein Wein sein, und wir werd'n nimmer sein.« (Wien 1938)Ein Königreich für einen Kanister Benzin! (Tours 1940)Und das so früh am Morgen! (Ascona 1974)Man beschimpft nicht ungestraft die Gestapo (Paris 1941)Immer noch kein Paß, kein Visum (Marseille 1941)»Rien ne va plus!« (Cannes/Monte Carlo 1942)»Kann ich mal Ihre Papiere sehen?« (Bandol 1943)Es führt kein andrer Weg über die Grenze (Thonon-les-Bains 1943)Auch in der Schweiz gab es Lager (Genf/Büren 1943)»Ein Schimmel wurde geschlachtet.« (Ampfernhöhe/Möhlin)Wiedersehen mit Marlene (Paris 1945)Rossellini und »Das Jahr Null« (Berlin 1947)Weißbrot, Spaghetti und Anna Magnani (Rom 1947)Die Nacht wird zum Tag (New York 1948)Zu Gast bei Billy Wilder (Hollywood 1948)Das Callgirl und die »anständigen« Frauen (Hollywood 1949)Marlene, wie sie keiner kennt (Hollywood 1950)Europa, du hast mich wieder! (München 1956)Die Seichten mögen meine Sachen nicht (München 1966)Es geht nicht ohne Politik (Baden-Baden 1960)Die amusische Welt der Gewalt (München 1970)Mein Gott, warum kann ich mich nicht besaufen! (Ascona 1975)Auf ins Gelobte Land! (Tel Aviv 1975)Ein Tag im Kibbuz (Haifa/S'dot Yam 1975)Unvergeßliches Jerusalem (Über den Wolken 1976)»Ein Baum hat Hoffnung …« (München 1976)Namensverzeichnis

Gewidmet meiner Tochter Anne-Caroline und ihrer Generation, die vieles nicht weiß, was sie vielleicht wissen sollte.

Sag mir, wo die Blumen sind

Sag mir, wo die Blumen sind. Wo sind sie geblieben?

Sag mir, wo die Blumen sind. Was ist geschehn?

Sag mir, wo die Blumen sind. Mädchen pflückten sie geschwind.

Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn?

Sag mir, wo die Mädchen sind. Wo sind sie geblieben?

Sag mir, wo die Mädchen sind. Was ist geschehn?

Sag mir, wo die Mädchen sind. Männer nahmen sie geschwind.

Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn?

Sag mir, wo die Männer sind. Wo sind sie geblieben?

Sag mir, wo die Männer sind. Was ist geschehn?

Sag mir, wo die Männer sind. Zogen fort – der Krieg beginnt.

Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn?

Sag, wo die Soldaten sind. Wo sind sie geblieben?

Sag, wo die Soldaten sind. Was ist geschehn?

Sag, wo die Soldaten sind. Über Gräbern weht der Wind.

Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn?

Sag mir, wo die Gräber sind. Wo sind sie geblieben?

Sag mir, wo die Gräber sind. Was ist geschehn?

Sag mir, wo die Gräber sind. Blumen blühn im Sommerwind.

Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn?

Sag mir, wo die Blumen sind. Wo sind sie geblieben?

Sag mir, wo die Blumen sind. Was ist geschehn?

Sag mir, wo die Blumen sind. Mädchen pflückten sie geschwind.

Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn?

»Siegreich woll’n wir Frankreich schlagen!«

Königsberg 1914

Es läutete zweimal kurz und scharf. Neugierig lief ich zur Tür und öffnete. Draußen stand ein Polizist in Uniform mit blanker Pickelhaube und dem damals typischen, an den Ecken hochgezwirbelten Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart, der seinem Auftreten die nötige Autorität verlieh.

»Sind deine Eltern da?«

»Jawohl«, erwiderte mein Vater, der hinter mir stand. »Was wünschen Sie?«

»Sie haben binnen vierundzwanzig Stunden die Festung Königsberg zu verlassen!«

»Allein!«

»Nein, mit Ihrer Familie.«

Das war’s. Kurz und bündig. Kein weiteres Wort der Erklärung. Bevor mein Vater irgendwelche anderen Fragen stellen konnte, hatte der Polizist kehrtgemacht und war verschwunden, um – wie sich dann herausstellte – einer Reihe von weiteren russischen Familien und Personen den gleichen Bescheid zu überbringen.

Das Ganze ereignete sich am frühen Morgen des 1. August 1914, an dem das Deutsche Reich offiziell Rußland den Krieg erklärt hatte. Vorausgegangen war die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo, das Ultimatum Österreichs an Serbien, dem kurz darauf die Kriegserklärung folgte.

Ich war vor zwei Wochen neun Jahre alt geworden, also noch zu jung, um die tieferen Ursachen dieses Ersten Weltkrieges zu verstehen. Ehrlich gesagt, interessierten sie mich auch nicht. Entente cordiale, Elsaß-Lothringen, Marokkofrage waren für mich fremde Begriffe. Ich wußte weder etwas von einer Krise des Zarentums noch von gefährlicher deutscher Flottenpolitik.

Ich hatte andere Sorgen und Probleme. Ich besuchte eine Mädchenschule und mußte mich in meiner Klasse als einziger Junge gegen dreiundzwanzig langhaarige Wesen verteidigen; grausame kleine Bestien, die täglich neue Tricks und Methoden erfanden, um mich zu demütigen und zu schikanieren. Daß ich seitdem nicht eine entschiedene Aversion gegen alles Weibliche entwickelt habe, ist ein Wunder. Aber damals waren ja Freud und seine Theorien noch nicht allgemein bekannt.

Warum ich gerade in diese Schule kam, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich hing es damit zusammen, daß meine Eltern noch immer Russen waren, obwohl sie schon lange in Königsberg lebten. Dort hatten mein älterer Bruder und ich das Licht der Welt erblickt. Zwanzig Jahre später, als ich mich mit dem Gedanken trug, Deutscher zu werden, das heißt, mich naturalisieren zu lassen, und vor einem Berg von Schwierigkeiten, Formalitäten und Formularen stand, begriff ich, warum meine Eltern ihre Nationalität nicht geändert hatten. Erstens konnte es Jahre dauern, bis ein solches Gesuch berücksichtigt wurde, zweitens genügte das Veto eines einzigen deutschen Staates, sagen wir Bayern oder Baden-Württemberg, um es ein für allemal abzulehnen. Meinem Bruder gelang es dann allerdings. Ich wünschte, er wäre staatenlos geblieben – vielleicht lebte er heute noch.

»… die Festung Königsberg verlassen.« Ich empfand das gar nicht als so tragisch. Jetzt brauchst du nicht mehr in die Mädchenschule zu gehen, sagte ich mir, mußt dich nicht mehr mit diesen dummen Gänsen herumzanken.

Meine Tochter, der ich all das erklärte, nickte verständnisvoll.

»Und wo liegt dieses Königsberg?« wollte sie wissen. »Nie was von gehört!«

»Das kannst du auch nicht. Es heißt jetzt Kaliningrad.«

»Und wo liegt Kaliningrad?«

»In Rußland.«

»Du sagtest doch, du bist in Deutschland geboren?«

»Stimmt. Es gehörte ursprünglich zu Ostpreußen, bis es die Russen nach dem Zweiten Weltkrieg annektierten.«

»Verstehe.«

Sie verstand es zwar nicht ganz, aber ich ging nicht weiter darauf ein. Sie wollte mehr über meinen Geburtsort wissen. Ich mußte mein Gedächtnis anstrengen. Zu viel war inzwischen geschehen, zu viel hatte ich seitdem erlebt.

»Es soll eine sehr schöne Stadt gewesen sein«, sagte ich. »Ich erinnere mich nur an eine große Eisenbahnbrücke, die sich drehte, was mir sehr imponierte; an viele Türme, deren Namen ich längst vergessen habe; die Mädchenschule, in der ich litt, was ich nie vergessen werde; die Straße, in der wir wohnten – Schnürlingstraße hieß sie –, wo ich mit anderen Kindern Murmeln spielte, und an meinen großen Schäferhund …«

»Warum sagst du ›meinen‹ Schäferhund?« unterbrach mich Anne. »Gehörte er dir allein?«

»Nein, natürlich nicht. Aber du weißt, wie man als Kind ist. Da gehört einem alles, was man gern hat.«

»Ich dachte, du liebst keine Tiere.«

»Wie kommst du darauf?«

Anne schwieg verlegen. Ich dachte mir meinen Teil. Meine Frau – wir lebten seit Jahren getrennt – hatte mir das einmal vorgeworfen. Ohne Grund übrigens. Doch ich zog es vor, auf dieses Thema nicht weiter einzugehen. Qui s’excuse s’accuse – sagte der Franzose mit Recht. Wer sich entschuldigt, klagt sich an.

»Und was ist aus dem Schäferhund geworden?« fragte meine Tochter nach einer Pause.

»Er starb, und zwar kurz bevor wir wegmußten.«

»Der Ärmste!«

»Dabei war er nicht sehr alt. Wahrscheinlich hätten wir ihn gar nicht mitnehmen können, und er wollte uns den Abschied leichtmachen. Tiere fühlen so etwas.«

Mit diesem Satz hatte ich die Sympathie meiner Tochter wiedergewonnen.

»Hunde haben ja eine ausgesprochene Aversion gegen Uniformen«, erklärte ich, »die sogar oft vor harmlosen Briefträgern nicht haltmacht. Bestimmt hätte er den Polizisten mit der Pickelhaube gebissen, aber da ruhte er schon unter der Erde. Der Hund.«

Und so waren wir wieder bei dem ursprünglichen Thema: dem Ausweisungsbefehl. »… innerhalb vierundzwanzig Stunden.« Das ist leicht gesagt. Wie meine Eltern es geschafft haben, in dieser relativ kurzen Zeitspanne nicht nur für vier Personen die Koffer zu packen, sondern gewissermaßen einen Haushalt aufzulösen, das Notwendige vom Überflüssigen zu trennen, von teuren Andenken und Sachen, an denen das Herz hing, kurzerhand Abschied zu nehmen, ist mir bis heute ein Rätsel. Ich fand das alles eher aufregend. Oder hätte ich die Tragik und Tragweite dieses – auch für mein weiteres Leben entscheidenden – Schrittes schon damals begreifen sollen?

»Du warst doch noch ein Kind«, meinte meine Tochter.

»Genau. Aber es soll Kinder geben, die in solchen Momenten erwachsen werden.«

»Wurdest du das?«

Ich schüttelte den Kopf. Wenn ich allerdings geahnt hätte, daß sich 1933 – also neunzehn Jahre später – diese Situation wiederholen würde, es wieder hieß: Koffer packen, alles stehen und liegen lassen, um Deutschland den Rücken zu kehren, hätte ich mir bestimmt vieles genauer eingeprägt.

»Woran denkst du?« fragte Anne.

»An nichts, nichts Besonderes. Iß ruhig weiter.«

Wir saßen in dem eleganten Speisesaal des Hotels Excelsior in Arosa. Sie hatte sich gewünscht, ihre Osterferien dort zu verbringen. Und ich war froh, sie einmal längere Zeit für mich allein zu haben – und nicht nur jeden ersten Sonntag im Monat. Ich hatte so wenig Kontakt zu ihr. Hoffte immer noch, daß es mir gelingen würde, unser Verhältnis herzlicher zu gestalten, daß die erste Frage bei unserem monatlichen Wiedersehen nicht lauten würde: »Hast du mir mein Taschengeld mitgebracht?« Oder: »Bekomme ich zum Geburtstag ein Bandgerät?«

Sie war jetzt fünfzehn Jahre alt, aber oft noch von einer erstaunlichen Naivität. Das störte mich nicht. Im Gegenteil. Besser als zu frühreif, dachte ich, wenn ich andere junge Mädchen sah, die sich bereits schminkten und jede Modetorheit mitmachten. Dafür war sie manchmal sehr eigensinnig, ließ sich nicht gern etwas sagen.

»Du mußt die Leute grüßen, wenn du in den Speisesaal kommst.«

»Warum?«

»Weil das so Sitte ist.«

»Quatsch!«

»Sag nicht Quatsch, wenn dein Vater dir etwas erklärt!«

Sie mußte lachen.

»Da gibt es nichts zu lachen!«

»Doch. Wir sehen uns einmal im Monat, und da willst du mir beibringen, was ich zu tun habe. Erzähl mir lieber weiter, was geschah, als ihr aus Königsberg wegmußtet.«

»Interessiert dich das wirklich?«

»Klar.«

»Mußt du nicht runter ins Dorf, Schlittschuh laufen?« fragte ich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß ich ihr nicht zuviel auf einmal erzählen sollte. Sie sah auf ihre Armbanduhr und stellte fest, daß sie noch über eine Stunde Zeit hatte. Ihr Training begann erst um drei Uhr.

»Du kannst mich ja mit deinem Wagen hinfahren.«

»Okay«, sagte ich, »dann iß schnell dein Dessert zu Ende.«

Beim Verlassen des Speisesaals grüßte sie die wenigen Gäste, die noch da waren. Die kleine Lektion hatte also doch genutzt.

 

Es hatte wieder angefangen zu schneien. Der Winter wollte dieses Jahr kein Ende nehmen; dafür hatte er auch sehr spät begonnen – zum Leidwesen vieler Wintersportler. Dummerweise war die Tribüne der Kunsteisbahn nicht überdacht. Ich schlug meinen Mantelkragen hoch und verfolgte weiter, wie Anne geschickt und elegant die Achten und Pirouetten wiederholte, die die Trainerin ihr zeigte. Der Schnee störte sie nicht. Sie war sichtlich glücklich. Und ich war froh, daß sie glücklich war. Und stolz auf sie. Schade, daß die Sonne nicht schien. Ich hätte sie gern fotografiert. Ich besaß so wenig Bilder von ihr. Das letzte hatte ich vor drei Jahren aufgenommen, am Strand in Forte dei Marmi. Und dann war da noch ein verwackeltes Foto, beim Reiten in Tegna.

Im Grunde konnte sich meine Tochter über ihre Jugend nicht beklagen, wenn auch die Trennung ihrer Eltern sie bestimmt belastete. Aber daran war leider nichts zu ändern. Sie hatte sich scheinbar damit abgefunden und aufgehört, diesbezüglich Fragen zu stellen. Doch bestimmt muß sie daran gedacht haben, als ich mich nach dem Mittagessen mit ihr in die Hotelhalle setzte, um ihr zu erzählen, was nach dem 1. August 1914 geschehen war: die Abreise im überfüllten Zug … hineingepfercht in Abteile 3. Klasse … kaum Luft zum Atmen … Zwischenstation in Stettin … übernachten im dortigen Viehhof … auf Stroh, Koffer als Kopfkissen … dazu das dauernde Gebrüll der Tiere. Als wir Kinder endlich eingeschlafen waren – die Erwachsenen machten kaum ein Auge zu –, wurden wir wieder geweckt. Weiter ging’s … in einem anderen, noch engeren Zug … keiner wußte wohin … niemand sagte es einem. Uns war speiübel, wir hatten Hunger und Durst, dazu die unerträgliche Hitze. Aber wir jammerten nicht. Kein Wort der Klage kam über unsere Lippen. Wir schwiegen – genau wie unsere Eltern, hielten uns fest an der Hand. Ab und zu hörte man ein Baby schreien, dann wurde der Händedruck noch fester.

Wir hatten sehr an unseren Eltern gehangen, mein Bruder und ich, hatten sie bewundert, verehrt, geliebt – doch dieses unerwartete gemeinsame Erlebnis schien uns noch mehr aneinander zu binden. Total erschöpft erreichten wir das Ziel der Reise, Bad Liebenstein, einen kleinen Kurort in Thüringen.

Wieder die Frage: Wo liegt das? Diesmal die Antwort: In der DDR. Und zwar seit 1952. Aber damals gehörte Thüringen noch zum Deutschen Reich, genauso wie Sachsen. Beide Staaten hatten auch eines gemeinsam – den schrecklichen Dialekt. Anlaß für viele Witze, insbesondere über den angeblich nicht sehr gescheiten letzten König von Sachsen, Friedrich August III., der bei seinem Thronverzicht gesagt haben soll: »Na scheen, macht eiren Dreck alleene!« Was beweist, daß er doch nicht so dumm war.

Da wir auf dem Bahnsteig von zwei uniformierten Polizisten empfangen wurden, hielt man uns – wir waren etwa fünfzig Familien – für die ersten russischen Kriegsgefangenen, beschimpfte uns und bewarf uns mit Steinen. Vorher war unser Gepäck genau geprüft worden; ein großes Stück Seife schnitt man auf, um zu sehen, ob keine Bombe darin verborgen war.

Nichts ist schlimmer als der erste Kriegstaumel, der noch künstlich geschürt wurde, vor allem von den Zeitungen, bis er in tödlichen Haß, in allgemeine Hysterie oder panische Angst ausartete. »Jeder Schuß – ein Russ’! Jeder Tritt – ein Brit’! Jeder Stoß – ein Franzos’!« malte man sinnvoll und siegessicher an die Mauern und Eisenbahnwagen, die zur Front rollten.

Glücklicherweise konnte sich die Zivilbevölkerung in dem kleinen Ort bald von unserem friedlichen Charakter überzeugen. Die Behörden verzichteten darauf, uns einzusperren, was sie nur Geld gekostet hätte. Wir durften uns selbst Zimmer suchen und verpflegen; wir hatten nur nicht das Recht, den Ort zu verlassen. Sicherheitshalber hatte man allen vorher sämtliche Papiere, Pässe und andere Ausweise abgenommen.

Ein Kurort kann schön und angenehm sein – in der Saison. Obwohl es Sommer war, Hochsommer sogar: keine Spur von Ferienbetrieb. Wir waren die einzigen, unfreiwilligen Gäste. Meine Eltern drehten, wie alle anderen Erwachsenen, jede Mark dreimal um, bevor sie sie ausgaben. Ersparnisse sind schnell weg, wenn man nichts dazuverdient. Und daran war im Moment nicht zu denken. Um so mehr dachten beide an die Zukunft. Man glaubte und hoffte zwar allgemein, daß der Krieg bald zu Ende sein würde. Die deutschen Siegesmeldungen begannen sich zu häufen. Generalfeldmarschall von Hindenburg, der neunzehn Jahre später als seniler Reichspräsident die Machtübernahme durch Adolf Hitler ermöglichte, war der Held des Tages. Hätte jemand gewagt vorauszusagen, daß dieser unsinnige Krieg – welcher Krieg ist es nicht? – noch vier lange, bittere Jahre dauern würde, er wäre als unverbesserlicher Pessimist beschimpft worden.

So hatten die Eltern ihre Sorgen, wir Kinder aber langweilten uns. Keine Schule. Keine Pflichten. Keine Aufgaben. Am Anfang war das ganz schön, doch nicht auf die Dauer. Wir lasen keine Zeitungen, interessierten uns nicht für Politik. Der Alltag wurde zum Sonntag, und der Sonntag war wie ein Alltag. Der einzige Feiertag war und blieb der Sonnabend.

An dieser Stelle meiner Erzählung unterbrach mich meine Tochter, die bis dahin schweigend zugehört hatte.

»Wieso«, fragte sie erstaunt. »Warum gerade der Sonnabend?«

Ich hätte besser »Sabbat« sagen sollen, fiel mir ein. Gleichzeitig erinnerte ich mich, daß wir uns bisher nie über Religion unterhalten hatten. Auch das lag an dem mangelnden Kontakt. Ich hatte es mir schon des öfteren vorgenommen, aber dann war es doch nie dazu gekommen. Es hatte auch der Anlaß gefehlt. Jetzt war er da. Jetzt war Anne reif genug, hoffte ich, um gewisse Dinge zu verstehen. Also erklärte ich: »Es waren meistens jüdische Familien dort, und der Sonnabend ist der offizielle Ruhetag der Juden.«

»Ach so!«

Sie schwieg einen Moment nachdenklich.

»Man nennt ihn auch ›Sabbat‹«, ergänzte ich. »Oder ›Schabbes‹.«

»Auf russisch?«

»Nein, auf jiddisch.«

»Das verstehe ich nicht.« Sie sah mich verwirrt an. »Sprechen denn die Russen Jiddisch?«

»Nein, nur die polnischen Juden.«

»Sprichst du es auch?«

»Ich spreche es nicht, aber ich verstehe es.«

»Aber deine Eltern, die haben Jiddisch gesprochen?«

»Wenn, dann nur sehr selten«, erwiderte ich. »Dein Großvater und deine Großmutter sprachen fließend Russisch und Deutsch. Sie waren bereits assimiliert.«

Jetzt mußte ich ihr erklären, was man unter »assimiliert« versteht, daß mein Vater in Wilna geboren war und die Mutter in Dünaburg, daß beide sehr früh geheiratet hatten und gemeinsam nach Deutschland gingen, wo sich mein Vater als Kaufmann in Königsberg niederließ. Er sprach Deutsch ohne jeden Akzent, war geachtet und beliebt. Keiner fragte danach, ob er Russe oder Deutscher war. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, als der Krieg ausbrach. Natürlich gab es in Königsberg, wie in allen deutschen Städten, auch eine jüdische Gemeinde mit einer schönen großen Synagoge, in der man sich bereits am Freitagabend – der Sabbat begann offiziell mit dem Sonnenuntergang – zum Gottesdienst traf.

»Auch du und dein Bruder?«

»Ja, mein Kind.«

»Ihr wart also sehr fromm?«

»Nicht übertrieben.«

Es war nicht immer leicht, Annes Fragen zu beantworten, aber ich freute mich über ihr Interesse. Sie wollte wissen, ob wir auch gebetet haben und was für Gebete das waren. Ich erklärte es ihr, so gut es ging. Manchmal ließ mich meine Erinnerung im Stich. Zum Glück insistierte sie nicht. Ich brachte das Gespräch wieder auf das ursprüngliche Thema: unsere kleine jüdische Gemeinde in Bad Liebenstein. Als Synagoge diente der Festsaal eines der Hotels, den man zu diesem Zweck etwas umarrangiert hatte, damit es einen Platz für die »Thora« – das handgeschriebene jüdische Gesetzbuch – gab und für den Kantor.

»Und weißt du, wer dieser Kantor war?« fragte ich.

»Nein.«

»Dein Großvater.«

»Konnte er denn so gut singen?«

»Ja«, sagte ich mit einem gewissen Stolz. »Er hatte eine sehr schöne Stimme.«

»Die hast du aber nicht von ihm geerbt«, meinte Anne lachend.

»Leider«, gab ich zu.

»Und in welcher Sprache sang er?«

»Hebräisch.«

Das schien ihr am meisten zu imponieren. Sie wußte, daß Hebräisch jetzt die offizielle Sprache in Israel ist. Sie hatte die »Sabras«, die jungen Frauen und Mädchen in Uniform, auf dem Fernsehschirm bewundert. Schon vor Jahren. Als wir damals bei einem gemeinsamen Spaziergang eine Gruppe von Kindern sahen, die mit Spielzeuggewehren und Revolvern spielten, wollte sie, daß ich ihr auch so etwas kaufe. Ich lehnte das kategorisch ab. Sie könne jedes Spielzeug von mir haben, versicherte ich ihr, aber nicht diesen Kram!

»Warum nicht?«

»Weil damit schon genug Unheil in der Welt angerichtet worden ist.«

Außerdem fügte ich hinzu, um mein Argument zu stützen, daß das zur Not Sachen für Knaben und Burschen wären, die damit ihre Männlichkeit zur Schau stellen wollen, aber keinesfalls für Mädchen und Frauen. Die tragen keine Waffen.

»So, und in Israel?!« erwiderte Anne spontan. Ich schwieg und verfluchte heimlich das Fernsehen, während wir unseren Spaziergang fortsetzten.

»Und du, kannst du auch Hebräisch?«

Meine Tochter wiederholte ihre Frage, da ich – noch ganz in Gedanken – nicht genau hingehört hatte. Als ich zugeben mußte, daß ich es einmal gelernt, zum größten Teil aber vergessen hätte, war ich bei ihr ziemlich unten durch. Sie ahnte nicht, unter welchen Umständen man es mir beigebracht hatte, wie ich gezwungen worden war, es zu lernen – und wie ich darunter gelitten hatte. Ich kam auch gar nicht mehr dazu, es ihr zu erzählen.

»Um Himmels willen, wie spät ist es?« fragte sie plötzlich, sich an ihre Trainingsstunde erinnernd. Es war kurz vor drei. Sie lief hinauf in ihr Zimmer, um ihre Schlittschuhe zu holen. Wir rasten mit dem Wagen hinunter ins Dorf zur Kunsteisbahn. Die Trainerin wartete schon.

Es hatte aufgehört zu schneien. Die Sonne kam langsam durch die Wolken. Der Himmel wurde blau. Man konnte wieder die schneebedeckten Berge sehen. Welch herrliches Panorama!

Anne glitt über das Eis, glücklich und zufrieden. Die Trainerin machte ihr Komplimente. Sie lief wirklich gut. Ihr Gesicht strahlte. Nur manchmal, wenn die Sonne sie blendete, kniff sie ein Auge zu. Ob sie noch daran dachte, was ich ihr im Laufe des Tages erzählt hatte? Ich glaubte kaum. Kinder vergessen schnell. Und wahrscheinlich ist das gut so. Sie sind zwar neugierig, stellen viele Fragen, doch im Grunde interessiert sie die Gegenwart mehr als die Vergangenheit. Sie wollen möglichst unbelastet ihre Jugend genießen.

Wie war das bei mir gewesen, fragte ich mich. Was hatte ich mit fünfzehn Jahren getan? Wo war ich damals? In Hamburg. Als die Internierung aufgehoben worden war, nachdem man sich von unserer Harmlosigkeit überzeugt hatte, durften meine Eltern sich in der Hansestadt niederlassen. Ich war nicht darauf gefaßt, daß dort eine neue Leidenszeit für mich beginnen würde. Wieder lag es an der Schule. Diesmal waren es keine Mädchen, die mich piesackten, sondern gleichaltrige Knaben.

Die Schule hieß »Talmud-Thora« und war, wie schon der Name verrät, eine rein jüdische Schule. Meine Mitschüler, alles Söhne gutbürgerlicher jüdischer Familien, betrachteten mich als feindlichen Ausländer. Sie waren nationalistischer als viele deutsche Jungen. Ihre Eltern nannten sich bewußt: Deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens. Kein Wunder, daß die Kinder es für ihre Pflicht hielten, mich bei jedem deutschen Sieg zu verprügeln. Und an denen fehlte es in den ersten Kriegsjahren nicht. Natürlich wehrte ich mich, aber das machte die Sache nur schlimmer. Meine blauen Flecke waren kaum noch zu zählen. Ich verbarg sie vor meinen Eltern, so gut es ging, beklagte mich nicht, schützte irgendwelche dummen Unfälle vor, nahm es in Kauf, wegen meiner Ungeschicklichkeit gescholten zu werden, versprach, demnächst vorsichtiger zu sein. Wozu sollte ich meiner Mutter Kummer, meinem Vater Sorgen bereiten? Er hatte genug damit zu tun, sich eine neue Existenz aufzubauen. Außerdem wußte ich, daß mich – als Kind russischer Eltern – keine andere Schule aufgenommen hätte.

Um so mehr wuchs in mir heimlich ein Haß. Ein Gefühl, das ich bisher nicht gekannt hatte. Ich haßte die Schule, in die man mich zu gehen zwang. Ich haßte meine Klassenkameraden, die mich derartig peinigten, und die Lehrer, die das wußten, aber die Augen verschlossen und nichts dagegen taten. Ich haßte die übertriebene Frömmigkeit, die nicht im Einklang stand mit dem Gebaren und Verhalten der Menschen, die sie zur Schau stellten. Und so kam es, daß ich auch die Sprache zu hassen begann, die dort als Hauptfach galt: Hebräisch. Ich lernte es, mußte es lernen, um nicht sitzenzubleiben, um weiterzukommen, meine Reifeprüfung zu machen und so endlich in der Lage zu sein, dieses verdammte Institut zu verlassen.

Und noch etwas anderes lernte ich: was es heißt, in der Minorität zu sein, daß es schon genügt, einer Minderheit anzugehören, um automatisch ein Opfer der Mehrheit zu werden, der Majorität, die so ihre Stärke beweisen will. Leider kommt meist noch eine Portion Sadismus hinzu, die oft zu unnötiger, plumper Brutalität führt. Das sollte ich gleichfalls in der nächsten Schule zu spüren bekommen, wo ich diesmal in meiner Klasse der einzige Jude unter lauter christlichen Mitschülern war. Wieder bezog ich Senge, wie man es damals in der Jungensprache nannte. Dabei war der Krieg seit einem Jahr aus. Deutschland hatte sich, wie man so schön sagt, zu Tode gesiegt und mußte eine schimpfliche Niederlage durch die Alliierten einstecken. Kaiser Wilhelm II., der seinerzeit die stolze Parole ausgegeben hatte »Siegreich woll’n wir Frankreich schlagen«, war nach Doorn in Holland geflüchtet, um von dort aus endgültig auf seinen Thron zu verzichten. Deutschland war jetzt laut der neuen Weimarer Verfassung Republik.

Viele, vor allem nationale Elemente, waren damit nicht einverstanden. Man suchte einen Sündenbock, suchte jemand, dem man die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Schon zeigten sich die ersten Spuren von Antisemitismus. Man begann heimlich Hetzblätter zu verteilen und kleine Zettel mit antijüdischen Sprüchen an die Häuserwände und Bäume zu kleben, die von Streicher, dem späteren Herausgeber des »Stürmer«, hätten verfaßt sein können.

Eines Tages klebte ein solcher Zettel auf meiner Schulbank. Ich entfernte ihn wortlos. Ich hatte bereits eine ganze Sammlung zu Hause. Die Pausen auf dem Schulhof verbrachte ich meistens allein, aß still mein Butterbrot, hatte mich daran gewöhnt, mit keinem zu sprechen, war froh, wenn es läutete und die nächste Schulstunde begann. Aber eines Tages kam eine Gruppe meiner »lieben« Klassenkameraden auf mich zu. Sie hatten einander untergehakt und bildeten so eine Wand, gegen die ich anrennen mußte, ob ich wollte oder nicht. Es sei denn, ich lief feige davon. Aber dieses Vergnügen bereitete ich ihnen nicht. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, schlug wild um mich. Natürlich zog ich den kürzeren. Am liebsten wäre ich nach Hause gerannt, um nie wieder diese Schule zu betreten, aber auch diesen Gefallen wollte ich der Bande nicht erweisen. Damit hätten sie ja ihr Ziel erreicht.

Verdreckt und blutig, mit blauem Auge und geschwollenen Lippen betrat ich als letzter die Klasse und setzte mich schweigend auf meinen Platz. Kurz nach mir erschien unser Klassenlehrer, Herr Dr. Seemann. Er streifte mich nur mit einem kurzen Blick, dann wandte er sich zu den anderen Schülern.

»Ihr seid ja eine mutige Gesellschaft«, sagte er. »Sieben gegen einen. Toll!«

Er hatte augenscheinlich vom Fenster des Lehrerzimmers aus die Szene auf dem Hof beobachtet.

»Dabei bin ich überzeugt, daß es der kleine Kolpe mit jedem einzelnen von euch aufnimmt.«

Allgemeines Schweigen. Die Schuldigen drehten ein wenig den Kopf und sahen sich heimlich an.

»Na, was ist?« fuhr Dr. Seemann fort. »Meldet sich keiner freiwillig? Na gut, dann werde ich einen aussuchen!«

Er trat auf Jürgen Hansen zu, den längsten der sieben Burschen, und ließ ihn nach vorne kommen. Dann rief er auch mich und gab uns das Zeichen, einen regelrechten Ringkampf zu beginnen, während der Schulstunde vor der gesamten Klasse, die mucksmäuschenstill zusah.

Ich weiß nicht, wie es mir gelang, den langen Lulatsch auf den Rücken zu legen. Unwillkürlich dachte ich, während ich verbissen kämpfte, an David und Goliath. Ich hatte zwar keine Schleuder, aber ich war zum Glück gewandter als der etwas ungeschickte Klassen-Riese. Damit hatte Dr. Seemann gerechnet – das begriff ich allerdings erst später. Er war ein hervorragender Pädagoge und Menschenkenner, den ich im Laufe meiner weiteren Schuljahre mehr und mehr zu bewundern begann. Nachdem ich Jürgen, der mit seinen langen, dünnen Armen versuchte, mich in den Schwitzkasten zu bekommen, durch eine plötzliche Körperwendung zu Fall gebracht hatte, warf ich mich sofort über ihn – stämmig war ich ja – und ließ ihn nicht wieder los.

»So«, sagte Dr. Seemann, »das war’s.«

Ich traute meinen Ohren nicht, als die anderen Schüler zu klatschen begannen, während ich mich etwas mühsam aufrichtete und zurück auf meinen Platz ging, um mich schnell zu setzen. Ein Glück, daß es vorüber war. Mein Herz klopfte, meine Knie waren weich, das Atmen fiel mir schwer – lange hätte ich das nicht mehr durchgehalten.

Aber seit diesem Tag war meine Situation in der Klasse eine andere. Man hatte mich akzeptiert. Ich wurde – obwohl immer noch Minderheit – von der Majorität respektiert. Nie wieder kam es zu einem ähnlichen Zwischenfall. Im Gegenteil, man nahm mich in die Hockeymannschaft der Schule auf, was eine besondere Ehre war.

Das veranlaßte mich, noch mehr Sport zu treiben. Wie ein Verrückter lief ich gleich nach der Schule auf den Sportplatz, zur Verzweiflung meiner armen Mutter, die vergebens mit dem Mittagessen auf mich wartete. Es gab kaum einen Sport, den ich nicht betrieb: Hockey, Fußball, Leichtathletik. Abends ging ich außerdem noch turnen. Nichts hielt mich davon ab. Weder ein gebrochenes Bein noch ein verrenkter Arm. Wenn ich heute daran denke, wieviel schöne und wichtige Bücher ich in der Zeit hätte lesen können, wieviel Lücken meine Bildung dadurch erhielt, die man nie wieder schließen kann. Aber damals hatte ich nur ein Ziel, das ich mit meiner ganzen jugendlichen Besessenheit und Blindheit verfolgte: meine körperliche Verfassung. Stark wollte ich sein, um mich wehren zu können – um jeden Preis.

Vielleicht sollte ich das alles auch meiner Tochter erzählen, überlegte ich, vielleicht würde sie mich dann besser verstehen, würde begreifen, daß ich alles in meiner Macht Stehende tat und weiter tue, um ihr eine angenehme, möglichst sorglose Jugend zu ermöglichen. Und eine entsprechende Erziehung. Andererseits müßte sie auch lernen, daß man im Leben nicht alles haben kann, nur weil man es sich wünscht oder weil andere es haben. Oder weil ihr die Mutter sagt, daß sie es verlangen darf, verlangen soll.

Ach was, sie wird mit dem Leben und seinen Problemen früh genug Bekanntschaft machen. Wie sagte sie noch, als sie beim Mathematikunterricht völlig versagte, es ihr einfach nicht in den Kopf gehen wollte, daß man mehr als das Einmaleins wissen muß.

»Warum muß ich das unbedingt wissen?«

»Damit du, wenn du groß bist, rechnen kannst.«

»Wozu, das kann mein Mann dann für mich tun!«

Das war vor sieben Jahren. Ob sie heute auch noch so denkt? Mir fiel ein, daß ich sie fotografieren wollte. Es war höchste Zeit. Die Sonne begann hinter den Bergen zu verschwinden. Anne setzte zur letzten Pirouette an. Ich zückte den Apparat. Klick. Hoffentlich waren die Aufnahmen gelungen.

Die nicht immer so goldenen zwanziger Jahre

Berlin 1928

Man zeigte »Schwanensee« im Fernsehen. Eine russische Produktion, leider nicht vom berühmten Moskauer Bolschoi-Ballett und dem unvergleichlichen Rudolf Nurejew. Die Choreographie basierte – wie die Ansagerin versicherte – auf der Urfassung des Leningrader Kirow-Balletts. (Allerdings war dieser Sergej Kirow nie Tänzer oder Choreograph gewesen, sondern der Chef der Kommunisten von Leningrad. Daher hat man dieses Leningrader Ballett nach ihm benannt.)

Ich erinnerte mich unwillkürlich an die Zeit vor der Russischen Revolution, als fast jede Tänzerin, die man sah oder traf, vom Kaiserlichen Russischen Ballett kam. Dieses Institut muß jährlich, wie ich damals festgestellt hatte, Tausende von Ballettratten ausgebildet haben, mit denen es Europa überschwemmte.

Die Produktion war für meinen Geschmack etwas zu düster, aber vielleicht lag das an der Übertragung oder an dem Apparat in Arosa. Meine Tochter fand es nicht. Ihr gefiel vor allem die Musik. Sie liebt alles, was klassisch ist. Von Pop will sie nichts wissen. Darum interessiert sie auch nichts, was ich geschrieben habe, weder Musicals noch Chansons. Sie fragt zwar gelegentlich, wenn von einem meiner Texte die Rede ist: »Hast du das erfunden?« Aber damit hat sich’s.

Wie anders hatte sie doch reagiert, als sie klein war, fast noch ein Baby, und man sie fragte, was ihr Vater mache. »Der ist S-chriftsteller«, erwiderte sie dann stolz und etwas lispelnd. »Dem wachsen die Gedanken im Kopf.« Solche Sätze vergißt man nie. Das soll erst einmal einem Erwachsenen einfallen, denkt man neidisch.

Es gab kaum eine Sinfonie, die sie nicht selbst auf Band überspielt hatte. Kinder sind ja heute technisch viel weiter, als wir es in diesem Alter waren. Und halten das für ganz selbstverständlich. Ich mußte an unsere Reise denken. Sie hatte mich gefragt, ob sie den Kassettenrecorder mitnehmen dürfe. Wenn ich nein gesagt hätte, wäre er trotzdem mitgenommen worden. Es störe mich doch nicht, wenn sie etwas Musik mache, fragte sie wiederum, lieb und höflich, kaum daß ich den Wagen gestartet hatte. Ich nickte zustimmend. »Aber bitte nicht zu laut.«

So mußte ich mir vier Stunden lang immer wieder Beethovens »Pastorale« und die »Pathétique« von Tschaikowsky anhören. In voller Lautstärke, daß mir die Ohren nur so dröhnten. Und ich hatte ihr das Ding auch noch zu Weihnachten geschenkt. Das war die Strafe! Ehrlich gesagt, hatte ich etwas Angst vor dieser Fahrt gehabt. Die Wettervorhersage war nicht allzugut gewesen, und vor genau einem Jahr hatte ich mich auf der gleichen Strecke zweimal gedreht.

»Du hast nie etwas komponiert?« fragte Anne unvermittelt.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil man nicht alles machen kann. Es ist schon schwer genug, gute Texte zu schreiben.«

»Du hast also immer nur Texte geschrieben?«

»Nicht nur Texte – Libretti, Theaterstücke, Filme, Fernsehsendungen.«

Ich war froh, daß sie mich danach fragte. Es war das erste Mal. Immer schon hatte ich ihr etwas über meine Arbeit erzählen wollen. Es war Zeit, daß meine Tochter begriff, was es hieß, freischaffender Künstler zu sein. Das erklärte ich ihr jetzt, so gut es ging, in wenigen Worten, ohne zu sehr auf Einzelheiten einzugehen. Wozu sollte ich ihr fünfzehnjähriges Gemüt mit Fragen und Problemen belasten, für deren Verständnis ihr die Voraussetzungen und das nötige Wissen fehlten. Wahrscheinlich würde es sie auch gar nicht interessieren, wie verflixt schwer es heutzutage für einen Autor ist, sich einen Namen zu machen, oder den Namen, den er sich mühsam erarbeitet hat, nicht zu verlieren. Hätte ich ihr etwas vom Triumph der Mittelmäßigkeit erzählen sollen oder dem Weg des geringsten Widerstandes, den man gehen muß, um – in der Blütezeit der Massenmedien – Erfolg zu haben und das nötige Geld zu verdienen? Konsumgesellschaft, Wohlstandsstaat, Establishment – bestimmt hatte sie von diesen Begriffen schon gehört, im Fernsehen, im Rundfunk. Es werden sich sicher noch andere Gelegenheiten ergeben, mich mit ihr darüber zu unterhalten, wenn ich sie auch selten sehe. Laß sie erst einmal älter sein. Vielleicht kommt sie dann von selbst darauf zu sprechen.

Im Moment interessierte sie etwas anderes. Ob ich das Abitur gemacht habe, wollte sie wissen.

»Ja, in Hamburg.«

»Und dann?«

»Ging ich nach Berlin, studieren.«

»Was?«

»Bauingenieur.«

»Und wieso bist du dann Schriftsteller geworden?« fragte sie verwundert.

»Das hat sich so ergeben.«

Das Gesicht meiner Tochter nahm einen noch erstaunteren Ausdruck an. Mit Recht. Das eine paßte nicht zum anderen. Und doch haben mir meine mathematische Schulung und das logische Denken unbewußt beim Schreiben geholfen. Vor allem bei der Konstruktion von Stücken und Drehbüchern.

Allerdings sollte ich in diesem Zusammenhang in Frankreich eine kuriose Erfahrung machen. Als ich 1933 Deutschland verlassen hatte, schrieb ich dort meinen ersten französischen Film, zusammen mit Yves Myrande, einem der damals erfolgreichsten Boulevardautoren und Dialogisten, dessen Esprit ich nicht genug bewundern konnte. Von ihm stammt unter anderem der herrliche, einmalige Ausspruch: »Il y a tant des tapettes – mais ils ne se reproduisent pas.« (Wie kommt es, daß es immer mehr Schwule gibt – dabei vermehren sie sich doch gar nicht.)

Während unserer gemeinsamen Arbeit entstanden manchmal Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen. Hinzu kam noch, daß mein Französisch nicht gerade perfekt war, von meinem Akzent ganz zu schweigen. Als ich mir also einmal erlaubte, als Gegenargument zu erklären: »Ce n’est pas très logique«, da platzte dem guten Yves die Geduld. »Oh, ihr blöden Deutschen …«, schrie er, »avec votre verfluchte logique!« Seitdem habe ich in Frankreich nie mehr dieses Wort in den Mund genommen.

Ich muß unwillkürlich gelächelt haben. Woran ich dächte, wollte Anne wissen, während sie den Bandapparat an ihr Ohr hielt, um eine leise Stelle besser hören zu können. Jetzt war wieder die »Pastorale« dran.

»Ich war mit meinen Gedanken in Paris.«

»Du wolltest mir doch erzählen, warum du Schriftsteller geworden bist.«

»Richtig.«

Ich öffnete ein wenig das linke Wagenfenster. Wir hatten gerade den San-Bernardino-Tunnel durchfahren. Auch auf der Nordseite der Alpen schien zum Glück die Sonne.

»Weißt du, das kam so: Ich mußte mir mein Studium verdienen.«

»Wieso? Hatten deine Eltern nicht genug Geld?« Ich wußte, daß diese Frage kommen würde.

»Doch, sie hatten genug Geld. Aber mein Bruder studierte bereits. Das genügte, fanden sie. Ich sollte Kaufmann werden, um später die Firma meines Vaters zu übernehmen.«

»Und warum bis du nicht Kaufmann geworden?«

»Weil ich studieren wollte, genau wie mein Bruder. Ich hatte den gleichen Dickkopf wie du.«

Annes Gesicht blieb ernst. »Du findest also, daß ich einen Dickkopf habe?« fragte sie leicht beleidigt.

»Ja, sonst müßte ich mir dein Band-Konzert nicht wieder in voller Lautstärke anhören.«

»Gut«, sagte sie, »wenn du willst, kann ich es ja abstellen.«

»Das habe ich nicht von dir verlangt, nur bitte etwas leiser.«

Wie sehr sie ihren Dickkopf durchzusetzen verstand, sollte ich übrigens später erfahren, als ich in ihrem Hotelzimmer den weißen Hamster entdeckte, den sie trotz meines Vetos heimlich in einer Reisetasche mitgenommen hatte.

»So mußte ich also zurückgebliebenen Schülern Nachhilfestunden geben«, sagte ich, das Thema wiederaufnehmend. »Viel lernten sie allerdings bei mir nicht.«

»Das kann ich mir denken«, unterbrach mich Anne lachend.

Sie konnte ganz hübsch keß sein, aber indirekt hatte ich sie dazu durch meine selbstironische Bemerkung ermutigt. Ich tat, als ob ich es überhört hätte, und fuhr fort: »Aber zum Glück waren es Söhne berühmter Eltern. Der Vater des einen Jungen war der bekannte Berliner Komponist Rudolf Nelson, der andere Willy Schaeffers, ein beliebter Schauspieler und Conférencier.«

Natürlich mußte ich ihr erklären, was ein Conférencier ist, da dieser Beruf heute kaum noch existiert. Heute gibt es dafür Ansager, Quizmaster und Kommentatoren, die wie Marktschreier dämliche, niveaulose Hitparaden ankündigen. Ein Conférencier mußte Geist und Witz haben; diese Herren aber begnügen sich damit, Texte, die namenlose Ghostwriter für sie verfaßt haben, mehr oder weniger geschickt zu interpretieren.

Ich hatte schon immer kleine Gedichte geschrieben, aber niemand kannte sie. Ich zeigte sie auch keinem. Für so gut hielt ich sie nicht. Inzwischen war ich Aushilfslehrer an der Berthold-Otto-Schule geworden, die zum großen Teil von mißratenen Sprößlingen besucht wurde, deren Können und Wissen im umgekehrten Verhältnis zu dem Geldbeutel ihrer Eltern stand. Diese wiederum hatten so viel mit ihren meistens gescheiterten Ehen zu tun, daß sie sich kaum um ihre Kinder kümmern konnten.

Die Schule war als sehr »frei« bekannt; das heißt, man lernte nur das, wozu man Lust hatte. Und viele hatten zu nichts Lust. Nur kein Zwang, lautete die Devise. Es war die erste antiautoritäre Schule, obwohl man diesen Begriff und Ausdruck damals kaum kannte. Meine Haupttätigkeit bestand darin, mit den Jungen und Mädchen Hockey zu spielen. Dazu hatten sie Lust. Als es darum ging, eine kleine Festvorstellung für Weihnachten vorzubereiten – der einzige Tag im Jahr, an dem die Eltern es für nötig hielten, der Schule und ihren Kindern einen Besuch abzustatten –, erhielt ich den »ehrenwerten« Auftrag, diesen Abend zu organisieren, zu inszenieren und die Texte dafür zu schreiben.

»Wenn du mich heute fragst, was ich da zusammengeschmiert habe«, erklärte ich meiner Tochter, »ich erinnere mich nicht mehr an ein Wort, eine Zeile. Ich weiß nur, daß es ein Erfolg war. Vor allem gefiel es Willy Schaeffers.«

»Dem Conférencier?«

»Ja. Er wollte andere Sachen sehen, die ich geschrieben habe.«

»Und da hast du ihm deine Gedichte gezeigt?«

»Nicht alle. Nur ein paar, aber die fand er gut und originell. Drei Wochen später stand ich zitternd auf einer Bühne am Kurfürstendamm, wo er seine ›Literarischen Tees‹ zu veranstalten pflegte, und mußte meine Geistesprodukte selbst rezitieren. Sie kamen sogar erstaunlich gut an. Das Publikum bestand zum großen Teil aus Hausfrauen, die am Nachmittag nichts Besseres zu tun hatten.«

»Aber diese Gedichte kannst du noch auswendig?« Anne sah mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf.

»Nur zum Teil. Eines hieß ›Spießer-Ballade‹ und wurde im ›Querschnitt‹ abgedruckt. Das war damals das beste literarische Magazin.« Ich fügte hinzu, daß heute niemand solche Gedichte drucken würde, daß heute überhaupt wenig Gedichte veröffentlicht werden, weil es in den Zeitungen kein eigentliches Feuilleton mehr gibt, höchstens in den Sonntagsbeilagen; daß wir in einer prosaischen Zeit leben, in der die Menschen für Poesie wenig übrig haben. Sie hocken lieber vor dem Fernsehschirm, und wenn sie Zeitung lesen, dann interessiert sie vor allem das Kreuzworträtsel, das Horoskop und irgendein Mordbericht oder eine ähnliche Sensation. »Bad news is good news – and good news is no news!«

»Was heißt das?«

»Das müßtest du eigentlich wissen«, sagte ich mit leichtem Vorwurf.

»Wir lernen noch kein Englisch in der Schule, nur Französisch«, verteidigte sich Anne, »mit Englisch beginnen wir erst nächstes Jahr.«

Da sah man wieder, wie wenig ich über die Erziehung meiner Tochter informiert war. Kein Wunder, wenn man sich so selten sieht. Ich wußte, daß sie in der Schule gute Noten hatte (bis auf Rechnen), obwohl sie es vermied, darüber zu sprechen. Ich bekam auch nie ein Zeugnis von ihr zu sehen. Nur wenn es darum ging, neue Schulbücher anzuschaffen, dann wurde der Herr Papa gerufen und durfte sie bezahlen.

Es war gar nicht so einfach, den englischen Slogan ins Deutsche zu übersetzen. Er war nicht mehr »snappy«, verlor dabei viel von seiner Kürze und Würze. Man konnte ihn nur umschreiben und erklären, was damit gemeint war: daß schlechte Nachrichten interessant sind – und gute Nachrichten uninteressant, kurz: nicht wert gedruckt zu werden.

Wie kam ich überhaupt darauf? Ach ja, richtig, ich hatte Anne von meinen ersten literarischen Versuchen und Schritten erzählt. Ich wollte ihr berichten, was dann geschah, wie ich kurzerhand mein Studium aufgab und wie entsetzt meine braven Eltern darüber waren. (Unser Sohn ein Künstler – schrecklich!) Aber Annes Neugier schien im Moment befriedigt zu sein. Wenigstens stellte sie keine Fragen mehr. Ich aber dachte weiter zurück an diese für mein späteres Leben so entscheidende, aufregende Berliner Zeit.

Die goldenen zwanziger Jahre. So golden sind sie gar nicht gewesen. Nicht immer. Und doch unvergeßlich. Ich möchte keinen Tag, keine Stunde missen.

Ich bin inzwischen in Paris, Rom und London gewesen, in New York und Hollywood. Nicht nur zu Besuch. Ich habe dort gelebt und gearbeitet, viele Jahre lang. Da lernt man eine Stadt kennen, lieben und hassen. Ich habe diese Städte zu ihren Glanzzeiten gekannt und als dieser Glanz verblaßte.

Auch der Glanz von Berlin ist fort. Es ist nur noch eine halbe, geteilte Stadt. Und sie wird nie mehr werden, wie sie war. Leider. Selbst wenn eines Tages die Mauer verschwinden sollte – woran ich nicht glaube. Aber es ist eine Stadt, die man nie vergißt, an die man sich immer wieder erinnert.

Dabei war Berlin nie schön im eigentlichen Sinne. Seine Architektur war eher scheußlich, angefangen bei der Gedächtniskirche bis zu den überladenen, kitschigen Fassaden des Kurfürstendamms. Aber das spielte keine Rolle. Man sah darüber hinweg oder machte seine Witze. Der Grunewald war nicht schöner als der Hyde Park, das Brandenburger Tor nicht imposanter als der Arc de Triomphe und der Funkturm nicht höher als das Empire State Building in New York. Und doch hatte dieses Berlin der zwanziger Jahre eine Atmosphäre, ein Flair, eine Turbulenz, die einmalig war.

Vielleicht lag das an der seltsamen Mischung der Einwohner, von denen die wenigsten – ein beliebtes Thema für die damaligen Komiker – aus Berlin stammten, respektive mit Spreewasser getauft waren. Viele kamen aus Leipzig und Breslau, aus Krakau und Wien. Vor allem aber wimmelte es von russischen Emigranten, die vor der Revolution geflüchtet waren. Manche von ihnen lebten davon, daß sie ihre Diamanten verkauften, andere arbeiteten als Kellner oder Portier in Nachtlokalen und Bars, die wie Pilze aus der Erde schossen. Berlin war zum Nabel der Welt geworden.

Unbeschreiblich war das allgemeine Interesse an allem, was neu und modern war. Selten hat eine junge, heranwachsende Generation so davon profitiert. Doch es hatte nicht nur mit dem Jungsein zu tun, wir genossen eine Freiheit, wie sie selten eine Jugend genossen hat. Ein kleiner erster Erfolg genügte, schon war man gefragt; schon stand das Telefon nicht still – sofern man eines besaß. Und ungeheuer groß war auch die Zahl der Vorbilder – heute würde man »Idole« sagen –, die es vor einem geschafft hatten: Schriftsteller, Komponisten, Maler und Bildhauer. Viele gehörten bekannten Künstlergruppen an wie dem »Sturm«, der Geburtsstätte des Dadaismus, und dem unvergleichlichen »Blauen Reiter«. Andere waren Mitarbeiter berühmter Berliner Kabaretts: Trude Hesterbergs »Wilder Bühne«, Max Reinhardts »Schall und Rauch«, Friedrich Hollaenders »Tingeltangel« und der »Katakombe«, wo Werner Finck, Hans Deppe und Rudolf Platte sich in ihrem Kellerlokal über die Berliner Bourgeoisie lustig machten.

Dort bekam auch ich bald Gelegenheit, mein Talent weiterzuentwickeln, nachdem ich vorher im »Kü-Ka« in der Budapester Straße meine Gedichte rezitiert hatte. Für die fürstliche Gage von fünf Mark pro Abend, die mir mein Mittag- und Nachtessen in der »Schnellfresse« bei Aschinger (die Brötchen waren gratis) garantierte und mich so aller Sorgen enthob. Auch Erich Kästner, Werner Finck und Günther Schwenn, die mit mir im gleichen Programm auftraten, mußten sich damit begnügen.

Geld war Nebensache – im Moment wenigstens. Der Erfolg war entscheidend und das Weiterkommen. Und es ging weiter. Mit Riesenschritten. Schneller, als man dachte. Bald druckten eine Reihe Zeitungen und Magazine meine Gedichte, wenn das auch am Anfang nicht viel einbrachte. Aber »es läpperte sich zusammen«, wie der Berliner zu sagen pflegte. Außerdem gab es zum Glück den Rundfunk – das neue Massenmedium der damaligen Zeit –, da begannen die Honorare bereits mehrstellig zu werden.

Kein Wunder, daß man leichtsinnig wurde. So brachte ich es tatsächlich fertig, mit dreiundzwanzig Jahren einen eigenen Wagen zu besitzen. Das heißt, der Wagen besaß mich. Ich war sein Opfer und Sklave. Wie ich ihn bezahlt habe, ist mir heute noch ein Rätsel. Ich weiß nur, daß ich zickzack durch die Stadt fahren mußte, um die Tankstellen zu umgehen, wo ich – weil ich das Benzin nicht bezahlen konnte – irgendein Pfand hinterlassen hatte.

Der Wagen hieß »Chandler« – eine Marke, die man heute nicht mehr kennt –, wurde aber allgemein von meinen neidischen Kollegen ironisch der »Mädchenschändler« genannt. Nicht zu Unrecht, muß ich eingestehen. Und damit wäre ich bei einem meiner ersten Gedichte. Es zeigt, daß es seinerzeit mit der Moral auch nicht immer so bestellt war, wie viele denken. Man war damals schon ziemlich frei, wenn man auch den zum »Porno-Papst« gewordenen Oswalt Kolle noch nicht kannte, der sich zu meinem großen Erstaunen jetzt plötzlich um 180 Grad gedreht hat und – allerdings wieder mit Hilfe von Nacktphotos – Zärtlichkeit progagiert. Mein Gedicht erschien im »Simplicissimus« unter dem Titel

Leerlauf der Gefühle

Man spricht sich an – man hat sich kaum gesehen.

Man hat am nächsten Tag ein Rendezvous.

Man läßt die erste laufen und die zweite stehen,

um mit der dritten gleich ins Bett zu gehen.

Sie fragt nicht lang: Wozu?

Man geht ins Bett – was soll man sonst auch machen?

Man kennt sich nicht, und das ist interessant.

Man sagt sich »Sie« und noch ganz andre Sachen.

Man denkt auch an die Eltern und muß lachen.

Die lieben sich noch heute. Allerhand!

Man geht ins Bett – das will noch nichts bedeuten.

Am nächsten Tag ist man sich wieder fremd.

Man trifft sich wie mit andern Bräuten.

Man grüßt sich wie mit allen Leuten.

Man ließ sich frei – und man ist ungehemmt.

Man spricht sich an – man hat sich kaum gesehen.

Man hofft vergebens, daß es einmal anders geht.

Man läßt die Liebe laufen, und das Herz bleibt stehen.

Man möcht am liebsten gleich ins Wasser gehen …

Doch man geht tanzen, und kein Mensch versteht,

wieso man traurig ist, wenn man zum Tanzen geht.

Vor allem waren diese zwanziger Jahre die große Blütezeit der Berliner Bühnen. Reinhardt, Meinhard-Bernauer, Barnowsky, Jessner und Piscator waren die absoluten Herren und Könige der Bretter, die für viele die Welt bedeuteten. Ihre sensationellen Inszenierungen waren Tagesgespräch, auch wenn bissige Kritiker wie Alfred Kerr und Herbert Ihering sie oft nicht ungeschoren ließen. Beide waren so prominent, daß es – so grotesk es klingen mag – fast eine Ehre war, von ihnen verrissen zu werden, was mir, der ich mich damals ja noch Max Kolpe schrieb, dann auch eines Tages passieren sollte. »Mea Kolpe«, schrieb Kerr, der sich selten ein Wortspiel entgehen ließ, in Anlehnung an das lateinische »mea culpa« und in Klammern: (»und bist bei alledem doch so begabt«).

Das war typisch für Berlin. Man wurde geschlagen und gestreichelt. Und das respektierte man, auch wenn es manchmal weh tat. Die gleichen Leute, die einem zum Erfolg verholfen hatten, sahen einem auf die Finger. Das erging sogar Tucholsky so, als er für die »Weltbühne« zu schreiben begann und dem damaligen Chef und Herausgeber, Siegfried Jacobsohn, einen seiner ersten Artikel brachte. »Das meine ich so«, verteidigte sich Tucholsky, als Jacobsohn einen der Sätze nicht zu verstehen schien. »Wenn du es meinst, dann schreib es!« war die kategorische Antwort. Und Tucholsky tat es.

Dazu kam, daß man damals – auch wenn man blutjung war – nicht die Tendenz hatte, alles, was vor einem geschaffen worden war, einfach abzulehnen, nicht anzuerkennen oder glattweg als Mist zu bezeichnen. Das galt nicht nur fürs Theater, den Film, die Malerei – es galt für alle bildenden Künste. Man hatte den nötigen Respekt und war doch fortschrittlich, versuchte es wenigstens zu sein, wie Brecht, Bronnen, Barlach, Döblin, Tucholsky und Walter Mehring, um nur einige Namen zu nennen.

Auch im Film gelang es jungen Talenten wie Billy Wilder und Robert Siodmak, Fuß zu fassen und sich neben solchen Größen wie Murnau, Stiller, Fritz Lang und Lubitsch zu behaupten.

Nicht von ungefähr wird »Menschen am Sonntag« noch heute gezeigt, ein Film, der so gut wie nichts gekostet hatte und mit dem sich Wilder und Siodmak über Nacht einen Namen machten. Es war im Grunde der erste Jungfilm, so wie die »Dreigroschenoper« das erste Musical war.

 

Es fing schon an zu dämmern, als wir Arosa glücklich erreichten.

»Siehst du, es ging auch ohne Schneereifen«, sagte Anne, während sie ihr Bandgerät abstellte.

»Freu dich nicht zu früh!« sagte ich, als ich zum dritten Mal Anlauf nehmen mußte, um die letzten zehn Meter bis vors Hotel zu schaffen, das oberhalb des Dorfes lag. Auf der Straße lag noch eine ganze Menge Schnee.

Der Hausdiener trug unser Gepäck ins Hotel. Er wollte außer Annes Koffer auch ihre Reisetasche nehmen, doch sie bestand darauf, sie allein zu tragen. Ich wunderte mich, ahnte ich doch nicht, daß ihr Hamster darin steckte.

»Zieh dich schnell um«, ermahnte ich sie. »Ich habe einen Mordshunger!«

Wer liest schon die »B.Z. am Mittag«?

Berlin 1930

»Du hast es mir fest versprochen.«

»Was?«

»Daß ich einen Wodka trinken darf.«

»Aber doch nicht jetzt – nach dem Abendessen«, sagte ich kopfschüttelnd.

»Warum nicht?« Anne sah mich verständnislos an. »Wodka kann man immer trinken.«

Sie sagte das so voller Überzeugung, als hätte sie schon öfters Wodka getrunken. Aber das war nicht der Fall. Im Gegenteil, sie war neugierig, wie er schmeckte. Mein Argument, daß man Wodka besser zum Essen trinkt, besonders bei zu fetten Vorspeisen, half nicht viel.

Also auf an die Bar des Hotels, wo sie sich mühelos auf einen Hocker setzte. Jetzt begriff ich erst, wie sie im letzten Jahr gewachsen war. Ich schlug ihr vor, den Wodka mit Orangensaft zu mischen.

»Warum?«

»Weil es besser ist.«

»Gut.«

Gleichzeitig bat sie den Barmann um einen Strohhalm.

»Na, wie schmeckt es dir?«

»Prima. Trotzdem möchte ich wissen, wie Wodka richtig schmeckt – ohne Orangensaft. Pure!«

Wo sie das Wort wohl aufgeschnappt hatte?

»Das nächste Mal«, sagte ich.

»Nur eine kleine Kostprobe«, insistierte sie und ließ sich von dem lächelnden Barmann, ehe ich antworten konte, ein anderes Glas geben. Pure. Und das mit fünfzehn Jahren, dachte ich. Das kann ja lustig werden, wenn sie erst sechzehn oder siebzehn ist. Andererseits war sie in vielen Dingen noch sehr unerfahren. Das hatte ich im Speisesaal gemerkt. Ich mußte ihr die meisten fremdsprachigen Namen der Gerichte übersetzen und erklären, warum sie so hießen, was nicht immer einfach war. Die Phantasie eines raffinierten Küchenchefs kennt oft keine Grenzen. Das gleiche galt für die Bezeichnungen auf den Etiketten der Weinflaschen, die sie am liebsten gesammelt hätte. So begnügte sie sich mit den getippten Menüs, wahrscheinlich, um sie zu Hause ihrer Mutter zu zeigen.

»Weißt du, daß ich in deinem Alter noch nicht an einer Bar gesessen habe?« sagte ich. Das schien sie nicht zu beeindrucken. Bestimmt hätte ich das später reichlich nachgeholt, meinte sie, in Paris und an der Côte d’Azur.

»Stimmt«, sagte ich, »woher weißt du das?«

»Ich kann es mir denken.«

Ich sah auf die Uhr. Es wäre Zeit für sie, schlafen zu gehen, fand ich. Sie sei noch nicht müde, erwiderte sie. Offenbar machte es ihr Spaß, an der Bar zu sitzen, auch ohne einen neuen Wodka, zu dem ich kategorisch nein gesagt hatte. Aber ich solle mir doch noch einen anderen Drink bestellen, schlug sie vor. Ich dankte für die gütige Erlaubnis.

»Zwei Whisky genügen mir.«

»Du trinkst nicht sehr gerne«, stellte sie fest.

»Doch«, erwiderte ich, es käme nur darauf an, was und wann.

»Aber nie viel?«

»Nein, mein Kind, ich bin kein leidenschaftlicher Trinker«, gab ich zu. Ich könne zur Not auch ohne Alkohol leben. Sie nickte und schwieg. Jetzt fehlte nur noch, daß sie fragte: »Stimmt es, daß Juden nie viel trinken?«

Zu oft hatte ich diese Bemerkung gehört, zuletzt in Ascona. Von Henry Jaeger. Ich nahm es ihm nicht übel. Im Gegenteil, ich lachte darüber. Wir waren keine intimen Freunde, aber ich mochte ihn gern. Vor allem hielt ich ihn für sehr begabt. Er hatte sich durch sein kriminelles Vorleben – es war ihm mit einigen Komplizen gelungen, die Deutsche Bundespost um eine schöne runde Summe zu erleichtern – und sein Buch »Die Festung«, das er im Gefängnis geschrieben hatte, einen Namen gemacht, war aber offensichtlich mit seinem überraschend schnellen Erfolg nicht fertig geworden. Er griff zur Flasche, und zwar ausgiebig, blieb oft tagelang von zu Hause weg, ging von einem Lokal zum anderen, war entweder unangenehm aggressiv oder hilflos wie ein Kind, das eine Brust suchte – möglichst ein weibliche –, an der es sich anlehnen und ausweinen konnte. Ein Häufchen heulendes Elend! Am Tage darauf erinnerte er sich oft an nichts mehr. Im Grunde ein glücklicher Mensch. Oder?

Ein anderes Bild, das immer wieder in meiner Erinnerung auftaucht: die Klassenfeier nach dem erfolgreich bestandenen Abitur. Wir hatten – das war damals so Sitte – unsere früheren Lehrer eingeladen und traktierten sie in einem der vornehmsten Lokale von Hamburg mit den teuersten Delikatessen und allen möglichen Getränken. Nach Mitternacht lagen zwei der ehrbaren, gestrengen Herren, vor denen wir jahrelang gezittert hatten, sage und schreibe unter dem Tisch, nachdem sie im Chor nicht gerade sehr feine Trinklieder aus ihrer Studentenzeit gegrölt hatten. Einen dritten Pauker mußten wir nach Hause tragen. So was vergißt man nicht so leicht.

An vielen ähnlichen, abschreckenden Erlebnissen und Beispielen hat es mir nicht gefehlt. Und doch habe ich mich im Laufe meines ziemlich bewegten Lebens mehrmals gefragt: Wer macht es richtig – die anderen oder du? Bist du nicht auf dem falschen Dampfer? Hättest du nicht oft viel leichter und schneller Erfolg gehabt, wenn du mitgemacht hättest, mitgetrunken, mitgesoffen. Denk doch an jenen deutschen Filmproduzenten, der nach England kam und so unheimliche Mengen von Whisky vertilgen konnte, daß sogar die hartgesottensten einheimischen Quartalsäufer staunten. So einem Mann konnte man beruhigt einen Film anvertrauen. Der Vertrag wurde – im Pub selbstverständlich – mit Handschlag bestätigt. Noch heute kann man ihn dort jeden Abend treffen.

»Come on, be a good sport!« Wie oft hatte man mich in Hollywood mit diesem Satz ermuntert, vor dem Essen einen Martini zu trinken, der zu neunundneunzig Prozent aus hartem Gin bestand, in den man ein paar Tröpfchen Wermut und eine Olive getan hatte. »Komm, sei nicht so zimperlich!« sollte das heißen. Also war ich a good sport, war nicht zimperlich.

»Here, have another one, my friend!« Es war immer das gleiche Lied, ob ich bei Billy Wilder vor der Bar stand, bei Kirk Douglas, Tyrone Power oder Sam Spiegel eingeladen war.

So wurde aus dem einen Martini ein zweiter, ein dritter, ein vierter, bis ich eines Tages mit einem hübschen Magengeschwür im Krankenhaus landete, das den einladenden Namen »Cedars of Libanon« hatte. Aber dort sah ich weder die Zedern des Libanon noch die Hügel von Hollywood, und dort schwor ich mir hoch und heilig, nie wieder einen Martini anzurühren, auch wenn man mich aus Hollywood ausweisen sollte.

Woran ich dächte, wollte meine Tochter wissen, die an ihrem Strohhalm kaute.

»An nichts Wichtiges.« Ich bat den Barmann um die Rechnung.

»Willst du mir nicht weitererzählen …?«

»Was denn? Ich glaube, es war für heute genug.«

»Na, was du dann noch alles in Berlin gemacht hast.«

Ich sah Anne prüfend an. War sie tatsächlich so daran interessiert? Oder suchte sie nur nach einem Vorwand, um noch aufzubleiben?

»Bist du denn nicht müde?«

»Nein.«

»Wirklich nicht?«

»Ich sage dir doch: Nein!«

Wahrscheinlich hatte sie der Alkohol so munter gemacht. Auch der Hinweis auf das morgendliche Training nutzte nichts. Ihre nächste Stunde sei erst am Nachmittag. Am Morgen wolle sie ins Hallenbad gehen, und da käme es auf die Zeit nicht an.

»Also gut, aber nur eine halbe Stunde«, konzedierte ich. Erst als der Hausdiener begann, in der Halle die Lichter zu löschen, merkte ich, daß sie mir über eine Stunde gespannt zugehört hatte, ohne eine einzige Frage zu stellen.

Inflation, Deflation, Arbeitslosigkeit. Was war auch alles in diesen verflixten zehn Jahren von 1923 bis 1933 geschehen! In Deutschland. Und in der Welt. Mussolinis Marsch auf Rom. Ruhrbesetzung durch Frankreich. Fememorde und Separatistenbewegung. Hitler gründete die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP). Ein Dollar gleich 4,2 Billionen Mark (was meine im Rechnen schwache Tochter am wenigsten beeindruckte).

Ich streifte natürlich diese nicht sehr erfreulichen Ereignisse nur, sonst hätten wir bis zum frühen Morgen in der Hotelhalle gesessen. Ich wäre mit einer weniger bewegten Zeit auch zufrieden gewesen, erklärte ich Anne. Aber ich war jung, lebenshungrig und neugierig auf alles Neue. Trotz dieser politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten ging es steil aufwärts mit meiner literarischen Karriere. Und das war entscheidend. Mal verdiente ich weniger, mal mehr. Einmal dinierte ich vornehm bei Kempinski, am nächsten Tag begnügte ich mich mit den Brötchen bei Aschinger oder mit einer Boulette im Romanischen Café, die man zur Not schuldig bleiben konnte.

Dort traf sich, was einen Namen hatte, im Begriff war, sich einen Namen zu machen oder hoffte, einmal am Tische der Großen sitzen zu dürfen. Dort sah man die berühmten Berliner Maler Max Liebermann und Paul Levy, den Kunsthändler Paul Cassirer, Leonhard und Bruno Frank, deren Bücher und Theaterstücke das Tagesgespräch von Berlin waren, sowie Erik Charell, Regisseur und Choreograph des »Weißen Rößl« und stets umgeben von einer Schar hübscher Jünglinge. Dort begegnete man Hermann Kesten und Erich Kästner, dessen erster Gedichtband »Herz auf Taille« ein Riesenerfolg – heute würde man sagen: ein Bestseller – geworden war.

Künstler und Lebenskünstler, erfolgreiche und verkommene Genies, Altmeister und junge Talente (zu denen ich mich auch zählte) gingen in diesem literarischen Café im Herzen der Reichshauptstadt, direkt gegenüber der Gedächtniskirche, ein und aus. Es war sozusagen unser Hauptquartier, Sammelpunkt, Privatbüro und zweite Heimat. Oft saß man dort auch am selben Tisch mit Journalisten, Kritikern, die uns an einem Tag freundlich die Hand schüttelten, um uns eventuell am nächsten Tag rücksichtslos zu verreißen.

Aber man nahm ihnen das nicht übel, fand das ganz an der Tagesordnung. Nur selten gab es deswegen erregte Dispute, auch wenn manch harte Kritik schwer zu schlucken war. Ein paar Wochen darauf hatte man sie vergessen. Das Leben und die Arbeit gingen weiter.

Viel peinlicher waren die Schadenfreude und der Spott der Kollegen, die man möglichst stillschweigend über sich ergehen lassen mußte. Ich hatte mein erstes Theaterstück geschrieben. Es hieß »Reportage« und hatte die Machenschaften einer gewissen Sensationspresse zum Thema, der alle Mittel und Wege recht waren, um ihre Auflage zu steigern. Ein kleiner Mordfall wurde unheimlich aufgebauscht und ausgeschlachtet und die Justiz dadurch indirekt beeinflußt. So was soll ja auch heute vorkommen. Aber darum geht es nicht … Zwei Dutzend bekannte und arrivierte Schauspieler, vielbeschäftigt bei Theater, Film und Rundfunk, wie Marianne Hoppe, Annemarie Haase, Olaf Bienert und Hermann Speelmans, glaubten an dieses Stück und hatten sich spontan bereit erklärt, einen Monat lang umsonst – also ohne Gage oder Diäten – für die Proben zur Verfügung zu stehen. Dazu kamen drei beliebte Komiker: Paul Kemp, Paul Morgan und Willy Schaeffers. Sie übernahmen die Rollen der sensationshungrigen Redakteure, die imstande waren, aus einem Floh einen Elefanten zu machen. Die Musik war von Werner Richard Heymann. Kurz, ein stolzes Aufgebot für eine einzige Vorstellung, eine Sonntags-Matinée im Renaissance-Theater.

Es war ein Zeitstück im damals modernen Piscator-Stil, bestehend aus einer Reihe kurzer Szenen und Bilder. Das war der Hauptfehler. (Heute weiß ich, daß es noch viele andere hatte.) Wir mußten in einem anderen Haus proben, da das Theater gleichzeitig ein eigenes Stück vorbereitete, kamen also erst bei der Generalprobe auf die Bühne. Und da stellte sich unglücklicherweise heraus, daß die Maße der Dekorationen nicht stimmten. So dauerten die Umbauten, die husch-husch gehen sollten, viel zu lange.

Das erlesene Publikum (tout Berlin) wurde ungeduldig. Mit Recht. Speelmans, der wieder einmal getrunken hatte, blieb mitten in seinem Chanson stecken. Das war der Sache auch nicht gerade förderlich. Trotzdem kam es zu keinem Theaterskandal. Keine Buh-Rufe und Pfiffe, sondern nur spärlicher Applaus. Es war, um einen Ausspruch von Friedrich Hollaender zu gebrauchen, ein »freundlicher Abstinker«.