Es funktioniert! - Walter Lewin - E-Book
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Walter Lewin

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Beschreibung

Die besten Erklärungen des Kult-Professores.

Physik verstehen und dabei auch noch Spaß haben? Unmöglich? Generationen begeisterter Zuhörer beweisen das Gegenteil. Mit Wissenschaftsstar Walter Lewin wird das, was jeder über Physik wissen sollte, zum rasanten Abenteuer. Wildly entertaining!

Über 30 Jahre lang hält Walter Lewin am MIT eine Einführungsvorlesung für Physik, die unter Studenten Kultstatus hat. Hinter jeder Stunde Unterricht stecken 40 Stunden Vorbereitung. Sein Publikum soll Spaß haben an Fragen, die es sich ohne Physik nie gestellt hätte. Es soll die Schönheit der Naturgesetze entdecken - nicht einfach Formeln von der Tafel abschreiben. Vor einer Abrissbirne begibt sich der Kultprofessor in Lebensgefahr, und keiner vergisst jemals die Umwandlung von Lage- in Bewegungsenergie. Aus Liebe zur Physik wird bei Walter Lewin Begeisterung, und die ist hochansteckend!

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Seitenzahl: 498

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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »For the love of physics« bei Free Press, einem Verlag von Simon & Schuster, Inc., New York.
btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München Copyright © der Originalausgabe 2011 by Walter Lewin and Warren Goldstein Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © veer; © shutterstock/Alfonso de Tomas; ©shutterstock/Grant Terry; © shutterstock/Eric Isselée LW. Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-06961-2V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de!www.penguinrandomhouse.de

Wenn Professor Lewin an einem riesigen Pendel durch den Hörsaal schaukelt, vergisst niemand mehr die Umwandlung von Lage- in Bewegungsenergie. Seine Zuhörer sollen Spaß an den Fragen der Physik entwickeln. Sie sollen die Schönheit der Naturgesetze entdecken, und nicht einfach nur Formeln von der Tafel abschreiben. Stundenlange Vorbereitung steckt in seinen Vorlesungen – und mit der gleichen Leidenschaft hat sich Walter Lewin daran gemacht, von seinem Leben für die Physik zu erzählen. Eine Reise vom Beginn der Zeit bis zum Ende des Regenbogens, die das, was eigentlich jeder über Physik wissen müsste, zum reinsten Vergnügen macht.

WALTER LEWIN, geboren 1936 in Amsterdam, lehrt seit 1966 am Massachusetts Institute of Technology. Der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler hat sich auf dem Gebiet der Röntgenastronomie einen Namen gemacht. Noch bekannter wurde er durch seine beliebten Physik-Einführungsvorlesungen, die – vom MIT aufgezeichnet – bei YouTube und iTunes die Klickcharts anführen.

WARREN GOLDSTEIN, ist Historiker und Wissenschaftsjournalist. Goldsteins Essays erscheinen unter anderem in der New York Times und der Washington Post.

Für alle, die meine Liebe zur Physik und zur Kunst inspiriert haben

Walter Lewin

Für meinen Enkel Caleb Benjamin Luria

Warren Goldstein

Inhaltsverzeichnis

WidmungEinführung1 - Vom Atomkern in die Tiefen des Alls2 - Messungen, Messunsicherheit und die Sterne3 - Bewegte Körper4 - Druck, überall Druck5 - Über und unter dem Regenbogen6 - Der Klang der Musik7 - Elektrizität: Franklin, Induktion und Blitzschlag8 - Magnetismus: geheimnisvoll, unsichtbar, gewaltig, elementar9 - Energieerhaltung: Je mehr es sich ändert …10 - Röntgenstrahlen aus dem Weltall11 - Erforschung der Röntgenstrahlung mit Ballons – die Anfänge12 - Neutronensterne und Schwarze Löcher13 - Röntgendoppelsternsysteme – ein himmlisches Ballett14 - Sterne mit Röntgenausbrüchen15 - Arten der AnschauungDankAnhang IAnhang IICopyright

Einführung

Eins neunzig groß und schlank, bekleidet mit einer Art blauem Arbeitshemd, die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt, mit khakifarbenen Cargohosen, Sandalen und weißen Socken, schreitet der Professor an der Front seines Hörsaals hin und her – deklamierend, gestikulierend, gelegentlich zwischen einer langen Reihe von Wandtafeln und einem hüfthohen Labortisch innehaltend, um etwas zu betonen. Vor ihm erstrecken sich vierhundert aufsteigende Sitzplätze, besetzt mit Studenten, die zwar hin und her rutschen, die Augen aber fest auf den Professor gerichtet halten – er vermittelt den Eindruck, sein Körper werde von einer mächtigen Energie durchströmt, die er kaum bändigen könne. Mit seiner hohen Stirn, einem störrischen weißen Haarschopf, Brille und dem Hauch eines nicht identifizierbaren europäischen Akzents wirkt er ein wenig wie Christopher Lloyd als Doc Brown in dem Film Zurück in die Zukunft – der ernste, weltfremde und ein bisschen verrückte Wissenschaftler und Erfinder.

Wir sind jedoch nicht in Doc Browns Garage – es ist das Massachusetts Institute of Technology, die unübertroffene natur- und ingenieurwissenschaftliche Universität der USA und möglicherweise der Welt, und die Vorlesung an der Tafel hält Professor Walter H. G. Lewin. Er unterbricht seine Wanderung und wendet sich an die Studenten: »Nun. Von entscheidender Bedeutung bei allen Messungen – und das wird in jedem Physiklehrbuch an den Unis stets unterschlagen …«, er wirft die Arme hoch, die Finger sind gespreizt, »ist die Unsicherheit in Ihren Messungen.« Er legt eine Pause ein, geht einen Schritt, um ihnen Zeit zu geben, das zu bedenken, und bleibt wieder stehen: »Jede Messung, die Sie ausführen, ohne deren Unsicherheit zu kennen, ist sinnlos.« Und um das zu betonen, schneiden seine auseinanderfliegenden Hände durch die Luft. Wieder eine Pause.

»Ich wiederhole das. Ich möchte, dass Sie diesen Satz jede Nacht hören, wenn Sie aufwachen.« Er legt beide Zeigefinger an die Schläfen, dreht sie, als wollte er sich Löcher ins Gehirn bohren. »Jede Messung, die Sie ausführen, ohne deren Unsicherheit zu kennen, ist absolut sinnlos.« Vollkommen hingerissen starren ihn die Studenten an.

Wir befinden uns gerade in Minute elf der ersten Unterrichtseinheit in Physik 8.01, des berühmtesten Einführungskurses für Hochschulphysik weltweit. Im Dezember 2007 brachte die New York Times eine Titelstory über Walter Lewin als »Internetstar« des MIT. Seine Vorlesungen sind nicht nur auf der MIT-Webseite Open Course Ware zugänglich, sie laufen auch bei YouTube, iTunes U und Academic Earth. Lewins Vorlesungen gehörten zu den ersten, die das MIT ins Netz stellte, und das sollte sich für das Institut auszahlen. Die vierundneunzig Vorlesungen – drei komplette Kurse plus sieben eigenständige Veranstaltungen – bringen es auf dreitausend Zuschauer pro Tag; sie werden im Jahr eine Million Mal angeklickt. Das schließt auch eine ganze Reihe von Besuchen durch keinen Geringeren als Bill Gates ein, der sich alle Kurse von 8.01 (Klassische Mechanik) und 8.02 (Elektrizität und Magnetismus) angesehen hat – das ist den Briefen (Schneckenpost!) zu entnehmen, die er Walter geschickt hat; darin steht auch, dass er vorhat, mit 8.03 (Schwingungen und Wellen) weiterzumachen.

»Sie haben mein Leben verändert« – so lautet eine häufige Betreffzeile in den E-Mails, die Lewin täglich von Menschen jeden Alters und aus der ganzen Welt erhält. »Meine Schritte sind wieder federnder geworden, und ich schaue mit physikalisch eingefärbten Augen auf die Welt«, schrieb ein Florist aus San Diego. Mohamed, der sich in Tansania auf ein Studium der Ingenieurwissenschaften vorbereitet, schrieb: »Hier in meinem Land sehen die Professoren in der Physik leider keinerlei Schönheit, so wie Sie, und darunter habe ich sehr gelitten. Sie wollen nichts weiter, als dass wir lernen, wie ›typische ‹ Übungen zu lösen sind, mit denen man im Examen erfolgreich ist; über diesen engen Horizont schauen sie nicht hinaus.« Seyed, ein Iraner, der schon mehrere amerikanische Mastergrade erworben hat, schreibt: »Seit ich weiß, wie Sie Physik unterrichten, habe ich richtig Freude am Leben. Professor Lewin, Sie haben tatsächlich mein Leben verändert. Die Art, in der Sie unterrichten, ist zehnmal mehr Wert als der normale Unterricht und lässt manche – nicht alle – Lehrer wie eine Horde von Kriminellen aussehen. Schlechter Unterricht ist ein Kapitalverbrechen.« Oder Siddharth aus Indien: »Ich konnte die Physik hinter diesen Gleichungen spüren. Ihre Studenten werden sich genau wie ich immer an Sie erinnern  – als einen überaus guten Lehrer, der das Leben und Lernen weit interessanter gemacht hat, als ich mir je hätte vorstellen können.«

Begeistert und zustimmend zitiert Mohamed Lewins abschließende Worte der Lektion in Physik 8.01: »Vielleicht behalten Sie aus meinen Vorlesungen immer in Erinnerung, dass Physik sehr spannend und schön sein kann und dass sie uns ständig überall umgibt, wenn Sie nur gelernt haben, sie zu erkennen und ihre Schönheit zu schätzen.« Ein anderer Fan namens Marjorie schrieb: »Ich sehe Sie, so oft ich kann, oft fünfmal pro Woche. Ich bin fasziniert von Ihrer Persönlichkeit, Ihrem Sinn für Humor und vor allem von Ihrer Fähigkeit, die Dinge zu vereinfachen. In der Oberschule habe ich Physik gehasst, aber Sie haben dafür gesorgt, dass ich sie mag.«

Lewin erhält jede Woche Dutzende solcher E-Mails, und er beantwortet jede Einzelne.

Wenn Walter Lewin die Wunder der Physik vorstellt, bewirkt er Wunder. Was ist sein Geheimnis? »Ich führe den Menschen ihre eigene Welt vor«, erklärt er. »Und die Welt, in der sie leben und mit der sie vertraut sind, aber ohne den Ansatz des Physikers – zunächst. Spreche ich über Wellen auf dem Wasser, fordere ich sie auf, bestimmte Experimente in der eigenen Badewanne auszuführen; damit können sie etwas anfangen. Sie können Regenbogen verstehen. Das gehört zu den Aspekten der Physik, die ich liebe: Man kann letztlich alles erklären. Und das kann eine wunderbare Erfahrung sein – für sie und für mich. Manchmal, wenn meine Studenten sich so richtig reinhängen, kommt einem der Unterricht fast wie ein Happening vor.«

So steht er vielleicht ganz oben auf einer fünf Meter hohen Leiter und saugt mit einem langen, flexiblen Halm aus Laborschläuchen Preiselbeersaft aus einem Becher am Fußboden. Oder er setzt sich der Gefahr schwerer Verletzungen aus, wenn er den Kopf in die Flugbahn einer kleinen, aber durchaus kraftvollen Abrissbirne bringt, die bis auf Millimeter an sein Kinn heranschwingt. Vielleicht feuert er auch mit einem Gewehr auf zwei mit Wasser gefüllte Farbeimer, oder er lädt sich mithilfe eines großen Apparats namens Van-de-Graaff-Generator (das Ding wirkt wie aus dem Labor eines verrückten Wissenschaftlers in einem Science-Fiction-Film) mit 300 000 Volt elektrisch auf, sodass sein sowieso schon ungebändigtes Haar wirr vom Schädel absteht. Er nutzt seinen Körper wie ein Stück der Laborausstattung. »Letztlich erfordert Wissenschaft Opfer«, sagt er oft. Bei einer anderen Vorführung sitzt er auf einer überaus unbequemen Metallkugel am Ende eines von der Decke des Hörsaals befestigten Seils (er nennt das die Mutter aller Pendel) und schwingt hin und her, während die Studenten im Chor mitzählen. Das alles macht er, um zu beweisen, dass die Zahl der Schwingungen eines Pendels pro Zeiteinheit unabhängig ist von dem Gewicht an seinem Ende.

Sein Sohn Emanuel (Chuck) Lewin hat einige dieser Vorlesungen besucht und erzählt: »Einmal sah ich, wie er Helium einatmete, um seine Stimme zu verändern. Damit das auch wirklich klappt – der Teufel steckt in den Details –, gerät er üblicherweise recht nah an den Punkt, an dem er ohnmächtig wird.« Als vollendeter Künstler an der Tafel zeichnet Lewin geometrische Figuren, Vektoren, Graphen, astronomische Erscheinungen und Tiere in Fülle. Seine Methode, gepunktete Linien zu zeichnen, bezauberte einige Studenten so sehr, dass sie ein lustiges YouTube-Video mit dem Titel »Some of Walter Lewin’s Best Lines« zusammenstellten – es besteht einfach nur aus Ausschnitten von Vorlesungen, in denen Lewin während der Vorlesungen 8.01 seine berühmten gepunkteten Linien auf verschiedene Tafeln zeichnet. (Zu sehen unter www.youtube.com/watch?v=raurl4s0pjU. )

Mit seinem bestimmten, charismatischen Auftreten ist Lewin ein echter Exzentriker: schräg und besessen von der Physik. Ständig führt er in der Brieftasche zwei Polarisationsfilter mit sich, sodass er jederzeit prüfen kann, ob eine Lichtquelle wie beispielsweise der blaue Himmel, ein Regenbogen oder Reflexionen an Fensterscheiben polarisiert ist, und jeder in seiner Begleitung sich ebenfalls davon überzeugen kann.

Aber was ist mit den blauen Arbeitshemden, die er im Unterricht trägt? Wie sich herausstellt, sind das gar keine Arbeitshemden. Lewin lässt sie nach Maß und seinen Angaben aus hochwertiger Baumwolle von einem Schneider in Hongkong anfertigen – alle paar Jahre ein ganzes Dutzend. Die übergroße Tasche links hat Lewin so gestaltet, dass sein Kalender hineinpasst. Er verwendet hier keine Taschenschoner  – dieser Physiker-Darsteller-Lehrer achtet akribisch auf sein Äußeres –, was jemanden zu der Frage animiert, warum er die scheinbar verrückteste Brosche trägt, die je einen Universitätsprofessor zierte: ein Spiegelei aus Plastik. »Besser«, sagt er, »ein Ei auf dem Hemd als im Gesicht.«

Und wie kommt dieser überdimensionierte Acrylring an seine linke Hand? Und was ist das silbrige Ding, das sein Hemd genau auf Nabelhöhe zusammenhält und auf das er immer wieder verstohlen einen Blick wirft? Jeden Morgen beim Anziehen hat Lewin die Auswahl unter vierzig Ringen und fünfunddreißig Broschen sowie Dutzenden Armreifen und Halsketten. Sein Geschmack reicht von eklektisch (kenianische Perlenarmbänder, eine Halskette aus großen Bernsteinstücken, Broschen aus Plastikfrüchten) über Antiquitäten (ein schwerer turkmenischer Silberarmreif) bis hin zu Designer- und Künstlerschmuck und ganz einfach lächerlich überzogen (eine Halskette aus geflochtener Lakritze). »Die Studenten begannen das zu bemerken, und so fing ich damit an, zu jeder Vorlesung etwa anderes zu tragen. Und ganz besonders, wenn ich Vorträge vor Kindern halte. Die mögen das«, erklärt er.

Und was ist mit dem an sein Hemd geklemmten Ding, das wie ein überdimensionaler Krawattenhalter aussieht? Es ist eine speziell entworfene Uhr (das Geschenk eines befreundeten Künstlers) mit auf dem Kopf stehenden Zifferblatt, sodass Lewin mit einem Blick nach unten auf das Hemd die Uhrzeit ablesen kann.

Anderen kommt es manchmal so vor, als wäre Lewin zerstreut und möglicherweise der klassische geistesabwesende Professor. In Wahrheit aber ist er gewöhnlich damit beschäftigt, tief über einen bestimmten Aspekt der Physik nachzudenken. Wie seiner Frau Susan Kaufman jüngst wieder einfiel: »Wenn wir nach New York fahren, sitze immer ich am Steuer. Kürzlich nahm ich diese Karte heraus, ich weiß nicht genau, warum, jedenfalls fiel mir da auf, dass die Grenzen der Bundesstaaten überall mit Gleichungen versehen waren. Er hatte einfach immer die Physik im Kopf. Seine Studenten und die Uni begleiteten ihn vierundzwanzig Stunden täglich.«

Laut seiner langjährigen Freundin, der Architekturhistorikerin Nancy Stieber, liegt der bemerkenswerteste Zug von Lewins Persönlichkeit in »der laserscharfen Konzentration seines Interesses. Immer scheint er sich für das, worauf er sich einlässt, in höchstem Maß einzusetzen, während er neunzig Prozent der Welt ausblendet. Mit dieser an einen Laserstrahl erinnernden Fokussierung eliminiert er alles, was ihm unwesentlich vorkommt, und die so gewonnene Intensität bringt eine beachtliche Lebensfreude mit sich«.

Lewin ist Perfektionist; ihn treibt eine fast fanatische Besessenheit für Details. Er ist nicht nur der weltweit beste Physiklehrer, sondern war auch ein Pionier auf dem Gebiet der Röntgenastronomie und hat zwei Jahrzehnte damit zugebracht, subatomare und astronomische Erscheinungen zu überprüfen und zu beobachten – mit hochempfindlichen Geräten, die darauf ausgelegt waren, Röntgenstrahlen mit einem beachtlichen Grad an Genauigkeit zu messen. Er ließ riesige und äußerst sensible Ballons aufsteigen, die bis an den Rand der Atmosphäre flogen, und begann auf diesem Weg, eine exotische Menagerie astronomischer Erscheinungen wie beispielsweise Sterne mit Röntgenstrahlausbrüchen zu entdecken. Die von ihm und seinen Kollegen auf diesem Gebiet gewonnenen Forschungsergebnisse trugen dazu bei, die Geheimnisse rund um den Tod von Sternen in Supernovae zu enthüllen und zu bestätigen, dass es Schwarze Löcher tatsächlich gibt.

Er lernte, alles zu überprüfen und nochmals zu überprüfen  – das erklärt nicht nur seinen Erfolg als beobachtender Astrophysiker, sondern auch die bemerkenswerte Klarheit, mit der er die Größe der Newton’schen Gesetze ins rechte Licht setzt oder zeigt, warum die Saiten einer Violine so schöne, resonante Töne hervorbringen und warum wir bei einer Fahrt im Aufzug – wenn auch nur für sehr kurze Zeit – Gewicht verlieren und zulegen.

Für seine Vorlesungen übte er stets mindestens dreimal in einem leeren Hörsaal, wobei die letzte Probe um fünf Uhr morgens am Tag der Vorlesung stattfand. »Seine Vorlesungen leben davon«, sagt der Astrophysiker David Pooley, der bei ihm studiert und im Hörsaal mit ihm gearbeitet hat, »dass er so viel Zeit in sie investiert.«

Als der Fachbereich Physik am MIT Lewin 2002 für eine angesehene Auszeichnung für gute Lehre nominierte, zielten viele seiner Kollegen genau auf diese Eigenschaften ab. Steven Leeb, inzwischen Professor für Elektrotechnik und Computerwissenschaften am MIT-Labor für elektromagnetische und elektrische Systeme (seinen Kurs im Fach Elektrizität und Magnetismus absolvierte er 1984), liefert eine der treffendsten Schilderungen, was es heißt, Physik von Lewin zu lernen. »Auf dem Podium explodierte er geradezu«, erinnert sich Leeb. »Er packte uns beim Gehirn und begann eine Achterbahnfahrt durch den Elektromagnetismus, die ich immer noch im Genick spüre. Im Hörsaal ist er ein Genie mit einem beispiellosen Einfallsreichtum, der es ihm ermöglicht, Vorstellungen zu verdeutlichen.«

Robert Hulsizer, einer der Kollegen Lewins im Fachbereich Physik, versuchte sich daran, einige Auszüge aus Lewins Hörsaalvorführungen auf Video aufzunehmen und daraus einen Zusammenschnitt der Highlights für andere Universitäten zu produzieren. Er kam darauf, dass die Aufgabe nicht durchführbar war. »Die Vorführungen waren so stark in die Entwicklung der jeweiligen Vorstellungen einschließlich Spannungsaufbau und Auflösung eingewoben, dass kein exakter Zeitpunkt auszumachen war, wann die Vorführung begann und endete. Für mich verfügte Walter über eine reichhaltige Art der Präsentation, die nicht in einzelne Passagen zerlegt werden konnte.«

Walter Lewins Ansatz, die Wunder der Physik vorzustellen, ist deshalb so spannend, weil er eine so große Freude an all den Wundern unserer Welt vermittelt. Liebevoll erinnert sein Sohn Chuck sich an die Hingabe, mit der sein Vater ihm und seinen Geschwistern dieses Gefühl der Freude vermittelte: »Er hat diese Fähigkeit, einem Dinge vor Augen zu führen und einen dazu zu bringen, sich von ihrer Schönheit überwältigen zu lassen; er schafft es, Freude und Staunen und Aufregung in einem zu wecken. Ich spreche von kleinen unglaublichen Fenstern, in deren Zentrum er sich befand; man fühlte sich so glücklich in seiner Gegenwart, in diesem von ihm erschaffenen Ereignis lebendig zu sein. Einmal waren wir in Maine im Urlaub. Das Wetter war nicht besonders, und wir Kinder hingen einfach nur gelangweilt herum. Mein Vater trieb irgendwie einen kleinen Ball auf und erfand spontan dieses seltsame kleine Spiel, und wenig später kamen ein paar Strandkinder von nebenan vorbei, und plötzlich waren vier, fünf, sechs von uns damit beschäftigt zu werfen, zu fangen und zu lachen. Ich weiß noch, wie unglaublich aufgeregt und fröhlich ich war. Wenn ich so zurückschaue und überlege, was mich im Leben motiviert hat, wenn ich diese Augenblicke purer Freude erlebte, eine Vorstellung davon bekam, wie schön das Leben sein kann, ein Gespür dafür, was das Leben bereithalten kann – das habe ich von meinem Vater mitbekommen.«

Walter brachte seine Kinder im Winter regelmäßig dazu, im Spiel die aerodynamischen Eigenschaften von Papierfliegern zu testen – sie ließen sie in den großen offenen Kamin im Wohnzimmer der Familie fliegen. »Zum Entsetzen meiner Mutter«, erinnert sich Chuck, »retteten wir sie immer wieder aus dem Feuer – wir waren entschlossen, den Wettbewerb im nächsten Durchgang zu gewinnen!«

Wenn Gäste zum Abendessen kamen, führte Walter oft den Vorsitz bei dem Spiel »Reise zum Mond«. Chuck erinnert sich: »Wir dunkelten den Raum ab und schlugen mit den Fäusten auf den Tisch; mit dieser Art Trommelwirbel simulierten wir den Lärm eines Raketenstarts. Wenn wir dann den Weltraum erreicht hatten, hörten wir mit dem Trommeln auf, und sobald wir auf dem Mond gelandet waren, spazierten wir alle durchs Wohnzimmer und taten so, als wäre die Schwerkraft sehr gering – wir bemühten uns, verrückt übertriebene Schritte auszuführen. Manche Gäste müssen sich wohl gedacht haben: ›Diese Leute sind komplett meschugge!‹ Für uns Kinder aber war das ganz toll! Eine Reise zum Mond!«

Seit Walter Lewin vor mehr als einem halben Jahrhundert erstmals einen Hörsaal betrat, hat er seine Studenten zum Mond mitgenommen. Unaufhörlich bezaubert vom Mysterium und von der Schönheit der Welt – von Regenbogen bis hin zu Neutronensternen, vom Oberschenkelknochen einer Maus bis zu den Klängen der Musik – und von den Anstrengungen der Wissenschaftler und Künstler, diese Welt zu erklären, zu deuten und darzustellen, gehört Walter Lewin derzeit zu den passioniertesten, hingebungsvollsten und begabtesten wissenschaftlichen Führern in dieser Welt. In den folgenden Kapiteln werden Sie diese Leidenschaft, Hingabe und Fähigkeiten erleben können – er präsentiert seine lebenslange Liebe zur Physik und lässt Sie daran teilhaben. Genießen Sie den Ausflug!

Warren Goldstein

1

Vom Atomkern in die Tiefen des Alls

Es ist wirklich erstaunlich. Mein Großvater mütterlicherseits war Analphabet, ein einfacher Aufseher. Zwei Generationen später bin ich ordentlicher Professor am MIT. Das verdanke ich dem holländischen Bildungssystem. Studiert habe ich an der Technischen Universität Delft in den Niederlanden, und dort schlug ich drei Fliegen mit einer Klappe. Von Beginn an unterrichtete ich Physik. Um die Studiengebühren bezahlen zu können, hatte ich einen Kredit der holländischen Regierung in Anspruch nehmen müssen, und wenn ich in Vollzeit – mindestens zwanzig Wochenstunden – unterrichtete, erließ mir die Regierung ein Fünftel meiner Schulden. Ein weiterer Vorteil des Unterrichtens war, dass ich keinen Wehrdienst zu leisten hatte. Das Militär wäre für mich das Schlimmste gewesen, eine absolute Katastrophe. Ich bin allergisch gegenüber jeder Form von Autorität – das gehört einfach zu meinem Charakter –, und ich wusste, ich würde am Ende die Klappe nicht halten können und Fußböden schrubben. Also unterrichtete ich am Libanon Lyzeum in Rotterdam Schüler von fünfzehn und sechzehn Jahren in Mathe und Physik in Vollzeit, zweiundzwanzig Semester-Wochenstunden. Ich umschiffte den Militärdienst, musste mein Darlehen nicht zurückzahlen und machte meinen Doktor – alles gleichzeitig.

Außerdem lernte ich zu unterrichten. Für mich war es spannend, Oberschülern etwas beizubringen und das Denken junger Leute in positiver Weise zu verändern. Ich bemühte mich immer, den Unterricht interessant zu machen, den Schülern aber auch Spaß zu vermitteln, obwohl die Schule an sich ziemlich streng war. Die Türen der Klassenzimmer waren mit Oberlichtern ausgestattet, und gelegentlich kletterte einer der Schulleiter auf einen Stuhl und spionierte Lehrer durch das Fenster aus. Ist das zu glauben?

Egal, ich war nicht in die Schulkultur eingebunden und als Student sprudelte ich geradezu vor Begeisterung. Mein Ziel war, meinen Schülern etwas von diesem Enthusiasmus zu vermitteln; ich wollte ihnen dazu verhelfen, die Schönheit der Welt um sie herum auf eine neue Art zu sehen; ich wollte sie dazu bringen, die Welt der Physik als schön zu erkennen und zu verstehen, dass Physik in allem steckt und unser aller Leben durchdringt. Ich fand heraus, dass es nicht auf das ankommt, welche Themen man abdeckt, sondern auf das, was man aufdeckt. Themen abdecken konnte lähmend sein, und die Schüler spüren das. Das Aufdecken physikalischer Gesetze dagegen ist wie eine Entdeckung mit all dem Neuen und der Spannung, und die Studenten lieben es, daran teilzunehmen.

Das konnte ich auch noch auf andere Weise vermitteln – weit von jedem Klassenzimmer entfernt. Jedes Jahr veranstaltete die Schule ein einwöchiges Ferienlager; ein Lehrer begleitete die Kinder zu einem ziemlich abgelegenen und primitiven Lagerplatz. Einmal übernahm ich diese Aufgabe zusammen mit meiner ersten Frau Huibertha. Wir kochten gemeinsam und schliefen in Zelten. Weil wir so weit von den Lichtern der Großstadt entfernt waren, weckten wir damals alle Kinder um Mitternacht und brachten sie ins Freie, wir tranken heiße Schokolade und betrachteten die Sterne. Wir machten Sternbilder und Planeten ausfindig, und sie konnten die Milchstraße in voller Pracht sehen.

Astrophysik war nicht mein Studienfach; ich unterrichtete es nicht einmal – eigentlich dachte ich mir Experimente aus, mit denen einige der kleinsten Teilchen des Universums aufgespürt werden sollten –, aber die Astronomie hatte mich immer fasziniert. Tatsächlich empfindet praktisch jeder Physiker auf der Welt Liebe für die Astronomie. Viele Physiker aus meinem Bekanntenkreis bauten sich schon als Gymnasiasten ihr eigenes Teleskop. Mein langjähriger Freund und MIT-Kollege George Clark schliff und polierte als Oberschüler sogar selbst einen Spiegel für ein 6-Zoll-Teleskop. Aber warum sind Physiker eigentlich so vernarrt in die Astronomie? Zum einen sind viele Fortschritte in der Physik – beispielsweise Theorien zur Orbitalbewegung – aus astronomischen Fragen, Beobachtungen und Theorien hervorgegangen. Zum anderen aber ist Astronomie tatsächlich Physik, die groß über den Nachthimmel geschrieben ist: Sonnenfinsternisse, Kometen, Sternschnuppen, Kugelsternhaufen, Neutronensterne, Gammastrahlenausbrüche, Jets, planetare Nebel, Supernovae, Galaxienhaufen, Schwarze Löcher.

Man muss nur einmal zum Himmel aufschauen und sich ein paar auf der Hand liegende Fragen stellen: Warum ist der Himmel blau, warum sind Sonnenuntergänge rot und Wolken weiß? Die Physik kennt die Antworten! Das Sonnenlicht setzt sich aus allen Farben des Regenbogens zusammen. Doch auf seinem Weg durch die Atmosphäre wird es an Luftmolekülen und winzigsten Staubteilchen (kleiner als ein Mikrometer, das heißt weniger als ein Millionstel Meter) in alle Richtungen gestreut. Das nennt man Rayleigh-Streuung. Blaues Licht wird am stärksten gestreut – etwa fünfmal stärker als rotes. Blickt man also tagsüber in beliebiger Richtung zum Himmel (Vorsicht, nie in die Sonne schauen!), herrscht Blau vor, weshalb der Himmel blau ist. Schaut man von der Mondoberfläche zum Himmel (vielleicht hat jemand Fotos gesehen), ist er nicht blau, sondern schwarz wie unser Nachthimmel. Warum? Weil der Mond keine Atmosphäre besitzt.

Warum sind Sonnenuntergänge rot? Aus demselben Grund, der den Himmel blau erscheinen lässt. Steht die Sonne am Horizont, müssen ihre Strahlen sehr viel mehr Atmosphäre durchdringen, und dabei werden grünes, blaues und violettes Licht am stärksten gestreut – also im Grunde aus dem Licht herausgefiltert. Wenn das Licht dann unser Auge – und die Wolken über uns – erreicht, besteht es vor allem aus Gelb, Orange und speziell Rot. Aus diesem Grund scheint der Himmel bei Sonnenuntergang und Sonnenaufgang manchmal fast in Flammen zu stehen.

Warum sind Wolken weiß? Die Wassertröpfchen in Wolken sind weit größer als die winzigen Teilchen, die den Himmel blau machen, und wenn Licht an diesen viel größeren Teilchen gestreut wird, werden alle darin enthaltenen Farben im gleichen Maß gestreut. Deshalb bleibt das Licht weiß. Wenn eine Wolke aber sehr dick und voller Feuchtigkeit ist oder sich im Schatten einer anderen Wolke befindet, dringt nicht viel Licht hindurch, und die Wolke wirkt eher schwarz.

Eine der Demonstrationen, die ich besonders gern vorführe, besteht darin, im Unterricht ein Fleckchen »blauen Himmels« zu schaffen. Ich schalte alle Lichter aus und richte einen sehr hellen Scheinwerfer mit weißem Licht an die Decke des Hörsaals neben der Tafel. Der Scheinwerfer ist sorgfältig abgeschirmt. Dann zünde ich einige Zigaretten an und halte sie in den Lichtstrahl. Die Rauchpartikel sind so klein, dass sie Rayleigh-Streuung erzeugen, und weil blaues Licht am stärksten gestreut wird, sehen die Studenten blauen Rauch. Anschließend treibe ich diese Demonstration noch einen Schritt weiter. Ich inhaliere den Rauch und behalte ihn für eine oder zwei Minuten in der Lunge – das ist nicht immer einfach, aber die Wissenschaft erfordert manchmal Opfer. Dann atme ich den Rauch in den Lichtstrahl hinein aus. Die Studenten sehen jetzt weißen Rauch – ich habe eine weiße Wolke erzeugt! Weil in der Lunge eine Menge Wasserdampf vorhanden ist, sind die winzigen Rauchpartikel gewachsen. Deshalb werden nun alle Farben in gleichem Maß gestreut, und das gestreute Licht ist weiß. Der Farbwechsel von blauem zu weißem Licht ist wirklich verblüffend!

Mit dieser Vorführung kann ich zwei Fragen auf einmal beantworten: Warum ist der Himmel blau, und warum sind Wolken weiß? Eigentlich ist da noch eine dritte interessante Frage enthalten; sie hat mit der Polarisation des Lichts zu tun. Dazu komme ich im 5. Kapitel.

Draußen auf dem Land mit meinen Schülern konnte ich ihnen die Andromedagalaxie zeigen – es ist die einzige, die man mit bloßem Auge sehen kann. Sie ist 2,5 Millionen Lichtjahre, also 24 Billionen Billionen Kilometer, entfernt; nach astronomischen Maßstäben ist das in unmittelbarer Nachbarschaft. Sie besteht aus 200 Milliarden Sternen. Das muss man sich einmal vorstellen – 200 Milliarden Sterne, und wir können sie gerade mal als schwachen Flecken mit unscharfen Rändern ausmachen. Außerdem sahen wir eine Menge Meteore – die meisten Leute sagen Sternschnuppen dazu. Wer geduldig ist, kann alle drei bis vier Minuten eine sehen. Damals gab es keine Satelliten, aber heute würde man auch von denen ziemlich viele entdecken. Mittlerweile kreisen mehr als 2000 um die Erde, und wer den Blick für fünf Minuten an einer Stelle halten kann, sieht fast sicher einen. Das gilt speziell für die ersten Stunden nach Sonnenuntergang oder kurz vor ihrem Aufgang, wenn die Sonne auf dem Satelliten selbst noch nicht untergegangen oder schon aufgegangen ist, sodass er das Sonnenlicht noch in unser Auge reflektiert. Je weiter der Satellit entfernt ist (was den Zeitunterschied zwischen dem Sonnenuntergang auf der Erde und auf dem Satelliten vergrößert), desto später in der Nacht ist er sichtbar. Satelliten erkennt man daran, dass sie sich schneller als alle anderen Objekte am Himmel bewegen (Meteore ausgenommen) – wenn es blinkt, ist es ein Flugzeug, das dürfen Sie mir ruhig glauben.

Besonders gern habe ich beim Sterngucken auf Merkur hingewiesen. Als sonnennächster Planet ist er mit bloßem Auge nur sehr schwer zu sehen. Die besten Voraussetzungen ergeben sich nur an etwa zwei Dutzend Abenden und Morgen eines Jahres. Merkur umkreist die Sonne in nur 88 Tagen – deshalb gab man ihm den Namen des göttlichen Sendboten (die Griechen hatten ihn Hermes genannt) mit den geflügelten Schuhen. So schwer zu sehen ist er, weil seine Umlaufbahn so nahe bei der Sonne liegt. Von der Erde aus betrachtet ist er nie mehr als 25 Grad von der Sonne entfernt – das ist weniger als der Winkel zwischen den Uhrzeigern um elf Uhr. Man kann ihn kurz nach Sonnenuntergang oder kurz vor Sonnenaufgang erkennen, aber nur dann, wenn er auf seiner Bahn den größten Abstand zur Sonne hat. In Nordamerika steht er so dicht über dem Horizont, dass man fast auf dem flachen Land sein muss, um ihn sehen zu können. Es ist wunderbar, wenn man ihn tatsächlich findet!

Sterngucken bringt uns in Verbindung mit den Weiten des Universums. Wenn wir länger in den Nachthimmel starren und unseren Augen ermöglichen, sich lange genug anzupassen, können wir die übergeordnete Struktur der weiteren Ausläufer unserer Milchstraße recht schön erkennen – an die 100 bis 200 Milliarden Sterne in einem Muster wie in ein durchsichtiges Gewebe eingeflochten, so wunderbar zart. Die Ausdehnung des Universums ist unbegreiflich, aber man kann damit anfangen, sie zu erfassen, wenn man zunächst die Milchstraße betrachtet.

Nach der aktuellen Schätzung könnte es im Universum ebenso viele Galaxien geben wie Sterne in unserer Milchstraße. Denn wann immer man mit einem Teleskop tief in den Weltraum schaut, sind zumeist Galaxien zu sehen – es ist unmöglich, auf wahrhaft große Entfernungen einzelne Sterne zu unterscheiden  –, und jede enthält Milliarden Sterne. Oder man sehe sich die jüngste Entdeckung an: Die Sloan Great Wall (eine »Große Mauer« aus Galaxien) ist die größte Struktur im bekannten Universum; gefunden wurde sie im Rahmen des Sloan Digital Sky Survey, einem Großprojekt, in das die Bemühungen von mehr als 300 Astronomen und Ingenieuren sowie 25 Universitäten und Forschungseinrichtungen eingeflossen sind. Das getreue Sloan-Teleskop beobachtet jede Nacht; es nahm im Jahr 2000 die Arbeit auf und wird mindestens bis 2014 weitermachen. Die Great Wall ist mehr als eine Milliarde Lichtjahre lang. Wem hier nicht schwindlig wird, der sollte sich vor Augen führen, dass das beobachtbare Universum (nicht das ganze, nur der Teil, den wir beobachten können) ungefähr einen Durchmesser von 90 Milliarden Lichtjahren hat.

Das ist die Macht der Physik; sie kann uns sagen, dass unser beobachtbares Universum aus etwa 100 Milliarden Galaxien besteht. Außerdem kann sie uns vermitteln, dass die gesamte Materie im sichtbaren Universum nur zu circa 4 Prozent aus normaler Materie besteht, aus der Sterne und Galaxien (und wir alle) zusammengesetzt sind. Ungefähr 23 Prozent macht die sogenannte dunkle Materie aus (sie ist unsichtbar). Wir wissen, dass es sie gibt, haben aber keine Ahnung, was sie ist. Die verbleibenden 73 Prozent, die den größten Anteil der Energie in unserem Universum stellen, nennen wir dunkle Energie – auch sie ist unsichtbar. Auch hier hat niemand einen Hinweis darauf, was sie sein könnte. Unter dem Strich heißt das, von ungefähr 96 Prozent der Masse/Energie im Universum wissen wir absolut nichts. Die Physik hat schon so vieles erklärt, doch wir haben immer noch viele Rätsel zu lösen, was ich sehr anregend finde.

Die Physik erkundet die unvorstellbare Unendlichkeit, während sie gleichzeitig in die absolut kleinsten Bereiche vordringen kann, hinunter zu den eigentlichen Bestandteilen der Materie wie etwa den Neutrinos, klein wie ein winziger Bruchteil eines Protons. Dort, im Reich der sehr kleinen Teilchen, verbrachte ich anfangs den größten Teil meiner Zeit; ich maß und katalogisierte die Teilchen und die Radioaktivität, die von radioaktiven Atomkernen freigesetzt wurden. Es handelte sich um Atomphysik, allerdings nicht um die Variante Bombenbau. Ich studierte, was die Materie auf der grundlegenden Ebene in Gang hielt.

Dass die Materie, die man sehen und berühren kann, ausnahmslos aus Elementen wie Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff besteht, die zu Molekülen verbunden sind, ist wohl jedem ebenso bekannt wie die Tatsache, dass die kleinste Einheit eines Elements das aus Kern und Elektronen bestehende Atom ist. Ein Atomkern wiederum setzt sich aus Protonen und Neutronen zusammen. Das leichteste und häufigste Element im Universum ist Wasserstoff mit einem Proton und einem Elektron. Es gibt jedoch eine Form von Wasserstoff, dessen Kern sowohl ein Proton als auch ein Neutron enthält. Es handelt sich um ein Isotop des Wasserstoffs – eine andere Form desselben Elements namens Deuterium. Wir kennen sogar eine dritte Form von Wasserstoff, wo das Proton des Kerns mit zwei Neutronen verbunden ist, das Tritium. Alle Isotope eines Elements haben die gleiche Zahl von Protonen, aber verschiedene Zahlen von Neutronen, und Elemente weisen unterschiedliche Zahlen von Isotopen auf. Beispielsweise gibt es 13 Sauerstoffisotope und 36 Goldisotope.

Nun sind viele dieser Isotope stabil – sie können mehr oder weniger auf ewige Zeiten bestehen bleiben. Die meisten sind jedoch instabil, was eine andere Bezeichnung für radioaktiv ist; radioaktive Isotope zerfallen nämlich. Das heißt, sie wandeln sich früher oder später in andere Elemente um. Manche der Elemente, in die sie sich umwandeln, sind stabil – in diesem Fall hört der radioaktive Zerfall auf. Andere sind jedoch instabil, und dann geht der Zerfall weiter, bis ein stabiler Zustand erreicht ist. Von den drei Isotopen des Wasserstoffs ist nur das Tritium radioaktiv – es zerfällt in ein stabiles Isotop von Helium. Von den 13 Isotopen des Sauerstoffs sind drei stabil, von den 36 Isotopen des Goldes nur eines.

Wahrscheinlich ebenfalls bekannt ist, dass wir die Geschwindigkeit des Zerfalls radioaktiver Isotope mit dem Terminus »Halbwertszeit« messen – diese kann von einer Mikrosekunde (ein Millionstel einer Sekunde) bis zu Milliarden Jahren reichen. Wenn wir sagen, Tritium habe eine Halbwertszeit von circa zwölf Jahren, dann meinen wir, dass von den Isotopen einer gegebenen Menge Tritium die Hälfte binnen zwölf Jahren zerfallen sein wird (nach vierundzwanzig Jahren ist nur noch ein Viertel übrig). Nuklearer Zerfall ist einer der wichtigsten Vorgänge, mit denen viele verschiedene Elemente umgewandelt und erschaffen werden. Es ist keine Alchemie. Tatsächlich sah ich während der Forschung für meine Doktorarbeit, wie radioaktive Goldisotope eher zu Quecksilber zerfielen als umgekehrt, wie es die Alchemisten des Mittelalters gerne gehabt hätten. Es gibt jedoch auch viele Isotope von Quecksilber und ebenso von Platin, die zu Gold zerfallen. Aber nur ein Platinisotop und ein Quecksilberisotop zerfallen zu stabilem Gold, das man als Schmuck tragen kann.

Die Arbeit war ungeheuer aufregend und intensiv; es kam vor, dass mir radioaktive Isotope buchstäblich auf der Hand zerfielen. Ich arbeitete mit Isotopen, deren Halbwertszeit üblicherweise bei einem oder wenigen Tagen lag. Gold-198 beispielsweise hat eine Halbwertszeit von wenig mehr als zweieinhalb Tagen – folglich musste ich schnell arbeiten. Ich fuhr also von Delft nach Amsterdam, wo sie mittels eines Zyklotrons Atomkerne mit Protonen hoher Energie beschossen, um diese Isotope zu beschaffen, und raste dann zurück ins Labor nach Delft. Dort löste ich sie in einer Säure auf, um sie in flüssiger Form vorliegen zu haben, trug sie auf einen sehr dünnen Film auf und brachte sie in Detektoren ein.

Ich bemühte mich darum, eine Theorie über nuklearen Zerfall zu bestätigen – sie sagte voraus, in welchem Verhältnis Gammastrahlen und Elektronen von den Kernen emittiert wurden, und diese Arbeit erforderte präzise Messungen. Für viele radioaktive Isotope hatte man das schon durchgeführt, doch einige neuere Messungen wichen von den Vorhersagen der Theorie ab. Mein Doktorvater Professor Aaldert Wapstra schlug vor, ich sollte zu bestimmen versuchen, ob die Theorie oder die Messungen fehlerhaft waren. Das war höchst befriedigend – vergleichbar mit der Arbeit an einem fantastisch komplizierten Puzzle. Die Herausforderung bestand darin, dass meine Messungen sehr viel genauer sein mussten als jene, die andere Forscher vor mir erhalten hatten.

Elektronen sind so klein, dass manche sagen, sie hätten effektiv überhaupt keine Größe – ihr Durchmesser beträgt weniger als ein Billiardstel eines Meters (5,6 × 10-15 m); die Wellenlänge der Gammastrahlen liegt bei weniger als einem Milliardstel Zentimeter. Und trotzdem hatte mir die Physik Mittel bereitgestellt, mit denen ich sie aufspüren und zählen konnte. Das ist ein weiterer Aspekt der Experimentalphysik, den ich liebe, nämlich das Unsichtbare »berühren« zu können.

Um die notwendigen Messwerte zu erhalten, musste ich die Probe so lange wie möglich »melken«, denn je mehr Zählungen ich hatte, desto größer war die daraus resultierende Genauigkeit. Damals arbeitete ich häufig an die sechzig Stunden hintereinander, oft ganz ohne Schlaf. Ich entwickelte eine gewisse Besessenheit. Aber für einen Experimentalphysiker ist Präzision nun einmal der Schlüssel für alles. Es kommt ausschließlich auf Genauigkeit an, und eine Messung, die nicht auch den eigenen Grad der Genauigkeit angibt, ist ohne Bedeutung. In Physikbüchern der höheren Schulen wird diese schlichte, machtvolle und absolut grundlegende Vorstellung fast immer ignoriert. Dabei ist die Kenntnis der Genauigkeitsgrade für so viele Dinge unseres Lebens ein entscheidender Faktor.

In meiner Arbeit mit radioaktiven Isotopen war der Grad der zu erreichenden Präzision eine große Herausforderung, doch binnen drei oder vier Jahren wurde ich bei den Messungen immer besser. Nachdem ich einige der Detektoren verbessert hatte, erwiesen sie sich als äußerst präzise. Ich konnte die Theorie bestätigen und meine Ergebnisse veröffentlichen, und am Ende ergab sich aus dieser Tätigkeit meine Doktorarbeit. Besonders befriedigend fand ich, dass meine Ergebnisse ziemlich schlüssig waren, was nicht sehr oft vorkommt. In der Physik (und in der Wissenschaft ganz allgemein) sind Resultate nicht immer eindeutig. Ich persönlich hatte das Glück, dass ich zu einer klaren Schlussfolgerung kam. Ich hatte ein Rätsel gelöst, mich als Physiker etabliert und dazu beigetragen, das unbekannte Territorium der subatomaren Welt zu erfassen. Ich war neunundzwanzig Jahre alt und fand es aufregend, dass ich einen soliden Beitrag geliefert hatte. Nicht jeder ist dazu bestimmt, große, grundlegende Entdeckungen wie Newton oder Einstein zu machen, doch es gibt immer noch ungeheuer viele Gebiete, die darauf warten, erkundet zu werden.

Als ich damals meinen Abschluss machte, hatte ich zudem das Glück, dass eine ganz neue Ära der Entdeckungen über die Natur des Universums begonnen hatte. Astronomen entdeckten in erstaunlichem Tempo neue Tatsachen. Manche erforschten die Atmosphäre von Mars und Venus auf der Suche nach Wasserdampf. Einige hatten die Zonen geladener Teilchen entdeckt, die um die Feldlinien des Erdmagnetfelds kreisen – heute bezeichnen wir sie als Van-Allen-Gürtel. Und andere hatten ungeheuer starke Quellen von Strahlungsenergie gefunden, die als Quasare (quasi-stellar radio sources) bekannt sind. Die kosmische Mikrowellenhintergrundstrahlung wurde 1965 entdeckt – es sind die Spuren der vom Urknall ausgesandten Energie. Sie ist ein starkes Argument für die Urknalltheorie von der Entstehung des Universums, die umstritten gewesen war. Bald darauf (1967) entdeckten die Astronomen eine neue Klasse von Sternen, die man Pulsare nannte.

Ich hätte in der Atomphysik weiterarbeiten können, da auch dort weiterhin viele Entdeckungen gemacht wurden. Diese Arbeit bestand vor allem in der Jagd nach subatomaren Teilchen, von denen man einen rasch wachsenden, faszinierenden Zoo fand. Am wichtigsten waren die sogenannten Quarks, die sich als Bausteine der Protonen und Neutronen erweisen sollten. Die Spannweite der Verhaltensweisen von Quarks war so seltsam, dass ihnen die Physiker, um sie zu klassifizieren, die sogenannten Flavours zuwiesen: up, down, strange, charm, top und bottom. Die Entdeckung der Quarks stellte einen jener wundervollen Momente der Physik dar, in denen eine rein theoretische Vorstellung bestätigt wird. Theoretiker hatten die Quarks vorhergesagt, und dann gelang es den Experimentalphysikern, sie zu finden. Und sie waren wirklich exotisch – sie zeigten, dass die Grundlagen der Materie bei Weitem komplizierter waren, als bekannt gewesen war. So wissen wir heute, dass Protonen aus zwei up-Quarks und einem down-Quark bestehen. Zusammengehalten werden sie von der starken Kernkraft in der Form eines weiteren merkwürdigen Teilchens namens Gluon. Einige Theoretiker haben kürzlich berechnet, dass die Masse des up-Quarks anscheinend 0,2 Prozent der Masse eines Protons beträgt, während die Masse des down-Quarks bei 0,5 Prozent der Protonenmasse liegt. Das war nun alles andere als der Atomkern unserer Großväter.

Sicherlich wäre der Teilchenzoo ein faszinierendes Forschungsgebiet gewesen. Durch einen glücklichen Zufall stellte sich jedoch heraus, dass die von mir erworbenen Fertigkeiten bei der Messung der vom Atomkern ausgesandten Strahlung äußerst nützlich für die Sondierung des Universums waren. 1965 wurde ich von Professor Bruno Rossi am MIT eingeladen, in der Röntgenastronomie zu arbeiten. Es war ein vollkommen neues Forschungsgebiet – damals tatsächlich erst ein paar Jahre alt –, das Rossi 1959 begründet hatte.

Das MIT war das Beste, was mir hatte passieren können. Rossis Arbeiten über kosmische Strahlung waren bereits legendär. Während des Krieges war er Leiter einer Abteilung in Los Alamos gewesen. Er führte bahnbrechende Messungen des Sonnenwindes (auch als interplanetares Plasma bezeichnet) durch – es handelt sich um einen Strom von der Sonne ausgeworfener geladener Teilchen, der die Nordlichter verursacht und Kometenschweife von der Sonne »wegbläst«. Nun hatte Rossi die Idee, den Kosmos nach Röntgenstrahlen abzusuchen. Reine Erkundungsarbeit, er hatte keine Ahnung, ob er sie finden würde oder nicht.

Am MIT war damals alles möglich. Was immer einem einfiel: wenn man Leute davon überzeugen konnte, dass etwas machbar war, konnte man daran arbeiten. Was für ein Unterschied zu den Niederlanden! In Delft existierte eine starre Hierarchie, und graduierte Studenten wurden wie eine niedere Klasse behandelt. Die Professoren erhielten Schlüssel für die Vordertür meines Gebäudes; als graduierter Student dagegen bekam man nur einen Schlüssel für die Tür im Tiefparterre, wo die Fahrräder aufbewahrt wurden. Wann immer man das Gebäude betrat, musste man sich den Weg durch den Fahrradraum bahnen und sich daran erinnern lassen, dass man ein Nichts war. Wollte man nach fünf Uhr arbeiten, hatte man an jedem Tag um vier Uhr ein Formular auszufüllen, in dem zu begründen war, warum man länger bleiben musste, was bei mir fast immer nötig war. Die Bürokratie war eine echte Plage.

Die drei für mein Institut verantwortlichen Professoren hatten reservierte Parkplätze nahe der Vordertür. Einer von ihnen, mein Doktorvater, arbeitete zumeist in Amsterdam und kam nur jeden Dienstag einmal nach Delft. Eines Tages fragte ich ihn: »Wenn Sie nicht da sind, könnte ich dann Ihren Parkplatz nutzen?« Er erwiderte: »Natürlich!« Als ich dann das erste Mal dort parkte, wurde ich über die interne Rufanlage mit den denkbar schärfsten Worten aufgefordert, den Wagen zu entfernen. Und noch eine Anekdote: Da ich nach Amsterdam fahren musste, um meine Isotope abzuholen, genehmigte man mir 25 Cent für eine Tasse Kaffee und 1,25 Gulden für ein Mittagessen (das entsprach damals etwa dem gleichen Betrag in D-Mark). Allerdings musste ich für beides eine Quittung vorlegen. Also fragte ich, ob ich die 25 Cent auf die Essensquittung aufschlagen und nur eine Rechnung über 1,50 Gulden vorlegen dürfe. Der Dekan der Fakultät, Professor Blaisse, schrieb mir einen Brief, in dem er feststellte, ich könne jederzeit ein Gourmetmenü haben – allerdings auf eigene Kosten.

So war es eine große Freude, dass ich mich am MIT von all dem befreien konnte; ich fühlte mich wie neugeboren. Man unternahm dort alles, um einen zu ermutigen. Ich bekam einen Schlüssel für die Vordertür und konnte nach Belieben bei Tag und bei Nacht in meinem Büro arbeiten. Für mich war der Schlüssel zu dem Gebäude der Schlüssel für alles. Sechs Monate nach meiner Ankunft, im Juni 1966, bot mir der Leiter des Fachbereichs Physik eine Stelle als Mitglied der Fakultät an. Ich akzeptierte und blieb – für immer.

Meine Ankunft am MIT war auch deshalb mit Hochgefühlen verbunden, weil ich die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs in Europa durchlebt hatte. Die Nazis hatten die Hälfte meiner Familie ermordet, eine Tragödie, die ich noch immer nicht wirklich verkraftet habe. Gelegentlich spreche ich darüber, aber nur sehr selten, weil es so schwierig für mich ist – es liegt mehr als fünfundsechzig Jahre zurück, überwältigt mich aber nach wie vor. Wenn ich mit meiner Schwester Bea darüber rede, weinen wir fast jedes Mal.

Ich wurde 1936 geboren und war gerade mal vier Jahre alt, als der Krieg am 10. Mai 1940 die Niederlande erreichte. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist, wie wir alle – meine Mutter, ihre Eltern, mein Vater, meine Schwester und ich – uns im Badezimmer unseres Hauses (in der Amandelstraat 61 in Den Haag) versteckten, als die Nazis in mein Land einmarschierten. Wir pressten uns feuchte Taschentücher auf die Nase, da davor gewarnt worden war, dass sie Gas einsetzen würden.

Die holländische Polizei zerrte meine jüdischen Großeltern Gustav und Emma Lewin Gottfeld 1942 aus ihrem Haus. Etwa zur gleichen Zeit holte sie Julia, die Schwester meines Vaters, ihren Mann Jacob (genannt Jenno) und deren drei Kinder Otto, Rudi und Emmie ab, pferchte sie mit ihren Koffern auf Lastwagen und brachte sie nach Westerbork, das Durchgangslager in Holland. Auf ihrem Weg in andere Lager kamen mehr als 100000 Juden durch Westerbork. Die Nazis schickten meine Großeltern rasch nach Auschwitz und ermordeten – vergasten  – sie noch am Tag ihrer Ankunft, dem 19. November 1942. Mein Großvater war fünfundsiebzig, genauso wie meine Großmutter, weshalb sie nicht als Kandidaten für Arbeitslager infrage kamen. Dagegen wirkte Westerbork so seltsam: Es erweckte den Anschein, als wäre es eine Zuflucht für Juden. Es gab Ballettaufführungen und Läden. Meine Mutter backte häufig Kartoffelpfannkuchen, die sie dann per Post an unsere Familie in Westerbork schickte.

Da mein Onkel Jenno staatenlos war, konnte er alles hinauszögern und mit seiner Familie 15 Monate in Westerbork bleiben, ehe die Nazis die Familie auseinanderrissen und in verschiedene Lager schickten. Sie verschleppten meine Tante Julia mit Emmie und Rudi zunächst ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und dann nach Bergen-Belsen, wo sie bis zum Ende des Krieges gefangen waren. Tante Julia starb zehn Tage nach der Befreiung des Lagers durch die Alliierten, doch Cousine und Cousin überlebten. Mein Cousin Otto, der älteste, war auch nach Ravensbrück ins dortige Männerlager geschickt worden, und landete gegen Kriegsende im Konzentrationslager Sachsenhausen. Er überlebte den Todesmarsch von Sachsenhausen im April 1945. Onkel Jenno verschleppten sie direkt nach Buchenwald, wo sie ihn ermordeten – zusammen mit mehr als 55 000 anderen.

Immer wenn ich einen Film über den Holocaust sehe, was mir für wirklich sehr lange Zeit unmöglich war, projiziere ich ihn sofort auf meine Familie. Deshalb empfand ich es als schrecklich und sogar unangemessen, mir den Film DasLeben ist schön anzusehen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass man über eine derart ernste Geschichte Scherze machen konnte. Ich habe nach wie vor wiederkehrende Alpträume, von den Nazis verfolgt zu werden, und manchmal wache ich schweißgebadet auf. Einmal wurde ich im Traum sogar Zeuge meiner eigenen Hinrichtung durch die Nazis.

Eines Tages würde ich gerne den Weg, den letzten Weg meiner Großeltern, vom Bahnhof zu den Gaskammern in Auschwitz abschreiten. Ich weiß nicht, ob ich das je tun werde, aber es erscheint mir als eine Möglichkeit, ihrer zu gedenken. Angesichts einer solchen Ungeheuerlichkeit bleiben uns vielleicht nur kleine Gesten, und dazu unsere Weigerung zu vergessen: Ich werde nie sagen, unsere Angehörigen seien in Konzentrationslagern »gestorben«. Ich verwende immer das Wort »ermordet«, damit wir die Realität nicht mittels der Sprache verstecken.

Mein Vater war Jude, meine Mutter dagegen nicht, und als mit einer Nichtjüdin verheirateter Jude geriet er nicht sofort ins Fadenkreuz. Doch das änderte sich schon bald, im Jahr 1943. Ich erinnere mich, dass er den gelben Stern tragen musste. Weder meine Mutter noch meine Schwester noch ich, aber er. Ich glaube nicht, dass wir das besonders ernst nahmen, zumindest anfangs nicht. Er hatte ihn ein wenig unter seiner Kleidung verborgen, was verboten war. Wirklich erschreckend aber war die Art, in der er sich an die Einschränkungen der Nazis anpasste, die ständig schlimmer wurden. Zuerst durfte er keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen. Dann verbot man ihm, öffentliche Parks zu betreten, das Gleiche galt für Restaurantbesuche. Er wurde zur Persona non grata an Orten, die er jahrelang aufgesucht hatte – und trug es mit Fassung. Als er keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen durfte, sagte er: »Na und, wie oft fahre ich schon damit?« Als er auch nicht mehr in die Parks durfte, sagte er: »Na und, wie oft gehe ich schon in öffentliche Parkanlagen?« Und als er dann keine Restaurants mehr betreten durfte, sagte er: »Na und, wie oft gehe ich schon in ein Restaurant?« Er bemühte sich, diese schrecklichen Dinge trivial erscheinen zu lassen, vielleicht um seiner Kinder willen und vielleicht auch wegen des eigenen Seelenfriedens. Ich weiß es nicht.

Über diese Dinge zu reden fällt mir immer noch besonders schwer. Warum diese Fähigkeit, allmählich das steigende Wasser zu sehen, ohne zu merken, dass es anstieg und man darin ertrinken würde? Wie konnten sie es sehen und gleichzeitig nicht sehen? Damit werde ich nicht fertig. Natürlich ist es in gewisser Hinsicht verständlich; vielleicht kann man nur so überleben.

Obwohl die Nazis Juden aus öffentlichen Parkanlagen aussperrten, durfte mein Vater auf Friedhöfen spazieren gehen. Noch heute erinnere ich mich an viele Spaziergänge mit ihm auf einem nahen Friedhof. Wir dachten uns Geschichten dazu aus, wie und warum Familienmitglieder gestorben waren – manchmal waren vier am selben Tag gestorben. Das mache ich noch heute, wenn ich durch den berühmten Friedhof Mount Auburn in Cambridge gehe.

Dass mein Vater ganz plötzlich verschwand, ist das dramatischste Ereignis, das mir als Heranwachsendem widerfuhr. Ich erinnere mich noch lebhaft an den Tag; ich kam von der Schule nach Hause und spürte sofort, dass er nicht mehr da war. Meine Mutter war außer Haus, also fragte ich unser Kindermädchen, Lenie: »Wo ist Papa?« Ich bekam keine Antwort, was wohl als Beruhigung gemeint war, aber irgendwie war mir klar, dass mein Vater uns verlassen hatte.

Meine Schwester Bea hatte ihn gehen sehen, doch das erzählte sie mir erst viele Jahre später. Wir schliefen damals aus Sicherheitsgründen alle vier im selben Schlafzimmer; um vier Uhr morgens hatte sie bemerkt, dass er aufstand und ein paar Kleidungsstücke in einer Tasche verstaute. Dann küsste er meine Mutter und ging. Mutter wusste nicht, wo er hinging; dieses Wissen wäre sehr gefährlich gewesen, weil die Deutschen sie hätten foltern können, um zu erfahren, wo Vater war, und sie hätte es ihnen vielleicht gesagt. Heute wissen wir, dass die Widerstandsbewegung ihn versteckt hatte, und schließlich erhielten wir durch den Widerstand auch Nachricht von ihm. Doch damals war es einfach schrecklich, nicht zu wissen, wo er war oder ob er überhaupt noch lebte.

Ich war zu jung, als dass ich hätte verstehen können, wie sehr seine Abwesenheit meiner Mutter zu schaffen machte. Meine Eltern hatten in der Wohnung eine Schule unterhalten  – was meine Liebe zum Unterrichten zweifellos stark beeinflusst hat –, und meine Mutter mühte sich ab, es ohne ihn zu schaffen. Sie hatte seit jeher eine Neigung zur Depression, die nun verstärkt zum Vorschein kam, befeuert von der Angst, auch noch ihre Kinder im Konzentrationslager zu verlieren. Sie muss sich unseretwegen furchtbare Sorgen gemacht haben. Fünfundfünfzig Jahre später erzählte sie mir, sie sei so verzweifelt gewesen, dass sie nur noch einen Ausweg gesehen habe. Tatsächlich hatte sie eines Nachts zu Bea und mir gesagt, sie wolle in der Küche schlafen, um ihre Ruhe zu haben. Dort habe sie Vorhänge, Laken und Handtücher unter die Türen gestopft, damit keine Luft entweichen konnte. Sie plante, den Gashahn aufzudrehen und uns schlafend sterben zu lassen, doch am Ende brachte sie es nicht fertig. Wer könnte ihr vorwerfen, das erwogen zu haben? Bea und ich jedenfalls nicht.

Ich hatte ziemliche Angst. Und ich weiß, es klingt lächerlich, aber als einziger Junge wurde ich gewissermaßen der »Mann im Haus«, obwohl ich erst sieben oder acht Jahre alt war. In Den Haag, wo wir lebten, gab es an der Küste viele heruntergekommene Häuser – halb zerstört von den Deutschen, die an unseren Stränden Bunker bauten. Ich ging regelmäßig hin und stahl Holz – damals sagte ich »sammeln« dazu, aber es war Diebstahl –, damit wir ein wenig Brennmaterial zum Kochen und Heizen hatten.

Wir versuchten, uns in den Wintern warm zu halten, weshalb wir diese raue, kratzige Wolle von schlechter Qualität trugen. Und Wolle kann ich bis heute nicht ertragen. Meine Haut ist so empfindlich, dass ich auf Laken aus qualitativ hochwertiger Baumwolle schlafe. Deshalb bestelle ich auch Hemden aus sehr feiner Baumwolle, die meine Haut nicht reizen. Meine Tochter Pauline sagt, ich würde mich immer noch von ihr abwenden, wenn ich sie Wolle tragen sehe; so stark wirkt sich der Krieg bei mir nach wie vor aus.

Mein Vater kam im Herbst 1944 zurück, als der Krieg noch in vollem Gang war. In meiner Familie gibt es unterschiedliche Ansichten darüber, wie das genau ablief, aber soweit ich das sagen kann, war meine wunderbare Tante Laura, die Schwester meiner Mutter, anscheinend eines Tages in Amsterdam, wo ihr mein Vater mit einer anderen Frau unter die Augen kam! Sie folgte ihm in einiger Entfernung und sah, wie er ein Haus betrat. Später ging sie noch einmal hin und entdeckte, dass er mit einer anderen Frau zusammenlebte.

Die Tante erzählte es meiner Mutter, die zuerst noch depressiver und aufgeregter wurde, aber man hat mir gesagt, dass sie sich wieder fing und das Schiff nach Amsterdam nahm (Züge fuhren nicht mehr), direkt zu dem Haus marschierte und klingelte. Heraus kam die Frau, und meine Mutter sagte: »Ich will meinen Mann sprechen.« Die Frau erwiderte: »Ich bin die Frau von Herrn Lewin.« Doch meine Mutter ließ nicht locker: »Ich will meinen Mann.« Mein Vater kam an die Tür, und sie sagte: »Ich gebe dir fünf Minuten, deine Sachen zu packen und mit mir nach Hause zu gehen, oder du kannst eine Scheidung haben und wirst deine Kinder nie mehr wiedersehen.« Nach drei Minuten kam er mit seinen Sachen die Treppe herunter und kehrte mit ihr zurück.

Als er wieder da war, wurde es in mancher Hinsicht viel schlimmer. Die Leute vom Widerstand hatten ihm falsche Personalpapiere mit dem Namen Jaap Horstmann gegeben, und meine Schwester und ich wurden angewiesen, ihn Onkel Jaap zu nennen. Niemand verriet ihn, obwohl jeder wusste, dass er Jude war – ein absolutes Wunder, das Bea und ich bis heute nicht fassen können. Ein Zimmermann baute in den Fußboden unseres Hauses eine Luke ein, unter der sich mein Vater verstecken konnte. Es ist bemerkenswert, dass es meinem Vater gelang, sich die gut acht Monate bis Kriegsende einer Ergreifung tatsächlich zu entziehen.

Doch bevor es so weit war, mussten wir die für uns schlimmste Zeit des Krieges überstehen, den Hungerwinter des Jahres 1944. Fast 20 000 Menschen starben. Um heizen zu können, krochen wir unter das Haus und zerrten jeden zweiten Tragebalken – auf ihnen lag der Fußboden des Erdgeschosses auf – als Feuerholz heraus. Wir aßen Tulpenzwiebeln und sogar Baumrinde. Um an Essen zu kommen, hätten Leute meinen Vater verraten können. Die Deutschen bezahlten Geld (ich glaube, es waren fünfzig Gulden, was damals etwa fünfzehn Dollar entsprach) für jeden Juden, den man ihnen verriet.

Eines Tages kamen die Deutschen zu uns nach Hause. Wie sich herausstellte, konfiszierten sie Schreibmaschinen, und sie sahen sich unsere an – wir verwendeten sie für den Unterricht im Maschineschreiben –, aber die waren ihnen zu alt. Auf ihre Art waren die Deutschen ziemlich einseitig; wenn man ihnen sagte, sie sollten Schreibmaschinen besorgen, dann sammelten sie keine Juden ein. Das hört sich nach großem Kino an, ich weiß. Aber genau so war es.

Ich denke, es ist wirklich erstaunlich, dass ich nach all den traumatisierenden Erfahrungen der Kriegszeit eine mehr oder weniger normale Kindheit hatte. Meine Eltern führten ihre Schule – das HaagschStudiehuis – während des Krieges weiter wie zuvor; sie unterrichteten Maschineschreiben, Sprachen und Handelskunde. Während des Studiums war auch ich als Lehrer tätig. Meine Eltern förderten die Künste, und ich fing an, mir Kunstkenntnisse anzueignen.

Die Zeit meines Grundstudiums an der Universität war sowohl akademisch als auch gesellschaftlich wunderbar: Ich heiratete 1959, und im Januar 1960 begann ich mit dem Promotionsstudium; später in diesem Jahr wurde meine erste Tochter Pauline geboren. Mein Sohn Emanuel (inzwischen Chuck genannt) kam zwei Jahre später zur Welt, die zweite Tochter Emma dann 1965. Unser zweiter Sohn Jakob wurde 1967 in den USA geboren.

Als ich am MIT ankam, hatte ich abermals das Glück auf meiner Seite. Ich fand mich inmitten der damals ablaufenden explosionsartigen Vermehrung von Entdeckungen wieder. Die Kenntnisse, die ich anzubieten hatte, passten perfekt in Bruno Rossis Team für Röntgenastronomie am MIT, obwohl ich keine Ahnung von Weltraumforschung hatte.

V2-Raketen hatten die Grenzen der Erdatmosphäre durchstoßen, und damit hatte sich eine völlig neue, aussichtsreiche Perspektive für Entdeckungen eröffnet. Ironischerweise war die V2 von Wernher von Braun, einem Nazi, konstruiert worden. Er entwickelte die Raketen während des Zweiten Weltkriegs zu dem Zweck, alliierte Zivilisten zu töten, und sie waren von schrecklicher Zerstörungskraft. Sie wurden in Peenemünde und in der berüchtigten Fabrikationsanlage Mittelwerk in Deutschland von Zwangsarbeitern aus dem Konzentrationslager Dora gebaut; dabei starben ungefähr 20 000. Die Raketen selbst töteten circa 7000 Zivilisten, die meisten in London. Ungefähr eine Meile vom Haus meiner Großeltern mütterlicherseits in der Nähe von Den Haag befand sich eine Abschussanlage. Ich erinnere mich an das zischende Geräusch beim Betanken der Raketen und an das Dröhnen beim Abschuss. Die Alliierten versuchten, durch einen Bombenangriff V2-Ausrüstung zu zerstören, aber sie verfehlten das Ziel und töteten stattdessen 500 holländische Zivilisten. Nach dem Krieg brachten die Amerikaner von Braun in die USA, wo er zum Helden wurde. Das ist mir immer rätselhaft geblieben. Er war ein Kriegsverbrecher!

Fünfzehn Jahre lang arbeitete von Braun in der US-Army, um die Nachfolger der V2 zu bauen – die Raketen vom Typ Redstone und Jupiter trugen nukleare Gefechtsköpfe. 1960 ging er zur NASA und leitete das Marshall Space Flight Center in Alabama. Er entwickelte die Saturnraketen, mit denen Astronauten zum Mond flogen. Nachfolgemodelle seiner Raketen brachten das Gebiet der Röntgenastronomie voran – obwohl die Raketen zunächst Waffen waren, wurden sie zumindest auch für viele wissenschaftliche Zwecke eingesetzt. Anfang der 1960er Jahre öffneten sie neue Fenster in die Welt – nein, in das Universum! Sie gaben uns die Möglichkeit, über die Atmosphäre der Erde hinauszublicken und nach Dingen Ausschau zu halten, die wir anders nicht sehen konnten.

Um Röntgenstrahlen aus dem Weltraum zu entdecken, war Rossi einer Intuition gefolgt. 1959 besuchte er einen seiner früheren Studenten, Martin Annis, der damals eine Forschungsfirma namens American Science and Engineering (ASE) in Cambridge leitete, und sagte zu ihm: »Wir sollten einfach mal nachsehen, ob es da draußen Röntgenstrahlung gibt.« Unter der Leitung des späteren Nobelpreisträgers Riccardo Giacconi packte das Team von ASE drei Geiger-Müller-Zähler in eine Rakete, die am 18. Juni 1962 abhob. Sie flog gerade mal sechs Minuten oberhalb von achtzig Kilometern und damit außerhalb der Erdatmosphäre, was notwendig war, weil die Atmosphäre Röntgenstrahlung absorbiert.

Tatsächlich empfingen die Detektoren Röntgenstrahlen, und was wichtiger war, man konnte belegen, dass die Röntgenstrahlung von einer Quelle außerhalb des Sonnensystems stammte. Das schlug wie eine Bombe ein und veränderte die gesamte Astronomie. Keiner hatte das erwartet, und niemand konnte sich einen einleuchtenden Grund dafür vorstellen. Rossi hatte einfach eine Idee ausprobiert, um zu sehen, ob sie tragfähig war. Aber diese Art von Intuition macht einen großen Wissenschaftler aus.

Der Tag, an dem ich am MIT ankam – es war der 11. Januar 1966 –, ist mir deshalb in Erinnerung geblieben, weil eines unserer Kinder Mumps bekam und wir unsere Abreise nach Boston verschieben mussten. Die Fluggesellschaft wollte uns nicht fliegen lassen, weil Mumps ansteckend ist. An meinem ersten Tag traf ich Bruno Rossi und auch George Clark, der 1964 als Erster einen Ballon in die sehr große Höhe von über zweiundvierzig Kilometern aufsteigen ließ, um nach Röntgenquellen zu suchen, die energiereiche Röntgenstrahlen emittierten – die Art, die bis zu dieser Höhe nach unten durchdringen konnte. George sagte: »Wenn du dich meiner Gruppe anschließen würdest, fände ich das großartig. « Ich war zur rechten Zeit am rechten Ort angekommen.

Wer etwas als Erster tut, kann damit rechnen, Erfolg zu haben, und unser Team machte eine Entdeckung nach der anderen. George war sehr großzügig; nach zwei Jahren übergab er mir die Gruppe ganz. Es war wirklich beachtlich, sich an der vordersten Front der neuesten Bewegung in der Astrophysik zu befinden. Ich hatte unglaubliches Glück, mich inmitten des spannendsten Feldes wiederzufinden, das es in der Astrophysik damals gab, aber in Wahrheit sind alle Bereiche der Physik erstaunlich. Alle sind voller faszinierender Freuden und eröffnen ständig neue Entdeckungen. Während wir neue Röntgenquellen fanden, entdeckten Teilchenphysiker immer tiefer liegende Grundbausteine des Atomkerns und lösten das Geheimnis um das, was die Kerne zusammenhält: Sie fanden die W- und Z-Bosonen, die die »schwachen« Wechselwirkungen im Atomkern tragen, und dazu Quarks und Gluonen, die die Träger der »starken« Wechselwirkungen sind.

Die Physik hat es uns ermöglicht, weit in die Zeit zurückzuschauen, bis an die Ränder des Universums, und die unter der Bezeichnung Hubble Ultra Deep Field bekannte Aufnahme zu machen, die anscheinend eine Unendlichkeit von Galaxien zeigt. Man sollte dieses Kapitel nicht abschließen, ohne im Internet einen Blick darauf geworfen zu haben. Einige meiner Freunde haben es sich als Bildschirmschoner ausgesucht!