Eulenblues - Thomas Hesse - E-Book

Eulenblues E-Book

Thomas Hesse

4,9

Beschreibung

Makabre Knochenfunde menschlichen Ursprungs versetzen den Niederrhein in Aufregung. Das Weseler K 1 mit Chefin Karin Krafft lässt nur wenig an die Medien dringen, denn hier muss ein Psychophat am Werk sein. Und wenn der "Ripper vom "Rhein" aufgescheucht würde, könnte er jederzeit wieder zuschlagen. Schon jetzt zieht sich seine Spur von Krefeld bis Emmerich. Der eigenwillige Kommissar Gero von Aha verlässt in diesem rätselhaften Fall seinen klar zugewiesenen Aufgabenbereich und kommt dem Verbrechen gefährliche nahe...

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THOMAS HESSE, Jahrgang 1953, ist Redaktionsleiter in Wesel. Im Emons Verlag erschienen von ihm – zusammen mit Thomas Niermann – die Krimis »Der Esel«, »Der Rabe« sowie »Mord vor Ort I und II«. »Eulenblues« ist sein zehntes Niederrhein-Krimi-Buch.www.der-krimi-hesse.deRENATE WIRTH, Jahrgang 1957, lebt in Xanten und arbeitet als Heilpädagogin und Gestalttherapeutin. Neben ihren Kriminalromanen, die sie zusammen mit Thomas Hesse schrieb, veröffentlichte sie diverse Kurzkrimis in Anthologien.VON BEIDEN AUTOREN gemeinsam erschienen im Emons Verlag »Das Dorf«, »Die Füchse«, »Die Wölfin«, »Die Elster« und »Die Eule«. »Die Füchse« erschien auch als Hörbuch.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung, Personen und manche Orte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.de/Mella Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-058-2 Niederrhein Krimi Originalausgabe

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Man muss oft die Hände küssen,die man lieber brechen wollte.

Prolog

Er schaute nicht hin, er wusste intuitiv, dass die Taxifahrerin ihn mit wachsamen Augen im Rückspiegel beobachtete. Seit er sich vor dem Ankunftsbereich des Flughafens in den ersten Wagen in der Reihe gesetzt hatte, prallten ihre Versuche der höflichen, oberflächlichen Kommunikation erbarmungslos an ihm ab. Sie blieb hartnäckig, er hingegen sprach nicht viel, erst recht nicht mit einer wildfremden, dahergelaufenen Angestellten einer Berufssparte, die seiner Ansicht nach nur darauf aus war, jeden Kunden zu bescheißen. Trau, schau, wem, hatte sein Vater immer gesagt und dabei breitflächig und auf lange Sicht Misstrauen gesät. Söhne lernen von ihren Vätern. Fahren soll sie, dachte der Mann, fair abrechnen und ihn ohne Umwege vom Airport Niederrhein in Weeze aus nach Wesel bringen.

Seine Maschine aus Innsbruck war pünktlich gelandet, er hatte erleichtert aufgeatmet, als sein Koffer unter den ersten Gepäckstücken auf dem Laufband in Sicht kam, und wollte nur noch weg. Er hasste die kleinen regionalen Flughäfen, die Mischung aus Asphalt, Gummiabrieb und Kerosin, die auf den Rollfeldern in der Luft lag, die man stets zu Fuß überqueren musste. Es gab aber keine schnellere Verbindung in die Berge. Mehrmals im Jahr zog es ihn dorthin, um die Gipfel zu begehen, reines Quellwasser durch die Finger rinnen zu lassen, um zur Ruhe zu kommen. Niemand quatschte ihn dort an, manchmal begegnete ihm stundenlang keine einzige Menschenseele. Stille, Abstand, stets weiteten sich seine Sinne angesichts eines Bergpanoramas. Dort oben war er Gott.

Ob er geschäftlich dort gewesen sei oder zur Erholung, wollte die Fahrerin bereits wissen, bevor sie das weitläufige Flughafengelände verlassen hatten. Sie liebe die Berge ja auch, brauche keine exotischen Reiseziele, ihr reiche der Schwarzwald oder das Allgäu. Er schwieg.

Knapp vor der Auffahrt zur A 57 bei Sonsbeck schien sie verstanden zu haben, dass dieser wortkarge Fahrgast offenbar nicht zu knacken war, und seitdem musterte sie ihn in regelmäßigen Abständen im Rückspiegel, während die niederrheinische Tiefebene an ihnen vorbeizufliegen schien.

Stocksteif saß er da, umklammerte seine abgegriffene Aktentasche. Eine unauffällige Erscheinung, stellte die Taxifahrerin fest, ein grauer Haarkranz umgab eine gebräunte Glatze, seine Augen blieben hinter einer verspiegelten Sonnenbrille verborgen. Einzig die naturfarbenen Baumwollhandschuhe, die seine Hände bedeckten, wirkten befremdlich. Ihr blieb nicht verborgen, dass er mit leicht gerümpfter Nase ständig seine direkte Umgebung taxierte. Er schien den Innenraum des in die Jahre gekommenen Benz genau zu betrachten.

Da sei nichts drin, rief die Frau unvermittelt von der Fahrerseite aus nach hinten, wenn er vorhabe, sich über die Sauberkeit zu beschweren, dann sei er bei ihr an der falschen Adresse. Der Wagen sei in Ordnung, ihre Firma lege größten Wert darauf, es gebe hier nichts zu bemängeln. Er holte tief Luft, neigte den Kopf zum Fenster und ließ sich dazu herab, direkt zu antworten.

»Wenn Sie auch nur die geringste Ahnung davon hätten, wie viele Erregerkeime und Bakterien sich auf Griffen, Geldmünzen und unverpackten Lebensmitteln befinden, wären Sie nicht so leichtfertig mit Ihren Bemerkungen. Um diesen Innenraum für drei Minuten steril zu bekommen, müssten Sie ihn komplett mit Wasser auffüllen und zehn Minuten abkochen. Hier wird doch immer nur oberflächlich durchgewienert, und die Gerüche von Putzmitteln und der dämlichen Tanne an Ihrem Rückspiegel sollen dem Fahrgast Sauberkeit und Frische suggerieren. Sparen Sie sich für den Rest der Strecke Ihre Weisheiten, machen Sie einfach nur Ihren Job und fahren Sie mich ohne Umwege nach Wesel.«

Die strenge Kälte in seiner Stimme ließ die Frau am Steuer frösteln, während sie beobachtete, wie er an seinen Handschuhen nestelte.

In den Bergen ging es seinen Händen prima; sobald er die flache Rheinebene erreicht hatte, begann sein altes Problem, ihn zu malträtieren. Seine Handflächen reagierten extrem empfindlich auf den Dreck der Welt, den sichtbaren, spürbaren und den, der nur zu erahnen war. Seine Verpflichtungen ließen ihn jedoch nicht von hier fort. Das fast verwaiste Elternhaus stand hier, und in Wesel wartete eine neue Arbeitsstelle auf ihn.

Dies sei nur eine Mitteilung, sagte die Fahrerin, als sie an der Abfahrt Alpen/Wesel die Autobahn verließen, eine Umleitung, die durch Büderich geführt werde, könne zu einer zeitlichen Verzögerung von bis zu dreißig Minuten führen. Over and out.

Der Mann auf dem Rücksitz nahm seine Sonnenbrille ab, die Härte seines Blickes, der ihre Augen für einen Moment im Rückspiegel traf, ließ sie unwillkürlich wieder nach vorn schauen. Der Rückstau des umgeleiteten Verkehrs reichte bis zum ehemaligen Hotel Bürick an der B 58. Kommentarlos bog die Fahrerin links ab und nutzte einen parallel laufenden Wirtschaftsweg, um an der Schlange vorbei bis zur innerdörflichen Ampel zu gelangen, reihte sich dort wieder in Fahrtrichtung Wesel ein. Mit diesem Fahrgast schien nicht gut Kirschen essen zu sein, schätzte sie, Trinkgeld würde er auch nicht geben, höchstens eine doppelte Quittung verlangen, eine für das Finanzamt und die zweite für sein Ego.

Er betrachtete von Weitem die roten Litzenbündel und den Pylon der neuen Rheinbrücke, richtete sich auf. Gestärkt und erholt wollte er sich seiner neuen Aufgabe stellen. Es musste einfach klappen in der Klinik in der Aue. Die Mitte der Fünfziger hatte er überschritten, und einzig und allein sein neuer, zweiter Doktortitel hatte in der Bewerbung überzeugt. Jemand, der sich in dem Alter noch spezialisiert, der musste geistig sehr rege und belastbar sein, man hatte ihm Hochachtung entgegengebracht. Es war an der Zeit, hier endlich Fuß zu fassen. Hier lagen seine Wurzeln. Zwei Doktortitel würden ihm auf Anhieb die Mitgliedschaft in diversen Golfclubs ermöglichen und die Türen zu anderen angesehenen Kreisen öffnen. Er hatte alles recherchiert, überließ nichts dem Zufall.

Nur der Weg nach Wesel schien dieses Mal mit Hindernissen bespickt zu sein. Ein Lkw hatte auf dem einzigen Zubringer zur Brücke einen Pkw gerammt, es gab kein Fortkommen und keinen Ausweg. Er saß in diesem Bazillenbomber fest, die Innentemperatur stieg, Schweißperlen bildeten sich auf seinem kahlen Schädel.

Die Fahrerin streifte ihn mit einem Blick in den Rückspiegel und bemerkte die Nässe auf der Glatze. Sie ließ die Hände am Lenker. Sie würde die Klimaanlage nicht einschalten, nicht für dieses Ekelpaket.

Der Mann schien sich zu verkrampfen, streckte die Finger in den dünnen Stoffhandschuhen, die Hitze schien den Händen nicht zu bekommen. Er lupfte die Ränder an den Innenseiten der Handgelenke und blies abwechselnd in den linken und rechten Handschuh. Anscheinend brachte ihm das Erleichterung. Dennoch wurde ihr Fahrgast zusehends unruhiger, öffnete das Fenster, setzte die Sonnenbrille wieder auf und blickte auf die Platanenallee entlang der B 58 mitten in Büderich.

»Wenn et juckt, gibbet Ärger«, hatte sein Vater immer gesagt. Als aufrechter Mann hatte er stets gemeint, was er sagte, das konnte der Sohn heute noch spüren.

Es würde wieder passieren. Es gab immer jemanden, der für den ganzen Dreck bezahlen würde, einen, der verantwortlich war, der dafür büßen müsste, dass es so war, wie es war.

EINS

Es war Nachmittag, und der Wald, der diesen idyllischen Ort umgab, schien ebenso eine Pause eingelegt zu haben wie die niederrheinische Welt um ihn herum. Über den vollen Kronen prahlte die Sonne eines lauen Junitages, zum Malen schön.

»Mach doch eine Fahrt durch den Wald, wenn du dich unbedingt noch bewegen willst. Frisches Grün und ein dichtes Laubdach, das die Feuchtigkeit am Boden hält, was willst du mehr?«

Der Chef vom Landhotel Voshövel hatte es gut mit ihm gemeint und ein mit einem Schuss Zitronensaft veredeltes Mineralwasser spendiert, konnte wohl den Anblick seines grübelnden Bekannten mit dem eulenartigen Aussehen nicht länger untätig ertra- gen. Mit mitleidvollem Blick hatte er den Wunsch seines Gastes quittiert, sich ein apfelgrünes Niederrheinfahrrad ausleihen zu wollen, wie sie neuerdings für die Touristen in Hotels, Museen oder Ausflugsorten parat standen.

Weg wollte er von dem Ort, an dem er sich eine Pause gegönnt hatte, weg mit eigener Kraft, auspowern, die Muskeln bewegen. Das gastliche Ambiente auf dem platten Land tat gut, aber er brauchte Stille, nicht Ruhe. Ganz für sich sein und sich darüber klar werden, ob er wirklich dort bleiben wollte, wo er seinen wichtigsten Sieg, der gleichzeitig seine größte Niederlage war, erlebt hatte.

Der Mann in Outdoorkleidung mit seinen kurzen, im Wetlook wild geformten Haaren und den bernsteinfarbenen Augen hinter einer strengen, rechteckigen Hornbrille, die seine Augenpartie breiträumig einrahmte und die dichten, an ihren Enden leicht nach oben geknickten Augenbrauen noch betonte, sinnierte einen Moment. Es war nicht alles geradegelaufen für Gero von Aha in seiner neuen Dienststelle. Gleich der erste Fall hatte ihm nicht den angedachten Jubel, die hoch dotierte Anerkennung eingebracht, nein, seine Eigenmächtigkeiten hatten ein Disziplinarverfahren zur Folge gehabt. Sein Ruf als unberechenbarer Eigenbrötler kursierte im Kommissariat, man ließ ihn wissen, was man in der Provinz von eigensinnigen Freibeutern hielt. Niemand sprach mehr davon, dass der Fall ohne ihn nie zum Abschluss gelangt wäre.

Gero von Aha fühlte sich ungeliebt in Wesel, ausgegrenzt im Kommissariat, skeptisch beäugt von seinen angestammten Kollegen. Er, der aussah wie eine Eule und im Kommissariat auch heimlich so genannt wurde, schob den Blues. Selbst Staatsanwalt Dr. Haase und die Behördenchefin van den Berg machten einen despektierlichen Bogen um ihn. Er durfte Hilfsarbeiten bei kleineren Fällen übernehmen. Kein Wort mehr über seine auf internationaler Ebene erworbenen Fähigkeiten, stattdessen durfte er Zuarbeiten erledigen, und wenn das Kommissariat für Hühnerdiebe zuständig wäre, er dürfte den Fuchs jagen.

Dabei waren die Kollegen im Grunde recht nett, und in Wesel ließ es sich gut leben. Gero von Aha befand sich an einem Scheideweg. Er brauchte Muße, um sich über seine Zukunft klar zu werden. Sollte er am Niederrhein bleiben, wenn ihm Anerkennung fehlte, trotz der grandiosen Aufklärung im aufsehenerregenden letzten Fall um eine Sekte am Niederrhein? Sollte er ein weiteres Mal fliehen? Das Landhotel schien ein guter Ort für innere Einkehr zu sein, allein eine Entscheidung hatte er noch nicht treffen können.

Er brauchte ein Zeichen, einen Wink des Himmels. Er blickte durch die verspiegelte Sonnenbrille in das wolkenlose Blau, spürte, wie der fortschreitende Nachmittag ganz langsam längere Schatten zog. Er wusste, er musste eine Lösung suchen. Heute. Jetzt schnell noch ein paar extra feine Pistazien geknackt – seine Leibspeise to go half beim Denken, in jeder Lage und überall. Er schnippte die Schalen in den liebevoll angelegten Garten und verließ die geschmackvoll bestuhlte Terrasse in Richtung Parkplatz. Von Weitem leuchtete die auffällige Farbe seines Leihvehikels im Sonnenlicht.

Nun schwang er sich auf das verdammt grüne Niederrheinfahrrad, um durch das Forstgebiet von Weselerwald jenseits der Stadt zu radeln. Solange in diesem von der Natur verwöhnten Stückchen Niemandsland noch Beschilderungen zu entdecken waren, musste er wählen, ob er zum Gut Haus Esselt, dem Otto-Pankok-Museum, nach Marienthal, in den Dämmerwald oder nach Drevenack wollte. Richtung Wesel, das war ihm klar, fiel aus. So ließ er sich treiben und würde später von reinem Schicksal sprechen.

***

»Nacktheit des Ursprungs«, stand auf dem Plakat vor dem Haus und wies zur Vernissage in den Garten, während der Eyländer Weg unter der Vielzahl von parkenden Fahrzeugen qualvoll überfüllt in der abendlichen Mittsommersonne lag.

»Du meinst, wir sind hier richtig?« Karin Krafft schaute ihren Lebensgefährten skeptisch von der Seite an, während sie ihre Räder an die Buchenhecke lehnten.

Maarten de Kleutje nahm die Sonnenbrille ab, zog seinen Zopf zurecht und legte einen Arm um Karins Schultern.

»Komm schon, nur Mut. Bevor Phillip nach New York übersiedelt und seine Werke unerschwinglich werden, sollten wir uns anschauen, was dieser überbordende Geist produziert. Es sind bestimmt viele lustige Leute da, und ich habe ihm doch versprochen, dass wir kommen würden.«

Selbst die Tageszeitung versprach ein herausragendes kulturelles Erlebnis, am Vortag war den Zuschauern der »Aktuellen Stunde« eine vollmundig präsentierte Ankündigung in die Wohnzimmer geflimmert. Phillip Rossmüller sei ein begnadeter Aktionist, moderne Düsseldorfer Schule, mit einem Fuß bereits in namhaften Galerien der angesagten Großstädte. Der Künstler, einer der ältesten Freunde Maartens, lud ein, und alle kamen.

»Einen kinderfreien Abend mit dir habe ich mir anders vorgestellt. Irgendwie intimer, Dinner für zwei und so.«

Maarten lachte laut auf. »Wer weiß, was sich hier bietet, lass dich überraschen. Und nachher kannst du mir deine Vorstellung von ›und so‹ gerne näher erläutern.«

In der Garage, durch die der Besucherstrom gelenkt wurde, drückte ihnen eine schüchterne Serviererin Sektgläser in die Hände, eine Frau in wallendem Seidenkleid begrüßte Neuankömmlinge überschwänglich. Man kannte sich in diesem erlauchten Kreis. Flüchtig-herzliche Begrüßungen mit angedeuteten Küsschen auf die Wange und Small- Talk-Fetzen drangen zu Maarten und Karin herüber.

»Du auch hier? Haben wir uns nicht zuletzt bei der Finissage von Lutz gesehen?«

»Phillip hat Kaiserwetter bestellt.«

»Mittsommer, was für ein Abend für so einen Event. Wann fliegen die Hexen?«

»Nein, nein, die Anja stellt heute in Düsseldorf aus, die hat es geschafft mit ihren eigenwilligen Holzfiguren.«

»Nachher macht er noch Musik.«

Die in erdfarbene Seide gehüllte Frau hielt in der abgewinkelten Hand ein halb gefülltes Sektglas, reckte mit vorgestrecktem, leidlich bedecktem Busen das lächelnde Gesicht zur Abendsonne. Um ihren Hals schlang sich eine schwere Kette aus polierten, keilförmigen Kieselsteinen, überzogen mit Silberfäden. Stonehenge zum Mitnehmen, dachte Karin. Ehrfürchtig leise flanierende Menschen blieben anerkennend nickend vor rätselhaften Objekten stehen, der Künstler himself, umringt von einer Fangemeinde, die an seinen Lippen hing, führte durch sein Gartenatelier und pries die Urgewalt, das Archaische, die dämonische Dimension seiner Skulpturen aus Holz, Stein, Metall und Glas.

Man beäugte die Werke, wechselte die Perspektive, behielt eine Spur Kritik im Blick, bitte keine Begeisterung zeigen, nicht loben. Profane Bekundungen des Gefallens blieben dem weltlichen Publikum vorbehalten, den Unwissenden. Nur Eingeweihte erkannten den dahinter verborgenen tieferen Sinn, der sich Außenstehenden nicht auf Anhieb erschloss. Jeder der so wissenden, selbstgewissen Künstler war von seinem Schaffen überzeugt, buhlte selbst auf fremdem Terrain um Aufmerksamkeit und Anerkennung

Karin und Maarten reihten sich in den Tross ein. Über lose angelegte Steinwege zwischen Holundersträuchern und wüsten, wilden Rosenbüschen führten Pechfackeln sie immer tiefer in einen verwunschenen Naturgarten. Die treuen Anhänger folgten des Meisters Stimme, Maarten und Karin folgten einem Nebenweg. Ein Teich lag vor ihnen, im Dickicht quakten Frösche, im letzten Gegenlicht schwirrten Libellen.

***

Er nahm die Landstraße Richtung Lühlerheim, der Arbeiterkolonie mitten im Grünen, und setzte sich der immer noch wärmenden Sonne aus, deren Strahlen den Asphalt aufgeheizt hatten.

»Ein Irrsinn, aber ich muss es tun«, dachte Gero von Aha und lenkte bei nächster Gelegenheit in einen schmalen Waldweg, der ins Schattenreich der hoch aufragenden Buchen und der dichten Tannen führte. Irgendwo dort hinten lagen die Reste eines alten Forsthauses, hatte ihm der Hotelbesitzer erklärt. Ein verwunschener Ort, den der Kommissar nur zu Fuß durchs Dickicht erreichen konnte.

Wenig später warf er das Rad in einen Graben und stapfte durch knisterndes, trockenes Laub, das sich mit feuchten Stellen in Senken des satten Waldbodens abwechselte. Seine suchenden Schritte auf dem Laubboden oder das matschige Geräusch im aufgeweichten Untergrund waren neben dem Keckern von Eichelhähern die einzigen Geräusche. Weiter, immer weiter zog es ihn fernab der Zivilisation, tiefer in die Wildnis ohne Wege und bunte Hinweisschilder. Wenige Insekten umsirrten ihn, hin und wieder schwirrte ein Vogel fast lautlos durch das Geäst. Fast unmerklich begann die Sonne zwischen den Stämmen zu sinken.

Gero von Aha hielt inne. Er erblickte die Ruinen des Forsthauses, die gespenstisch im Schattenspiel der tiefen Sonne zwischen hohen Stämmen aufragten. Hier ist sie, Stille, mehr als Ruhe, wollte er sich zuflüstern. Wenn da nicht ein knöchernes Klirren seinen selbstverordneten Selbstfindungskurs unterbrochen hätte. Ein feiner, ein wenig hohler und im seichten Wind fast schon melodischer Klang, der irgendwo aus den Baumwipfeln kam und eindeutig nicht hierhergehörte.

***

Ein Klangbild, das aus endlosen hölzernen Tonreihen bestand, drang an Karins Ohr und weckte ihr Interesse. »Er macht auch Musik, hieß es vorhin, der Meister persönlich werde spielen.«

Maarten ließ ab von einem elfenartigen Gebilde mit roter Glaskugel als Kopf. »Phillip und Musik? Glaub ich nicht. Der war immer schon unmusikalisch. Wenn der mit en bissken Genever im Kopp mitgrölen wollte, hielten wir ihm den Mund zu. Was ist das? Das klingt echt schön.«

Sie wanderten um den Teich. Auf einer Seite der Wasserfläche hingen an zwei starken waagerechten Ästen unterschiedliche Klangkörper so dicht an dicht, dass der kleinste Windhauch sie aneinanderstoßen ließ.

»Eine Art Windorgel, schau, schräg angesägte Bambusstangen hat er auch integriert, das sind diese hellen, klaren Töne.«

Sie umrundeten die eigenwillige Installation und entdeckten die Vielfalt der Klangkörper. Karin ließ ihre Finger daran entlangstreifen, eine reizvoll unmelodische Folge von Naturtönen erschallte. Maarten notierte sich gedanklich eine Materialliste. So etwas würde ihren Garten auch beleben.

»Ausgehöhlte Astschalen, schau, gebogene Bretter und dahinten sogar Knochen.«

»Da vorn auch, die klirrend hellen Töne stammen von Hühnerknochen, ganz dünn und krumm. Unheimlich, wie diese Handknochen sich da einpassen. Erinnerst du dich an die Skelette im Biounterricht? Vielleicht hat dein Freund Biologie gehasst und den knöchernen Hannes seiner Klasse gerupft. Wo der die Bambusstangen hergekriegt hat? Armdick, klasse.«

Karin blieb vor den größeren Knochen stehen. Sie musterte die Aufhängungen aus dicken Sisaltauen unterhalb von markanten Gelenkverdickungen. Das ist makaber, ging es ihr durch den Kopf, die Töne des Todes. Ihre Finger weigerten sich, diese Klangkörper zu berühren, sie ließ einen Knochen an der Sisalkordel baumeln wie den Klöppel einer Glocke. Klock, klock. Maarten tippte ihr auf die Schulter.

»Wie sich die Fackeln im Teich spiegeln! Der hatte schon immer ein Feeling für das perfekte Ambiente. Einmal hat er Metallobjekte in einem Hangar auf einem ehemaligen Militärflugplatz ausgestellt, man hätte fast vor ihnen salutiert. Das hier hat was von Shakespeares ›Sommernachtstraum‹.«

Sie waren allein in diesem abgelegenen Teil des Gartens. Aus der Ferne drang vereinzeltes Kichern und Gemurmel zu ihnen, die Klangorgel untermalte einen einzigartigen Sommerabend. Maarten nahm Karins Gesicht sanft in die Hände, küsste sie leidenschaftlich und schaute ihr tief in die blauen Augen.

»Dies ist die perfekte Stimmung für eine Frage, die ich dir dringend stellen muss. Schau, wir sind schon so lange zusammen, und unsere Kleine geht bald in den Kindergarten. Ich denke, wenn jemand sie nach Mama und Papa fragt, dann soll sie erzählen können, die seien verheiratet.«

Eine leichte Windböe ließ Bambus, Holz und Knochen unregelmäßig aneinanderstoßen, klong, klock, klock, klong.

»Willst du meine Frau werden?«

Klong, klong, klacker, klock, klock.

Karin meinte, mitten in dieser Klangwelt ihr Herz laut schlagen zu hören, es übertönte dieses ungewöhnliche Instrument. Mit leicht angefeuchteten Augen hauchte sie Maarten ihre Antwort zu.

»Ja.«

Klock, klock, klock.

Sie lagen sich in den Armen, Glück ohne Worte. Penetrant und lästig umschwirrten kleine Plagegeister die potenziellen Opfer, und von blutgierigen Mücken umlagert, machte sich das Paar auf den flackernd beleuchteten Rückweg, das Indigo des Abendhimmels im Blick.

Klock, klong.

Da war etwas, eine irritierende Ahnung.

***

Der von Zweifeln geplagte Kommissar blickte sich um, reflexartig waren die Sinne des Polizisten geschärft. Ging er nach links, ebbten die Töne ab. Also bewegte er sich im unwegsamen Gelände nach rechts, versuchte, im wechselnden Untergrund den Halt zu bewahren und gleichzeitig in der hereinbrechenden Dämmerung den Blick nach oben zu richten. Das Geräusch blieb fein, wurde aber mit jedem Schritt klarer.

Er arbeitete sich durch eine Wand von miteinander verwachsenen Tannenzweigen, das Restlicht ließ eine Lichtung erahnen. Er hielt inne. Nichts, und doch klang etwas durch den schläfrig werdenden Wald. Gero von Aha erreichte die Lichtung, ein Vogel schreckte auf. Der Kommissar schaute ihm unwillkürlich nach. Er landete im Wipfel der einzigen, alten, stark verzweigten Buche inmitten eines Gewirrs von Tannengeäst. Über der Lichtung glomm ein dunkelblauer Abendhimmel. Dann erkannte er den Ast, einen schweren, waagerechten Buchenast, der wie ein Galgen über diese kleine Lichtung ragte.

An diesem gerade gewachsenen Holz hing etwas, das von Aha zunächst nicht wahrhaben wollte. Er beäugte seinen Fund aus unterschiedlichen Perspektiven, wiegte den Kopf, versuchte, diese unliebsame Halluzination abzugeben an den dichten Wald um ihn herum, es wollte nicht gelingen. Er musste den Tatsachen ins Auge sehen. Gero von Aha hob die Augen zur Baumkrone.

Ja, da hing tatsächlich eine Leiche. Abgenagte, ausgebleichte Knochen schlugen im leichten Abendwind gegeneinander. Die erzeugten Klänge empfand Gero von Aha nicht als unharmonisch. »Makaber«, wollte er sich diesen Gedanken verbieten. Verstörung machte sich breit in dem top ausgebildeten, toughen Kripobeamten angesichts der in ungefähr zwölf Meter Höhe über ihm baumelnden sterblichen Überreste eines Menschen, die in diesem Wald ein knöchernes Konzert gaben.

Entgeistert starrte Gero von Aha in die Wipfel. Ein Waldkauz rief in den Abend.

Das war ein Zeichen. Sein Zeichen, ganz sicher.

***

Karin umkreiste erneut das Kunstwerk, fühlte über die unterschiedlichen Werkstoffe und verharrte bei der zart wirkenden Hand. Sie ließ ihre Finger über die moosig schmutzigen Knochen und Knöchsken, wie man hier sagte, gleiten, stockte, hielt inne. Ihre Finger hatten etwas ertastet, berührten es immer und immer wieder. Unruhe durchfuhr sie.

Karin nahm eine der Fackeln, Teil der romantischen Gartenbeleuchtung, aus der Verankerung und beleuchtete das Objekt ihres gesteigerten Interesses. Sie drehte sich um und starrte auf die baumelnden Klangkörper. Mit ernster Miene ging sie auf Maarten zu.

»Hast du dein Telefon mit? Ich muss telefonieren!«

Maarten lachte irritiert auf. »Kannst du nicht bis morgen warten, um es deiner Mutter zu erzählen?«

»Was? Ach, nein. Liebster, ich muss leider dienstlich werden und mit Wesel telefonieren. Maarten, weißt du, was da am Ast hängt?«

Maarten schaute sich um. Was hatte seine Hauptkommissarin dank ihrer ewig wachen Aufmerksamkeit inmitten dieser Idylle entdeckt?

Klong. Klicker.

»Ein äußerst vielversprechendes Werk des niederrheinischen Künstlers Phillip Rossmüller, bestehend aus Tierknochen, einer Schulskeletthand und Holz?«

Karin schüttelte heftig den Kopf und rang, mit wilden Gesten auf die Windorgel deutend, nach Worten.

»Erinnere dich mal genau an dieses Knochenwesen aus der Schule. Die einzelnen, besonders die kleinen Knochen hingen mit Drähten aneinander. Diese hier sind nicht künstlich miteinander verbunden. Und es gibt eine Sägespur am verbliebenen Handgelenk. Maarten, das sind echte Menschenknochen, garantiert. Dein Freund hat eine Hand zum Klingen gebracht.«

***

Gero von Aha würde am Niederrhein bleiben und diesen Fall aufklären müssen. Augenblicklich beschloss er, seine meditative Ruhepause abzubrechen. Er griff in die Tasche, holte sein Handy hervor und rief den Bereitschaftsdienst an.

»Von Aha hier, ich befinde mich in Weselerwald und habe gerade ein Skelett in den Baumwipfeln gefunden. Genauere Ortsangaben? Weselerwald in der Nähe des uralten Forsthauses. Eh … hallo, hallo hört ihr mich?«

Kein Empfang, kein Licht auf dem Display, seinem Handy fehlte es an Energie.

Über Gero von Aha brach die Nacht herein.

***

»Krafft hier, am Eyländer Weg auf der Bislicher Insel müssen Knochen gesichert werden, die bei der Vernissage eines Künstlers Teil einer Installation sind. … Genauere Ortsangabe? Die Ausstellung ist beschildert, ihr könnt sie nicht verfehlen. … Was? Wie, der von Aha hat ein Skelett im Wald gefunden, und ihr wisst nicht, wo? Klang er nüchtern? … Dann lasst sein Handy orten. … Nicht im Netz?«

Unglaublich, diese Duplizität der Ereignisse würde einen gesonderten Platz in der regionalen Presse einnehmen. Der private Teil des Abends war gelaufen, und die Hauptkommissarin machte sich Gedanken um den nicht gerade beliebten, im dichten Wald verschollenen Kollegen, der vermutlich eine unbequeme Nacht in der niederrheinischen Wildnis verbringen würde.

ZWEI

Kommissar Gero von Aha ließ sich nicht nach Hause schicken. Was sollte er dort? Die Gedanken an die letzte Nacht würden ihm den Tag versauen, die Kratzer und die Mückenstiche hatte sich der Notdienst angesehen, nichts Aufsehenerregendes, nur ein schreckliches Jucken am ganzen Körper plagte ihn. Er saß am PC und tippte seinen Bericht, wie es sich gehörte in diesem kleinkrämerischen Provinzkommissariat. Abwechselnd erschienen die Kollegen bei ihm, wichen jedoch zurück vor dem pumaartigen Geruch, der von seiner verschwitzten und verdreckten Kleidung ausging. Fragen nach seinem nächtlichen Abenteuer beantwortete er jovial und herunterspielend, eher gleichgültig, nur kein Aufheben um seine Person, er hatte doch alles im Griff gehabt.

»Da hast du keine Chance, da musst du dich auf die Nacht einrichten, aber als alter Pfadfinder war das kein Problem. Lage sondieren, Schutzmöglichkeiten orten, die Himmelsrichtung anhand des Sternbilds bestimmen und den Kopf in die Richtung der Morgensonne lagern, um die ersten Strahlen nicht zu verpassen. Alles unter Kontrolle.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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