Der Stier - Thomas Hesse - E-Book

Der Stier E-Book

Thomas Hesse

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Beschreibung

Ein Krimi zwischen Komik, Spannung und Melancholie. Von zwei Autoren, die ihre Region kennen und lieben. Alarm am Niederrhein: Zwei Ehepaare und eine umtriebige Großmutter werden um ihre schwarz angesparte Rente erleichtert. Sie sinnen auf Rache und lochen den Betrüger ein. Aber die Amateur-Entführer geraten von einer Katastrophe in die nächste, bis Ommas zickige Enkelin auf den entscheidenden verbrecherischen Trick kommt. Doch eine Gruppe holländischer Geldautomatensprenger und eine Leiche sorgen für Probleme – und rufen das K1 um Kultkommissarin Karin Krafft auf den Plan.

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Thomas Hesse, Jahrgang 1953, lebt in Wesel, ist gelernter Germanist, Kommunikationswissenschaftler und Journalist. Er war bis Ende 2014 in leitender Position bei der »Rheinischen Post« am Niederrhein tätig. Heute ist er freier Autor, Journalist und Publizist. Bekannt wurde er u. a. durch Niederrhein Krimis zusammen mit Thomas Niermann und Renate Wirth.

Renate Wirth, Jahrgang 1957, ist Gestalttherapeutin, Künstlerin und Autorin.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Pete Linforth/Pixabay.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-720-0

Niederrhein Krimi

Originalausgabe

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EINS

Aaron Nilsson, Staatsanwalt

Ich bin froh, ja auch erleichtert, am Niederrhein angekommen zu sein. Manchmal sind es die kleinen Äußerlichkeiten, die mir ins Auge fallen, wie dieses Schild an der Wand auf dem nüchternen Flur. Die Behörde in Wesel hat es geschafft, das Türschild an meinem Büro mit meinem korrekten Namen zu beschriften, ich bin schlichtweg begeistert. In Gelsenkirchen hatte der Vorname nur ein A, in Duisburg der Nachname nur ein s, in Essen waren beide Namen falsch geschrieben, dort musste ich auf die Korrektur von Visitenkarten, fünfhundert Stück für die Tonne, wochenlang warten. Meine freundliche Beharrlichkeit kam mir zugute. »Er lässt nicht locker, der nordische Riese«, sagten meine Kollegen.

Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass die Möblierung meiner Körpergröße angepasst ist, bei zu kleinem Schreibtischstuhl leidet mein Rücken. Ich will keine neue Einrichtung, das entspricht nicht meinem Credo. Erst wenn die Dinge wirklich nicht mehr nutzbar sind, tausche ich sie aus. Es sei denn, ein verhunzter Name ziert wichtiges Arbeitsmaterial, und die Sitzmöbel entsprechen lediglich der durchschnittlichen Körpergröße, das sind No-Gos.

Nach den Erfahrungen im Ruhrgebiet, und damit meine ich nicht nur die Art und Häufung der Delikte, habe ich mich über den freien Posten in Wesel gefreut, habe mich selbstsicher präsentiert, strotzend vor Kraft – klar, Imponiergehabe war auch dabei. Ich wollte beeindrucken und gewissermaßen meine Hörner in die niederrheinische Erde stoßen, hier bin ich und hier bleibe ich, ich habe alles darangesetzt, Konkurrenten mit meiner Fachlichkeit und meinem ruhigen, gut strukturierten Wesen zu überbieten. Du wirst eingehen am Niederrhein, haben meine Duisburger Kollegen in der molochartigen Stadt geunkt, du wirst vor Langeweile Bleistifte klein spitzen, das ist tiefste Provinz. Ich habe ihnen geantwortet, ich hätte mir nach den brutalen, skurrilen, bestialisch zugerichteten Toten in der Ruhrmetropole eine längere Arbeitsphase mit einfach strukturierten Taten auf dem Land verdient.

Dann fuhr ich los, von meiner Wohnung in der Duisburger Innenstadt, im Autogedränge und alltäglichen Lärm, über die A59Richtung Wesel. Hitze im August, der Weg war steinig und lang, eine Großbaustelle folgte der anderen, und zur Krönung stand ich auf der B8 zwischen Friedrichsfeld und Wesel im Stau, dort wird mit einem riesigen Aufwand eine neue Verkehrsführung für die Rheinbrücke in das Lippeland gebaut. Auch in der Stadt empfing mich eine Baustelle, allerdings auf der Gegenseite des zweispurigen Rings, ich gelangte ohne Probleme zum Gebäude der Kreispolizeibehörde an der Reeser Landstraße. Mein Amtssitz, das Gerichtsgebäude, liegt in Sichtweite.

Ich war zeitig vor Ort, stellte das Auto ab und machte einen kleinen Gang durch die Stadt. Es gibt einige gut erhaltene oder wiederhergestellte historische Gebäude. Die Innenstadt hat den kühlen Charme praktischer Nachkriegsarchitektur, und auf dem Marktplatz haben sie ganz pfiffig die alte Rathausfassade vor einem Gebäude aus den Siebzigern rekonstruiert. Es gibt ein Bühnenhaus, eine Stadtbücherei und ein Kulturzentrum in einem alten Kinosaal.

Da mir noch Zeit blieb, bin ich zum Rhein gelaufen. Welch ein Unterschied zu Duisburg. Eine Promenade mit Bänken und Anlegestellen für Passagierschiffe, auf der gegenüberliegenden Seite ländliche Idylle mit Gänsen und weidenden Kühen vor den Ziegelresten der alten Eisenbahnbrücke. Dort hätte ich verweilen können. Das wird mein Ankerplatz für Pausen.

Die Behördenchefin macht einen tüchtigen Eindruck, hat ganz verhalten mit mir geflirtet – vielleicht täuscht mich da mein Eindruck, aber da war ein Leuchten in ihren Augen. Frau van den Berg schien mehr zu lächeln, als ihre Mimikfalten es gewohnt sind. Nicht zu leugnen sind die Anzeichen einer allein lebenden Frau, die Katzenhaare an ihrem dunklen Kleid, keine gerahmten Bilder von Familie oder Ehegatte im ganzen Büro, nur ein großformatiger Fotodruck auf Leinen hinter ihr an der Wand: zwei Katzen, hingefläzt auf dem stilvollen Stoff eines kostspieligen Sofas. Ich kann Katzen nicht leiden, sie sind unzähmbar. Ich mag es berechenbar. Ich schätze, wir werden trotzdem fachlich miteinander klarkommen.

Egal, wo ich hinkomme, scheint man froh über neuen Wind in der Staatsanwaltschaft zu sein. Man erzählte mir hinter vorgehaltener Hand von dem desaströsen Abgang meines Vorgängers, der einen spektakulären Fall in Windeseile lösen wollte und am ermittelnden Kommissariat, an einer eindeutigen Faktenlage vorbei einen verhängnisvollen Haftbefehl ausstellte und anschließend auch noch den Indizienprozess gewann. Danach ging es ab in den Vorruhestand statt ins Düsseldorfer Ministerium. Sein Drang nach Ansehen und Karriere hat ihm den Hals gebrochen.

Nun, mein Nacken ist breit und stark, das kann mir so schnell nicht passieren. Der erste große Fall wird wegweisend sein, mir zeigen, wie der Apparat funktioniert, wie effektiv und selbstständig die Kommissariate arbeiten, wie es sich kooperieren lässt, hier in der Provinz, mit diesen freundlichen Menschen.

Über eine Internetplattform habe ich schon eine Wohnung gefunden. Als Staatsanwalt ist das kein Problem, es öffnen sich Türen, die für viele Menschen verschlossen bleiben. Als körperlich großer Mann bestehen allerdings Einschränkungen, ich muss mich in den Sanitärräumen drehen und wenden können, ohne anzuecken, und Dachwohnungen schaue ich mir gar nicht erst an.

Gleich gehe ich rüber zu meinem Einstand. Wer an mir Anzug und Krawatte erwartet, wird enttäuscht sein, die Kombi trage ich nur zu Beerdigungen. Ich liebe einfache Kleidung und trage die Dinge, bis sie sich auflösen. Das spart Geld und Ressourcen.

Sie wollten mich haben, hier in Wesel. Da bin ich und gedenke zu bleiben.

***

Eine feierliche Begrüßung und Amtseinführung hatte Hauptkommissarin Karin Krafft sich anders vorgestellt. Festlich und mit offiziellen Reden, einem Glas Sekt und Häppchen. Da hatte sie den neuen Staatsanwalt anscheinend falsch eingeschätzt.

Aaron Nilsson füllte jeden Raum mit seiner Anwesenheit, was nicht nur an seiner beachtlichen Körpergröße von zwei Metern und vier Zentimetern lag, sondern auch an seiner Statur. Kräftig, muskulös, ein Nacken wie ein Stier, und wenn man sich erst mit Blicken von den Schuhen bis zum Kopf hoch, rein physisch sehr hoch, gearbeitet hatte, dann ließ der rote Haarschopf des Mannes den Betrachter nicht mehr los. Pumucklrotes, kräftiges, glattes Haar in einer beachtlichen Dichte zierte sein Haupt, der Ansatz war tief in die Stirn gezogen, wuchs selbst an den Seiten weit ins Gesicht, ging fast nahtlos in die ebenfalls roten Augenbrauen über. Wie eine Mütze, dachte Karin, was für ein Mannsbild, da könnte man zwei draus machen. Sie erfreute sich an dem Bild, das die Behördenchefin, Frau Dr. van den Berg, neben ihm abgab. Diese nicht gerade schmale und auch nicht kleine Frau verschwand förmlich neben dem Nachkömmling isländischer Vorfahren.

Aus der Ferne betrachtete die Hauptkommissarin den schmucklosen Empfang, fühlte sich in ihrem kleinen Schwarzen deplatziert, wirkte wenigstens neben ihrem Kollegen Gero von Aha nicht unpassend, der im legeren Anzug nebst Hemd mit Stehkragen eine gute Figur machte. Selbst er, der Vizechef im K1, den sie angesichts seiner buschigen Augenbrauen und der Hornbrille die Eule nannten, konnte sich aufplustern, wie er wollte, auch er verschwand nahezu neben dem Neuen. Karin schaute sich um. Der sonst allzu bunte Kommissar Nikolas Burmeester schien auf seine Frau gehört zu haben und präsentierte sich vorbildlich in farblich abgestuften Erdtönen.

Nilsson sah nicht festlich aus, Hemd, Jeans, ein Sakko aus Tweed, grob gemustert mit Lederflicken auf den Ellenbogen, und dazu trug er sportliche Fußbekleidung mit drei schwarzen Streifen an den Seiten. Alles in gigantischen Dimensionen, die es nirgends von der Stange gab. Hier in ihrem repräsentablen Besprechungsraum, beim Kommissariat 1 der Weseler Kreispolizeibehörde, der extra für einen Stehempfang umgeräumt worden war, gab es Mineralwasser aus der Teeküche und eine Begrüßung per Handshake. Der Mann, der wie ein Wikinger aus dem hohen Norden wirkte, wechselte mit jeder anwesenden Person ein paar Worte, Name, Dienstgrad, Abteilung, fragte nach speziellen Ausbildungen. Es dauerte, bis er zu Karin kam, was ihr ganz recht war, denn auch sie würde sich daran gewöhnen müssen, zu dem neuen Staatsanwalt hochzuschauen. Besprechungen mit Aaron Nilsson würden zukünftig nur im Sitzen stattfinden, das nahm Karin Krafft sich vor, als sie ihn lächelnd auf sich zukommen sah.

Natürlich hatte der Mann Hände wie Schaufeln, jedoch vergrub er ihre Hand nicht, wie sie befürchtet hatte, sondern umschloss sie mit Feingefühl. Name, Dienstgrad, Aufgabenbereich.

Er hatte alles registriert, wusste genau, welche Kollegen zu ihr ins K1 gehörten. Karin war beeindruckt, denn mit Tom Weber und Jerry Patalon, den er neugierig zu seinem Herkunftsland Haiti befragte, hatte er sich gleich zu Beginn der Vorstellung unterhalten, dazwischen mit fast dreißig anderen Kollegen. Ein gutes Gedächtnis hatte er.

Aaron Nilsson kannte aber auch die Pläne zu internen Fortbildungen, die vor Jahren sang- und klanglos in der Schublade seines Vorgängers verschwunden waren. Darüber wollte er ein anderes Mal mit ihr sprechen. Er ließ die erstaunte Karin stehen und bat um allgemeines Gehör.

»Nachdem Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, Sie alle persönlich kennenzulernen, möchte ich nun ein paar Fakten zu meiner Person nennen, die ganz bestimmt schon in Ihren Gedanken als Vermutungen formuliert sind. Ich bin acht Jahre lang bei verschiedenen Staatsanwaltschaften mit unterschiedlichen Polizeibehörden im Ruhrgebiet tätig gewesen. Ich kenne mich mit einem Großteil der dort vorrangigen Delikte bestens aus, die hohe Schule in Duisburg gehörte dazu, Essen ebenfalls. Glauben Sie mir, laut bestens erstellter Statistik aus den verschiedenen Kommissariaten hier in Wesel kann ich mit Gewissheit sagen, dass es an anderen Orten wesentlich übler zugeht. Ich freue mich, diese offene Stelle am Niederrhein ausfüllen zu dürfen.«

Die Kollegen applaudierten. Er nickte bestätigend, bevor er fortfuhr.

»Nun zu meiner Person. Ja, mein Name stammt aus Island, ich habe dort meine Wurzeln, bin jedoch hier aufgewachsen, ein echter bundesdeutscher Staatsanwalt. Nein, von der isländischen WM-Mannschaft kenne ich niemanden und bin auch mit niemandem verwandt. Wir werden uns größtenteils im Sitzen unterhalten, dann fällt es allen Beteiligten leicht, den Blickkontakt aufzunehmen.«

Karin zollte ihm innerlich Respekt.

Er war noch nicht fertig. »Ja, mein Haar ist naturrot. Und ja, der Haaransatz hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Mütze, was Sie sich garantiert schon gedacht haben.«

Kleines Getuschel und lächelndes Geraune.

»Sehen Sie, ich kann Gedanken lesen. Gestatten Sie sich und mir den Gefallen, lassen Sie den Vergleich unerwähnt. Und nun, Kolleginnen und Kollegen der Kreispolizeibehörde in Wesel, möchte ich mit Ihnen auf wertschätzende, effektive Zusammenarbeit anstoßen.«

»Jau«, raunzte Gero von Aha in Karins Ohr, »mit wertgeschätztem Mineralwasser auf Kreiskosten. Ist das unterkühlter isländischer Humor?«

Nilsson ging mit schweren, langen Schritten zur Tür, öffnete sie, und hereingerollt kamen zwei Servierwagen mit unterschiedlichen Seccos von der Obstkelterei van Nahmen aus Hamminkeln und Platten mit kleinen Häppchen vom Café Vesalia, die schöner nicht dekoriert sein konnten.

Ein geselliger Einstieg. Gero von Aha staunte. »Ich nehme meine Bemerkung zurück, der hat Format.«

Karin Krafft lächelte und griff sich ein Häppchen mit Lachsfrischkäse, garniert mit einem filigranen Dillblättchen, das auf einer hauchzarten Radieschenscheibe ruhte.

»Wenn das mal so bleibt, das wäre, hmm, köstlich.«

***

Maria Dromke hätte am liebsten schon im Flugzeug telefoniert, war zwei Mal zur Toilette gegangen, hatte in der winzigen Kabine ihr Smartphone aus der Tasche gefingert und ihren rechten Zeigefinger über dem Flugmodus-Symbol kreisen lassen. Es klappte nicht. Sie war eine ordentliche Frau, die sich an Regeln hielt. Wenn der Flieger ins Trudeln geriete, nur weil sie sich nicht bis zum Flughafen Düsseldorf beherrschen konnte, das würde sie sich nicht verzeihen, im Ernstfall sogar nicht überleben. Auch WhatsApp konnte sie nicht empfangen, es war keine Kommunikation mit ihren Freunden Heinz und Grete möglich, denen sie von Fuerteventura aus sofort berichtet hatte. Darüber, dass nichts stimmte. Gar nichts geplant war und schon gar nicht fast fertig.

Nachdenklich lief sie zu ihrer Sitzreihe zurück, quetschte sich an einer Unbekannten und ihrem Mann vorbei zu ihrem Fensterplatz – eine Situation, undenkbar für sie im letzten Jahr, bei der weltweiten Coronakrise, die ihr das Fliegen und die Nähe zu anderen vergällt hatte – und dachte darüber nach, wie alles begonnen hatte.

Maria Dromke und ihr Thilo aus Xanten hatten Frank S. Bellhaus während ihres letzten Urlaubs auf Fuerteventura kennengelernt. Er hatte sich einen Stammplatz unter dem Sonnenschutz im Restaurant Terraza del Gato in Costa Calma reserviert, saß täglich dort, gut gelaunt, gesprächsfreudig, das Laptop vor sich aufgeklappt, je nach Tageszeit einen Kaffee oder ein Glas Wein vor sich. Er begrüßte viele Menschen wie alte Bekannte, sprach die Kellner mit Vornamen an – ein sympathischer, wenn auch erstaunlich lauter Mann, den man kannte. Und nach drei Tagen kannten Maria und Thilo ihn ebenfalls. Sie nutzten täglich auf dem Heimweg vom Strand den Fußweg, der durch die reizvolle Anlage des Hotels Risco del Gato am Restaurant vorbeiführte. Dort gab es in ruhiger Atmosphäre ein Bierchen oder auch ein Stück Apfelkuchen. Frank S. Bellhaus stellte sich vor, man duzte sich im Urlaubsparadies Costa Calma, man war schließlich in bester Auszeitstimmung.

»Frank S. Bellhaus. Das S steht für Sieger, nein, kleiner Scherz, aber immerhin für Siegfried. Alle nennen mich Frank, und wer seid ihr? Ich habe euch schon gesehen, ihr seid auch hier daheim. Jaja, Fuerteventura, entweder vom ersten Augenblick an die große Liebe, oder es gibt kein zweites Mal. Wo wohnt ihr?«

Man kam ins Gespräch. Wo man herkommt? Er freute sich, Niederrheiner getroffen zu haben, und dann noch aus diesem beschaulichen Xanten.

»Da komme ich auch her, Zufälle gibt es. Mein Büro ist in Düsseldorf, man muss repräsentieren, um wer zu sein in meiner Branche. Ich mache in Immobilien und Vermögensberatung. Man hat sein Auskommen. Zur Entspannung habe ich ein kleines Anwesen in Bislich, kennt ihr doch, da zockelt diese Minifähre über den Rhein, haha.«

Er verschränkte, wohl um seiner Entspanntheit einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen, die Arme über seinem Kopf und atmete tief durch.

»Sooft es geht, bin ich hier, das ist mein zweites Zuhause. Telefonieren und korrespondieren kann ich aus jeder Ecke der Welt. Antonio, eine Runde für meine Freunde. Ihr mögt doch ein Glas Rioja, oder?«

Da war er noch nicht mit der Geschäftsidee herausgerückt, da war er nur ein netter Deutscher auf der Insel, ein Jetsetter, der gern mit anderen kommunizierte, der es sich offenbar leisten konnte, andere einzuladen und, wie sich später herausstellte, auch noch ein großzügiges Trinkgeld ins Kästchen mit der Rechnung zu legen.

»Wie lange bleibt ihr?«

»Leider nur eine Woche dieses Mal.«

Thilo stupste seine Maria an, deren Blick leer auf der Wolkendecke lag, die sich unter dem Flieger endlos über dem Meer ausbreitete, eine wattige Decke. »Du grübelst doch, worüber denkst du gerade nach?«

Maria wurde laut, bremste sich sofort wieder. »Worüber denke ich wohl nach? Mir schwirrt nichts anderes mehr durch den Kopf als die Frage, ob Schollkämpers diesen Bellhaus erreicht haben. Und Lotte! Lotte kriegt einen Herzinfarkt, wenn sich bewahrheitet, was wir vermuten. Das kann sich doch nur um ein Missverständnis handeln. Das schwirrt durch meine Gedanken, als wenn es nicht anderes gäbe, das hört nicht auf.«

Thilo drehte sich zu ihr, niemand außer Maria sollte ihn hören, so tief saß die Schmach, dennoch sprach er betont langsam und schaute sie mit einem Gesichtsausdruck an, als wolle er Rilke zitieren. Der liebe, ausgeglichene Thilo.

»Die Frau von den Behörden in Costa Calma sagte eindeutig, da, wo wir im nächsten Frühjahr einziehen wollen, werden keine Wohnungen gebaut. Es wird nichts mehr auf der Insel gebaut. Baustopp. Maria, wir haben Pläne, Verträge, Lagepläne mit offiziellen Stempeln, einen Vertrag mit Anwaltssiegel. Bellhaus hat uns Fotos vom Rohbau geschickt. Wir haben im Voraus bezahlt. Darüber denke ich auch nach. Nur glauben kann ich einfach nicht, dass wir einem findigen Betrüger aufgesessen sind. Das wird sich alles aufklären, bestimmt.«

Thilo gehörte zu den ruhigen Vertretern der Menschheit, äußerlich konnte ihn nichts so schnell aus der Fassung bringen. Er versuchte, seine Beine schräg in Marias Richtung auszustrecken, nicht einfach bei der Enge in den Sitzreihen, und lehnte sich zurück. »Garantiert waren wir an der falschen Adresse.«

Sicher war er sich nicht.

Am letzten Nachmittag ihres Aufenthaltes damals hatte »Frank« einen Anruf erhalten: »Oh, das ist total wichtig, verzeiht, ich mag es nicht, aber da muss ich rangehen.«

Maria und Thilo saßen vor ihrem Eis in kleinen Tonschalen, wollten nichts von dem Gespräch wissen und hörten dennoch, wie Frank, der sich dezent abgewendet hatte, sogar aufstand, um einen Schritt zur Seite zu gehen, mit jemandem über das Gelingen eines Bauprojekts sprach, immer wieder Einzelheiten wiederholte, die ihm bestätigt wurden.

»Ein viel beschäftigter Mann«, flüsterte Maria und wies mit dem Kopf auf Bellhaus, der sich das feucht geschwitzte Haar raufte und freudig die Lautstärke seiner Worte anschwellen ließ.

»… ganz sicher? … Fünf Appartements in Costa Calma? … Mit unverbaubarem Meerblick? … Das ist ja phantastisch! Und ich kann sie haben? … Was heißt, ich soll Investoren suchen? … Ja, klar, bei der Summe, das ist ja quasi geschenkt! Schickst du mir die Pläne? … Wie lange habe ich Zeit? … Ach, komm, wir haben schon so gute Geschäfte miteinander abgeschlossen, da kannst du mir ruhig ein wenig mehr Zeit lassen. Du weißt doch, dass du dich auf mich verlassen kannst. … Ein Monat? Das ist okay. Wir sehen uns, mi amigo.«

Bellhaus entschuldigte sich, das sei ein Geschäftsfreund aus der Stadt gewesen, es sei nun mal sein Beruf, schöne Dinge an interessierte Menschen zu vermitteln. »Ich freu mich so, fünf Perlen in meiner Hand, das muss ich mit euch feiern.«

An dem Punkt hatte er ihre Aufmerksamkeit geweckt, Vermögensberater und Immobilienmakler war der Mann, der strahlend neben ihnen saß, hatte Thilo sich erinnert.

»Hier, in meinem zweiten Zuhause, kann ich Beruf und Entspannung verbinden, jedes vermittelte Anwesen zaubert Glück, ja, das ist es, ich bin ein Glücksbringer. Die Käufer freuen sich und die Verkäufer ebenso, für alle ist es eine lohnenswerte Investition in die Zukunft.«

Bellhaus strahlte mit der Sonne um die Wette. »Nicht zuletzt machen diese Geschäfte auch mich glücklich, und jetzt stoßen wir erst mal auf ein großartiges Projekt an dieser wunderschönen Küste an. Antonio? Eine Runde Secco.«

Natürlich hatte er genau gewusst, wie er die Neugier der beiden Niederrheiner wecken konnte, und wenn Maria das Verhalten ihres Gatten richtig deutete, dann gab er die nächsten beiden Runden aus, um Bellhaus, nennt mich Frank, redselig zu machen, denn der hatte beim ersten Glas Secco noch nicht damit herausrücken wollen, um was für ein Geschäft es sich handelte. Er hatte sich drei Gläser lang bitten lassen, endlich das Projekt zu beschreiben. Und was er ihnen in schillernden Farben ausmalte, war der Traum eines jeden Stammgastes auf Fuerteventura, der Wunsch aller, die so viel Zeit wie möglich auf der Insel verbringen konnten und wollten.

Kleines Bauvorhaben an der Playa Esmeralda, nur zehn Einheiten, an den Hang gebaut, jede Einheit mit Terrasse auf dem Dach, abgeschirmt, Blick aufs Meer, unweit der Terraza, auf der sie saßen und tranken, phantastisch gelegen, ruhig und, vor allen Dingen, auf Wunsch mit Service, Wäsche, Putzen, fast wie im Hotel. Nur für den vollen Kühlschrank müsste man selbst sorgen, der neue Supermarkt sei gut erreichbar. Aber sie wollten doch sein »S« wie Sieg feiern und jetzt nicht über seine Geschäfte sprechen. Salud!

In der Nacht hatten Thilo und Maria lange wach gelegen und darüber nachgedacht, ob sie ihn fragen sollten. Ihr Flieger ging erst am späten Nachmittag, ihnen bliebe bis zum Mittag Zeit, um im Restaurant zu schauen, ob Bellhaus da war.

Bis zur letzten Minute hatten sie gewartet, er war nicht an seinem Tisch. Sie fragten Antonio, ob er wisse, wie Frank zu erreichen sei. Der Kellner hielt lächelnd den Zeigefinger hoch, verschwand hinter dem Tresen, öffnete die Kasse und nahm eine Visitenkarte heraus, reichte sie Thilo. »Frank S. Bellhaus«, stand dort, »Vermögensberatung Düsseldorf, Madrid, New York«.

Maria nahm die Karte und drehte und wendete sie immer wieder. »Ein so bescheidener Mann, ›New York‹ steht da, er macht auch Geschäfte in Übersee.«

Noch vom Flughafen Puerto del Rosario aus hatte Thilo ihn endlich erreicht, und Frank versprach, dass sie sich in der kommenden Woche in Deutschland treffen würden. Dann stehe die endgültige Kaufsumme fest, bestimmt irgendwo zwischen zwei- und dreihunderttausend. Und ja, er werde eine Wohneinheit unverbindlich reservieren. Und wenn sie noch wen wüssten, der vielleicht auch interessiert sei, dann bitte aber zeitnah melden, denn sobald das Bauvorhaben öffentlich bekannt sein, könne er sich vor Anfragen bestimmt nicht retten.

»Er hat eine Sekretärin, die mich zu ihm durchgestellt hat«, sagte er seiner Maria, »eine Frau mit einer dunklen Stimme, total höflich.«

Natürlich konnten sie nicht widerstehen, unverbaubarer Meerblick war weltweit schier unbezahlbar, das Angebot ein Schnäppchen.

Die Flugbegleiter kündigten den Verkauf von zollfreien Waren an. Parfüm, Hochprozentiges, Rauchwaren, Sonnenbrillen und Schmuck. Nie hatten Thilo und Maria zugegriffen, es unterbrach für einen Moment ihre Gedanken, als die Unbekannte vom Sitz am Gang sich für stattliche fünfhundert Euro von allem etwas leistete, was das Bordpersonal noch eine Spur zuvorkommender werden ließ.

Es dauerte nicht mehr lange, und der Anflug auf Düsseldorf, begleitet von Turbulenzen und vorzeitigem Anschnallen, wurde angekündigt. Hoppelflug. Passte genau zu ihrer getrübten Urlaubsstimmung. Zum Glück gab es nicht mehr die zeitaufwendigen Kontrollen wegen der Verbreitung des Virus, sie hätten sie Zeit und Geduld gekostet.

»Thilo, du gehst zum Kofferband und holst unser Gepäck, ich versuche, draußen mit Heinz und Grete zu telefonieren. Die haben hoffentlich den Bellhaus inzwischen gefunden, sodass wir gleich morgen mit unseren aktuellen Baustellenfotos bei ihm aufschlagen können.«

Beim letzten Mal waren sie mit wesentlich anderen Gefühlen gelandet. Wieder daheim in Lüttingen, hatten sie mit leuchtenden Augen ihren Freunden Heinz und Grete Schollkämper vorgeschwärmt, wie sie sich das Leben auf der Insel vorstellten, und im Nu gab es weitere Interessierte. Es schien möglich, eine kleine, feine Gemeinschaft vom Niederrhein in dieser Wohnanlage zu etablieren. Lotte Plaat stieß zu ihnen, gemeinsam mit ihrer attraktiven Enkelin Kim Feenstra. Oma Lotte hatte sich vor Lachen den Bauch gehalten, als sie sagte, wer Heimweh bekomme, den würden sie drei Minuten lang vor den deutschen Wetterbericht setzen, dann sei alles wieder im Lot.

Beim vereinbarten Treffen am Niederrhein – Bellhaus hatte das »Restaurant Art« in Wesel gewählt, es sei der richtige Ort für so ein einmaliges Projekt – ging alles in wunderbarer Atmosphäre, bei leckerem Essen und vorzüglichen Getränken zügig dem Ziel entgegen. Ihre Freunde Heinz und Grete, mit denen sie schon einen Urlaub auf der Insel verbracht hatten, und Lotte Plaat, die gemeinsam mit ihrer erwachsenen Enkelin Kim ebenfalls davon träumte, einfach nur Flüge auf die Insel zu buchen, um dann voller Stolz den Schlüssel zu den eigenen vier Wänden aus der Tasche zu ziehen, waren mit von der Partie. Ankommen im Paradies, wann immer man wollte.

Gut vorbereitet saß Bellhaus mit ihnen rechts hinter dem Eingang in einer Nische, packte Hochglanzprospekte mit Plänen und Lagekarten aus, präsentierte auf dem Laptop Schaubilder möglicher Einrichtungen. Selbst Lagepläne mit offiziellen Stempeln der kanarischen Behörden hatte er aus der Mappe gezogen. Alles sei bestens. Es gebe aber eine Voraussetzung, die zu erfüllen sei.

»Mein kanarischer Geschäftspartner ist oft auf windige Interessenten reingefallen und, wie soll ich sagen, vorsichtig geworden. Ich habe ihm gesagt, Pedro, doch nicht diese lieben Menschen, die ich kennengelernt habe. Maria und Thilo sind ehrbare Leute, die zu ihrem Wort stehen, und deren Freunde sind auch meine Freunde. Aber er ließ sich leider nicht von mir überzeugen …«

Er druckste herum, es schien ihm unangenehm zu sein. Thilo klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Nun rück schon raus mit der Sprache, wir sind uns doch einig.«

Ein Blick in die Runde erntete zustimmende Gesten. Bellhaus baute sich auf, atmete durch. »Nun, Pedro erwartet die Zahlung von unglaublich günstigen zweihundertachtzehntausend Euro pro Wohneinheit.«

Er wartete kurz, niemand reagierte, die Runde schien jedoch nachzudenken.

»Da ist meine Provision nicht mit dabei, darüber reden wir später auf eurer Terrasse am Meer. Er regelt die Formalien mit einem anerkannten Anwalt vor Ort, und schon bei Baubeginn seid ihr als rechtmäßige Eigentümer offiziell in die Bücher eingetragen.«

Das war viel Geld. Für Thilo und Maria war das die Rücklage für das Alter, das ruhige Kissen, das sie sich für ihren Lebensabend zurechtgelegt hatten. Die Schollkämpers lehnten sich zurück, Oma Lotte meldete sich zu Wort, während Kim mit ihrem bezaubernden Lächeln Bellhaus zuprostete.

»Herr Bellhaus, Frank, sagen Sie, die Räume sind schlüsselfertig, mit zwei Schlafräumen, Bad, Wohn-Küchen-Bereich, möbliert und mit zwei Liegen und einem Sonnenschirm auf der Dachterrasse?«

»So wird es im Vertrag stehen, ja.«

»Meine kleine Kim, das wird schön dort. Herr Bellhaus, wir machen das!« Oma Lotte strahlte ihre Enkelin an, eine kleine, zierliche Frau mit einem Glitzersteinchen im Nasenflügel, die eifrig nickte.

Eine Woche später unterzeichneten die drei Parteien an gleicher Stelle die Verträge, prosteten sich zu, man umarmte sich, schüttelte Hände, lächelte selig. In den darauffolgenden zwei Wochen wurden Sparkonten geplündert, Sparverträge gekündigt, Aktien verkauft, der Schwager angepumpt, der Safe hinter dem Gemälde geleert, es wurden insgesamt sechshundertvierundfünfzigtausend Euro auf ein Konto von Frank S. Bellhaus überwiesen, zur Weiterleitung an den kanarischen Geschäftspartner Pedro Talavera in Corralejo. Oma Lotte war dreimal von besorgten Bankbeamten befragt worden, ob sie ganz sicher sei, dass sie nicht gerade Opfer eines Enkeltricks werde.

»Enkeltrick? Nein, meine Kim macht doch mit, die steht da drüben am anderen Schalter und kramt auch ihre Mäuse zusammen. Wir fliegen bald in den Süden. Wenn es hier usselig wird, dann können Sie an uns denken, wenn Sie im niederrheinischen Winter Schal und Mütze wieder auspacken.«

Nach einer unsanften Landung in Düsseldorf und einer Ewigkeit, die verging, bevor sich die Türen des Fliegers zum Auschecken öffneten, eilte Maria mit ihrem Smartphone in der Hand vor Thilo, der kaum hinterherkam, in Richtung Kofferbänder. Er bog zu dem noch stillstehenden Band ab, an dem ihre Flugnummer angezeigt wurde, während sie zum Ausgang lief.

Eine knappe halbe Stunde später zog Thilo zwei Koffer hinter sich her und schaute suchend durch die Halle, in der ihm Gesichter entgegenblickten, die auf Angehörige oder Fahrgäste warteten. Dann entdeckte er seine Frau auf einer der Bänke, zusammengekauert, auf das Smartphone starrend, und erkannte von Weitem, dass sie geweint hatte.

»Mein Mariechen, was ist denn los?« Er hockte sich neben sie und nahm sie in den Arm.

»Alles ist futsch, Thilo. Es gibt kein Appartement in Costa Calma, wir haben kein Geld mehr auf dem Konto, und die Schollkämpers haben unter der angegebenen Adresse in Düsseldorf keinen Bellhaus gefunden. Die Hausnummer gibt es gar nicht. Wenn man bei ihm anruft, sagt seine Vorzimmertussi, ihr Chef sei gerade in der Niederlassung in New York, ob man die Durchwahl haben möchte. Die Verbindung sei aber immer schlecht, ganz schlecht. Nächste Woche sei er zurück.«

Beide dachten das Gleiche, keiner von ihnen sprach es aus. Stumm nahmen sie ihre Koffer, überquerten den Flughafenzubringer, zahlten am Parkhausautomaten ihre Gebühr und suchten ihren Wagen. Erst auf der B57 in Höhe Krefeld-Gartenstadt räusperte sich Thilo und sprach aus, wovon beide überzeugt waren.

»Frank S. Bellhaus ist ein Betrüger. S steht nicht für Sieger, das steht für Schwein.«

Dies war nicht das Ende, dies war erst der Beginn.

***

Maarten de Kleurtje beobachtete seine Frau Karin, die Hauptkommissarin, die lebhaft von der Feststunde des neuen Staatsanwalts berichtete, und hörte mit Freude zu.

»Er ist ein Riese, sage ich dir, aber ein einfühlsamer. Der ist von sich aus auf alle Ressentiments eingegangen, die mit seinen Besonderheiten zu tun haben.«

»Und? Gibt es einen fachlichen Ruf, der ihm vorwegeilt?«

»Van den Berg sprach von umfangreicher Erfahrung, brillantem Geist und Urteilsvermögen, Kooperationsfähigkeit. Kommissariate im Ruhrgebiet haben ihn ungern gehen lassen. In seiner Ruhe liegt die Kraft, hätten sie ihr in Duisburg gesagt. Und überall hieß er nur ›die Mütze‹, wegen –«

»… wegen des Haaransatzes ähnlich dem eines Monchhichis, dieses affenähnlichen Kuscheltiers japanischen Ursprungs mit menschlichen Gesichtszügen, das jedes Kind bis in die Neunziger besaß.«

»Oh, habe ich das schon erwähnt?«

»Hast du. Eine isländische Mütze, die nicht so genannt werden möchte.« Maarten stand auf, holte eine Flasche Rotwein aus der Küche, zwei Gläser aus dem Schrank. »Dann lass uns auf den neuen Wind anstoßen, der ab jetzt bei der Kripo in Wesel wehen wird.«

Sie hörten es in der oberen Etage rumpeln, es folgte ein Wutschrei, eine schwungvoll aufgerissene Tür. »Menno, Papa, mein Tablet ist schon wieder abgestürzt, ich komm nicht mehr in das Übungsprogramm.«

Maarten schaute Karin an, die wies mit dem Kopf nach oben, er sprintete die Treppenstufen hinauf. Das Tablet war für Hannah zum technischen Lernbegleiter geworden, seit sie während der Pandemie im Vorjahr wochenlang nicht zur Schule gehen konnte. Mittlerweile geriet die Speicherkapazität des Gerätes an die Grenzen, und Maarten musste immer häufiger helfen. Karin freute sich über die zeitgemäße Integration der neuen Technik in die Grundschule, prostete ihrem Mann zu, der nun wieder ins Wohnzimmer kam.

»Das ging aber schnell.«

»Ich kenne mittlerweile alle Programme und kann es wieder richten. Ich habe ihr gesagt, noch zehn Minuten, dann geht’s ins Bett.«

Eine Weile saßen sie aneinandergekuschelt auf dem Sofa, dann fiel Karin ein, was der große Aaron Nilsson noch gesagt hatte. »Er will übrigens was von mir.«

Maarten richtete sich gespielt entsetzt auf. »Was denn? Ihr kennt euch doch erst ein paar Stunden, so geht das nicht …«

Karin lachte. »Ich nehme doch stark an, er steht eher auf Walküren des Nordens. Nein, er hat die Pläne vom alten Staatsanwalt Haase gefunden, der die Weseler Polizeibehörde zu einem Fortbildungszentrum machen wollte. Nilsson meinte, zielgerichtet und abgespeckt könne er sich mehrere Programme vorstellen, in enger Abstimmung mit uns.«

»Ich vernehme bröckelnden Widerstand.«

»Das stimmt, wenn man mit mir gemeinsam plant, statt mir ein Konzept vor die Füße zu werfen, dann bin ich gewillt, mich damit zu befassen. Der Haase hat es dogmatisch angeordnet, nach dem Motto ›Friss oder stirb‹, Nilsson will mit mir entwickeln, das hört sich doch gleich ganz anders an.«

Maarten verstand ihre Begeisterung und schenkte nach, beide horchten auf, als Hannah aus dem Bad kam und laut trällerte: »Zerbrich dir nicht den Kopf, denn du hast nur einen, wir bleiben alle kurz mal stehen, umarmen einen Baum und sagen: ›Omm …‹«

Karin fragte flüsternd: »Müssen wir uns Sorgen machen?«

»Nein, das ist nur gerade ihr Lieblingslied von Charly Hübner, den kennst du aus dem ›Polizeiruf‹ aus Rostock, ein wenig schlampig, ewig verschwitzt und unrasiert.«

»Der singt solche Lieder?«

»Was überrascht dich daran?«

»Na, macht im Film den harten Bullen und singt Kinderlieder.«

Maarten lachte, während Hannah sich zur Nacht verabschiedete, und küsste seine Frau. »Du jagst auch die brutalsten Verbrecher, aber ohne Drehbuch, und hast mal Kinderlieder gesungen. Du hast eine schöne Stimme, es ist lange her, dass ich dich zumindest summen gehört habe.«

»Vielleicht singe ich dir ein Gutenachtlied, heute. Danach.«

Stille trat ein in dem kleinen Haus am See in Lüttingen, wohlige Stille.

***

Am Abend nach der Heimkehr trafen sie sich, Heinz und Grete Schollkämper, Thilo und Maria Dromke, Lotte Plaat und ihre schöne Enkelin Kim. Sie saßen bei Dromkes in Lüttingen hinter geschlossenen Fenstern im Wohnzimmer, niemand in der Nachbarschaft sollte hören, was die beiden Urlaubsheimkehrer zu berichten hatten. Maria brachte ein Tablett mit Laugenbrezeln und Kräuterbutter, Thilo hatte alle mit einem Getränk versorgt.

»Nun erzählt mal«, forderte Heinz sie auf.

Die Dromkes wechselten sich ab, jedoch gewannen Marias Wortbeiträge nach Länge und Inhalt.

»Wir haben uns schon bei der Ankunft auf der Insel wie Bolle gefreut, zur Baustelle zu gehen, ein Fest wollten wir daraus machen, hatten eine Flasche Sekt und Gläser aus dem Hotel dabei und sind also die Calle Punta del Roquito runtergelaufen, am R2-Hotel vorbei, dahinter liegt ja das Grundstück, seit Jahren mit einer weißen, mannshohen Mauer umbaut.«

»Ja, kann man kaum rübergucken.«

»Jedenfalls sind wir dann die kleine, steile Straße am R2 in Richtung Strand abgebogen, da hätte man den Bau schon sehen müssen. Wir sind bis unten gelaufen und standen vor der eingezäunten Brachfläche, die uns seit Jahren genauso bekannt war. Nichts, ich sage euch, gar nichts hat sich dort getan, nicht einmal Baugerät oder Material sind zu sehen.«

Thilo ergänzte: »Nichts. Nada. Null!«

»Dann sind wir wieder raufgelaufen. Es geht ja in südlichen Ländern schon mal langsamer voran als bei uns, es musste doch zumindest ein Schild geben, irgendeinen Hinweis auf ein geplantes Bauvorhaben. Also sind wir die weiße Mauer an der Calle abgelaufen, hin und her, und, was sage ich euch?«

Thilo sagte: »Nichts. Auch da kein Hinweis auf ein Projekt.«

»Beim Hotel Esmeralda Maris steht eine Bank an der Bushaltestelle, da haben wir uns erst mal hingesetzt. Thilo war ganz puterrot im Gesicht vor lauter Aufregung, ich habe mir schon Sorgen gemacht …«

»Ich hatte aber auch eine Herzfrequenz bis zum Anschlag, sagte mein Gesundheitstracker. Der vibrierte schon am Handgelenk, ich musste ausruhen. Da kannste auch nicht ruhig bleiben …«

»Genau, du willst in den Rohbau, von deiner Terrasse aufs Meer gucken, und nicht einmal das Fundament ist vorhanden. Wir sind dann weitergegangen zum Strand und konnten das gar nicht genießen. Thilo fragte sich …«

»… ob wir auch an der richtigen Stelle gesucht haben, ob das Grundstück nicht doch an der Playa Costa Calma wäre.«

Kein guter Zeitpunkt zum Brezelessen, niemand griff zu, alle saßen aufgereiht auf dem Sofa und in den beiden Sesseln und lauschten mit ernsten Mienen.

Maria fuhr fort: »Wir haben dann unsere Sachen gepackt und sind zum anderen Strand gewandert, zum Glück war Ebbe, dann kann man am Meeressaum laufen und hat nicht so viele felsige Stellen, über die man klettern muss. Nicht einmal die Streifenhörnchen hat Thilo bemerkt, die füttert er sonst so gerne, obwohl man das nicht machen soll. Na, jedenfalls kommen wir an dem anderen Strand an und blicken auf den Hang, da gibt es keine Baulücke und auch keine Neubauten, alles ist dort seit vielen Jahren genutzt.«

»Nein, nein, nein, hab ich da gesagt, Maria, hier läuft was daneben. Wir haben gleich vom Strand, von der Beach Bar Aureola aus angerufen. Zuerst bei euch, damit ihr uns seine Telefonnummer durchgebt, und dann bei ihm höchstpersönlich.«

»Wir haben es durchklingeln lassen, niemand nahm ab. Und dann sind wir zur Stadtverwaltung gegangen, da hat man uns erst nicht verstanden. Wir haben unser bestes Englisch ausgepackt, irgendwann kam ein Beamter, der Deutsch verstand und uns zu der richtigen Dame begleitet hat, die für Bauangelegenheiten zuständig war. Ich weiß nicht mehr die genaue Bezeichnung ihres Aufgabenbereichs, aber bei ihr waren wir richtig.«

Thilo setzte sich kopfschüttelnd auf. »Und dort haben wir dann erfahren, dass –«

»… auf der ganzen Insel Baustopp herrscht. Es darf nichts Neues mehr gebaut werden, allenfalls gibt es Sondergenehmigungen, um angefangene Neubauten fertigzustellen. Und an der Playa Esmeralda ist nichts mehr angefangen worden außer den teuren Appartements vom Risco del Gato. Weil sie halb fertig sind, darf dort gearbeitet werden.«

Thilo trank einen Schluck. »Nichts. Nada. Null!«

Auch Maria war nun still, Betroffenheit stand auf allen Gesichtern, die schöne Kim knabberte verhalten an einer Brezel.

Heinz räusperte sich, meldete sich zu Wort. »Wir haben ja dann von hier aus versucht, Frank, also den Bellhaus, zu erreichen, da erzählte uns die Sekretärin diesen Mist mit New York, nicht erreichbar und so.«

Seine Grete gab den Korb mit den Brezeln weiter. »Und dann habe ich gesagt, Heinz, habe ich gesagt, wir fahren jetzt nach Düsseldorf und suchen sein Büro. Und da soll diese Vorzimmerschickse uns mal den Vorgang raussuchen.«

»Ja, Leute, und da stehen wir in Düsseldorf – erst mal musst du ja da einen Parkplatz finden in der Innenstadt, der dich nicht arm macht –, und das Navi schickt uns an eine Kreuzung, an der es auf der anderen Seite nicht mit gleichem Straßennamen weitergeht. Die Hausnummer ist also nicht zu finden.«

»Heinz, habe ich gesagt, Heinz, da ist was faul.«

»Oberfaul, jawohl. Wir sind dann die Straße rauf und runter und haben auf alle Klingelknöpfe und Firmenschilder geguckt. Der Name Bellhaus tauchte nirgendwo auf, da wurde mir dann ganz schwummrig.«

»Blass wurde er«, übernahm Grete. »Heinz, habe ich gesagt, du musst dich setzen. Wir sind dann in so einen chinesischen Imbiss, kaltes Wasser ohne Eiswürfel trinken, dann ging es wieder. Die kannten den Namen auch nicht.«

Lotte Plaat richtete sich aus den Tiefen des Sofas auf. »Leute, da haben wir uns ganz übel reinlegen lassen, das gibt es einfach nicht. Der hat uns doch alles präsentiert, Pläne, Urkunden und Stempel und Siegel, einfach alles stimmte.«

Kim schaute von der Brezel auf. »Der war so nett.«

Außer ihr mochte niemand essen, der Korb war wieder bei Maria angekommen.

»Ich sag mal so, anzeigen müssen wir den«, fasste sie zusammen. »Drüben, zwei Häuser weiter, da wohnt eine Kommissarin mit einem zotteligen Hund und einem Mann mit Zopf, einem Sohn, der im Hippierock durch die Gegend läuft, und einer kleinen Tochter, aber nett ist sie trotzdem. Sollen wir die mal rüberholen?«

Lotte Plaat wies auf die Wohnzimmeruhr im Eichenschrank. »Es ist schon spät, Maria. Und du hast mal erzählt, sie sei für Mord und Totschlag zuständig, nicht für Leute wie uns, die sich so naiv haben reinlegen lassen.«

Maria ließ nicht locker. »Aber sie kann uns doch sagen, an wen wir uns wenden müssen …«

Endlich kam Heinz zu Wort, hob den Zeigefinger, winkte vehement ab. »Nein, wir gehen nicht zur Polizei, auf keinen Fall!«

Maria konnte seine Reaktion nicht nachvollziehen. »Wieso nicht? Wir sind einem Betrüger aufgesessen, das müssen wir anzeigen, ihm das Handwerk legen und schauen, wie wir unser Geld zurückkriegen.«

Heinz beugte sich vor, als fürchte er, zu laut zu werden, jetzt, wo er wusste, wer in direkter Nachbarschaft lebte. »Keine Polizei. Die werden ab einem bestimmten Punkt wissen wollen, wo das Geld herstammt, das wir überwiesen haben.«

Maria gab sich erstaunt, wollte ihre Idee der nachbarschaftlichen Beratung nicht aufgeben. »Na und? Es stammt von unseren Konten, da ist doch alles in Ordnung.«

Heinz schwankte zwischen Wut und Schweigen, druckste herum, wollte sich nicht weiter dazu äußern; da war etwas, was alle anderen nicht wussten. Seine Frau tätschelte ihm die Hand und übernahm die Initiative. »Heinz, nun erzähl doch.«

Da er schwieg, übernahm Grete es selbst, die anderen aufzuklären. »Es ist nicht ganz so, wie ihr denkt. Es ist unser Geld, das wir überwiesen haben. Aber es ist schwarz erwirtschaftet, an der Steuer vorbei. Heinz hat jahrelang spekuliert und auf dem Aktienmarkt gute Gewinne erzielt. Und dann haben wir uns umgeschaut, wo wir das Geld investieren können, ohne dass wir es dem hiesigen Finanzamt in den Rachen werfen. Die haben in den ganzen Jahrzehnten unserer Berufstätigkeit genug kassiert.«

Oma Lotte fasste es in knappe Worte: »Schwarzgeld aus dem Ausland.« Ihre Enkelin kicherte, während sie fortfuhr: »Wir zwei haben da auch, sagen wir mal, Verbindungen. So viel dürfte ich bei meiner Rente gar nicht pro Monat verdienen, wie es einbringt, und ich habe die Gewinne leider vergessen zu erwähnen in meiner Steuererklärung. Vergesslichkeit. Nicht selten in meinem Alter.«

Zunächst herrschte Stille im Wohnzimmer in dem ordentlichen Einfamilienhaus im Xantener Ortsteil Lüttingen, eine Stille, die man greifen konnte, wie das Weinglas, das vor jedem auf einem Kunststoffuntersetzer auf dem gläsernen Couchtisch stand. Die Luft war zum Schneiden, niemand wagte, laut zu atmen, niemand regte sich. Das Gesagte unterdrückte jede Reaktion.

Heinz regte sich als Erster, klopfte auf die Lehnen seines Sessels und räusperte sich. »Nun ist es raus. Von dir, Lotte, hätte ich das nicht erwartet, du bist ja eine Füchsin. Und ich dachte, Thilo sei der Einzige, mit dem man mal um die Ecke rechnen kann.«

Alle Blicke richteten sich auf Thilo, auch die seiner eigenen Frau. »Thilo! Du?«

»Lass gut sein. Du merkst ja, dass ich nicht alleine –«

»Thilo! Deshalb bist du einmal im Monat mit Heinz unterwegs?«

Er schaute sie eindringlich an. »Du brauchst nichts davon zu wissen, du hast dich doch nie dafür interessiert, und jetzt lass es gut sein. Nur so viel: Wir gehen nicht rüber zu Karin. Klar?«

Lotte unterbrach die darauffolgende Stille, zwinkerte verwegen mit dem Äugsken und griff zum Glas. »Ihr seht, keine Polizei, wir müssen das Schwein …«, jetzt kicherte sie mit ihrer Enkelin gemeinsam, zwei liebe, nette Frauen, die ein unanständiges Wort in den Mund genommen hatten, »also, wir müssen das Schwein selbst finden.«

Thilo ergriff das Wort. »Ihr seid ja Schlitzohren. Da ahnt man nix Böses, glaubt, die Menschen zu kennen, mit denen man den Lebensabend im Paradies verbringen will, und dann ergeben sich solche Geständnisse. Lasst uns erst mal weiter beraten, wie wir vorgehen. Ich glaube nämlich nicht, dass der Mann in New York ist. Wenn schon die Düsseldorfer Adresse nicht existiert –«

Grete fiel ihm ins Wort, als sei nichts geschehen, nichts gesagt worden, was im Entferntesten merkwürdig oder gar illegal klang. Die Contenance wahren, das hatte sie schon früh gelernt. »Aber die Frau im Vorzimmer, die mit der dunklen, freundlichen Stimme, die muss doch irgendwo sitzen.«

Heinz stoppte sie. »Denkt einfach mal nach. Telefonieren kannst du überall. Mit einer Handynummer hast du keine Ortsvorwahl, nichts. Oder haben wir eine Festnetznummer von seinem ›Büro‹ in der Landeshauptstadt?«

Hatten sie nicht.

Wut hatten sie, doch noch hielten sie sich zurück mit ihren Gedanken und Verwünschungen. Wut auf sich selbst, dass sie sich so leichtfertig hatten zu Opfern machen lassen. Da braute sich was zusammen unter den unglücklichen Immobilienkäufern.

ZWEI

Sie hätte schwören können, dass sie das Telefon aus der Anschlussbuchse gezogen hatte. Karin Krafft schrak hoch und sah im Geiste, wie sie das lindgrüne Telefon mit der durchsichtigen Wählscheibe von ihrem Nachttisch verbannte. Doch das Monstrum mit seiner unerbittlichen Tonfolge mischte sich weiter in die Träume der Hauptkommissarin, bis sie wach geklingelt war.

Sie tapste mit ausgestreckter Hand nach dem Apparat und merkte, dass etwas nicht stimmen konnte. Das lindgrüne Telefon mit dem knochenartigen Hörer auf der Gabel hatte sie zuletzt im Haushalt ihrer Mutter gesehen, und das lag schon Jahre zurück. Gab es so etwas überhaupt noch außer auf dem Trödelmarkt? Mit halb geschlossenen Augen fingerte sie weiter auf der quadratischen Fläche herum, bis ihre Hand das Display des Dienst-Smartphones ertastete. Und jetzt fiel Karin auch wieder ein, dass sie den altmodischen Klingelton selbst installiert hatte, und sie erinnerte sich vage daran, dass sie andere offerierte Töne wie »Kreissäge«, »Entenquaken«, »Dampflokomotive« und – ach wie lustig – »Furzgeräusche« angehört und kategorisch ausgeschlossen hatte.

Jetzt war sie froh, von den guten alten Standardklängen geweckt worden zu sein. Wobei »froh« eigentlich eine Lüge darstellte. Es war Samstagmorgen um fünf Uhr, die Leiterin des K1, zuständig für Mord und Totschlag, hatte frei und war wild entschlossen, auszuschlafen.

Doch das Ding unter ihrer Hand lärmte unverdrossen weiter, stoppte kurz, was sie erleichtert wahrnahm, um dann in gleicher Intensität mit der Beschallung fortzufahren. Karin Krafft murrte, wer zum Himmel wagte es, sie aus dem Bett zu klingeln, und warum? Auch der Blick zur Fensterecke, die der Vorhang nicht abdeckte, hellte ihre Stimmung kein bisschen auf. Sie sah im Morgengrauen Regentropfen die Scheibe entlangrinnen, hörte es prasseln, das machte diese Morgenstunde so unwirtlich wie einen nassen Novembertag, dabei war es erst September.

So grau wie das Wetter war auch die Nachricht, die die Hauptkommissarin erhielt, sobald sie sich mit einem verdammt kraftlosen »Hier Krafft, was gibt’s?« meldete.

»Guten Morgen, sorry, ich habe mich erst nicht getraut, aber ich muss eine Meldung machen, Chefin.«

Es war Nikolas Burmeester, der mittlerweile einen veritablen Aufstieg im Kommissariat hingelegt hatte, aber in der Weseler Polizeibehörde immer noch als ewiger Assistent seiner Vorgesetzten im K1 gesehen wurde. Das war nicht verkehrt, was seine Rolle betraf, aber unter Wert, was seine Leistungen und seine Intuition bei aufsehenerregenden Mordermittlungen in den letzten Jahren anging. Diese Meinung vertrat auch Karin, die angesichts seiner Eigenmächtigkeiten auch schon mal ein Auge zugedrückt hatte.

Eigenmächtig hatte der junge Kommissar auch jetzt gehandelt, doch das war ihm erstens offenbar egal, und zweitens schätzte er die Wichtigkeit seiner Nachricht hoch ein.

Auf Karins Anraunzer – »Verdammt, warum rufst du mich an einem Samstag so früh an? Bist du komplett von der Rolle? Ich muss entspannen« – antwortete Burmeester mit einem coolen, unbeugsamen »Es ist fünf Uhr. Wenn man keine Anrufe kriegen will, muss man das Smartphone eben ausschalten«.

»Es ist mein freier Tag. Was willst du?«

»Eine Meldung machen, das hier könnte dich interessieren.«

»Sagtest du schon. Raus damit.«

»Wir haben eine Geldautomatensprengung im Weseler Ortsteil Büderich.«

Burmeester legte eine Pause ein, als hätte er die Explosion, die nun folgte, erwartet. Wobei der Begriff Explosion durchaus zu seiner Nachricht passte.

Karin Krafft war außer sich, saß senkrecht im Bett. »Was soll das? Überfälle sind nicht unser Gebiet, gib die Infos an Mütze weiter und schalte den Kollegen Johannes Niewerth ein. Sein Dezernat ist für Raub zuständig.« Sie schrie fast, ihr Ehemann Maarten, an besondere Verhaltensweisen seiner Frau gewöhnt, schaute sie entsetzt von der Seite an.

»An dem Thema war das K1 noch nie dran. Es gibt eine Sonderkommission, Burmester, ich buchstabiere: S-O-N-D-E-R-K-O-M-M-I-S-S-I-O-N, muss ich dir das in aller Herrgottsfrühe erklären? Und jetzt lass mich schlafen!«

»Chefin, ich weiß, bei der letzten Behördenbesprechung war ich ja dabei. Achtundneunzig Sprengungen von Geldautomaten in diesem Jahr in NRW, davon rund zehn Prozent bei uns am unteren Niederrhein, einige Sprengversuche ohne Beute, einige mit fettem Ergebnis.«

»Dann weißt du auch, dass unsere Leute in der Konstellation ermitteln, die ich gerade buchstabiert habe.«

Maarten warf unwirsch seine Bettdecke zurück und stapfte wortlos aus dem Zimmer. Karin sah ihm nach, verwünschte diese unselige Situation.

»Burmeester, dann weißt du auch, dass die Täter in schweren Autos aus den Niederlanden zu den ausgeguckten Bankstellen anrauschen, es macht in kurzer Zeit krach, bum, peng, zu Zeiten, wenn kein Kunde kommt. Dann schnappen sie sich das Geld und sind weg. Keine Opfer, keine Zeugen. Nix für uns. Gott sei Dank. Jetzt kriege ich hier auch noch Eheknies, ich leg auf.«

»Nein, warte.« Burmeester setzte einen fast heiteren Ton auf. »Nur noch eine Info. Dieses Mal gibt es einen Toten bei der Geldautomatensprengung in Büderich am Marktplatz, Ecke Pastor-Bergmann-Straße.«

Sie stand auf und reckte sich. »Das ist was anderes. Bist du vor Ort?«

»Sicher, ich habe Bereitschaft.« Burmeester gähnte ins Telefon. »Eine Stunde vor Dienstschluss stehe ich jetzt hier im Regen, der Einsatz kam eindeutig zu früh. Wir haben die Spurensicherung schon da. Die Jungs von der Organisierten Kriminalität sind auch gekommen, die sind fix, die haben wegen der Raubserie ein Schnelleinsatzteam in Daueralarmbereitschaft.«

»Muss ich kommen? Ich höre den Regen prasseln.« In Karins Stimme lag ein zittriges Frösteln.

Burmeester stutzte ob ihrer unmissverständlichen Erklärung, das wärmende Bett einem nasskalten Tatort vorzuziehen. So etwas hatte er noch nicht erlebt bei seiner Chefin.

»Kann ich alleine managen«, sagte er, »aber ich habe gedacht, dass du vielleicht rauskommen und dir das Schlachtfeld selbst anschauen möchtest.«

Er ließ eine Kunstpause folgen.

»Und die Leiche. Nicht identifizierbar, das Gesicht ist unkenntlich, es sieht aus wie durch die Explosion zerfetzt. Überhaupt, der ganze Körper … ist eigentlich nur noch ein Torso. Das ist was anderes hier, sagen auch die Spezialisten. Hier hat jemand seine ganze Wut ausgelassen, könnte man meinen. Hier wurde ein Mensch zerstört.«

»Bin gleich da.«

Karin Krafft schüttelte sich, es war, als würde sie ihre Schlaftrunkenheit wie einen Gegenstand ablegen. Ins Bad, in die Klamotten, runter in die Küche, wo Maarten ihr eine Tasse Kaffee entgegenhielt. Er knurrte müde. »Jagdfieber?«

»Ja. Und: Danke.«

Sie nahm einen Schluck Milchkaffee, wie sie ihn am Morgen gern mochte, zog sich in Eile Schuhe und Jacke an und ging hinaus in den Regen. Es würde ein grausamer Morgen werden.

DREI

Der Tatort in Büderich war weiträumig abgesperrt. Die Gebäude rings um den Marktplatz reflektieren die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge von Polizei, Feuerwehr und dem RTW, dessen Türen sich bei Karins Ankunft wieder schlossen, hier gab es niemanden zu retten.

Sie stieg nicht sofort aus ihrem Wagen. Die Schäden durch die Wucht der Explosion fesselten ihre Aufmerksamkeit, die Ecke zur Pastor-Bergmann-Straße im Erdgeschoss des Gebäudes war völlig zerstört, ihr fielen Bilder von Gasexplosionen ein, bei denen ganze Häuser zu Schutt zerfallen waren. Hier war mit wesentlich mehr Druck gearbeitet worden als bei anderen Automatensprengungen, da brauchte sie kein fachmännisches Urteil, das konnte jeder erkennen, der jemals einen zerstörten Kassenraum gesehen hatte. Und sie konnte angesichts des Desasters nachvollziehen, dass es Bankhäuser gab, die ihre Kassenautomaten aus bewohnten Gebäuden abzogen, um Zerstörungen an baulichen Gegebenheiten so klein wie möglich kalkulieren und die Gefährdung von Personen ausschließen zu können.

Hier war beides gründlich danebengegangen. Es klaffte ein Loch im Haus, und die Feuerwehr hatte vorsorglich bereits Stützstreben aufgestellt, damit überhaupt in diesem Kassenraum, der eigentlich nur wenige Quadratmeter groß gewesen sein musste, gearbeitet werden konnte.

Karin hatte ihren Wagen auf dem Marktplatz abgestellt, in der Dämmerung und dem prasselnden Landregen erkannte sie Burmeester, der ihr kurz zuwinkte. Ringsum an die Häuserwände gedrückt, standen Menschen, wiesen auf den Tatort, standen kopfschüttelnd und gestikulierend unter Stockschirmen, unterhielten sich. Wo war ihr Regenschutz? Der geschätzt dreihundertste Billigschirm lag nicht hinter ihr auf der Rückbank, jetzt musste sie auch noch schutzlos durch dieses Scheißwetter.

Sie hörte die Einheimischen, die echten Bürksen, prakesieren, verlangsamte ihren Schritt, Regen hin oder her, die Dorfreporter tauschten sich aus.

»Is doch nich normal … soll ja noch einer drin liegen … Wat en Drama, ich war gestern noch Geld holen an dem Automaten, gestern um halb sieben, da war nix … Dat hat aber auch gescheppert, mein lieber Scholli. Gerd, hab ich gesacht, Gerd, da is wat passiert … Hab ich noch im Nachthemd unsere Tochter angerufen und gesacht, dat uns nix passiert is … Mein Gott, in Büderich, dat so wat in Büderich passiert, dat hätt ich mein Lebtag nich gedacht … Gleich neben dem Kindergarten, wat en Glück, dass et noch so früh is … Dat war bestimmt dat fremde Auto, letztens, die haben nur dringesessen und geguckt. Ich sag noch, Hildegard, sag ich, guck mal, die sind doch nich von hier …«

Karin Krafft drehte sich zu den Frauen und blieb stehen. »Ich bin Hauptkommissarin Krafft. Wer von Ihnen hat das fremde Auto beobachtet?«

»Also ich, aber nee, ich weiß da nix. Dat waren bestimmt nur Touristen, die kommen ja neuerdings durch et Dorf.«

»Bleiben Sie bitte hier stehen, ich schicke jemanden vorbei, der Ihre Beobachtung notiert.«

»Dat kommt mir aber gar nich aus, mein Mann wartet zu Hause auf die Brötchen.«

Da half nur Autorität. »Sie bleiben hier und basta!«

Die Frau nickte stumm, Karin hörte das Getuschel der anderen, als sie weiterging.

»Da guck ma, dat is eine Hauptkommissarin. Bestimmt aus Wesel, oder?«

Burmeester strebte ihr entgegen, hielt einen Schutzhelm in der Hand, Karin Krafft wies auf die Frau unter dem grün gemusterten Knirps. »Das ist eine Zeugin, du notierst bitte gleich, was sie im Vorfeld beobachtet hat.«

»Mach ich. Der Tote liegt noch unter den Trümmern. Hier, das musst du aufsetzen, um ins Gebäude zu gehen. Die Feuerwehr wollte ihn so schnell wie möglich bergen. Aber weil der Statiker noch nicht da ist, um die Einsturzgefährdung zu beurteilen, habe ich sie hingehalten, bis du kommst. Wir sollten uns beeilen.«

Beide bahnten sich den Weg an den Fahrzeugen vorbei, unter Trassierband hindurch, das er ihr galant hochhielt, und schon knirschten Glassplitter und Schutt regennass verhalten unter ihren Füßen, in dem Bereich, den das Tatortzelt nicht überdachte. Dort, wo es noch trocken war, wurde jeder Schritt laut und wirbelte Staubwölkchen auf.

Karin erfasste die Lage. »Was war das hier? Nutzen die jetzt TNT oder Nitroglyzerin statt Gas?«