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Spannend, humorvoll, warmherzig und mit viel Gefühl für Land und Leute. Im malerischen Krudenburg an der Lippe wird ein Mann ermordet in seinem Pool aufgefunden. Für die Dorfbewohner ist der Fall klar: Der Täter muss aus der benachbarten Großfamilie kommen, die wegen ihres eigenwilligen Lebensstils schräg angeschaut wird. Das ist Hauptkommissarin Karin Krafft vom Weseler K1 jedoch zu simpel, sie schickt ihr Team durch die ordentliche Nachbarschaft. Je intensiver die Kripo hinschaut, desto mehr Abgründe tun sich auf.
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Seitenzahl: 434
Veröffentlichungsjahr: 2025
Thomas Hesse, Jahrgang 1953, lebt in Wesel, ist gelernter Germanist, Kommunikationswissenschaftler und Journalist. Er war bis Ende 2014 in leitender Position bei der »Rheinischen Post« am Niederrhein tätig. Heute ist er freier Autor, Journalist und Publizist. Bekannt wurde er unter anderem durch Niederrhein-Krimis zusammen mit Thomas Niermann und Renate Wirth.
Renate Wirth, Jahrgang 1957, ist Gestalttherapeutin, Künstlerin und Autorin. Sie war bis 2020 im soziotherapeutischen Bereich tätig. Mit Thomas Hesse bildet sie das einzige rheinüberspannende Autorenduo.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
www.emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Shutterstock/Daria Bystritskaia
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-249-9
Niederrhein Krimi
Originalausgabe
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Die Lüge reitet,die Wahrheit schreitet,kommt aber doch zur rechten Zeit an.
Sprichwort
Es geschah völlig unerwartet. Ein tödlicher Schuss, so sollte es sein, exakt abgefeuert. Das Neun-Millimeter-Projektil traf den Schädel des Mannes eine Handbreit über dem sorgfältig ausrasierten Nacken. Dem Opfer blieb nicht die geringste Chance.
Sie hatten in seinem Wohnzimmer gesessen, vertieft in geselliges Geplänkel, bei einem Glas Wein, dem teuren Roten, einer limitierten Abfüllung von 2015 von einem kleinen Weingut in der Nähe von Meran. Der Gastgeber hatte ihn gewählt, um Atmosphäre zu schaffen, dem Gespräch eine entspannte Note zu verleihen, schließlich ging es um die Zukunft. Man scherzte miteinander, berichtete über die besten Urlaubsdomizile in Fernost. Ein wenig prahlerisch wurden vom Hausherrn die neuesten Kunstwerke präsentiert, eine Statue von Balkenhol und ein kleiner Gerhard Richter, die er auf Auktionen ersteigert hatte.
Beim Einschenken des zweiten Glases sprach der stolze Gastgeber über die Fortschritte des neuesten Gartenprojekts. Ein Swimmingpool für die Zwanzig-Meter-Bahnen in der Frühe war fertiggestellt, aber noch nicht befüllt. Das sollte erst geschehen, wenn die Mauer am Ende des Grundstücks, hinter dem Pool, fertig war und niemand ihn und seine Gäste heimlich aus dem angrenzenden Wäldchen beobachten konnte. Die ganze Szene erinnerte an eine Werbung aus dem letzten Jahrhundert: Mein Haus, mein Wein, mein Pool. Es fehlten Auto, Frau und Pferd.
Er stand auf, durchquerte das weitläufige Wohnzimmer, öffnete die Terrassentür und ging hinaus, dem Besuch signalisierend, ihm zu folgen. »Natursteinfliesen, exakt verlegt, auch barfüßig begehbar.« Er trat bis an den Rand des Pools.
Sein Besuch dachte nicht daran, ihm zu folgen, witterte die Gelegenheit, zu erfüllen, weshalb er hier war. Neben dem Sofa stand griffbereit der Rucksack, dessen harmlose Optik technischen Inhalt wie Laptop und Ladekabel vermuten ließ, jedoch eine andere Art Arbeitsmaterial offenbarte. Der Waffe in der Linken wurde, verdeckt durch den hölzernen Wohnzimmertisch, mit einer schnellen, routinierten Drehung ein Schalldämpfer vor das Mündungsrohr geschraubt. Dies geschah blind, die Augen ruhten ohne Unterbrechung auf dem ausgemachten Opfer, welches selbstherrlich einen Monolog über Planung und Bau des Pools hielt.
Die Mündung des Schalldämpfers zielte vom Sofa aus auf den Mann, der mit ausgebreiteten Armen auf den Fliesen stand und weiterhin über seine geniale Idee des schmalen Pools referierte. Er blickte statt zu seinem Gast in die Tiefe.
Ein dumpfer Knall, kaum lauter als ein Sektkorken.
Ein perfekt gesetzter Schuss, dem Opfer blieb kein letztes Wort, keine Drehung mit einem überraschten Blick in sein Wohnzimmer. So, wie es dagestanden hatte, mit geöffneten Armen stolz sein Werk betrachtend, fiel es durch die Wucht der in sein Gehirn eingedrungenen Kugel vornüber, ähnlich einem gefällten Baum. Der Körper stieß mit einem unschönen Geräusch auf den Grund, der wadentief mit Regenwasser, Blattwerk, durchzogen von einzelnen grünen Algenfäden, gefüllt war. In der Dunkelheit war nicht erkennbar, wie sich dieses brackige Wasser um den Kopf herum und den Körper entlang rot färbte.
Der Besuch zog leise die Tür hinter sich zu, erschrak einen Moment über das Licht, das von einem Bewegungsmelder ausgelöst wurde, schlug den Jackenkragen hoch und lief seelenruhig Richtung Ortsmitte.
In der Ferne ertönte der Ruf eines Käuzchens, bei dem der alte Niederrheiner sagt, es verkünde den Tod.
***
Nikolas Burmeester reichte sein Smartphone in die Runde. Nach der Ankunft traf man sich morgens meist spontan zur Zubereitung eines Heißgetränks in der kleinen Stehküche des Kommissariats 1 in Wesel, und der Jüngste des Teams war weit über den Flur zu hören. Er berichtete voller Begeisterung von den Erlebnissen seines freien Wochenendes. Hauptkommissarin Karin Krafft freute sich, ihn so gelöst zu erleben. Wie Tom Weber und Jerry Patalon hatte er hart gearbeitet in den letzten Monaten, immer wieder zusätzliche Dienste übernommen. Alle waren froh darüber, dass Alice Karun vom LKA in Düsseldorf zu ihrem Team wechseln konnte, ihre Ankunft wurde sehnlichst erwartet. Bei einem gemeinsamen Einsatz hatte es zwischen ihr und Tom so mächtig gefunkt, dass sie entschieden hatte, Wesel zu ihrem neuen Wohnsitz zu machen.
Der Kollege Gero von Aha war noch nicht in den Dienst zurückgekehrt, befand sich nach mehreren OPs und zunächst trotzig abgelehnten Reha-Verschreibungen kleinlaut und einsichtig in einer Maßnahme fern des Niederrheins. Die Entfernung einer tiefen Narbe im Gesicht stand noch aus, dafür würde er in seine frühere Heimat Göttingen reisen. Zwei Schläger hatten ihn vor Monaten lebensgefährlich verletzt in einem alten Haus zurückgelassen, das sich im Rückbau befand. Mit viel Glück wurde er entdeckt, bevor die Abrissbirne ihre Arbeit verrichten konnte. So war das K1 seit dem letzten großen Fall um zwei Tötungsdelikte in Dinslaken im Zusammenhang mit einer verbrannten Leiche in Duisburg zu viert tätig im Kommissariat für Mord und Totschlag der Kreispolizeibehörde.
Burmeester wirkte an diesem Montagmorgen erholt, seine Blässe war einer leichten Sonnentönung gewichen. Seine Frau Yasmin hatte vorgeschlagen, wenn sie schon täglich von ihrem Wohnzimmerfenster auf die sanft dahinfließende Lippe schauten, sollten sie mal erkunden, wohin ihr Lauf durch die niederrheinische Landschaft führe. Er, der passionierte Radler, hatte sich über die Idee seiner Gattin riesig gefreut, sie waren nicht häufig gemeinsam »met de fiets« unterwegs.
So waren sie mit leichtem Gepäck bei strahlendem Wetter in das malerische Dörfchen Krudenburg gelangt, direkt am Wasser gelegen. Mit seinen kleinen Gassen, den pittoresken Häuschen, dem Dorfanger mit Wäscheleinen für die Allgemeinheit und der Anlegestelle für Kanufahrer ein himmlisches Ziel für radelnde und paddelnde Naturliebhaber.
Für Yasmin bot das Örtchen eine willkommene Pause, da sie deutlich spürte, dass sie lange nicht mehr so viele Kilometer auf einem Fahrradsattel verbracht hatte. Burmeesters Schilderungen dieser ausgiebigen Rast gewannen an Lebhaftigkeit.
»Und dann tauchte dieses Kind mit einem Untier von Hund auf, grau meliert, struppig, richtig borstiges Fell, Junge und Viech gleich groß. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was mir da durch den Kopf ging. Yasmin war entsetzt. Wie die Eltern das erlauben könnten, ob man das Jugendamt informieren solle, unverantwortlich.«
Burmeester zeigte Fotos. »›Warte‹, sagte ich, ›das wirkt doch sehr harmonisch.‹ Die Leine hing locker zwischen dem Jungen und dem Tier mit seinen handtellergroßen Pfoten, und der Junge schlenderte lächelnd an den Touristen vorbei, manche, wie wir, starr vor Erstaunen, andere schon fast panisch. Sie bildeten eine Gasse aus Respekt vor der Größe des hechelnden Tiers.«
Tom reichte das Smartphone kopfschüttelnd an Jerry weiter. »Und dann hast du ihn fotografiert wie eine Sensation im Zoo?«
Burmeester gab sich unschuldig. »Du, als er merkte, dass Yasmin ihn mit ihrem Zauberlächeln und Glupschaugen der Sorte Oh-wie-niedlich anstarrte, hat der Junge selber angeboten, sich ablichten zu lassen. Der Hund sei sein Freund, Cosmo, ein Irischer Wolfshund, er selber sei Liam. Und dann bot er an, sich mit seinem Kumpel in Pose zu stellen, für einen Euro pro Bild.«
Jerry wischte auf dem Display durch die Fotos. »Da hat er bei euch fünf Euro verdient, dieser geschäftstüchtige Knirps.«
»Du kennst doch Yasmin, sie hat bereitwillig ihr Portemonnaie geöffnet, und Liam hat sich die Fotos zeigen lassen, bevor er sein Honorar ausgerechnet hat. Das sind irre Bilder, oder? Das ist ein Motiv, da lecken sich Profis die Finger nach.«
Karin Krafft nahm Jerry das Telefon aus der Hand und lächelte beim Durchblättern. »Der Hund ist ja fast doppelt so groß, wie unser Woodstock war. Diese Bilder dürfen Maarten und Hannah nicht sehen, ich höre schon ihre säuselnden Kommentare, um mich von einem neuen Haustier zu überzeugen. Der alte Woody hat nach seinem Ableben eine Lücke bei uns hinterlassen. Echt fotogen, die beiden. Wie sagtest du? Cosmo und Liam, herrlich.«
Burmeester fuhr mit seinem Bericht fort. »Er erzählte, dass er im ersten Schuljahr und, ja, der Kleinste in seiner Klasse sei, aber niemand würde ihn mehr schief anschauen oder blöde Witze machen, seit Cosmo sein Freund sei. Auch die Mama stünde stets auf seiner Seite. Er sagte wortwörtlich, er unterstütze seine Mama Jess mit dem Geld, das er beim Shooting verdiene. Cosmo fresse wie ein Scheunendrescher, sagte seine Mama, und sei froh, dass Liam so fleißig sei. Ey, ›Shooting‹ hat der Knirps tatsächlich gesagt, ich dachte, ich höre schlecht. Sie leben wohl in Krudenburg, und ihr könnt euch vorstellen, wie viele Leute an Tagen mit gutem Wetter dort ein Foto von dem Duo machen.«
Mit einem lauten Lacher reichte Karin ihm das Smartphone zurück. »Du willst aber nicht, dass dieses Foto hier die Runde macht …«
»Oh, nee, danke.« Schluss mit der privaten Bilderschau, Karin hatte ein Foto zu weit zurückgewischt, ein Bild geöffnet, auf dem er zu sehen war, hilflos und nackt mit Handschellen an die Pfosten eines Bettes gefesselt, den hochroten Kopf angestrengt erhoben und mit einem Blick zwischen Bittsteller und Wüterich in die Kamera schauend. Burmeester, in der Kreispolizeibehörde mit neuestem Spitznamen »der Entfesselungskünstler« genannt, fühlte sich ertappt. »Äh, das war ein Experiment, das Yasmin unbedingt fotografieren wollte.«
Karin brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Halt, keine Details, pass nur auf, falls du vorhast, die Fotos weiter herumzureichen.«
Die anderen wurden hellhörig, Burmeester lenkte die Aufmerksamkeit zurück auf seine Erlebnisse in Krudenburg, bevor Karin anordnete, dass sich jetzt jeder seinen Akten und unfertigen Protokollen widmen sollte.
Zu diesem Zeitpunkt konnte sie noch nicht ahnen, dass der nächste Fall sie exakt in dieses verträumte Dorf an der Lippe führen sollte.
***
Aus dem gekippten Seitenfenster des alten Wohnwagens, der von grünlicher Patina überzogen unter dem Walnussbaum stand, quoll dichter Rauch. Jess Coster beobachtete dies mit hochgezogenen Augenbrauen und schüttelte den Kopf, widmete sich aber wieder ihrer Kaffeetasse. Sie saß leicht fröstelnd auf der Bank neben der Eingangstür der alten Kate, in der sie schon lange wohnte.
»Ein Traum«, hatte ihr Mann damals gesagt, »ein altes Haus auf einem großen Grundstück, und hinter dem Garten fließt die kleine idyllische Lippe. Wir kriegen das für ’n Appel und ’n Ei.«
Das Geld hatten die Eltern von Jess ihrer einzigen Tochter in Aussicht gestellt für den Fall, dass sie eine Bleibe finden würden, die Platz für eine Familie samt Großeltern bot. Jess hatte sich sofort in das zweihundert Jahre alte Haus verliebt, und ihr Maik hatte es mit den Augen eines Handwerkers begutachtet, hier und da an die Wände oder die Türzargen geklopft und genickt, immer wieder den Daumen gereckt. »Da ist viel Arbeit nötig, aber das schaffen wir. Und schau dir diesen Garten an! Schließe die Augen und stell dir die Beete mit Gemüse und Blumen vor, die wir anlegen können.«
Manche ihrer Träume waren mit der Zeit wahr geworden. Das Leben gemeinsam mit ihren Eltern Leni und Fritz Fürtjes gestaltete sich harmonisch, sie und Maik hatten drei Kinder zustande gebracht. Ava, die Älteste, wurde im nächsten Monat volljährig. Die beiden Jungen – Patrick, zwölf, Liam, sechs Jahre alt –brauchten abwechselnd einen verständnisvollen Vater und die ordnende, organisierende Hand einer Mutter mit dem Geschick, sie immer wieder aus dem Mist herauszuholen, den sie gerade frisch fabriziert hatten.
Das Haus durfte man sich nicht genauer anschauen, es wies einige Schwachstellen auf, deren Behebung viel Zeit und Geld kostete. Beides war stets knapp, so blieb es bei Improvisationen, Abdeckplanen, und auf dem kleinen Dachboden standen die Eimer unter den Löchern. Schwierig war, sie bei den Starkregenfällen rechtzeitig zu leeren. Tagsüber lief das perfekt, wenn es nachts regnete und Jess nicht rechtzeitig aufwachte, dann konnte es geschehen, dass es einem der Kinder ins Bett tropfte.
Es war schon passiert, dass der Jüngste, Liam, in der Schule freimütig erzählt hatte, dass es in sein Bett regnete, worauf die Klassenlehrerin Rübsam-Schneider zu einem Hausbesuch erschienen war. Sie betrachtete zufrieden Matratze und Bettzeug, die zum Trocknen über der Leine hingen. Man müsse heutzutage jedem Hinweis nachgehen, der auf beginnende Verwahrlosung schließen lasse, hatte die junge, engagierte Frau vor ein paar Wochen gesagt, worauf Maik seine Jess festhalten musste und ahnte, dass sie der vorbildlichen Pädagogin an die Kehle springen würde, wenn ein weiterer kritisch anmutender Satz deren perfekt geschminkte Lippen verlassen sollte.
Er hatte erfolglos versucht, die Frau fortzukomplimentieren. Es tue ihm leid, sie müssten da noch was tun, der Euro finde den Weg in ihr Haus nie aus freien Stücken. Aufmerksam sei sie, Gott sei Dank, und ja, es sei alles in Ordnung. Wenn sie einen Dachdecker kennen würde, der für kleines Geld das Loch reparieren könnte, dann … Die Lehrerin war erstaunlich hartnäckig, blieb sitzen, als wolle sie den Anwesenden zeigen, wer dieses Gespräch beenden würde.
In der ganzen Zeit pickte die Hühnerschar rund um die Füße des Besuchs und suchte nach Körnern, die Jess geschickt und heimlich unter den Tisch geschüttet hatte. Sie wusste genau, dass die gackernden Hennen und die beiden Hähne durchaus auch mal versehentlich auf einen Fuß pickten. Maik hätte am liebsten bei jedem kleinen Zucken von Frau Rübsam-Schneider losgeprustet, die tapfer noch weitere fünf Minuten durchhielt, bevor sie sich überstürzt verabschiedete.
Liam hatte das erste Schuljahr gut gemeistert, bald gab es Zeugnisse. Während seiner kurzen Laufbahn als Erstklässler hatte die eifrige Klassenlehrerin eine Menge zu monieren, oft gab es Nachrichten im Schulheft mit der Bitte, zur Sprechstunde zu kommen. Nach der Erfahrung mit den pickenden Hühnern hatte sie sich nie wieder in die Nähe des Hauses getraut.
Bei dieser Erinnerung lächelnd, schaute Jess auf, ließ den Blick über das wild bewucherte Gelände mit der ausladenden Hecke schweifen, ihr eigenes grünes Reich. Okay, der Traum von der eigenen Versorgung aus dem Bauerngarten würde vielleicht nie verwirklicht werden, aber das war egal.
Fast zwanzig Jahre waren vergangen, und bis auf neue Elektroleitungen, Farbe an den Wänden und auf den morschen Fensterrahmen war nicht viel passiert, um die marode Substanz des Hauses aufzuwerten. Dafür hatte der Gatte aus abgestaubtem Material immer wieder Unterkünfte für die diversen Tiere gebaut, die er angeschafft hatte, um seine Kinder und Schwiegereltern, die im hinteren Teil des Hauses wohnten, zu erfreuen.
Das Pony Murphy hatte Ava exakt eine Woche lang interessiert, und als sie feststellte, dass der Unterstand zu entmisten war, verbunden mit Gestank und körperlicher Arbeit, interessierte sie sich schlagartig für das Skateboardfahren und war kaum noch daheim. Der Yorkshire Terrier Luna gehörte ihren Eltern, ein ungezogener kleiner Hund, zu dick, zu frech, der es nicht lassen konnte, Menschen, die das Grundstück betraten, und zwar bevorzugt Männern, in die Waden zu zwacken. Die Gänse Grace und Shawn hatte Patrick angeschleppt, als Küken, so süß. Als sie erwachsen waren, entwickelte sich Shawn zum aufmerksam wachenden Ganter, der sich lauthals flatternd und mit dem Schnabel hackend dem Besuch in den Weg stellte, den Luna durchgewinkt hatte. Er war zum Erntedank in der Kasserolle gelandet.
Selbst um Grace kümmerte sich Patrick nicht mehr, die ganze Arbeit blieb an Jess hängen. Nur die Hühner und der Hahn Jeronimo wurden penibel und liebevoll von ihren Eltern behütet und versorgt, die gern die täglichen Gelege mit der Familie teilten.
Die Tür des Wohnwagens, der rechter Hand zwischen Haus und wilder Hecke stand, öffnete sich. Maik, umwabert von einer zarten Rauchwolke, trat lächelnd ins Freie, erblickte grinsend seine Frau. »Jess, mein Schatz, wir haben die neue Ernte getestet. Boah, wunderbar, sage ich dir, ein tolles Kraut in diesem Jahr. Die Stecklinge, die Didi mitgebracht hat, sind eine Wucht.«
Didi, dem Maik vor Kurzem erst begegnet war, lebte mit einer seiner recht schnell wechselnden Freundinnen seit einem Monat in dem Wohnwagen, den durch die Fenster geleitete Kabel aus dem Haus mit Strom versorgten. Als Dusche gab es Wasser aus einer Regentonne, und in Richtung Lippe, am hintersten Ende des Grundstücks, befand sich im Schilf ein Donnerbalken, worüber sich die Nachbarn an heißen Sommertagen in jedem Jahr aufs Neue aufregten.
»Alles Natur, die Viecher machen schließlich auch Dreck, und diese Stelle ist weit genug von euch entfernt«, erklärte Maik dann. »Meint ihr etwa, es macht Spaß, an jedem wolkenlosen Tag eure Grillschwaden von toten Tieren einzuatmen?«
Didi kam mit einer Rolle Klopapier aus dem Gebüsch und salutierte in Richtung Jess, bevor er, sich den Bauch kratzend, wieder in dem alten Dethleffs verschwand. Als Gegenleistung für die Unterkunft machte er den Handlanger für Maik, der immer wieder meist kleine Aufträge aus der Nachbarschaft erhielt. Hier war ein Zaun zu streichen, da eine Dachrinne zu reinigen, er mähte den Rasen, brachte die Mülltonnen zur Straße und schob sie an die Einfahrten der Häuser zurück. Die Müllwagencrew war dankbar für seine Hilfe, weil sie sonst die schmale Sackgasse in einem waghalsigen Manöver rückwärts einfahren mussten, was Zeit und Energie kostete.
Der letzte Schluck Kaffee kühlte in dem Becher, als Ava aus dem Haus kam und sich mit einem laxen »Tschö mit ö« von ihrer Mutter verabschiedete.
»Wirst du zum Abendessen da sein?«
»Keine Zeit, bin beschäftigt. Lernen für die letzten Tests in der Berufsschule, ich bleibe in Wesel bei Tessi.«
»Welche Tessi?«
»Kennst du nicht, eine aus dem Kurs.«
»Letzte Woche war es noch Fanny. Und davor Lina. Und bei Tonja warst du zum Frisurentesten, bei Luise hast du das Haar gefärbt, bei –«
»Ey, was wird das hier, kontrollierst du mich?«
Jess antwortete betont entsetzt: »Ach was, ich doch nicht. Mir fiel nur schlagartig ein, dass ich auch immer andere Freundinnen erfunden habe, als ich ohne die blöden Kommentare meiner Eltern meinen ersten Freund treffen wollte. Weißt du, damals war ich so jung wie du. Sag doch einfach, wie er heißt, das ist auf Dauer einfacher, glaube mir.«
Ava blickte sie entgeistert und mit einem leichten Kopfschütteln an, versenkte die In-Ear-Kopfhörer in ihren Gehörgängen und machte sich auf den Weg in Richtung Bushaltestelle.
Maik hatte die Szene aus nächster Nähe belauscht, kam lachend auf Jess zu und ließ sich neben ihr auf die Bank plumpsen. »Das hast du gemacht? Ich dachte, Leni und Fritz wären bei der Erziehung ihrer Tochter so vorbildlich liberal gewesen.«
Er griff nach dem Becher, nahm den letzten Schluck und spuckte ihn im weiten Bogen aus. Maik hasste kalten Kaffee.
Jess grinste. »Die Warmhaltekanne steht drinnen auf dem Tisch, hol dir einen Becher. Und nein, ich brauchte mir nichts auszudenken, ich konnte meinen Eltern erzählen, mit wem ich unterwegs war. Ich wollte Ava nur eine Brücke bauen. Guck dir an, wie sie rumläuft, da gibt es garantiert jemanden, den sie beeindrucken will. Die ist zu krass geschminkt und trägt manchmal Klamotten, die für unsere Verhältnisse ein Vermögen kosten. ›Alles vom Trinkgeld‹, sagt sie dann.«
Sie schaute Maik mit ernster Miene an und tippte sich an die Stirn. »Meinst du wirklich, dass eine auszubildende Friseurin, die in einem kleinen Salon in Drevenack arbeitet, so viel Trinkgeld zugesteckt bekommt? Da ist ein Kerl am Start, glaub mir.«
Jess schaute auf die Uhr, Patrick war schon aus dem Haus, der Schulbus nach Wesel fuhr früh, fehlte noch einer auf dem Weg in den Tag. »Liam! Beeil dich, vergiss deine Brotdose und die Wasserflasche nicht, sonst muss ich dich wieder aus der Schule abholen!«
Einem Ritual gleich geschah, was seit einem Monat morgens üblich war. Zunächst erschien Liam im Türrahmen, perfekt nach seinem Stil angezogen: Jeans, Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, eine altmodische Weste, auf dem Kopf ein umgedrehtes Käppi, den Schulranzen aufgesetzt, grinsend schnippte er einmal mit Zeigefinger und Daumen. Sekundenschnell füllte sich der Platz neben ihm mit dem größten Vierbeiner, der im Haus schlafen durfte. Cosmo, der Wolfshund, schleckte dem gleich großen Jungen langsam, fast schon zärtlich, quer durch das Gesicht.
Jess wusste, was jetzt kam, und reagierte, bevor ihr Jüngster etwas sagen konnte. »Zum x-ten Male, Liam, Cosmo kann nicht mitkommen zur Schule, deine Lehrerin mag das nicht, und ich gebe Frau Rübsam-Schneider recht, denn manche Kinder haben Angst, wenn sie einen so großen Hund sehen.«
Liam holte tief Luft und öffnete den Mund zu einer Entgegnung, Jess war schneller.
»Nein, nein und nein, der Hund bleibt hier, und du machst dich auf den Weg. Helen und Sina sind schon vor fünf Minuten hier vorbeigegangen.«
Nach einer Umarmung und einem tiefen Blick in die braunen Hundeaugen lief er mit hängendem Kopf zum Törchen. »Du bist so gemein!«
»Ich weiß, ich wünsche dir einen feinen Vormittag, mein Süßer.«
Maik hatte genau gesehen, dass der kleine Schlauberger vergessen hatte, das Tor wieder zu schließen, auch das geschah fünfmal in der Woche, daher war es wichtig, ihn zu beobachten, wenn er das Gelände verließ. »Dieser kleine Gauner glaubt allen Ernstes, dass wir nicht merken, wenn er den Durchschlupf für Cosmo vorbereitet.«
Jess sah dem Riesentier in die Augen, das sich neben die Bank gesetzt hatte und mit einem Dackelblick versuchte, ihr Herz zu erweichen. Sie stand auf und zeigte auf den struppigen Vierbeiner von der Größe einer Ikea-Kommode. »Wie konntest du den anschleppen! Der steht und liegt im Weg und frisst uns arm.«
Maik legte ihr einen Arm um die Schultern. »Komm, sieh es positiv. Der Junge wird in der Schule nicht mehr gemobbt, weil er nicht angezogen ist wie alle anderen, sondern man bewundert ihn, weil er einen imposanten Freund hat. Und er füllt auf eigenes Betreiben hin mit seiner Fotoaktion die Futterkasse und bringt Cosmo immer neue Kunststücke bei. Pfötchen geben, Stöckchen holen, jetzt übt er mit ihm ›Peng, du bist tot‹. Also ich finde, die haben sich auf rührende Art gefunden, das sind echt dicke Freunde. Liam ist Cosmos Boss.«
Er schaute auf das schafsgroße Tier, das mit gesenktem Kopf neben der Bank stand. »Wenn wir nicht aufpassen, dann hört er eines Tages nur noch auf den Kleenen.«
Jess wand sich aus der Umarmung und schaute Maik tief in die Augen, während Grace schnatternd auf beide zulief und Cosmo erst seine Ohren, dann sich selber aufstellte und die Gans angesichts seiner Imposanz den Schnabel hielt. »Ich muss los, du weißt, dass Bert meine Arbeitszeit manchmal auf die Minute genau kontrolliert. So wirkt es jedenfalls, wenn er mehrmals auf eine seiner wuchtigen Armbanduhren schaut. Mein Geld liegt bestimmt schon auf dem großen Tisch, da ist er einfach tausendfach gewissenhaft. Ich muss rundherum putzen, bevor es mir gehört.«
Maik drückte ihr einen Kuss auf den Mund. »Sag ihm, ich komme gegen Mittag mit Didi, dann geht es zügig weiter mit seiner Mauer.«
Cosmo brauchte drei Aufforderungen, um Maik ins Haus zu folgen. Er tätschelte den Hund, der widerwillig neben ihm hertrottete. »Du hast dir deinen Boss auserkoren. Es ist ja vielleicht ganz angenehm, mit einem Leittier auf Augenhöhe zu sein.«
Jess Coster verließ das Haus in Richtung Sackgasse, dort standen all die neuen Häuser, von den Zugezogenen, wie man hier sagte. Ein Haus war schicker als das andere. Während der Bauphase war sie mit Maik immer wieder zu den Rohbauten gelaufen, sie hatten sich vorgestellt, wie es sei, in solch einem Palast zu leben, statt in ihrer baufälligen Kate. Im Endeffekt gehörten die Häuser und die Menschen, die sie bewohnten, zusammen, und keiner dieser protzigen Bauten hätte zu ihnen gepasst.
Gerade starteten die Mertens, Petra und Heinz, zur Arbeit nach Wesel. Maik nannte sie die Sesselfurzer, weil sie bei der Stadt angestellt waren. Man grüßte sich distanziert mit einem angedeuteten Nicken. Gegenüber, in einem der ersten fertiggestellten Neubauten, wohnten Peggy und Gerald Kleinschulte. Man sah die Frau nur selten, aber man hörte ihre schrille, stets meckernde Stimme. Wie so oft warf sie auch an diesem Morgen ihrem Gatten verletzende Grobheiten an den Kopf. Furchtbar, dachte Jess, während sie das Grundstück passierte, wie der das nur aushält.
Gerald Kleinschulte wurde für alle nur dann sichtbar, wenn er etwas durch die Gegend transportierte. Päckchen zur Post, Getränkekästen in den Kofferraum oder zurück ins Haus, ein stummer Diener seiner keifenden Gattin. Die Dörfler nannten ihn den »Sherpa von Krudenburg«.
Dort, wo die Tibetfähnchen munter im Vorgarten flatterten, wohnten Jutta und Astrid Weihers, zwei Lehrerinnen mit ihren Töchtern Helen und Sina. Sie sprachen offen über ihre künstlichen Befruchtungen und die Schwangerschaften, die ihnen den ersehnten Nachwuchs gebracht hatten. Jutta wurde von den Mädels Mutti genannt, Astrid war die Mama. Sie umschwirrte die Kinder wie ein Helikopter, versuchte, alle Gefahren von ihnen abzuhalten. So durften die zwei nur zu Liam, um mit ihm zu spielen, wenn Jutta es ausnahmsweise erlaubte. Die vielen Tiere und, o Gott, jetzt der riesige Hund, das ging in Astrids Augen gar nicht, alles viel zu gefährlich. Dafür genoss Liam manchmal die Vorzüge von überbordender Mütterlichkeit, wenn er zu den Mädels ging, hielt es jedoch nie lange dort aus. Immerhin grüßten sie freundlich, und man konnte sich über den Zaun hinweg über das Wichtigste austauschen.
Ebenso, fast schon hysterisch, verhielt sich Jennifer Tackenberg, die junge Frau, deren Tätowierungen auf dem Körper sich durch ihre Schwangerschaft gerade in einem Dehnungstest befanden. Lauthals verkündete sie, man solle den Kontakt zu den irren Iren und dem ganzen Viehzeug meiden, die würden nur Krankheiten übertragen. Als Grace ausgebüxt war und schnatternd mit ausgeweiteten Flügeln die Straße entlanglief, hatte ihr Ricardo plötzlich mit einer Pistole schützend vor seiner Frau gestanden, und wäre es Maik nicht gelungen, die Gans rechtzeitig einzufangen, hätte dieser hirnlose Muskelprotz den Vogel auf offener Straße mitten in einem Wohngebiet erschossen. Seitdem ging Familie Coster diesem Paar aus dem Weg. Die Tackenbergs verließen selten das Haus, ließen sich mit allem Möglichen beliefern und arbeiteten seit Corona im Homeoffice. Ricardo musste zweimal in der Woche zu seiner Firma in Geldern, man sah ihn dann aus dem Haus schleichen, seinen Tesla auf die Straße rollen und abends flott wieder die Tür hinter sich schließen.
An ordentlichen Vorgärten vorbei, wo es mehr Stein als Leben gab, steuerte Jess das Haus von Bert Tankfort an, das neben diesen verhuschten Tackenbergs und den glücklichen Wertheims lag. Letzteren gehörte eine kleine Kette mit Outdoorprodukten, und sie benahmen sich stets, als könnten ihnen neue Kunden begegnen, die es zu gewinnen galt. Ihre Begrüßungen und ihr Lächeln wirkten aufgesetzt, sie stellten sich als eine mustergültige Familie in Szene, ähnliche Kleidung und Haarschnitte, sportliches Schuhwerk. Ihr Sohn Finn Maximilian war im gleichen Alter wie Ava. Er wirkte immer wie ein Model aus einem Jugendmagazin, ein strebsamer Gymnasiast, der sich das perfekte Outfit und geschäftsmäßige Lächeln bereits von seinen Eltern abgeschaut hatte.
Bert Tankfort war anders. Alleinstehend, eine Art Lebemann, von dem niemand so genau wusste, womit er eigentlich sein Geld verdiente. Jess interessierte das nicht, für sie war er ein zuverlässiger Arbeitgeber, der immer pünktlich und gut zahlte. Sie putzte regelmäßig bei ihm, und manchmal übernahm sie den Service, wenn er Gäste hatte, eine Party feierte, auf der auch echte Promis erschienen. Jedenfalls hatte Jess schon den einen oder anderen Sänger, Politiker, auch bekannten Maler bei ihm aus der Nähe gesehen.
Sie traute sich nicht, nach Autogrammen zu fragen, machte aus der Hüfte heraus Fotos mit ihrem Smartphone, die verwackelte, kryptische Details zeigten, welche sie stolz präsentierte: »Wisst ihr, wen ich gestern ganz aus der Nähe gesehen habe? Ihr werdet es nicht glauben!«
Dann nannte sie einen Namen und zeigte die Rückenansicht oder einen verwackelten Arm mit einem Glas in der Hand.
»Is wieder mal Promialarm«, war Maiks regelmäßiger Kommentar.
Jedenfalls profitierte ihre ganze Familie von Bert, und Jess war darauf bedacht, diesen Job nicht zu verlieren. Und jetzt sollte niemand mehr Einblick in Berts Garten haben. Er freute sich darauf, nackt seine Bahnen zu ziehen. Jess musste Maik nicht zu dem Auftrag, eine Mauer um den Bereich mit dem neuen Pool zu bauen, überreden.
Berts Geheimnisse, zum Beispiel wie er sein Geld verdiente, das er gern wieder unter die Leute brachte, gingen Jess nichts an. Wenn die Tür zu seinem Arbeitszimmer geschlossen war, wünschte er nicht gestört zu werden. Oberstes Gebot! Niemals auch nur klopfen, keine Geräusche in Türnähe. Ansonsten konnte sie sich die anfallenden Arbeiten im eigenen Rhythmus vornehmen und fand stets auf dem meterlangen Esstisch das Geld für die letzten Stunden.
»Eine richtige Spießersiedlung ist das geworden«, hatte Maik eines Abends mit Blick auf die bezogenen Neubauten resümiert und einen großen Schluck Bier genommen.
Jess nahm ihm die Flasche aus der Hand, ließ das dunkle, leicht perlende Getränk die Kehle hinunterlaufen, nickte und erwiderte: »Aber alle ziehen die Hose vor den Schuhen an.«
***
Jennifer Tackenberg stand seitlich neben dem langen Flurfenster und beobachtete, wie sich Jess Coster noch einmal das Haar ordnete und einen leicht rosafarbenen Labello aus der Jackentasche holte, um sich die Lippen nachzuziehen. »Da ist sie wieder, diese Frau aus dem verkommenen Haus.«
Ricardo trat zu ihr, gemeinsam schauten sie zu Jess, die stehen geblieben war, um in ihrem Stoffbeutel nach dem Schlüssel zu suchen. »Du weißt doch, dass die mehrmals in der Woche da putzt.«
»Ich verstehe einfach nicht, dass der Bert sie ins Haus lässt. Schau dir an, wie deren Bleibe aussieht, putzen kann die doch bestimmt nur oberflächlich. Ich bin so froh, dass wir den Vertrag mit den Putzperlen haben, die riechen frisch und machen einen guten Job.«
Ricardo wandte sich ab, zog sein Sakko über, schulterte seine Laptoptasche und küsste Jennifer drei Mal, Wange, Wange, Mund. »Es wird bestimmt spät heute. Und du musst jetzt langsam an den Rechner und dich einloggen. Pass gut auf euch auf.«
Er streichelte sanft über den Babybauch, den seine Frau stolz vor sich hertrug, wartete noch einen Moment, bis Jess Coster die Tür hinter sich geschlossen hatte, und verließ das Haus.
Smarthome, kurze Kommandos vereinfachten das Leben. »Tür zu. Das Garagentor öffnen. Den Wagen vorfahren.«
Die Garage öffnete sich wie von Geisterhand, Ricardo blieb stehen und wartete darauf, dass sein Tesla sich ausparkte und exakt neben ihm zum Stehen kam.
»Das Garagentor schließen.«
Blass waren die beiden, die winkende Frau hinter der Scheibe und der Mann, der nun hinter dem Steuer des E-Autos saß. Jennifer wollte sich bis zur Geburt des Kindes nicht mehr von daheim wegbewegen, außer zu den Vorsorgeuntersuchungen verließ sie das Haus nicht mehr, zu viele Gefahren, unbekannte Viren und Bakterien lauerten da draußen. Ricardo war klar, dass er nach seiner Rückkehr am Abend erst mal ganz flott unter der Dusche verschwinden müsste, während seine gesamte Kleidung gleich in der Wäsche landete. Bevor er nicht frisch gekleidet war, brauchte er seiner Frau nicht vor die Augen zu treten, geschweige denn sie zu berühren oder gar zu küssen.
Manchmal ging ihm dieses ganze Gehabe gehörig auf den Sack und er wünschte sich einen Hauch Normalität, während seine Frau stolz auf ihn war, weil er ihre Regeln befolgte.
An der Kreuzung Dinslakener Straße und B 58 im Weseler Ortsteil Drevenack überzog ein vielsagendes Lächeln sein Gesicht. Nach Geldern, zu seinem Firmensitz, müsste er links abbiegen. Ricardo Tackenberg blinkte nach rechts.
Ein bisschen Freiheit musste sein.
***
Jess wusste sich genauestens zu verhalten, um ihren Arbeitgeber nicht zu verärgern. Ein verhaltenes »Hallo?« blieb ohne Antwort. Mit einem Rundumblick nahm sie wahr, dass die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen war, die Terrassentür offen stand und ihr Geld auf dem Tisch lag. Bert war also beschäftigt und wollte nicht gestört werden.
Sie zog ihre Jacke aus, hängte sie über eine Stuhllehne im Esszimmer, stellte ihre Schuhe daneben. Sie nahm das Smartphone zur Hand und schaltete den Ton auf lautlos, nicht einmal das kleinste Geräusch würde sie verursachen. Den Flur, an dem die Tür zum Arbeitszimmer lag, würde sie als Erstes wischen, sich dann im oberen Geschoss dem Schlafzimmer und dem Bad widmen, die Treppe zum Keller wischen, schauen, ob bei den Vorräten alles in Ordnung war und ob Wäsche in der Maschine lag, die sie in den Trockner packen musste. Und wie immer zum Schluss würde sie sich die Küche vornehmen, diese wundervolle Küche mit der Kochinsel in der Mitte zum Strahlen bringen.
Berts Einrichtung fand sie traumhaft, edle Hölzer, naturbelassen, dazu einzelne Farbakzente, hier eine knallrote Bodenvase, dort ein blauer Sessel, da ein riesiges Gemälde, ein Farbspektakel von einem berühmten Künstler. Wie hieß er doch gleich? Sie genoss jeden Arbeitsgang in der gediegenen Einrichtung, wünschte sich umso mehr einen Lottogewinn. Dann würde sie Bert fragen, wo er diese Küche, die Möbel gekauft hatte, und ihre alte Kate neu einrichten. Erst mal renovieren natürlich.
Fast hätte sie bei dem Gedanken selig gesummt, verbot sich, der Absprache gemäß, jeden Ton und achtete darauf, so wenige Geräusche wie möglich zu erzeugen. Daher wurde gewischt, statt den Staubsauger zu nutzen, die Fenster in Schlafraum und Bad, die sie zum Lüften öffnete, wurden festgestellt, damit sie nicht bei Wind zuknallten. Sie hatte sich für die Kopfkissen eigens eine geräuscharme Methode ersonnen, sie leise aufzuschütteln. Sich barfuß durch das Haus zu bewegen, machte Jess nichts aus, sie lief gern ohne Schuhwerk.
Im Wohnzimmer fand sie eine zur Hälfte gefüllte Rotweinflasche und zwei Gläser, Bert hatte also Besuch gehabt. Angetrocknete Rotweinneigen – die schweren, mit vielfältigen Mustern geschliffenen Römer mussten sofort gespült werden und landeten glänzend in der Vitrine mit einer Auswahl besonderer Gläser für jede Gelegenheit und mancherlei Getränke. In der Küche schaute Jess sich irritiert um, das Geschirr vom Frühstück stand weder auf der Theke, noch hatte Bert es in die Spülmaschine eingeräumt. Bestimmt hatte er sich einen Snack mit ins Arbeitszimmer genommen, dachte sie, während ihr Mikrofasertuch sanft, aber bestimmt die Arbeitsflächen aus Granit polierte.
Jess schaute aufs Smartphone, schon elf Uhr. Feierabend. Für den nächsten Tag nahm sie sich das Wohnzimmer vor, Staubwischen war dran, und die vielen Kissen des überdimensionierten Sofas würde sie draußen aufschütteln. Die Fenster in der oberen Etage müssten geputzt werden. Ob sie die Terrassentür zuschieben sollte? Nein, Bert war ja im Haus.
Jess schlüpfte in ihre ausgetretenen Sommerschuhe und nahm die Jacke über den Arm, draußen schien mittlerweile die Sonne. Die schwere Haustür schloss sie hinter sich, indem sie sie mit dem Schlüssel im Zylinder zuzog und das Schloss erst dann geräuschlos einrasten ließ.
Draußen steckte sie sich eine Zigarette an, wunderte sich kurz über die Fülle von Gegenständen in ihren Jackentaschen und stellte den Ton ihres Smartphones wieder an. Den Fünfziger steckte sie in die Hülle des Gerätes. Leicht verdientes Geld im Hause Tankfort. Bislang hatte es nie Ärger oder Kritik gegeben, Bert war zufrieden mit ihrer Arbeit, und sie fand ihn herrlich unkompliziert.
Auf dem Weg zu ihrem Haus fiel ihr Gerald Kleinschulte auf, der wieder einmal den Kofferraum seines Wagens mit Päckchen und Paketen füllte, zwei Wasserkästen dazustellte, während aus dem Haus nur das übliche Gekeife seiner Frau drang.
»Die Orangen sind alle, denk dran, und nimm nicht wieder die teuren, es reichen doch die Saftorangen. Du kannst überhaupt nicht mit Geld umgehen, das habe ich dir schon so oft gesagt. Aber nein, der Herr muss es ja zum Fenster rauswerfen.«
Stoisch brachte der Nachbar alles im Kofferraum unter, schien den Sermon seiner Frau aber nicht zu ignorieren, die Falten auf seiner Stirn ließen erahnen, dass ihn diese Sticheleien doch erreichten.
Jess blieb bei seiner Einfahrt stehen. »Na, große Tour zur Post und zum Supermarkt? Sie haben immer so viel zu tun, Sie sind ein echt fleißiger Mann.«
Erstaunt über die freundliche Ansprache schaute Gerald auf, und es gelang ihm ein kleines Lächeln. Jess sah ganz genau, dass seine Frau ihn hinter der Gardine des Flurfensters beobachtete, während Gerald einen Schritt auf sie zutrat. »Es gibt immer so viel zu erledigen, zum Glück verliert meine Frau nie den Überblick.« Er schaute sich um und entdeckte die Umrisse seiner Gattin mit verschränkten Armen am Fenster. »Ich muss los, hier ist alles streng getaktet.«
Jess konnte es nicht lassen und musste ihm und ihr, besonders ihr, noch eine kleine spitze Bemerkung dalassen, laut und gut verständlich. »So ein Goldstück wie Sie findet man nicht alle Tage, da kann Ihre Frau stolz auf Sie sein. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.«
Gerald stand wie angewurzelt auf dem säuberlich gekärcherten Pflaster und war sprachlos, hob ungelenk eine Hand zum Gruß. Jess konnte sich vorstellen, was der arme Kerl sich wieder anhören musste nach zwei netten Sätzen mit der unmöglichen Nachbarin. Sie grinste in sich hinein. Vielleicht kamen solche Bemerkungen doch bei ihm an, sie wünschte dem Nachbarn so sehr, dass er sich von seiner keifenden Gattin loslösen könnte.
Daheim saßen Didi und ihr Mann auf der Bank neben der Tür und stießen gerade mit einem Fläschken Bier an. Maik sah seiner Frau an, dass es ihr nicht gefiel. »Mensch, Jess, ein Elf-Ührken für die Handwerker, wir haben schon alles gepackt und gehen gleich los.«
»Macht nicht zu viel Lärm auf dem Grundstück, er ist noch in seinem Arbeitszimmer, du weißt, dass er ganz allergisch reagiert, wenn er dort gestört wird. Um eins gibt es Mittag.«
Sie schaute den beiden nach, die sich mit Rucksäcken und zwei Stoffbeuteln, in denen es verdächtig klimperte, auf den Weg machten. Ah, dachte sie, da drinnen sind die Zwölf- und Ein-Ührken.
***
»Das Fundament ist gut.« Maik begutachtete sein Werk der letzten Tage von allen Seiten. »Total im Lot, da können wir heute die erste, vielleicht auch zweite Schicht aufmauern, du weißt ja, immer schön im Versatz.«
Didi wies mit dem Kinn zum Lippeufer, das halb verdeckt durch Sträucher zu erkennen war. »Der nimmt sich mit der Mauer den Blick aufs Wasser, ob dem das klar ist?«
»Ich glaube, der lebt unter der Devise ›My home is my castle‹, der braucht seine Abgeschiedenheit und hält nicht viel von hübschen Flussansichten. Der will hier an seinem Pool wahrscheinlich ganz andere Ansichten unbeobachtet genießen.«
Beide prusteten los, erinnerten sich aber an den Auftrag, den guten Bert nicht durch Lautstärke zu erzürnen.
Maik wurde wieder zum Boss. »Ich mixe den Mörtel, und du schaffst die Steine ran. Wir haben zwei Schubkarren, du stellst mir immer eine hin und füllst in der Zeit, in der ich die Steine setze, die zweite. Okay? Nicht auskippen, nur ranfahren. Wir wollen den guten Bert nicht verärgern.«
Didi schien nicht begeistert, fingerte im Rucksack nach seinen Handschuhen. »Wollen wir nicht vorher einen Joint rauchen? Dann geht alles entspannter von der Hand.«
»Nix da, wir müssen vorwärtskommen, Bert sprach von zügiger Arbeit.«
Der Bohrer mit dem Aufsatz zum Mörtelanrühren stand in der anderen Ecke des Gartens, der Schall drang nicht bis zum Haus. Dafür ließ Didi in der Einfahrt die Steine in die Schubkarre plumpsen, dass es nur so schepperte.
Maik raste zu ihm hin. »Bist du bescheuert? Das hört man in ganz Krudenberg, unser Auftraggeber mag das garantiert nicht. Die Kalksandsteine lassen sich leise in die Karre packen, dann bleiben die Kanten auch heile, los, versuch’s mal.«
Widerwillig und mit leicht tänzelnden Bewegungen legte Didi sie mit Bedacht in die Karre.
Maik musste grinsen. »Ey, ohne den Hüftschwung geht es vielleicht genauso leise, aber etwas flotter. Und du wirst hier beobachtet, also benimm dich.«
Didi schaute sich ortend um. »Was, wo, wer?«
»Na, diese junge Frau, die flächendeckend tätowiert ist, da nebenan. Jetzt glotz nicht so auffällig dahin. Die geht kaum aus dem Haus, registriert aber alles, was auf der Straße geschieht. Die hat dich im Visier, du kannst mit Nasepopeln oder Arschfaltezeigen nur verlieren. Und jetzt go ahead.«
Die Männer kamen tüchtig ins Schwitzen, Maik setzte Stein um Stein in exakten Abständen, Didi kontrollierte alle paar Minuten, ob er schon Schwielen oder, noch schlimmer, Blasen an den Händen hatte. Nein, seine Handschuhe waren perfekt für diesen Job.
Die Dorfkirche läutete zu zwölf. Didi rappelte zuerst an seinem Stoffbeutel. »Komm, endlich Zwölf-Ührken.«
Maik schaute von seinem Werk auf, sang leise vor sich hin. »It’s a long way to Tipperary … Aber gut, kurze Pause.«
Sie fläzten sich mit ihren Flaschen in die bequemen Gartenmöbel unter dem Terrassendach und schauten sich um. Bis auf die Mauer, die mit Hilfe ihrer Hände entstand, hatte man eine schöne Aussicht. Wenn der lang gezogene Pool mit den Einstiegsstufen zur Rechten erst ganz gefüllt war, würde sich der Himmel darin spiegeln. Die Mauer sollte verputzt und weiß gestrichen werden, ein nettes mediterran angehauchtes Bild würde sich ergeben, schlicht, ohne Schnörkel, wie so vieles im Anwesen Tankfort.
Momentan war der blau geflieste Swimmingpool nur knapp einen halben Meter hoch gefüllt mit Regenwasser der letzten Wochen, es hatte mächtig geschüttet. Das hatte Maik bei den Vorarbeiten für die Mauer bemerkt. Es setzte Algen an, hergewehtes Laub schwamm darin herum. Die Poolpflege würde er dem Besitzer anbieten, wenn alles fertig war, man musste jede Möglichkeit ergreifen, um Geld zu verdienen. »Los, wir müssen heute einiges schaffen, mach hinne«, sagte er.
Didi wedelte mit seiner grünen Flasche, Maik gab sich unbeeindruckt und ging schon mal vor. Dieses Mal rechtsherum. Er wollte einen Blick in das schmale Becken werfen, in dem es nicht ums sommerliche Toben, sondern um zurückgelegte Längen gehen sollte. Wie erstarrt blieb er vor den Stufen stehen.
Didi wunderte sich, er hatte die halbe Flasche fast auf ex getrunken, weil sein Boss so drängelte, und jetzt stand der wie angewurzelt vor der schmalen Beckenseite, rührte sich nicht und starrte nach unten. »Ey, erst drängeln und dann meditieren, das gilt nicht.«
Maik forderte ihn stumm, mit winkendem Zeigefinger, auf, zu ihm zu kommen.
Zögerlich bewegte sich Didi auf ihn zu. »Maik, du bist ja plötzlich weiß wie die Steine, is dir etwa schlecht?«
Er schüttelte den Kopf, wies nur mit zittrigen Fingern nach unten. »Da, guck. Siehst du, was ich sehe?«
Didi reagierte anders als sein Chef, er lief um das Becken herum, schaute von allen Seiten, gestikulierte erst wortlos, dann in einer Tirade.
»Sag nicht, das ist der Mann, der hier wohnt! Ist das dein Auftraggeber? Da brauchen wir gar nicht in den Pool zu springen, um erste Hilfe zu leisten, der sieht nicht mehr lebendig aus. Maik, der Kerl liegt da mit dem Gesicht zuunterst in dem ganzen Algengefissel und Dreck, der ist tot. Einfach tot. Das Wasser um ihn herum ist merkwürdig dunkel, erkennst du das? Das ist bestimmt Blut. Heiliger Mist, eine Leiche am Arbeitsplatz, das habe ich noch nie erlebt. Was machen wir denn jetzt? Völlig klar, wir müssen die Polizei anrufen. Hast du dein Smartphone mit?«
Wie angestachelt rannte er um den Pool, Maik versuchte ihn zu beruhigen, und es gelang ihm, den aufgedrehten Mann an einem Arm festzuhalten, als er wieder bei ihm ankam.
»Didi, ja, das ist der Mann, dem dieses Haus gehört, Bert Tankfort, und der sieht tot aus. Dem können wir nicht mehr helfen. Wir sollten allerdings jetzt ganz genau überlegen, wie wir vorgehen, hörst du? Wir beide sind die, die ihn gefunden haben. Jess glaubte heute Morgen, er sitzt brav in seinem Arbeitszimmer. Die hat die offene Terrassentür gesehen, aber nicht rausgeschaut. Und wir haben ihn jetzt auch erst nach knapp einer Stunde da unten bemerkt.«
Didi blieb in Bewegung, schlug die Hände über dem Käppi zusammen, drehte sich um sich selbst, stellte sich, Auge in Auge, vor Maik. »Wir müssen die Polizei informieren, Mordkommission oder so, guck doch mal ganz mit deinem Verstand dahin. Der ist niemals einfach da reingefallen. Selbst wenn der bei einem Sturz eine Kopfverletzung erlitten hätte, dann wären wir doch hier oben am Rand über merkwürdige Flecken gestolpert, oder? Dann hätten wir vom Rand aus gleich in die Tiefe geguckt und ihn gesehen. So sind wir, genau wie Jess, davon ausgegangen, dass er im Haus ist und sich nicht rührt. Hinterher verdächtigen die uns. Die tätowierte Nachbarin weiß bestimmt ganz genau, wann wir das Grundstück betreten haben.«
Maik rieb sich nachdenklich über seinen Dreitagebart. »Mir schwirrt langsam eine andere Idee durch den Kopf. Komm, wir setzen uns wieder, und von mir aus nimm dir noch einen Schluck. Erst mal von diesem Schreck runterkommen. Das ist auch meine erste Leiche, das nehme ich nicht leicht, kannste mir glauben.«
Er nahm Didi bei der Schulter, und der ließ sich widerstandslos zu den Sitzmöbeln führen. Erst als er seine zweite Flasche lecker Bierchen an die Lippen gesetzt, einen kräftigen Schluck getrunken hatte, sprach Maik weiter. »Bislang weiß die tätowierte Tante von nebenan, wann wir hergekommen sind, und sie wird auch wieder beobachten, wann wir gehen. Bis ein Uhr mauern wir hier weiter, als wäre nichts geschehen.«
»Was? Mit dem da in der Grube? Aber –«
»Kein Aber, Didi, hör genau zu. Der Mann ist offensichtlich tot, daran ist nichts mehr zu ändern.« Maik schaute Didi in die Augen, so lange, bis der seinem Blick nicht mehr standhalten konnte und sich abwandte. Maik hatte die Oberhand. »Ich will, dass wir hier und jetzt gründlich nachdenken, bevor wir etwas unternehmen.«
***
Jess kannte ihren Mann ganz genau. Irgendetwas stimmte nicht. Sie schaute von ihm zu Didi, der als Handlanger des Chefs mittags mit am langen Tisch sitzen durfte, und wunderte sich über das Flackern in dessen Augen. Und Jess war schlau. Sie würde weder Maik noch seinen Gehilfen am Tisch vor allen anderen fragen, was los war.
Es gab Kartoffelsuppe, daneben einen Topf mit heißen Brühwürstchen, die sich, wer mochte, dazunehmen konnte. Liam antwortete auf die Frage, wie es in der Schule gewesen sei, mit seinem kategorischen »Gut«. Leni und Fritz schienen Maiks Veränderung nicht zu bemerken, alle löffelten zufrieden die Suppe, bissen in die Würstchen, stippten sie in den Senftopf. Bis auf Liam, der eines nach dem anderen nahm und verschwinden ließ, bis Jess ihn stoppte.
»Der Hund wird nicht hinter deinem Rücken gefüttert. Meinst du, ich sehe das nicht?«
»Aber der liebt Brühwürstchen.«
»Nein, Liam, das ist für den so, als würde er drei Salzstangen futtern, lass es.«
»Aber –«
Jess schaute zu Maik, der mit seinen Gedanken nicht bei Tisch war. »Kannst du bitte mal ein Machtwort sprechen?«
»Wie, was? Ach, du meinst, wegen Liam und Cosmo?«
Jess nickte anerkennend. »Du bist ja doch anwesend. Genau, es geht mal wieder um das Ungetüm, das du angeschleppt hast, und um die Verhaltensweisen deines Sohnes.«
Maik schickte den Hund nach draußen – nicht einfach, weil dessen Herrchen am Tisch sitzen blieb – und wies seinen Sohn an, weiterzuessen. Er wich dem Blick seiner Frau aus, das merkte selbst seine Schwiegermutter, und die fragte ungeniert: »Maik, du bist gar nicht richtig hier. Ist die Arbeit drüben in dem Garten so anstrengend? Brauchst du Unterstützung? Soll Fritz beim nächsten Mal mitkommen?«
Didi schaute auf, wirkte wie ein aufgescheuchter Hahn, plapperte einfach drauflos. »Das ist schwere Arbeit, ja, das stimmt, ganz schöne Maloche, puh, aber das schaffen wir beide, nicht, Maik?«
»Klar. Danke, nett von euch, aber das ist nicht nötig. Es war einfach zu warm für schwere Steine am Vormittag. Wir haben vorhin besprochen – also Didi und ich haben mit Bert vereinbart, dass wir heute am Abend noch mal ein, zwei Stunden rüberkommen und weitermachen. Dann steht die Sonne auch nicht mehr auf der Mauer.«
Jess sah ihn ernst an. Das war nicht seine Art, außer der Reihe weiterzuarbeiten. Auch das behielt sie für sich, formulierte einen Satz, der in eine andere Richtung wies. »Was werden diese muffeligen Tackenbergs sagen, wenn ihr da spät noch mit Steinen poltert?«
Ihr Mann nahm sich ein weiteres Würstchen und biss es knackend ab, wies mit dem abgebissenen Ende in die Richtung seiner Frau. »Die tätowierte Trulla hat uns heute den ganzen Tag beobachtet, und wenn die selbst am Abend nichts anderes zu tun hat, als weiter durch das Flurfenster auf das, was in Nachbars Einfahrt geschieht, zu glotzen, dann tut die mir einfach leid. Jess, die haben nix zu meckern, wir werden umsichtig und leise sein. Aber wir haben Bert versprochen, dass wir weitermachen.«
Didi nickte wie blöde. »Haben wir. Sonderauftragslage. Die Mauer und der Pool. So schnell und ordentlich wie möglich. Deshalb gehen wir auf Spätschicht.«
Was sollte Jess sagen? Zwei fleißige Männer saßen an ihrem Tisch, benahmen sich merkwürdig, Maik schwitzte wie sein Sohn Patrick. Wenn der etwas ausgefressen hatte, konnte sie es an den Schweißperlen auf seiner Stirn erkennen. Da waren Vater und Sohn sich sehr ähnlich.
Draußen vor dem Zaun standen zwei Mädchen und riefen nach Liam, der wollte aufspringen, Jess hielt ihn zurück und lief zur Tür. Sie schmunzelte. Die beiden Nachbarinnen wirkten wie Hanni und Nanni, die Heldinnen aus ihrer Kindheit. »Wir essen gerade, Liam kommt in zehn Minuten.«
Sie setzte sich wieder zu den anderen, bot Nachschlag an, schaute in die Runde. Ein schwitzender Gatte, sein Helfer ins Plapperwasser gefallen, völlig nervös, ein maulender Erstklässler. Wie toll, geradezu eine Wunschbesetzung, wenn da nicht ihre Eltern wären mit ihren nachsichtigen Gemütern.
***
»Kannst du etwas erkennen?«, fragte Petra Mertens.
Ihr Mann Heinz lehnte sich, auf einem Stuhl balancierend, aus seinem Velux-Fenster, selbst von dort gelang es ihm nicht, Einblick in Bert Tankforts Garten zu erhalten. »Nein, es ist einfach zwecklos, der Winkel stimmt nicht. Selbst wenn ich die Kamera auf die Stange montiere, kann ich nicht sehen, was Coster und sein Kumpel bei Tankfort machen.«
»Streng dich gefälligst an, du kannst dich bestimmt noch einen halben Meter zur Seite drehen, ich will wissen, was die am Abend dort zu schaffen haben.«
»Es geht nicht, das siehst du doch! Hätten wir auf den Architekten gehört und an der Seitenwand ein Fenster eingebaut, gäbe es dieses Problem nicht.«
Der Stuhl wackelte bedenklich, mit einer Hand schloss Heinz das Dachfenster, sprang ungelenk vom Sitzmöbel und stellte sich vor seine Frau. »Petra, sag, wer wollte unbedingt bei diesem einen kleinen Fenster sparen? Du kannst es ruhig zugeben. Nein, das sei unnötig und viel zu teuer. Waren das deine Worte?«
Petra Mertens wandte sich wortlos ab und ging zur Treppe. Ihr Mann rief ihr nach, sie sei ihm eine Antwort schuldig, woraufhin sie sich abrupt umdrehte. »Ja, ich war das. Lass es jetzt gut sein, wie lange willst du mir das noch vorhalten? Damals beim Bau konnten wir noch nicht ahnen, wer alles in dieser Straße dazukommen würde. Du erinnerst dich an den Hickhack um die Frage der Grenze des Landschaftsschutzgebietes?«
Mertens dachte kurz nach, folgte ihr zur Holztreppe. »Stimmt. Erst als wir schon beim Verklinkern waren, hat der Tankfort die Baugenehmigung bekommen.«
Sie tippte ihm auf die Brust. »Siehst du, und ich erkläre dir hiermit zum hundertsten Male, dass ich dieses Fenster aus dem Plan genommen habe, weil wir von dort aus nichts weiter als die großen Pappeln am Fluss gesehen hätten. Das hatte für uns keine Relevanz. Hier oben sollte unser Archiv sein und nicht das Zimmer mit Aussicht auf niederrheinische Laubbäume.«
Ihr Gatte schlängelte sich an ihr vorbei nach unten. »Ist ja schon gut. Wann hat das eigentlich angefangen, unser Interesse für die Geschehnisse in der Nachbarschaft?«
Petra stand oben am Geländer und schaute zu ihm herab. »Wie meinst du das?«
Er stoppte und blickte hinauf zu ihr. »Ich meine nichts anderes, als dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wann wir angefangen haben, die Leute, die hier leben, so genau zu beleuchten.«
»Du erinnerst dich nicht an die geklauten Figuren aus dem Vorgarten und an unseren Verdacht, das könnten diese Bekloppten aus der Bruchbude sein? Damals haben wir die erste Kamera installiert, haben jeden Morgen die Aufzeichnungen durchgeschaut und dabei gesehen, dass der Zeitungsbote die RP gegenüber in die Röhre steckt und keine halbe Stunde später irgendein Subjekt, das bei den Möchtegern-Iren im Wohnwagen haust, die Ausgabe wie selbstverständlich herauszieht und mitnimmt. Ich weiß noch genau, wie wir uns angesehen haben, voller Entsetzen.«
Er stimmte ihr zu, und sie ergänzte: »Auf dem Weg nach Wesel haben wir alles Mögliche durchgesprochen. Ob wir den Kleinschultes sagen sollten, was mit ihrem Nachrichtenblatt geschieht, ob wir selber dieses, wie sagtest du so passend, Subjekt zur Rede stellen sollten.«
Heinz ereiferte sich jetzt, alle Fakten traten in seiner Erinnerung in den Vordergrund. »Genau. Und weil wir uns nirgendwo einmischen wollen, fiel die Entscheidung zugunsten umfassender Überwachung zur eigenen Sicherheit. Seit wir die anderen Kameras angebracht haben und das Schild im Vorgarten steht, dass dieses Haus elektronisch überwacht wird, ist auch nichts mehr geklaut oder zerstört worden.«
Petra stieg ebenfalls die Treppe hinab, nicht ohne einen kurzen Blick aus dem Flurfenster, und ergänzte: »Das ist aber auch eine absonderliche Nachbarschaft hier.«
»Wie meinst du das?«