Der Schwan - Thomas Hesse - E-Book

Der Schwan E-Book

Thomas Hesse

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Beschreibung

Das Kult-Kommissariat ermittelt in der niederrheinischen Gourmetszene. »Der Schwan«, das neue Spitzenrestaurant in Wesel, steht kurz vor der Eröffnung. Doch die Pläne von Starkoch Jojo Schwan kommen nicht bei jedem gut an: Die Konkurrenz ist neidisch auf das erfolgversprechende Konzept und den exklusiven Standort am Rheinufer. Dort soll auch Schwans Hochzeitsfeier stattfinden – bei der er nie ankommt, denn kurz nach der Trauung wird er erschossen. Das K1 ermittelt und stellt bald fest, dass die Weste des Erfolgskochs keineswegs so strahlend weiß ist, wie sein Name vermuten lässt.

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Thomas Hesse, Jahrgang 1953, lebt in Wesel, ist gelernter Germanist, Kommunikationswissenschaftler und Journalist. Er war bis Ende 2014 in leitender Position bei der »Rheinischen Post« am Niederrhein tätig. Heute ist er freier Autor, Journalist und Publizist. Bekannt wurde er u. a. durch Niederrhein-Krimis zusammen mit Thomas Niermann und Renate Wirth.

Renate Wirth, Jahrgang 1957, ist Gestalttherapeutin, Künstlerin und Autorin.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: photocase.de/Roman Zurbrügg

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-020-4

Niederrhein Krimi

Originalausgabe

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Eine Lüge ist eine Wahrheit,die ihre Umgebungberücksichtigt.

Lévi Weemoedt

EINS

Es gibt nur eine einzige Chance auf eine Traumhochzeit. Alles, was vielleicht danach kommt, hat nicht jene Magie. Dieser Tag muss unvergesslich werden.

Wie wahr.

Mit einer Tasse Kaffee in der Hand stand Marisa Tauber auf der Terrasse des Restaurants, hatte anders als sonst keinen Blick für den Rhein, der hinter der gläsernen Abgrenzung gemächlich an Wesel vorbeifloss. Sie schaute auch nicht zu den Radfahrern, die neugierig herüberlugten zu dem Ort, an dem vor Kurzem noch ihr Lieblingsausflugscafé mit Selbstgebackenem lockte. Hier hatte ein breites Weseler Publikum gern gesessen, im Außenbereich des zwar ziemlich runtergekommenen Lokals, das die rustikale Note aber mit selbst gemachten Kuchenstücken vom großen Backblech und einmaliger Aussicht verband.

Das war vorbei. Nun klotzte dort ein mächtiger Kubus, moderne Architektur, Stahl, Glas, Beton, edles Holz, die Hälfte des Gebäudes mit einer Freitreppe zur oberen Etage, die andere durchgehend mit luftiger Deckenhöhe, Blick in den Himmel und auf die Niederrheinbrücke Wesel. Überall computergesteuerte, einrollbare Sonnensegel zum Schutz vor der Hitze. Die meisten Glaselemente waren beweglich, mit diesem Trick sollten sie in geöffnetem Zustand suggerieren, es gäbe keine Barrieren zwischen drinnen und draußen. Man sollte hier genießen, verweilen, die Zeit vergessen, während Frachtschiffe vorbeituckerten.

Der Architekt des Neubaus am Beginn der Weseler Rheinpromenade zwischen Fischertorstraße und dem optisch ziemlich brachialen Übergang zum Rheinhafen mit seinem Tanklager und dem Promenadenweg vorbei an den Brückenstümpfen der alten, kriegszerstörten Eisenbahnbrücke hatte alles getan, um einen modernen, leicht verkanteten Bau mit einmaligem Blick auf den Strom, die nahe Rheinbrücke mit ihren Schrägseilen und die grüne Landschaft auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses zu schaffen. Man hatte sich endlich durchgerungen, an einer exponierten Stelle ein architektonisches Zeichen zu setzen. Die Lage, die Lage, die Lage, hatte dazu ein Immobilienmakler angesichts der erwarteten Eröffnung der neuen Gastronomie gesagt.

Auch die Terrasse war zum Rhein und zum Parkplatz hin mit gläsernen Wänden abgeschirmt, vereinzelte Pflanzkästen mit ausgesucht bizarren Olivenbäumen durchbrachen das statische Bild, der Zutritt war nur durch das Gebäude möglich. Dabei musste man vorbei an der romantischen Bank in Form eines Schwanes, die Platz für zwei Personen bot und auf den Namen des Restaurants verwies: »Der Schwan«.

Bei der Bank stand, weit genug vor dem Entree, der schick gemachte Ständer mit der Speisekarte, damit den Radlern gleich klar wurde, dass die Zeiten, der Besitzer und das Angebot sich verändert hatten. Schluss mit der beliebten improvisierten Rheinromantik des Cafés. Hier erwartete man ab der kommenden Woche ein anderes Publikum, elegant gekleidet statt in Funktionsjacke und Shorts, mit Fahrradhelm unter dem Arm, den Akku der E-Bikes in den Händen. Architektur und Einrichtung ließen keinen Zweifel aufkommen: Ab der nächsten Woche gab es hier moderne, gehobene Gastronomie zu halbwegs moderaten Preisen.

Die Homepage versprach jahreszeitlich angepasste Angebote, Produkte aus der Region, leicht, bekömmlich, mit einer ansehnlichen Auswahl veganer Speisen, denn man musste dem Zeitgeist folgen. Das umfangreiche Angebot an Weinen lagerte für jeden Gast sichtbar hinter Glas in einem gekühlten Regal, von der Rückwand her dezent beleuchtet.

Marisa hatte darauf bestanden. Sie hatte sich auch mit der Idee durchgesetzt, Geschirr, Gläser und Besteck mit dem Logo des Restaurants, einem Schwan mit stolz gerecktem Hals, zu versehen. Ein immenser Aufwand, der Jojo erst bei der probeweise eingedeckten Tafel überzeugte. »Nobel geht die Welt zugrunde.« Dieser Spruch seines Großvaters kam ihm dabei mit einem Seufzer über die Lippen, wobei Marisa weder das Zitat noch seine sorgenvollen Stirnfalten interpretieren konnte.

Jojo Schwan – der Name war bei Gourmets in Wesel und Umgebung bereits ein Begriff, und sie würde ihn gekonnt in Szene setzen. Das angesprochene Publikum sollte sich nicht nur auf seine kreativen Variationen freuen, sondern sich in gediegener Atmosphäre wohlfühlen, an der Perfektion weiden, den Aufenthalt nie mehr vergessen, darüber reden. Mund-zu-Mund-Propaganda war ein wichtiger Werbeträger.

»Stopp!« Die Kaffeetasse wurde unsanft abgestellt, Marisa eilte zu den Tischen. Die Anordnung der Stühle, die in weiße Hussen gehüllt wurden, entsprach nicht ihrem Plan. Umgehend reagierten die Helfer.

Ansonsten lief hier alles wie am Schnürchen, tadellose Gedecke wurden in exaktem Abstand gerichtet, Blumenbuketts wie geordert angeliefert und unter dem ausgerollten Dach an den vorgesehenen Stellen drapiert. Noch ein paar Minuten, dann würde die Trauzeugin, ihre Jugendfreundin Mika, sie abholen. Visagistin, Friseurin, alle würden bei ihr zu Hause warten, um Marisa in eine Traumbraut zu verwandeln, während Jojo das Küchenpersonal einnordete, die vorbereiteten Speisen kontrollierte und noch einmal die Temperatur im überdimensionalen Weinschrank überprüfte.

Alles stand auf Start. Auch er musste sich noch umziehen, hatte seine Kleidung im hinteren Bereich des Restaurants in seinem Büro deponiert, sagte, er müsse noch eben telefonieren, um sicherzugehen, dass mit seinem Geschenk für Marisa alles klarging. Sie ahnte nicht, was er sich ausgedacht hatte, sollte es erst nachher sehen, zur standesamtlichen Trauung in Schloss Moyland, wenn sie das imposante Gebäude wieder verließen.

»Schatz, deine Freundin ist da«, sagte er jetzt.

Marisa löste sich vom Anblick der perfekt gestalteten Terrasse, während die Musiker sich mit Instrumenten und Technik auf der Bühne einrichteten. Mika stand winkend vor der Tür.

»Ich komme.« Marisa lief zu Jojo, ließ sich sanft in den Arm nehmen und küssen, während Mika am Eingang verharrte. »Du denkst an die Ringe?«

»Ja, klar.« Jojo hielt ihr den rechten Zeigefinger entgegen, an dem eine kleine Narbe zu sehen war. »Unter Einsatz meines Lebens selbst geschmiedet, die werde ich mein Leben lang nicht vergessen.«

Sie konnten sich kaum voneinander lösen. Mika tippte auf ihr Handgelenk, Marisa entwand sich Jojos Umarmung. »Wir haben noch das ganze Leben zum Knutschen.«

Niemand der Beteiligten hatte eine Ahnung davon, was in knapp drei Stunden geschehen würde, um alle Pläne, und auch diese traumhafte Hochzeitsfeier am Flussufer, wie eine Seifenblase zerplatzen zu lassen.

Der zornige Blick der Braut ließ ihren Vater, der freudig auf sie zulief, auf Abstand verharren. Trixi, die neue Gattin des Vaters, stellte sich in ihrem rosafarbenen Kleid, das eher auf einen Schützenball statt in den Hof eines Schlosses gehörte, vor ihn.

»Aber Marisa, dass der Vater die Braut zu ihrem Bräutigam bringt, das ist so üblich. Du hast es so gewollt. Und jetzt plötzlich nicht mehr?« Sie zog ihren Mann am Ärmel hinter ihrem Rücken hervor und wies ihn zur Braut, deren Strauß in ihren Händen bebte.

»Stopp, untersteh dich!«

»Töchterchen, wie kannst du …«

Im Rondell, auf dem Platz zwischen den Vorburgen, entwickelte sich unter den Augen des Fotografen, der sein Equipment für den Auftrag 221/2023, Hochzeit Tauber/Schwan, aus dem Kofferraum seines Wagens holte, ein Disput zwischen der Braut und offenbar ihren Eltern. Er wollte unsichtbar bleiben, legte mit Bedacht zwei Kameragehäuse, ein Weitwinkel-, ein Telezoom-Objektiv und einen Aufsteckblitz auf die Bank rechts von der Brücke. Bloß nicht in solch einen Konflikt involvieren lassen. Und hoffen, dass diese Hochzeit überhaupt stattfand. Selten hatte er eine öffentliche Auseinandersetzung dieser Art vor einem Standesamt erlebt, und wie sollte er das rosafarbene Kleid in diese edle Kulisse integrieren?

Marisa Tauber wollte nicht von ihrem Vater ins Schloss geführt werden, diese Frau an seiner Seite hatte ebenso wenig wie er kapiert, was sie wollte. Die junge Braut war außer sich. »Ihr habt nichts verstanden! Wie immer! Hätte ich nur nicht auf Jojo gehört, der wollte unbedingt, dass ich euch einlade. Wenn es nach mir gegangen wäre … Ach, lassen wir das.«

Mit etwas gedämpfter Stimme wandte sie sich an ihren Vater, während nicht nur der Fotograf, sondern auch die beiden Trauzeugen, ihre Freundin Mika und Jojos bester Kumpel Adrian, dezent zur Seite schauten. Jojos Eltern betrachteten die Szene aufmerksam, sahen sich an, als hätten sie nichts anderes von dieser Familie erwartet.

»Nachher im St. Viktor Dom in Xanten, da sollst du mich zum Altar bringen, bis ich neben Jojo stehe, und dann verschwindest du flott in deine Bank. Hast du das jetzt verstanden? Hier gesellt ihr euch zu seinen Eltern und bleibt im Hintergrund, bis das Shooting mit allen gemeinsam hier im Rondell stattfindet. Und, Frau meines Vaters, untersteh dich, gleich laut aufzuschluchzen! Ich will hier keine falschen Tränen, das ist mein Tag, nicht deiner.«

Sie drehte sich um, atmete ein paarmal tief ein und aus, zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht und lief angemessenen Schrittes los. Hinter ihr folgten die Trauzeugen, danach die beiden Elternpaare, wobei die Schwans sich selbstbewusst vor den Taubers einreihten, verdeutlichten, wer hier wen heiratete.

Der Weg über die Brücke des Wasserschlosses Moyland hin zu ihrem Torbogen zum Glück war ausgelegt mit einem roten Teppich, geschmückt mit füllhornartigen Vasen, mit opulenten Buketts aus Sommerblumen, Lobelien, Rittersporn, Bauernröschen und zart gemusterten Efeuranken. Die Braut schritt voller Stolz und Eleganz daran vorbei. Genau so hatte sie den Schmuck für das Entree bestellt, alles nach ihren Wünschen.

Sie bemerkte nicht die Nutrias, die im Wassergraben nahrhafte Pflanzen frühstückten, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Marisa Tauber stand im Innenhof des Schlosses und sah hinauf zu der weißen Holztür mit den arabesk verzweigten, grob geschmiedeten Beschlägen. Elf Steinstufen lagen zwischen ihr und dem Einlass zu ihrer standesamtlichen Trauung, schienen plötzlich unüberbrückbar, ohne Spuren an Kleid und Schleier zu hinterlassen.

Entsetzt über ihre eigene Nachlässigkeit, diesen Aufgang nicht bedacht zu haben, verharrte sie wie versteinert vor der Treppe, die zu ihrem Ziel führte, der Teppich endete vor den Stufen. Es erwies sich als mühselig, den Brautstrauß und gleichzeitig den Saum ihres Kleides im Auge zu haben. Zum Glück bemerkten die Trauzeugen ihr Zögern und waren gleich zur Stelle, hielten Schleppe und Schleier vom Untergrund fern. Jojo Schwan, ihr Zukünftiger, wartete an der hohen Holztür und hielt sie geöffnet, aus der Ferne drang die Musik aus dem Zwirner Saal bis zu ihr. Marisa Tauber hatte es geschafft.

In einem alten Schloss, erstmals im Jahr 1339 als Burg erwähnt, in dem historischen Gemäuer, das im Jahr 1997 als Kunstmuseum zu neuem Leben erweckt wurde, zu heiraten, erforderte, sich auf die Gegebenheiten einzustellen. Alles hatte sie bedacht, war die Wege abgelaufen, wusste, wo sich ein Aufzug verbarg, nur dass es mit dem bodenlangen Kleid auf dieser Treppe noch einmal anders sein würde, das hatte Marisa übersehen und schaute ihrem Bräutigam nervös entgegen. Oben angelangt raunte sie ihm, immer noch die Contenance wahrend, perfekt lächelnd zu: »Hast du die Ringe?«

Jojo gab ihr, mit Rücksicht auf das Make-up, einen zarten Kuss auf die Wange. »Hallo, mein Schatz, du siehst bezaubernd aus. Und ja, ich habe die Ringe.« Er nahm ein samtbezogenes Kästchen aus seiner Jackentasche und hielt es hoch.

»Dann ist ja alles gut.«

Hinter ihrem Rücken hörte sie die Frau ihres Vaters über den unmöglichen Treppenaufgang schimpfen. Das Heulen hatte Marisa ihr untersagt, an Fluchen hatte sie nicht gedacht.

Jojo sah ihren Blick und flüsterte ihr zu: »Hör nicht hin, Liebes, lass dir diesen Moment nicht verderben. Du weißt doch, unangenehme Gäste bedient man höflich, und später nimmt man deren Reservierungen nicht mehr entgegen, da ist dann alles besetzt. Du hättest dir nicht verziehen, wenn dein alter Dad deine Traumhochzeit verpasst hätte. Wir zeigen es ihnen.«

***

Niemand hätte passender und emotionaler zu diesen beiden Menschen sprechen können als die Standesbeamtin, die ihre Rede mit großer Sorgfalt vorbereitet hatte. Von gemeinsamen Plänen für die Zukunft sprach sie, die schon Formen angenommen hätten. Einen Weg gemeinsam zu gehen sei eine Kunst, man müsse sich auf ein Schrittmaß einigen, ohne dass einer sich am anderen verausgabe. Von Beruf, Traum, Familie sprach sie; alles im Blick zu halten, die Balance zu finden sei eine Kunst. Von der Liebe sprach sie und den Widrigkeiten des Alltags, in denen sie nicht untergehen dürfe. Und mit einem Augenzwinkern ging sie auf den zukünftigen Nachnamen der Braut ein.

»Möge, Frau Tauber-Schwan, Ihr geliebter Schwanenmann immer ein hörendes Ohr für Sie haben.«

Der Satz sorgte für Belustigung unter den wenigen Gästen, nur die Frau in Rosa guckte fragend zu ihrem Gatten, der ihre nicht gestellte Frage ignorierte. Und alle Mütter der Welt weinen, wenn ihre frisch vermählten Kinder nach erfolgreichem Tausch der Ringe sich in den Arm nehmen und innig küssen. Dieses Mal war es Jojos Mutter, deren Schluchzen man durch die erste Etage des Schlosses hören konnte, während Frau Tauber senior sich mühsam beherrschte.

Marisa strahlte mit der Maisonne um die Wette, als sie über die Treppe hinunter zum Schlossinnenhof, dort über den roten Teppich zurück in das Rondell lief, Arm in Arm mit ihrem Jojo, dem Fotografen entgegen, der, schwer behangen mit seinen Kameras mit unterschiedlich langen Objektiven, bereits die ersten Bilder schoss. Er übernahm die Regie, führte Brautpaar und Gefolge durch ein Tor in der Vorburg in Richtung Kräutergarten, der noch mager bewachsen war, weiter zur Rückseite des Hauses, wo Licht und Schatten, Gebäude und Wasser, der hohe alte Baumbestand zur Kulisse wurden.

Marisas Vater schaute über die Wasserfläche. »Hier gibt es Gänse und Blesshühner, und da, Schildkröten, die ihre Köpfe in der Sonne wärmen. Es fehlt ein Schwan.«

Seine Augen fixierten Marisa, sie las für einen kurzen Moment seine Kritik, dass sie für den Fototermin hätte beachten müssen, ein Gewässer mit einem Schwan zu wählen. Schnell löste sie sich von dem starrenden Blick und dem Gedanken, das war ihr Tag.

Sie sah zu Jojo hoch, der knapp einen Kopf größer war als sie. »Komm, mein Schwan, das werden die perfekten Bilder, ich vertraue dem Fotografen.«

Das glückliche Paar allein, mit den Eltern, wobei der Mann hinter der Kamera stets, jedoch meist erfolglos versuchte, das rosafarbene Kleid in den Hintergrund zu rücken. Trixi verdeckte sogar teilweise ihren Gatten, zog ständig Spiegel und Lippenstift aus ihrem Täschchen, zupfte am Einstecktuch ihres Angetrauten herum, versuchte einmal, dem Fachmann für das Bild in seine Komposition hineinzureden, was er mit Missachtung strafte, während Marisa mit den Augen rollte.

»Noch eine Reihe drüben bei den Baumhäusern, ich würde euch gerne auf der runden Treppe sehen, nur das Paar, bitte.«

Marisas Blick fiel auf Schuhe und Kleidersaum, Mika sprang ihr zur Seite, das würde alles ohne Schaden funktionieren. Malerisch, das Paar auf der hölzernen Treppe, die um einen Buchenstamm gebaut nach oben führte.

Auf dem Rückweg zum Rondell hielt Jojo kurzen Abstand zur Hochzeitsgesellschaft und telefonierte. Der Fotograf nahm Marisa zur Seite. »Sind Sie mit einer Reihe von Schwarz-Weiß-Bildern einverstanden?«

Marisas strahlte zufrieden. »Sie meinen, weil sonst zu viel Rosa im Vordergrund steht?«

Er lächelte, nickte.

»Das ist eine gute Idee, gerne. Sie sind genial, kommen Sie doch am Abend zu unserer Feier, so gegen achtzehn Uhr? Es gibt ein ausgesuchtes Vier-Gänge-Menü, sehr lecker. Und bei der Gelegenheit können Sie sich gleich das Restaurant näher anschauen, denn für das erste Jahr werden wir mehrere Staffeln vorzüglicher Fotos für unsere Homepage brauchen. Wer gnadenloses Bonbonrosa in den Hintergrund stellt oder zu Farblos degradiert, der bekommt bei uns einen Jahresvertrag.«

Jojo hatte mitbekommen, was seine Frau besprach. Er hätte sich gern eingemischt, wollte nicht noch jemandem einen Vertrag in Aussicht stellen, als er vom Eingang her sein Hochzeitsgeschenk auf das Rondell zukommen hörte.

Er stellte sich mit Marisa auf die Brücke zum Schloss, wies den Fotografen an, auf die andere Seite des Rondells zu gehen, und schaute Marisa in die Augen. »Jetzt, mein Schatz, stellst du mal eben keine Fragen, sondern machst, was ich sage, okay?«

Irritiert sah sie ihn an, nickte.

»Schau mich bitte an oder das Schloss hinter mir und dreh dich erst um, wenn ich es dir sage.«

»Aber –«

»Kein Aber, mach es einfach.«

Ein außergewöhnliches Motorengeräusch kam näher, kein modernes, schon gar keines, das man kaum wahrnahm wie bei den Elektromotoren, nein, ein altes Geräusch näherte sich der Brücke. Der Fahrer stieg aus und legte den Schlüssel in Jojos Hand, die er hinter Marisas Rücken ausgestreckt hielt, während Besucher des Schlosses mit großem Interesse und Ahs und Ohs das Fahrzeug umkreisten und fotografierten.

»Du darfst dich jetzt umdrehen.«

Marisas Freude übertönte alles. »Ich kann es nicht glauben! Steht da echt ein Corvette Cabrio? Bestimmt ein C1, oder? Seit ich an Autos denke, ist das mein Traumwagen! Du hast tatsächlich jemanden gefunden, der es dir für diesen Tag ausleiht? Unfassbar, und dann noch in meiner Lieblingsfarbkombi, rot mit weißen Flanken. Wow, Jojo, wie schön!«

Jojo winkte mit dem Schlüssel, der an einem silbernen Herzanhänger baumelte. »Ja, es ist ein C1. Du hast oft über deine Träume gesprochen, da dachte ich mir, zur Traumhochzeit muss es dieses Fahrzeug sein.«

Marisa wollte zu dem Wagen laufen, Jojo hielt sie fest, legte ihr den Schlüssel in die Hand. »Er ist nicht geliehen. Schatz, er gehört dir.«

Das war der Moment, auf den der Fotograf gewartet hatte, pure Emotion, losgelöst von dem Anlass, er knipste eine Serie, die er »Freude« nennen würde. Denn jetzt war es an Marisa, Freudentränen zu vergießen, stürmisch umarmte sie ihren frischgebackenen Ehemann, schluchzte ein »Danke, du bist echt verrückt«.

Währenddessen versuchte die Trauzeugin, ihre Freudentränen abzutupfen, bevor das Gemenge aus Make-up, Wimperntusche und Tränen den Ausschnitt des Kleides erreichte. Auch nahm Mika ihr den Schleier mit dem Blütenkranz ab, denn Marisa wollte fahren, diese kleine Schönheit selbst nach Xanten zum Dom fahren, in dem der zweite Teil ihrer Trauung stattfinden würde. Den Wagen würde sie durch die Domimmunität bis zum seitlichen Hauptportal lenken und dort abstellen.

Mit Aufregung überließ sie Mika das Richten ihres Make-ups, schielte immer wieder zu dem Fahrzeug, das in der Sonne glänzte und aus dessen Kofferraum der Fahrer, der es gebracht hatte, Schnüre mit Blechdosen hinter den Wagen legte. Dann schritt er eilig zu einem weiteren Wagen, einer modernen dunklen Limousine, die ihm gefolgt war, aus dessen herabgelassener Scheibe ein Mann mit Sonnenbrille die Szene beobachtet hatte. Mit reglosem Gesicht fixierte er Jojo und reckte den Daumen.

In rasantem Tempo verließen die beiden Männer das Schlossgelände, während Marisa versuchte, ihr Kleid nebst Schleppe im Wageninneren unterzubringen und dabei mit ihren Füßen ungehindert an die Pedale zu gelangen. Jojo meinte, er könne auch fahren, wenn … Sie ließ dem Satz keine Chance, zu Ende gesprochen zu werden.

»Nein, nein, das geht, bestimmt. Komm, steig endlich ein, ich will unbedingt fahren. Du bist einfach ein Goldschatz, weißt du das? So ein teures Geschenk, ich kann es nicht glauben.«

Noch ehe die Hochzeitsgesellschaft ihre Fahrzeuge erreicht hatte, ließ Marisa den Motor kurz aufheulen und rollte auf die Brücke über dem Schlossgraben zu.

Jojo legte ihr die Hand auf den rechten Arm. »Nun warte wenigstens, bis die anderen hinter uns sind. Meine Frau in ihrem Traumwagen an der Spitze des Konvois. Gefällt mir.«

Er schaute nach hinten, alle folgten dem schicken kleinen Oldtimer. Jojo ließ es sich nicht nehmen, der Fahrerin ein leicht abgewandeltes Zitat aus einem frühen Lied von Udo Lindenberg ins Ohr zu raunen: »Hey Baby, gib Gas, lass uns nach Las Vegas, die Sonne putzen.«

In bester Laune lehnte er sich in den Sitz, lachte herzhaft, legte den linken Arm um die Schulter seiner Frau, die Dosen schepperten über den Asphalt, die Fahrer der wenigen Fahrzeuge hinter ihnen hupten jedes Mal, wenn ein Mensch in Sichtweite kam, ein Dauerkonzert ab dem Ortsschild Marienbaum, Stadt Xanten.

Niemand bemerkte die Vorbereitungen, die dort am Straßenrand stattgefunden hatten, um exakt diesen Moment abzupassen. Kein Mensch nahm das Augenpaar wahr, das dem kleinen, lauten Konvoi entgegenblickte.

***

Später stammelte der alte Mann, Gustav Gerkens, der zufällig an der einzigen Ampel der Durchfahrtsstraße stand, immer wieder: »Wat en Krimi, wie damals in Dallas.«

Einer der Seelsorger, die Hauptkommissarin Karin Krafft angesichts dieses Tatorts angefordert hatte, kümmerte sich um den Mann, stützte ihn, der wie gelähmt immer noch an der gleichen Stelle stand, von der aus er alles aus nächster Nähe mitangesehen hatte. Karin Krafft hatte sich seine Beobachtung bereits angehört und koordinierte diesen Einsatz, an dem mehrere Einsatzfahrzeuge und ihr gesamtes Team beteiligt waren.

Die Streifenbeamten waren hauptsächlich damit beschäftigt, Umleitungen zu errichten, denn was hier geschehen war, würde die Hauptstraße, die durch den Wallfahrtsort Marienbaum, einen nördlichen Stadtteil von Xanten, führte, für Stunden blockieren. Die Kollegen Tom Weber, Gero von Aha und Jeremias Patalon vom Kommissariat 1 waren unterwegs, um die anliegenden Häuser zu kontrollieren, hatten den Auftrag, nach Verdächtigen zu suchen, Waffen, Patronenhülsen, nach irgendeinem Hinweis. Niemand hatte einen Schützen auf der Straße gesehen, also musste er aus dem Verborgenen heraus agiert haben.

Karin hörte noch, wie der Zeuge dem Seelsorger seine Beobachtungen mit den gleichen Worten schilderte wie ihr. »Wie damals in Dallas, als die Kennedys in dem offenen Wagen durch die Stadt fuhren. Ich war klein und durfte auch fernsehgucken, wie die Amis ihren Präsidenten feierten, damals in Schwarz-Weiß, dat war wat Besonderes. Wir saßen mit Nachbarn zusammen, ich auf dem Boden vor dem Gerät, immer schön einen Meter entfernt. Im Fernsehen hast du den Schuss nicht gehört, damit hat doch keiner gerechnet. Du hast nur gesehen, dass der Präsident zusammenbrach und seine Frau voller Angst versuchte, das Fahrzeug zu verlassen. Ich fand et so schlimm und musste dann auch aus dem Zimmer, dat war nix für Kinder. Aber gesehen hatte ich et doch. Und dann passiert hier, mitten in Marienbaum, so wat! Ich hab von Weitem diesen kleinen Oldtimer mit dem Hochzeitsgerassel und die hupenden Autos bemerkt. Gustav, hab ich gedacht, Gustav, guck mal, wie nett.«

Der Mann wollte sich nicht setzen, auch seinen Blick nicht vom Tatort abwenden, er stand mit kalkweißem Gesicht neben dem Helfer, der ihn bei der Schulter hielt, und wies mit flatternden Fingern auf die Straße.

»Und dann seh ich, ich habbet noch genau vor Augen, dat plötzlich mit dem Mann wat nicht stimmt, und dann merk ich, meine Fresse, dat is ja Blut, da an seiner Stirn, und da sackt er schon an die Schulter von seiner Braut. Die fährt noch die paar Meter an mir vorbei, und dann schreit se und bremst und steigt kreischend aus dem Auto. Überall rote Spritzer auf dem weißen Kleid. Und da dachte ich dann, genau wie damals, neunzehndreiundsechzig in Dallas bei Kennedy, genau so, kein Schuss gehört, und ich hör noch gut, und zack, is einer tot.«

Eine Seelsorgerin kümmerte sich um die Braut, nein, nun war sie eine junge Witwe in einem mit Blut besudelten Brautkleid, die auf der Trage eines RTW lag. Sie hatte sich neben die Frau gehockt, ihr Tränenfluss und ihre schrillen Schreie verebbten langsam, da der Notarzt ihr ein Beruhigungsmittel injiziert hatte. Es schien unmöglich, sie zu befragen.

»So ein verdammtes Drama«, hatte Karin Krafft ihrem Teamkollegen Kommissar Nikolas Burmeester zugeraunt, nachdem sie einen Überblick über die Geschehnisse gewonnen hatte.

In Höhe der Bäckerei Gerards auf der Kalkarer Straße stand ein amerikanischer Oldtimer, ein Cabrio, quer auf der Fahrbahn. So hatte die Braut das Fahrzeug zum Stehen gebracht, nachdem ihr bewusst geworden war, dass ihr Mann mit einer tödlichen Kopfverletzung auf ihre Schulter gesackt war. Dem Mann war nicht mehr zu helfen, sein Körper lag abgedeckt neben dem Fahrzeug.

Hinter dem Oldtimer, den sich Karin mit Interesse anschaute – er war klein, schnittig, sah charmant aus –, hatten vier Fahrzeuge gehalten, die zum Brautpaar gehörten. Ein fünftes Auto, das eines Fotografen, stand vor der Imbissstube. Die Trauzeugin Mika hatte sich um die schreiende Braut bemüht, sie vom Wagen weggelenkt und fest in den Arm genommen, während sie selbst in Tränen ausbrach.

Der Vater des Bräutigams hatte die Wagentür geöffnet und versucht, seinen Sohn auf die Straße zu ziehen, stabile Seitenlage würde helfen, ein Passant hatte mit angefasst, eine breite rote Bahn zog sich vom Beifahrersitz auf die Straße. Der Vater hatte nicht wahrnehmen wollen, dass in der Blutspur Knochensplitter und Gewebe aus dem Kopf seines Sohnes schwammen, da die Kugel den Schädel durchdrungen und wieder verlassen hatte. Er hatte unbeirrt mit einer Herzmassage angefangen und rief nach einem Erste-Hilfe-Kasten, die Wunde müsse versorgt werden. Die Mutter des toten jungen Mannes wollte ihn wegziehen, auch das gelang erst den professionellen Ersthelfern. Der Vater der Braut saß noch immer regungslos hinter dem Steuer, während seine Frau neben ihm in ein ausgiebiges Lamento verfiel und immer nur »Nein, nein, nein …« rief.

Der Trauzeuge, Adrian Deventer, ein Freund des Toten, hatte geistesgegenwärtig alle Telefonate getätigt und die Straße Richtung Kleve durch ein Warndreieck mitten auf der Fahrbahn gesperrt, Passanten angesprochen, die auf der anderen Seite, Richtung Xanten, mit Abstand zu dem Toten ebenfalls die Fahrzeuge aufhielten. Zwei Freiwillige hielten eine auseinandergefaltete Thermodecke aus dem Notfallkasten ausgebreitet vor die Leiche, da sich die ersten Schaulustigen mit gezücktem Smartphone näherten.

Voller Elan und zornigen Schrittes nahm Karin Krafft den knipsenden Mann, der mitten in diesem Chaos stand, selbst ins Visier. »Hören Sie auf, das ist ein Tatort, und Sie handeln sich eine saftige Strafe ein, wenn Sie nicht sofort das Fotografieren unterlassen. Ich kann auch Ihre Kamera konfiszieren!«

Er hielt die Kamera in die Höhe und öffnete das Ladefach seiner Leica, entnahm die kleine Speicherkarte, reichte sie der Hauptkommissarin.

»Um Gottes willen, ich bin doch Profi, und die Kamera ist mein Werkzeug, die brauche ich. Mein Auftrag war es, die Hochzeit zu fotografieren. Hier sind die Bilder von diesem tragischen Geschehen, ab dem Zeitpunkt, an dem die kleine Kolonne zum Stehen kam. Ich habe alles dokumentiert, was in den Minuten bis zum Eintreffen der Polizei und der Rettungskräfte geschehen ist. Ich stelle Ihnen meine Aufnahmen zur Verfügung. Die Speicherkarte hätte ich gerne zurück.«

Mit einem Blick zum Cabrio seufzte er. »Ist das nicht furchtbar? Die waren auf dem Weg zur Kirche. So ein nettes Paar. Bei manchen Aufträgen überlege ich, wie lang die Ehe wohl halten wird. Die beiden hatten gute Chancen auf ein langes gemeinsames Leben.«

»Was lässt Sie so positiv denken?«

»Na, wie die miteinander umgegangen sind, sie, die Emotionale, aber auch eine Geschäftsfrau in Bezug auf das neue Restaurant. Und er, da, sehen Sie hin, spendabel, sich über die Freude anderer freuend. Ich will gar nicht wissen, was der kleine alte Flitzer gekostet hat. Ich weiß nur, dass ich nicht in der Lage wäre, so ein Hochzeitsgeschenk zu kaufen.«

Er übergab ihr eine Visitenkarte. »Falls ich dazu noch was sagen soll. Oder so. ›Zeugenaussage‹ heißt es immer im Krimi. Ich packe meine Kamera jetzt sofort ins Auto. Brauchen Sie mich noch?«

»Warten Sie bitte wie alle anderen.«

Heierbeck traf als Letzter mit dem Tatortwagen ein, seinen ersten Eindruck fasste er in einen einzigen Satz, bevor er die Materialkästen aus dem Transit holte: »Das Ende einer Traumhochzeit.«

***

Inzwischen war der halbe Ort auf den Beinen, vermutlich hatte die kleine Bäckerei doppelt so viele Kunden wie sonst. Sie bot die Gelegenheit, im Dorftratsch die wichtigen Erkenntnisse zu dem Geschehen auf der Straße vor dem Gebäude zu gewinnen. Karin Krafft reihte sich in die Schlange der Kunden ein, einen Kaffee wollte sie holen, und hörte einfach zu.

»… die kamen vom Standesamt, Traumhochzeit auf Schloss Moyland, und jetzt? Aus der Traum. Wie is dat alles passiert, Mia? Herzinfarkt?«

»Nee, bei Herz is nich allet voller Blut. Lasset dir von Gustav erzählen, der glaubt, et war wie damals bei Kennedy.«

»Hä?«

»Na, im Auto während der Fahrt erschossen.«

Die Verkäuferin unterbrach den Dialog. »Mia, was bekommst du?«

»Zwei Zitronenröllchen, und tu mir mal en Pfund Schwarzbrot.« Unbeirrt fuhr sie fort. »Jaaa, glaub mir. Der Mann is erschossen worden. Im Auto. Hier op de Straat.«

»Wer macht denn so wat? Gibbet doch gar nich.«

»Doch, da is de Kriminalpolizei aus Wesel, guck, jetzt kommt noch einer im weißen Anzug mit Kamera.«

Draußen verschwand Heierbeck hinter der Sichtschutzwand.

Mia war in Fahrt. »Et laufen Kriminaler durch den Ort, besonders de Straat entlang, die gucken durch alle Fenster, die zur Straat hin sind, ob da jemand gestanden hat …«

»Ja, meinen die denn, einer aus dem Ort würde so was machen? Da sollten wir dem Chef von denen aber mal Bescheid sagen, hier lebt kein Verrückter, dat sind doch alles normale Leut. Wie können die denken, dat hier einer hinter de Gardine steht und op de Straat schießt? Wer is denn überhaupt der tote Mann? Is doch keiner von uns, oder? Hochzeit auf Moyland, dat hätt sich rumgesprochen.«

Karin bestellte fünf Kaffee, wollte noch länger lauschen, und ihrem Team tat ein warmer Schluck bestimmt gut. Außer Gero von Aha, der würde wieder über die Qualität des Heißgetränks meckern, weil nur er mit seiner brodelnden multifunktionalen Maschine den wahren, echten Kaffee kochen konnte.

Die Verkäuferin stellte die Becher to go bereit und mischte sich in den Dialog vor der Theke. »Man sagt, das Paar käme von der Schäl Sick, er soll der Schwan sein.«

Niederrheinischer Dialog beim Bäcker.

»Hä?«

»Wat meinst du mit ›Hä‹?«

»Na, wie, der Schwan?«

»Der junge Mann, der dieses pompöse neue Restaurant in Wesel am Ufer gebaut hat, der heißt doch Schwan, oder? Jedenfalls wird überall für das Restaurant ›Schwan‹ geworben.«

»Ach, der ist dat? Nee, oder?« Mias Dialogpartnerin schien es jetzt eilig zu haben. »Ich muss, der Karl wartet.«

Karin war nicht klar, ob irgendein Karl auf Brot und Gebäck wartete oder ob die Frau nun endlich entscheidende Informationen aufgenommen hatte, die sie als Sensationsnachricht weiterverbreiten konnte. Es war fast wie mit der internationalen Presse in so einem kleinen Universum, wer als Erster Bescheid wusste, verkaufte sein Wissen gegen ehrfürchtiges Staunen als Lohn.

Mia ließ nicht locker. »Der Schwan also. Bei uns auf de Kalkarer Straße. Dat gibt doch keinen Zusammenhang.«

Karin verhandelte inzwischen mit der Verkäuferin über ein Tablett, das sie mitnehmen wollte, um alle Becher gleichzeitig zu transportieren. Unbekannten ein Tablett zu überlassen schien einem Sakrileg nahezukommen, also zückte die Hauptkommissarin ihren Ausweis.

»Hauptkommissarin Karin Krafft, ich leite hier die Ermittlungen. Bin ich nun vertrauenswürdig genug, um mir ein Tablett zu leihen?«

Plötzlich herrschte Stille in der Bäckerei, Mia bekam große Augen, die eilige Kundin fand es nicht mehr notwendig, schnell zu Karl zu kommen, die Verkäuferin stellte wortlos ein Tablett auf die Ablage.

Als Karin nach dem Bezahlen die Arme hob, um es zu greifen, wurde ihre Waffe sichtbar, die knapp über dem Bund ihrer Jeans gesichert im Holster steckte. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Karin fühlte nicht nur die Augenpaare der bislang wortführenden Frauen auf sich ruhen, sie bemerkte nun auch die Schlange, die sich hinter ihr gebildet hatte, Menschen unterschiedlichen Alters, die ehrfürchtig eine Gasse bildeten, um sie durchzulassen.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Wenn jemand von Ihnen der Kriminalpolizei mit sachdienlichen Hinweisen oder Beobachtungen weiterhelfen kann, dann melden Sie sich bitte bei uns.« Sie stellte das Tablett auf dem Tisch beim Fenster ab, fingerte mehrere Visitenkarten aus der Jackentasche und legte sie dort ab. »Sie können mich jederzeit erreichen.«

Ein Raunen erreichte sie noch durch die geöffnete Tür, als sie bereits draußen war.

»Dat war eine Hauptkommissarin …«

»… dann hat die hier dat Sagen …«

Später, als sie mit Burmeester und von Aha am Einsatzfahrzeug stand, erklang hinter dem Trassierband noch eine Stimme: »Dat is der Chef, die Frau, dat is en Hauptkommissarin.«

Umgehend schickte sie Burmeester, den bunt gekleideten Kommissar, auf dem bereits einige Seitenblicke ruhten, da seine neue stylishe Frisur – oben ein kleiner Zopf, seitlich kurz geschoren – ein Hingucker war, mit dem Tablett zurück zur Bäckerei. »Dein Auftritt, die Leute brauchen Stoff zum Erzählen.«

Er stutzte, sie schaute sich um, sah sich zu einer Erklärung genötigt. »Hier passiert sonst nicht viel. Es gab vor einem Jahr einen Einsatz des SEK, weil ein psychisch auffälliger Mann das Haus seiner Betreuerin nicht freiwillig verlassen wollte. Alles verlief glimpflich, aber die Aktion bot Gesprächsstoff für Tage.«

In Marienbaum ging man zum Laientheater und feierte tagelang den neuen Schützenthron, das war alles. Und dann gab es plötzlich hier op de günne Kant einen toten Schwan von de Schäl Sick. Unglaublich.

***

Die Braut war in Begleitung ihrer Freundin Mika Beisenkamp ins Josef-Krankenhaus nach Xanten gebracht worden. Um deren Fahrzeug wollte sich Marisas Vater kümmern. Er wurde aufgehalten, es wurde ihm untersagt, den Oldtimer anzufassen oder zu bewegen, da die Sicherung der Spuren noch nicht beendet war. Alle anderen, auch der Fotograf Ari Fink, durften nach eingehender Befragung und Aufnahme der persönlichen Daten den Tatort verlassen.

Nun stand nur noch das Cabrio mit weit geöffneten Türen und den blutüberströmten Sitzen, umgeben von Markierungen auf dem Asphalt und aufgerissenen Verpackungen von Mull und Verbandsrollen, vor der Bäckerei quer auf der Fahrbahn. Aus Richtung Xanten wurde der gesamte Verkehr durch die Vynener Straße abgeleitet. Es war ungewöhnlich ruhig in der Ortsmitte.

Gemeinsam mit dem Staatsanwalt Aaron Nilsson, dem verantwortlichen Polizeiobermeister Heger und dem Spurensicherer Heierbeck beriet Karin Krafft das weitere Vorgehen. Nilsson fragte die Hauptkommissarin sachlich, weshalb sie die Lage nicht als unübersichtliche terrorverdächtige Situation eingestuft hatte.

»Ein Mann stirbt im fahrenden Wagen an einem Kopfschuss. Was lässt dich davon ausgehen, dass hier nicht noch mehr Menschen auf offener Straße attackiert werden?«

Karin musste gar nicht nachdenken, für sie war und blieb es ein einzelner Schuss, eine Kugel, die entweder fahrlässig, zufällig oder gezielt diesen Mann getroffen hatte. »Die ersten Einsatzkräfte trafen sieben Minuten nach dem Anruf von Adrian Deventer, dem Trauzeugen des Opfers, ein, bis dahin hatte sich hier nichts weiter geregt. Meinst du nicht, dass ein Attentäter, von der Absicht zu töten gesteuert, wahllos weitergeschossen hätte?«

Nilsson nickte. »So habe ich es mir gedacht, ich wollte nur sichergehen, damit nicht der kleinste Zweifel aufkommt. Du kennst deine Vorgesetzte, die wird immer merkwürdiger.«

Karin wusste, was er meinte, und rollte mit den Augen. Frau van den Berg glitt mit zunehmendem Alter zurück in vorzeitliche Verhaltensweisen und monierte seit Neuestem pedantisch fehlende oder falsch gesetzte Kommata in Berichten.

Karin blieb sachlich und wies auf die unterschiedlichen, zum Teil alten Hausfassaden aus dem vorigen Jahrhundert, die entlang der Straße standen. »In jedem Haus haben sich meine Männer bereits umgeschaut, nirgendwo gibt es an den Fenstern, die in diese Richtung weisen, Spuren eines Schützen, alle in Frage kommenden Räume werden gleich noch einmal von der Spurensicherung unter die Lupe genommen.«

Heierbeck schaute auf die Häuserzeile und nickte. »Wir brauchen hier noch lange, um alles zu dokumentieren. Ich habe einen Hubschrauber angefordert, der aus der Luft fotografiert. Irgendwas gefällt mir nicht. Anhand des Einschusswinkels gehe ich davon aus, dass zumindest aus der Nähe der Häuser geschossen wurde. Kein Zeuge hat einen Schützen bemerkt –«

Nilsson unterbrach freundlich: »… und auch keine Schützin …«

Heierbeck sah ihn an, als sei er nicht ganz bei Trost, wusste jedoch, worauf der Staatsanwalt anspielte. »Weder Frau noch Mann mit Waffe sind bemerkt worden. Ob der Winkel zu einem der Fenster passt, das werden wir nachher versuchen zu rekonstruieren. Ein seltener Einsatz von Protrusion Rod und 3D-Laserscanner. Den Stab zur Ermittlung der Flugbahn des Projektils werde ich unter Berücksichtigung der Körpergröße des Opfers und des vorgefundenen Einschusswinkels bei dem Dummy einsetzen, der ebenfalls angefordert und bereits auf dem Weg ist. Dazu brauche ich die Straße.«

Für Polizeiobermeister Heger hieß dies, auch die Umleitung auf die L 8 am Ortsende Richtung Kleve für unbestimmte Zeit aufrechtzuerhalten.

Heierbeck erklärte: »Der Mann ist ungefähr hundert Meter vor dem endgültigen Stopp des Cabrios getroffen worden, das bedeutet, wir müssen das Fahrzeug dort in Position bringen, mit Hilfe des Stabs, der den Eintrittskanal der Kugel wiedergibt, die Schussrichtung ermitteln und dann mit dem Scanner schauen, was sich in Schussrichtung befindet. Danach folgt die übliche Feinarbeit, Fotos, Fingerabdrücke, DNA-Spuren, Schmauchspuren, wir werden alles sichern, was sich finden lässt.«

Das Team des Kommissariats 1 würde sich anschließend mit den Bewohnern des Hauses, das durch den Abschusswinkel ermittelt wurde, näher befassen.

Nilsson ging wieder zu seinem Wagen, drehte sich noch einmal zu Karin um. »Eine Hochzeit, wie traurig, dieses Ende. Und der Tote, Jojo Schwan, muss ein begnadeter Koch gewesen sein. Der war in den letzten Wochen andauernd in der regionalen Presse. Ich habe mich echt auf das Essen in dem neuen Restaurant gefreut.«

Karin deutete auf die schockierten Eltern des Paares. »Ich weiß ja nicht, ob der Schwan wusste, in was für eine Familie er da einheiratet. Die schrill gekleidete Frau des Vaters der Braut ist so betroffen, dass sie bereits nach dem Erbe fragte, als sie sich noch unablässig die Augen abtupfte. Schließlich habe die kleine Marisa die standesamtliche Trauung hinter sich und sei die Gattin gewesen, die rechtmäßige Erbin. Geldgeil, würde ich sagen, oder es spricht aus ihr der zerplatzte Traum von massenhaften Getränken auf Kosten des Hauses.«

Nilsson blickte zu der kleinen Gruppe, an deren Rand eine Frau in schreiendem Rosa redete und gestikulierte. »Abstoßend, einfach ekelhaft«, sagte er. »Der Schwan ist noch nicht einmal kalt, und schon geht das Gezanke los. Ihr habt die Frau auch auf der Liste?«

»Alle sind registriert, erstbefragt und werden in den nächsten Tagen erneut aufgesucht. Wir lassen uns nicht beeindrucken, weder durch Worte noch durch grässliche Kleiderfarben.«

***

Während die übrigen Kollegen mit Karin zusammen ins Kommissariat 1 nach Wesel fuhren, blieben Nikolas Burmeester und Gero von Aha noch vor Ort und warteten auf die ersten Ergebnisse der Spurensicherung, um sich gegebenenfalls Zutritt zu dem Gebäude zu verschaffen, aus dem der tödliche Schuss abgefeuert worden war.

Über ihnen kreiste der Hubschrauber der Polizei, man konnte die Befestigung für die unterschiedlichen Kameras erkennen und den Beamten, der sie durch die geöffnete Tür bediente. Es kostete Mühe, mehrere Zeitgenossen davon zu überzeugen, dass sie aus ihren Fenstern keine Fotos von dem Wagen machen durften, der zurück zur mutmaßlichen Position des Einschusses geschoben wurde. Die Aufnahme mit dem Laserscanner wurde mehrere Male unter minimaler Veränderung der Position des Fahrzeugs wiederholt, und jedes Mal sah Heierbeck von dem Gerät auf und schüttelte den Kopf, überprüfte unwillig die Funktionstüchtigkeit und positionierte sich neu.

Von Aha und Burmeester wagten nicht, ihn nach dem Grund für seine Unzufriedenheit über das Ergebnis zu fragen. So kannten sie den erfahrenen Spurensicherer gar nicht, ratlos und am Rande der Verzweiflung. Sie blickten voller Sehnsucht auf die Menschen, die zu Fuß oder mit dem Rad einen Stopp bei dem Schnellimbiss auf der anderen Seite machten und sich entweder dort die Pommes schmecken ließen oder den Tempel der verlockenden Genüsse mit eingepackten Mahlzeiten wieder verließen.

Burmeester seufzte laut. »Ich könnt ja … Bei uns gibt es seit einiger Zeit nur noch Vegan.«

Gero von Aha starrte wie er auf die gegenüberliegende Straßenseite. »Ich rieche es förmlich.«

Beobachter dieser Szene hätten bemerkt, dass Burmeester sich über die Lippen leckte und von Aha sein Kleingeld aus der Hosentasche fischte. »Marlene besteht auch auf Fleischlos. Und bio, alles bio. Komm, meine Kohle reicht für zwei.«

Keine zehn Minuten später standen sie mit je einem Schälchen Currywurst extrascharf und doppelt Pommes mit Mayonnaise wieder am Straßenrand, während Heierbeck in nahezu meditativer Langsamkeit eine der Straßenlinden umrundete. Gero von Aha kommentierte mit genussvoll gefülltem Mund.

»Was bedeutet das jetzt? Ob unser Kollege noch weiß, was er tut? Hmm, Himmel, ist das lecker.«

»Ja, die Currywurst, genau meine Körnung und superscharf. Bestimmt riecht Yasmin von Weitem, dass ich Verbotenes gegessen habe.«

»Und die Pommes außen knackig und innen zart, delikat. Ups, Mayonnaise auf dem Jackett, das sieht Marlene sofort, jetzt hilft auch kein Fisherman’s Friend mehr, ich werde freiwillig gestehen müssen.«

Während die Herren Kommissare des K1 für Mord und Totschlag weiter ihrem Appetit auf traditionelles Fast Food frönten, holte Heierbeck eine Leiter aus dem Tatortfahrzeug und lehnte sie an den Baum. Mit Currysoße in den Mundwinkeln schauten sich von Aha und Burmeester an und zuckten die Schultern.

***

Karin Krafft war erst vor zehn Minuten heimgekommen und saß bereits auf dem Sofa neben ihrem Mann, dem Archäologen Maarten de Kleurtje. Der hatte mit großem Interesse und tiefem Bedauern von dem neuesten Fall gehört, mit dem sich seine Liebste konfrontiert sah. Es war nur so aus ihr herausgesprudelt. Eine Traumhochzeit mit tragischem Ende.

»Das gibt es doch nicht. Auf dem Weg zur Kirche stirbt der Bräutigam gewaltsam? Was ist das für eine furchtbare Geschichte? So etwas habe ich noch nie gehört. Wie mag es der Braut gehen?«

»Sie ist im Schockzustand ins Krankenhaus gebracht worden. Mich hat dieser Tatort auch besonders berührt. Beherrschen musste ich mich gegenüber der Stiefmutter der Braut. Die lamentierte schon über das Erbe der Ärmsten, als der Tote noch vor Ort war. So eine unsensible alte Kuh!«

Maarten schüttelte den Kopf. »Widerlich. Hat die Braut das mitbekommen?«

»Nein, ich glaube nicht.«

Der Mann mit dem grauen Zopf und dem kleinen Bauchansatz setzte sich auf. »Wir müssen unseren Familientag verlegen.«

Jetzt fiel Karin wieder ein, was sie gemeinsam geplant hatten. Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr er fort.

»Ich habe extra rechtzeitig einen großen Tisch im ›Schwan‹ reserviert und deiner Mutter und Henner Bescheid gesagt. Wir wollen doch so lange schon mal wieder gemeinsam auswärts essen gehen, und was ich in der regionalen Presse gelesen habe, fand ich sehr ansprechend. Johanna war total begeistert, und selbst unsere Tochter fand es – Originalton – cool, sich den Laden mal anzuschauen. Endlich gibt es ein richtig schönes Restaurant direkt am Rheinufer, und dann erschießt jemand den Besitzer und Küchenchef. Das ist doch unglaublich.«

Karin unterbrach ihn und deutete auf den Fernseher. »Aktuelle Stunde« im WDR. Mit bedauernden Worten wurde über die Tat berichtet und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass die B 57, Ortsdurchfahrt Marienbaum, auf nicht absehbare Zeit gesperrt bliebe, da der Tathergang rekonstruiert würde. Filmaufnahmen aus der Entfernung zeigten, wie die freiwillige Feuerwehr des Ortes ihre transportablen Strahler aufstellte, um den Tatort zu beleuchten.

»Da, das ist Kollege Heierbeck«, sagte Karin, »wieso steht er da auf einer Leiter an der Linde?«

Nach einem schnellen Schnitt kam der Reporter Tim Köksalan ins Bild und berichtete über die umfangreichen Arbeiten, die keinen Aufschub zuließen.

Maarten rückte näher an das Gerät. »Sag mal, stehen da Burmeester und Gero von Aha im Hintergrund und essen aus Pommesschälchen?«

Bevor Karin wahrnehmen konnte, was er entdeckt hatte, war die Berichterstattung beendet. »Die beiden haben jeglichem Fast Food abgeschworen, hoffentlich haben ihre Frauen das nicht gesehen.« Sie stellte ihr Glas ab, hatte am Rotwein nicht nur genippt. »Mein Team steht bei einer Berichterstattung im TV mampfend im Hintergrund, und Heierbeck arbeitet im Dunkeln weiter. Letzteres ist bedenklich, er äußert nie seine Theorien, er ackert so lange, bis er sie untermauern kann, und präsentiert dann das Ergebnis. Der kann doch nicht die ganze Nacht durcharbeiten.« Sie stand auf, ging zur Diele, streifte sich ihre Sneakers über.

»Was hast du vor?«

»Ich fahre da jetzt hin, ich will auf dem Laufenden sein.«

Maarten kam zu ihr. »Du hast Rotwein getrunken, warte, ich schreibe eine Nachricht für Hannah, und dann fahre ich dich, es ist ja nicht weit.«

Sie lächelte ihn an und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Weißt du eigentlich, was für ein lieber Kerl du bist? Eigentlich gefällt dir nicht, was ich beruflich mache, und dann unterstützt du mich doch. Womit habe ich dich nur verdient?«

Er musste lachen. »Mit jeder Faser deiner Persönlichkeit. Bist du startklar?«

Schweigsam fuhren sie in Richtung Marienbaum, an der Polizeisperre wies Karin sich aus, sie durften passieren. Maarten parkte vor der Kirche. Burmeester erkannte Karin und lief auf sie zu.

»Hat es geschmeckt?«

Irritiert starrte er sie an.

»Während Tim Köksalan in der ›Aktuellen Stunde‹ über die Tat berichtete, wart ihr im Hintergrund zu sehen, genüsslich kauend mit Pommesschalen in den Händen. Überlege dir schon mal, wie viele von Yasmins zahlreichen Cousinen das gesehen haben und ihr per WhatsApp gerade mitteilen, dass du im Fernsehen warst.«

Sie ließ ihn stehen und ging zu Heierbeck, der seinen Laserscanner ausrichtete und auf die Linde schaute, an deren Stamm seine Leiter lehnte. »Kollege, ist es nicht Zeit für Feierabend? Es lässt sich doch nicht alles ordentlich ausleuchten.«

Erstaunt sah er in ihre Richtung. »Wissen Sie, Frau Krafft, ich habe schon seit Stunden ein Ergebnis, ich kann es nur nicht glauben, es ist einfach unmöglich.«

»Was meinen Sie?«

Heierbeck wies ihr, ihm zu folgen, er ging zu dem Wagen, der immer noch auf der Straße stand, dort, wo der Schuss den Mann vermutlich getroffen hatte.

»Ich habe ein Projektil im Kofferraum aus der Karosserie gepuhlt, es bestätigt den Eintrittswinkel, den ich schon erkannt hatte. Ein Geschoss aus einem Präzisionsgewehr, mehr kann ich dazu noch nicht sagen. Folgen Sie mir, ich zeige Ihnen, wo ich nicht weiterkomme.«

Karin folgte ihm über die Straße zu der beleuchteten Linde, einem Straßenbaum, nicht sehr alt, nicht besonders umfangreich, ein stinknormaler Baum, außer dass eine Leiter an ihm lehnte und in ungefähr zweieinhalb Metern Höhe ein roter Punkt auf der Rinde aufleuchtete.

Heierbeck zeigte nach oben. »Ich habe meine Vorgehensweise und die Fakten nun mehrfach überprüft. Sehen Sie den roten Punkt?«

Karin nickte.

»Von dort ist der Schuss gefallen.«

Karin sah ungläubig zum Baum hoch. Ein glatter, dünner Stamm, kein Mensch konnte sich mit einem Gewehr dort in der Höhe unbemerkt festklammern, nur ein Kind, ein sehr schmales, würde sich hinter dem Stamm verbergen können. »Und da sind Sie sich sicher?«

»Ja und nein.«

»Was bedeutet das?«

»Wie Sie sehen, ist aus dieser Position ein gezielt gesetzter Schuss nicht möglich. Wenn ich die Linie aber weiterführe, kommt kein Gebäude in Frage, zumal dann dieser Baum die Sicht versperrt hätte. Es gibt also nur eine logische Erklärung.« Er hielt inne. Diesen Moment, in dem die Spannung wuchs, schien er auszukosten.

»Nun, jetzt aber raus mit Ihrer These.«

»Schauen Sie, vor dem Baum ist eine recht große Parkbucht. Die einzige Erklärung, die ich habe, ist die, dass hier ein relativ hohes Fahrzeug gestanden haben muss, von dessen Ladefläche aus geschossen wurde. Nach dem Schuss haben sich alle darum gekümmert, was vorne vor der Ampel in Höhe der Bäckerei geschehen ist. Niemand ist auf die Idee gekommen, nach hinten zu blicken.«

Karin nickte anerkennend und sah sich die Parkbucht an, die Heierbeck meinte. Der gab seinen Mitarbeitern das Okay, das Equipment zusammenzupacken.