Eure Heimat ist unser Albtraum - Fatma Aydemir - E-Book

Eure Heimat ist unser Albtraum E-Book

Fatma Aydemir

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Beschreibung

In den letzten fünf Jahren ist viel passiert: ein vermeintlich progressiver Regierungswechsel,die antisemitischen und rassistischen Anschläge in Halle und Hanau, die verfassungsfeindliche Gefahr von rechts wächst. Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah blicken im neuen Vorwort zurück und stellen fest: Wir sind immer noch nicht weit genug gekommen, wir müssen weiter über Rassismus und Antisemitismus reden, dieses Buch bleibt ein Manifest gegen Heimat. 17 Autor_innen geben in 14 viel beachteten und drei neuen Essays Einblick in ihren Alltag und halten Deutschland den Spiegel vor: einem Land, das sich als vorbildliche Demokratie begreift und gleichzeitig einen Teil seiner Mitglieder als »anders« markiert, kaum schützt oder wertschätzt. Mit Beiträgen von Zain Salam Assaad, Simone Dede Ayivi, Max Czollek, Anna Dushime, Olga Grjasnowa, Enrico Ippolito, Sharon Dodua Otoo, Reyhan Şahin, Sasha Marianna Salzmann, Mithu Sanyal, Nadia Shehadeh, Margarete Stokowski, Deniz Utlu, Dana Vowinckel, Vina Yun, Hengameh Yaghoobifarah und Fatma Aydemir.  

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Eure Heimat ist unser Albtraum

Fatma Aydemir, 1986 in Karlsruhe geboren, war Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. 2017 erschien ihr Debütroman Ellbogen, für den sie mit dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde. Ihr zweiter Roman Dschinns wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis und dem Preis der LiteraTour Nord 2023 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 

Hengameh Yaghoobifarah lebt und arbeitet in Berlin. Seit 2014 ist Hengameh Yaghoobifarah Redaktionsmitglied beim Missy Magazine. Zwischen 2016 und 2022 erschien die Kolumne »Habibitus« in der taz. Gemeinsam mit Fatma Aydemir hat Hengameh Yaghoobifarah 2019 den viel beachteten Essayband Eure Heimat ist unser Albtraum herausgegeben. 2021 erschien der erfolgreiche Debütroman Ministerium der Träume.

 

Was bedeutet es, tagtäglich als Bedrohung wahrgenommen zu werden?Was machen Rassismus und Antisemitismus mit unseren Beziehungen?Vor fünf Jahren erschien dieses Buch erstmals als Manifest gegen Heimat – und ist immer noch erschreckend aktuell. In Zeiten eines vermeintlich progressiven Regierungswechsels, kaum aufgeklärten rechtsextremen Anschlägen sowie der Verbreitung gefährlicher Verschwörungstheorien braucht es unsere Allianzen gegen die völkische Heimat mehr denn je.Mit neuen Texten von Zain Salam Assaad, Anna Dushime und Dana Vowinckel und einem neuen Vorwort der Herausgeber_innen Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah.

Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah

Eure Heimat ist unser Albtraum

Mit Beiträgen von Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa, Margarete Stokowski uvm.

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019für »Vorwort« – Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah,»LACHEN« – Anna Dushime, »VERNUNFT« – Dana Vowinckel,»EINSAMKEIT« – Zain Salam Assaad© Ullstein Buchverlage GmbH, 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Autorinnnenfotos: © Valerie-Siba RousparastAlle Rechte vorbehaltenE-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3216-1

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort

Sichtbar

Arbeit

Vertrauen

1

2

3

Liebe

Blicke

Beleidigung

Lachen

Zuhause

Gefährlich

Privilegien

Essen

Sprache

Vernunft

Sex

Gegenwartsbewältigung

Einsamkeit

Zusammen

Zu den Autor_innen

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Widmung

Für uns

Vorwort

Als die Idee zu diesem Buch entstand, im März 2018, hatte gerade zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte eine rechtsextreme Partei Einzug in den deutschen Bundestag gehalten. Zeitgleich wurde das Innenministerium umbenannt und hieß plötzlich Ministerium für Heimat, Bau und Inneres.1 Ein Heimatministerium also. Wir waren alarmiert. Warum? Weil »Heimat« in diesem Land nie einen realen Ort, sondern schon immer die Sehnsucht nach einem bestimmten Ideal beschrieben hat: einer homogenen, christlichen weißen Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben, Frauen sich vor allem ums Kinderkriegen kümmern und andere Lebensrealitäten schlicht nicht vorkommen. Im wahrsten Sinne: ein Albtraum.

»Heimat« diente den Rechten schon immer als Kampfbegriff, um all jenen Menschen, die diesem Ideal nicht entsprachen, ihre Existenzberechtigung abzusprechen. Beim sogenannten »Thüringer Heimatschutz« etwa lernten sich die Mitglieder des NSU-Kerntrios kennen, bevor sie durchs Land zogen, um (mindestens) neun Migranten und eine Polizistin zu ermorden. Die rechtsextreme Partei NPD hat sich in der Hoffnung auf neue Popularität zuletzt in »Die Heimat« umbenannt. »Heimat« ist auch ein integraler Teil der faschistischen NS-Ideologie und somit kaum ohne Zusammenhang zur Shoah denkbar. Ein Ministerium danach zu benennen, verstanden wir als fahrlässige und gefährliche Normalisierung, der es unbedingt entgegenzutreten galt.

Als Intervention veröffentlichten wir also diesen Band mit insgesamt vierzehn literarischen Essays über den Alltag in einem antisemitischen und rassistischen Land. Fünf Jahre später können wir uns immer noch darauf einigen: still not loving Heimat. Die fast verzweifelt wirkenden Versuche, sich das Terrain irgendwie progressiv anzueignen, lehnen wir genauso ab wie die Sehnsucht von rassifizierten Personen, einen inklusiveren Heimatbegriff zu gestalten. Ethnoromantik überlassen wir gerne weiterhin den Rechten. Unsere Utopien sehen anders aus. Um ihnen näher zu kommen, braucht es Allianzen, die sich aus politischen Werten und Solidarität anstatt durch Identität zusammensetzen. Bekanntermaßen sind ja auch die Unterdrückten nicht immun vor regressiver Haltung – seien es antifeministische Frauen, rechte Migrant_innen oder queerfeindliche Lesben und Schwule. Der Appell an ein auf Identität basierendes Bündnis führt in die Sackgasse.

Konservative Kampagnen fußen oft auf Spaltung: weiße Arbeiter_innen gegen Geflüchtete, Migrant_innen gegen Queers, Jüdinnen_Juden gegen Muslim_innen. Wir wehren uns gegen das Prinzip »Teile und herrsche«: Wir lassen uns nicht gegeneinander ausspielen.

Ein zeitloses Werk zu schaffen ist für Autor_innen in der Regel ein Traum. Bei diesem Buch hätten wir uns allerdings gewünscht, die Zeit hätte es überholt. Dem ist leider nicht so.

Immer wieder überbietet die Realität unsere kühnsten Albträume. Dank einer Recherche des Mediums Correctiv wurde Anfang Januar 2024 bekannt, dass AfD-Politiker_innen mit dem Kopf der rechtsradikalen »Identitären Bewegung«, rechten Investoren und bekannten Akteur_innen der rechtsradikalen Szene bei einem geheimen Treffen über einen »Masterplan« diskutiert haben, rassifizierte Menschen mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft nach Nordafrika zu deportieren. Der Treffpunkt war ein Landhotel in der Nähe von Potsdam, nur wenige Kilometer entfernt von dem Ort, an dem am 20. Januar 1942 auf der Wannseekonferenz die systematische Ermordung von Millionen Menschen geplant wurde. Besonders beunruhigend daran ist nicht unbedingt die völkische und faschistische Ideologie der AfD, denn die ist nie ein Geheimnis gewesen. Es ist das allgemeine politische Klima. Nur wenige Monate zuvor kündigte der SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Spiegel-Interview an, »endlich im großen Stil abschieben« zu müssen. Sollte sie rechtskräftig werden, wird die umstrittene GEAS-Reform zu einer faktischen Abschaffung des Asylrechts in der EU führen – nicht nur von der SPD und FDP, sondern auch von den Grünen mitgetragen.

Die Aneignung rechter Rhetoriken von vermeintlich progressiver Seite hat den wachsenden Zuspruch für die rechte AfD nicht verhindern können – im Gegenteil. Die Rechten verzeichnen massive Erfolge bei Kommunal- und Landtagswahlen, die nächsten Bundestagswahlen bleiben abzuwarten, die Umfragen verheißen düstere Aussichten. Rechtsextreme Anschläge wie jene in Hanau und Halle wurden vom Staat weder verhindert noch umfassend aufgeklärt. Gleichzeitig erreichen die Repressionen gegen und die Kriminalisierung von Antifaschist_innen mit dem Antifa-Ost-Verfahren um Lina E., aber auch dem katastrophalen Umgang mit Klimaaktivist_innen einen neuen Höhepunkt. Staatlich finanzierter Faschismus auf der einen Seite, staatlich bekämpfter Antifaschismus auf der anderen – die Beispiele sind unzählig.

Mit der vorliegenden Neuausgabe von Eure Heimat ist unser Albtraum wollen wir unsere Intervention fünf Jahre später von Neuem bekräftigen. Wir freuen uns zu diesem Anlass, die bisherigen Texte durch drei neue Essays ergänzen zu dürfen: Zain Salam Assaad schreibt über politische Einsamkeit, Anna Dushime über das Bedürfnis nach Lachen und Dana Vowinckel über die Notwendigkeit von Vernunft.

Und weil wir in den letzten Jahren immer wieder dieselbe Frage gestellt bekamen als Reaktion auf den Buchtitel, nämlich: Warum wir überhaupt noch hier sind, wenn es in diesem Land wirklich so furchtbar ist? Die Antwort ist simpel: Genau deshalb. Um eure völkische Party zu crashen.

Fatma Aydemir & Hengameh Yaghoobifarah

Januar 2024

Sichtbar

von Sasha Marianna Salzmann

Ich werde nie wissen, was es heißt, unsichtbar zu sein. Ich werde nie wissen, wie es ist, unvorsichtig sein zu können beim Küssen im Park, einfach draufloszuknutschen. Was es heißt, durch die Straßen zu streifen und nicht damit rechnen zu müssen, dass jemand im Vorbeigehen meine Haare zu berühren versucht. Wie es ist, sich nicht ständig in Selbstgesprächen zu beschwichtigen, wenn man mehrmals am Tag gefragt wird, ob man Deutsch verstehe. Mich in der Menge aufzulösen, ist keine Option für mich. Ich gehöre gleich mehreren Minderheiten an; das kaschieren zu wollen, birgt für mich größere Gefahren, als meine Positionen zu benennen.

Your silence will not protect you2 heißt ein Essayband von Audre Lorde, in dem sie gleich in mehreren Texten die destruktive Kraft von selbstauferlegtem Schweigen he­rausarbeitet: Der einzige Weg, der verhindert, dass das, was man ist, gegen einen verwendet wird, sei das Sprechen über sich, bevor es andere tun. Andernfalls blieben die Angriffe und Beurteilungen der anderen in den Grauzonen der gesellschaftlichen Wahrnehmung, und man wird danach behaupten können, man habe von nichts gewusst.

Neben den stolzen Jüdinnen und Juden des letzten Jahrhunderts, die ihre Kultur selbstbewusst nach außen trugen und feierten, fallen mir immer wieder diejenigen ein, die so damit beschäftigt waren, sich zu assimilieren, dass Hitler sie daran erinnern musste, dass sie nie dazugehören würden und nie erwünscht wären. Diese Menschen wurden jüdisch durch Diskriminierung, durch Ausgrenzung, durch ihren Tod. Viele von ihnen meinten, wenn sie sich als Teil der christlich-deutschen Gesellschaft verstünden, dann seien sie es auch. Einige glaubten der antisemitischen Propaganda und schämten sich ihrer selbst: »Wer sich assimilieren konnte oder wollte, für den war alles, was an den Moschus des Judentums erinnerte, eine Art hässlicher Atavismus, wie ein Fischschwanz, den man noch hinter sich herzieht, nachdem man den Schritt aufs Festland geschafft hat«, schreibt Maria Stepanova in ihrem Roman Nach dem Gedächtnis3. Das Ergebnis ist bekannt. Assimilation führt ins Verderben. Warum versuchen wir also dazuzugehören? Welche Versprechen birgt es, so zu sein wie alle, das »Normalsein«? Und kann man nach den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts wirklich glauben, dass man als Minorität in einer Gemeinschaft geschützt wird, wenn man leise ist und sich so unauffällig wie möglich verhält?

Zumindest im jüdischen Kontext bedeutet das Nicht-Auffallen und Nicht-Benennen, dass man nicht vorkommt. Wenn ich meine Kultur nicht feiere, existiert sie nicht, versuchte ich der Frau, die sich mir als Christin vorstellte, zu erklären, als sie mich nach einer Lesung darauf hinwies, dass für sie die Art, wie ich meinen Davidstern gut sichtbar über dem Shirt trage, Exhibitionismus sei.

An diese Frau musste ich denken, als ich 2017 in dem Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes las, dass 43,8 Prozent der deutschen Bevölkerung voll und ganz oder mindestens tendenziell dem Satz zustimmen: »Homosexuelle sollten aufhören, so einen Wirbel um ihre Sexualität zu machen.« Für die meisten dieser Gruppe ist ihre eigene Sexualität als Norm markiert; sie fordern mein Schweigen, meine Unauffälligkeit und damit mein Verschwinden mit dem Verweis darauf, dass man über Homosexualität nicht mehr sprechen müsse, denn Homos seien längst überall angekommen. Selbst hochrangige Politiker_innen seien offen homosexuell und stünden mit ihrem Lebensstil für die Toleranz der westlichen, christlichen Gesellschaft. Sieht man sich aber die Geschichte von Queerness genauer an, wird deutlich, wie ungesichert und immer aufs Neue umkämpft dieses Feld ist: Das in Deutschland 1872 eingeführte und von den Nazis 1935 verschärfte Homosexuellengesetz unter dem § 175, das Männer für gleichgeschlechtliche Akte mit Zuchthaus bestrafte, wurde erst 1994 abgeschafft. Die Rehabilitierung aller Verurteilten und ihrer Sexualpartner folgte erst 2017, viele der Betroffenen waren längst tot.

Schaut man sich die polizeilich erfassten Delikte gegen »sexuelle Orientierung in Deutschland« als Statistikkurve an, dann sieht man die Welle über die letzten Jahre anwachsen wie ein Tsunami.4

Erst 2018 nahm die Weltgesundheitsorganisation Transidentitäten von der Liste der Geisteskrankheiten. Trotzdem müssen diese Menschen zwei voneinander unabhängige psychiatrische Gutachten vorlegen, wenn sie eine Hormonbehandlung beginnen wollen. Das verabschiedete Gesetz zur dritten Geschlechtsoption, das neben »männlich« und »weiblich« auch den Eintrag »divers« vorsieht, zielt auf Intersexuelle, aber nicht auf Transidente und Nicht-Binäre. Die 2021 gewählte Bundesregierung versprach ein Selbstbestimmungsgesetz, nach dem »Transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen (…) künftig die Möglichkeit haben (sollen), ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister und ihre Vornamen durch eine Erklärung beim Standesamt ändern zu lassen«. Ich schreibe diese Überarbeitung im September 2023, und Menschen wie ich warten immer noch auf die Umsetzung des Versprechens. Sprich: wir hoffen darauf, dass das Gesetz verabschiedet werden kann, bevor die rot-grüne Regierung durch eine rechtskonservative ersetzt werden wird. Ich als nicht-binäre Person bin mit dem Gefühl aufgewachsen, dass Menschen die Art, wie ich mich selbst wahrnehme, für eine psychische Störung halten. An den Reaktionen auf mein Geschlecht hat sich, trotz Gesetzesentwurf, natürlich nichts geändert.

Vor allem Transrechte werden weltweit zur Verortungslinie, an der sich ablesen lässt, ob man sich nach der imaginären alten Welt zurücksehnt, in der man noch nicht mit mehr als zwei Geschlechtern – und ihren traditionell zugeschriebenen Rollenbildern – belästigt wurde, oder ob man bereit ist anzuerkennen, dass die Welt sich vorwärts dreht. LGBTIQ*-Themen sind schon lange eine relevante Spielkarte in politischen Machtkämpfen. Seinem Selbstverständnis nach steht Europa für Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. Nicht zufällig lässt jedes Land, das in die EU will, gleich nach der Bewerbung um den Beitritt eine Gay Pride Parade zu. Meistens zum ersten Mal und unter Einsatz eines massiven Polizeiaufgebots, das die Demonstrierenden und Feiernden vor dem wütenden Mob schützen soll. Nicht umsonst nennt uns Russland, das sich in radikaler Opposition zu der Union sieht, in der wir leben: Gayropa.

Und so gibt es hierzulande das Märchen vom guten Schwulen. Der a) weiß ist, b) dasselbe begehrt wie jede heterosexuelle Person angeblich auch: einen Partner, ein Haus, Autos und Karriere. Einer von ihnen, Jens Spahn, bewarb sich zum Zeitpunkt, als ich an diesem Text schrieb, um den Vorsitz der damals regierenden CDU. Danach spielte er eine unrühmliche Rolle als Gesundheitsminister in der Corona-Pandemie und wetterte 2023 aus der Opposition heraus mit Schaum vor dem Mund gegen die rot-grüne Regierung: »Deutschland braucht eine Pause von dieser völlig ungesteuerten Asylmigration.«5 Seine Sexualität verschweigt er nicht, allerdings gibt er auch zu, dass er zu seinem privaten wie öffentlichen Coming-out durch innerparteiliche Machtkämpfe gezwungen wurde. Außerdem wird er nicht müde zu betonen, dass er keine »schwule Klientelpolitik« machen will. Auf keinen Fall will er damit auffallen, dass er schwul ist. Sein Markenzeichen ist sein Hass auf die Muslim_innen: Er will Burkas verbieten, zeigt sich zornig wegen in Unterhosen duschenden muslimischen Männern in Fitnessclubs und zieht Parallelen zwischen der religiösen Herkunft von Tätern und ihren Verbrechen. Wenn es allerdings darum geht, Argumente für seine Demagogie zu finden, kommt Spahn die eigene sexuelle Orientierung gerade recht: Er behauptet, Angst vor dem Islam zu haben, weil man ihn in einem muslimischen Land wegen seiner Homosexualität von Türmen schubsen würde. Auf die Nachfrage eines Journalisten, wie es um die Akzeptanz der Ehe für alle in dem kleinen christlichen Ort steht, aus dem Spahn kommt (Ottenstein im Westmünsterland), antwortete er: »Sicherlich gibt es Vorbehalte. Aber nur weil jemand Vorbehalte hat, ist er deshalb nicht automatisch homophob.«6

Demnach wären die Hardliner in Ungarn, Polen, Bayern und den Niederlanden auch nicht homofeindlich, vermutlich auch nicht die eine Million Demonstrant_innen gegen die Ehe für alle, die in Paris vor wenigen Jahren auf die Straße gingen. Nur Moslems sind in Jens Spahns Denkraum Feinde der Schwulen.

Nationale, patriotische, schwule Retter des Abendlandes gibt es zur Genüge. Diese Haltung ist keine Erfindung Spahns. Mit dem Begriff des Homonationalismus7 beschreibt die Gender-Theoretikerin Jasbir Puar, wie Mitglieder ausgegrenzter Minderheiten ihren (Karriere-)Weg in einer Mehrheitsgesellschaft machen: Ökonomisch starke, meist weiße Homosexuelle treten als Vertreter_innen europäischer Errungenschaften auf, die sie gegen vermeintlich homofeindliche Kulturen verteidigen müssen.

Homonationalismus ist selbstverständlich nicht nur den Schwulen vorbehalten: Alice Weidel behauptete in einer Rede vor Mitgliedern ihrer Partei »Alternative für Deutschland«, dass sie schon Millionärin wäre, wenn sie nur einen Cent für die immer wieder gestellte Frage verlangt hätte, wie sie als lesbische Frau (mit einer Partnerin aus Sri Lanka und zwei adoptierten Kindern, alle leben in der Schweiz) eine rechtsnationale Partei repräsentieren könne. Eine Partei, die in ihrem Programm wenig Konkretes bietet außer Hass auf Minderheiten. Hass auf den angeblichen Genderwahn. Hass auf »den Islam«. Hass auf Behinderte. You name it. Ihr momentaner Slogan auf Plakaten: »Deutschland. Aber normal.«

Weidels Antwort ist vorhersehbar und funktioniert nach demselben Prinzip wie die Argumentation von Jens Spahn: Sie sei natürlich nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Homosexualität in der AfD.8

Ich beobachte die Zuhörer_innenschaft, vor der Alice Weidel die zwölfminütige Rede zu ihrer sexuellen Orientierung hält. Sie jubelt. Schrumpelige Opas halten den Daumen hoch. Frauen applaudieren mit glänzenden Augen und sind kurz vor Standing Ovations. Ich frage mich, was wäre, wenn dieselbe Alice Weidel jetzt sagen würde: »Ihr Lieben, der Wohlstand unserer Gesellschaft basiert auf massiver Ausbeutung dieses Planeten und seiner Völker, und darum stehe ich heute hier und fordere die konsequente Umverteilung der Güter und offene Grenzen.« Ich stelle mir vor, wie die Frau mit dem toupierten kastanienbraunen Haar, die ihre Lippen über die Ränder hinaus mit bräunlichem Rot überschminkt hat, ihren Sitznachbarn mit dem Ellbogen anstößt und so, dass alle im Raum es hören können, flüstert: »Sie ist eine Lesbe, oder?« Woraufhin der Herr im gestreiften Hemd und mit rahmenloser Brille, die ihm eng auf der Nasenwurzel sitzt, sein Kinn noch höher in die Luft reckt, seine Arme aus der Verschränkung löst und angewidert die Augen verdreht, vielleicht sagt er auch etwas mit abfällig verzogenem Gesicht.

Ich frage mich, ob Alice Weidel wirklich denkt, dass diese Leute sie als Homosexuelle akzeptieren. Oder ob sie weiß, dass ihr Publikum sie für den Hass feiert, den sie verkörpert und der lange unter dem Deckel politischer Floskeln brodelte und nun in den expliziten Ansagen der AfD offen zutage tritt. Hass auf das Migrantische, auf die »Flüchtlinge«, die »Türken«, die »Araber« ebenso wie Antisemitismus sind hoch im Kurs bei der »Alternative für Deutschland«, die nach den jetzigen Umfragewerten zweitstärkste in diesem Land ist.

Natürlich versteht Alice Weidel, dass die Menge, die ihr applaudiert, ihr Lesbisch-Sein als Alibi gegen mögliche Diskriminierungs- und Rassismusvorwürfe benutzt. Natürlich weiß Jens Spahn, dass ihm so manches katholische Gemeindemitglied, auch in seinem geliebten Münsterland, in seiner Kindheit eine Behandlung in der Psychiatrie verordnet hätte, den jüngsten Empfehlungen des Kirchenoberhaupts Franziskus folgend.

Alle sogenannten Weltreligionen werden zur Ausgrenzung benutzt, um Homosexuellen- und Frauenfeindlichkeit zu begründen. Da erbringt weder eine liberale Imamin noch eine queere Rabbinerin oder ein offen schwul lebender Pastor den Gegenbeweis. Doch darum geht es weder Spahn noch Weidel. Beide wissen, dass es mit rechten populistischen Parolen schneller auf der Karriereleiter nach oben geht als mit Debatten über das komplexe Thema der Mehrfachdiskriminierung.

Diese beiden Homonationalist_innen besetzen Top-Positionen in der politischen Landschaft Deutschlands zu einem Zeitpunkt, an dem die Wirtschaft floriert, die Arbeitslosigkeit auf einem Tiefstand ist, die Kriminalitätsrate niedrig und die Anzahl der Asylbewerber_innen unter der festgelegten Obergrenze bleibt. Die ansonsten üblichen Erklärungsversuche für den Rechtsruck in Deutschland sind also ausgehebelt.

»Leider scheint es viel einfacher zu sein, menschliches Verhalten zu konditionieren und Menschen dazu zu bringen, sich auf eine völlig unvorhergesehene und entsetzliche Weise zu verhalten, als irgendjemanden davon zu überzeugen, aus der Erfahrung zu lernen, das heißt mit Denken und Urteilen beginnen, anstatt Kategorien und Formeln anzuwenden«, sagt Hannah Arendt in ihrem Essay Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?9

Gewaltdynamiken, das machen soziologische Untersuchungen deutlich, weisen nicht als Pfeil von Täter zu Opfer, sondern haben die Form einer Triangel. Diskriminierung, Ausgrenzung und Zerstörung finden demnach in einem Spannungsfeld von drei Parteien statt: die angegriffene Person, der_die Angreifer_in und als Drittes die Gruppe, die sich nicht zu der angegriffenen Person bekennt und sich nicht schützend vor sie stellt. Die wegsieht. Die behauptet, nichts sei geschehen. Die versucht, das Geschehene unkenntlich zu machen, und dem Opfer zuredet, es solle kein Aufsehen erregen, indem es den Übergriff publik macht. Für die angegriffene Person kommt das unmittelbare Übel von dem_der Angreifer_in, das nachhaltige jedoch von der Gruppe, die wegschaut. Für sie ist es keine Überraschung, von jemandem attackiert zu werden, der voller Hass auf ihren Lebensstil ist. Dass aber Menschen zuschauen und nicht eingreifen, nicht helfen, vielleicht im Nachhinein sogar das Geschehene leugnen, verursacht die Verletzung, die sie in ihrem Grundvertrauen erschüttert.

Diese Erfahrung wird in ein Wissen überschrieben, mit dem die Person sich zukünftig durch die Welt bewegt. Dieses Wissen hat für immer Auswirkungen darauf, wie ein marginalisierter Körper sich zu dieser dritten Gruppe, die sich als Mehrheit versteht, verhalten wird. Es geht nicht darum, dass diese Mehrheit nicht selber angegriffen hat – es sind immer Einzelne, die die Aggression ausführen –, aber sie hat auch nicht verteidigt. Denn die Angriffe der Einzelnen entspringen den Gewaltstrukturen dieser dritten Gruppe, der Mehrheit.

38,4 Prozent der in Deutschland Befragten empfinden homosexuelle Küsse in der Öffentlichkeit als unangenehm. 43,8 Prozent wollen mich unsichtbar. Seit den Kindertagen, in denen ich in Kleidung gesteckt wurde, die mich zu verformen versuchte, seit der Pubertät, in der sich mein Körper auf eine Weise veränderte, die sich für mich falsch anfühlte, allerspätestens seit dem ersten Coming-out, von dem ich noch nicht wusste, dass es ein permanentes werden wird, bin ich eine andere. Ich brauche keine vermeintliche Integration in diskriminierende Strukturen. Ich kenne die Vereinnahmungsmechanismen, ich kenne diese Teile-und-herrsche-Strategie schon als jüdischer Mensch.

So wie die Homosexuellenrechte gerne zum Ausweis eines liberalen Europas gemacht werden, so steht Europa auch für den Schutz der Jüdinnen und Juden. Die Erfindung trägt den Namen »christlich-jüdisches Abendland«. Trotz ansteigendem Antisemitismus (immerhin meint, laut der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2018, jeder Zehnte in Deutschland, dass »Juden etwas Besonderes an sich haben und nicht so recht zu uns passen«) bietet das Jüdisch-Sein in Deutschland eine Menge Privilegien, wenn man sich in den vorgegebenen Koordinaten bewegt: Man hat den Deutschen entweder vergeben, oder man ist der unversöhnliche Aggro-Jude, der den Deutschen nie vergeben wird.

Beide Positionen kreisen, einander spiegelnd, um die Shoah, was bedeutet, dass der Jude in Deutschland ohne den Versuch seiner Vernichtung nicht denkbar ist. In den Neunzigerjahren importierte Deutschland den Juden aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, um die ein halbes Jahrhundert zuvor entstandenen Lücken zu füllen, und gab ihm das Prädikat »Kontingentflüchtling«. Gemeint ist ein weißer Mittelschichtler, der säkular lebt oder seinen Davidstern an einer unauffälligen Kette unter dem Hemd trägt. Am 9. November darf er seine Kippa anlegen und wird ab und an zum Thema Antisemitismus befragt, wenn peinliche Comedians sich wieder im Ton vergreifen oder wenn nach Gründen für Einwanderungsobergrenzen gesucht wird.

Seit die Debatten um Migration aus muslimischen Ländern die Medien dominieren, wird der Jude – so wie der Schwule und die Lesbe – interessant, sofern er bereit ist, gegen den Moslem auszusagen (»Meine lesbische Nachbarin / mein schwuler Nachbar / mein jüdischer Nachbar will auch keine Syrer im Haus haben«). Als Belohnung winkt die Aussicht auf Zugehörigkeit, also die Integration in die Mehrheitsgesellschaft. Dieser Mechanismus findet seine perverse Zuspitzung in einer Art Judeo-Nationalismus, der sich neuerdings unter dem Namen »Juden in der AfD« formiert. Zwar hat diese Gruppe keine nennenswerte Mitgliederzahl, wird jedoch medienwirksam in Szene gesetzt.