Europäische Asylpolitik und lokales Verwaltungshandeln - Christian Lahusen - kostenlos E-Book

Europäische Asylpolitik und lokales Verwaltungshandeln E-Book

Christian Lahusen

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Beschreibung

Der Ruf nach einer koordinierten Asylpolitik wird angesichts der ungleichen Bedingungen, die Geflüchtete vor und in Europa vorfinden, immer lauter. In diesem Sinne arbeitet die Europäische Union seit Jahren an einem »Gemeinsamen Europäischen Asylsystem«, das gerade auch das Verwaltungshandeln vor Ort verändern soll. Dieser Band stellt die Ergebnisse einer Forschungsstudie vor, die das praktische Arbeiten in deutschen und schwedischen Asylbehörden vergleichend untersucht. Im Fokus stehen der behördliche Umgang mit den Vorgaben der europäischen Asylpolitik, das Ausmaß einer Europäisierung des lokalen Verwaltungshandelns und die Schwierigkeiten einer grenzüberschreitenden Verwaltungskooperation.

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Christian Lahusen (Prof. Dr.) ist Professor für Soziologie an der Universität Siegen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Europasoziologie, die politische Soziologie und die soziologische Theorie.Karin Schittenhelm (Prof. Dr.) ist Professorin für Soziologie an der Universität Siegen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Migrations- und Asylforschung, die Bildungssoziologie sowie Methoden qualitativer Sozialforschung.Stephanie Schneider (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen. Ihre Forschungsinteressen bewegen sich an den Schnittstellen von Rechts- und Verwaltungssoziologie und (Flucht-)Migrationsforschung.

Christian Lahusen, Karin Schittenhelm, Stephanie Schneider

Europäische Asylpolitik und lokales Verwaltungshandeln

Zur Behördenpraxis in Deutschland und Schweden

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 172394079

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-No-Derivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.deUm Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected] Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Christian Lahusen, Karin Schittenhelm, Stephanie Schneider

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-3330-6

PDF-ISBN 978-3-8394-3330-0

EPUB-ISBN 978-3-7328-3330-6

https://doi.org/10.14361/9783839433300

Buchreihen-ISSN: 2703-0024

Buchreihen-eISSN: 2703-0032

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1Einleitung

2Theoretische Grundlagen einer Soziologie behördlichen Handelns in Europa

2.1Auf dem Weg zu einem europäischen Verwaltungsfeld? Eine theoretische Verortung

2.2Verwaltungshandeln auf dem street level: zur Mikrosoziologie der behördlichen Praxis

2.3Zwischenfazit: zur feldtheoretischen Einordnung des street levels

3Transnationale Verwaltungskooperation und europäisierte Verwaltungspraxis

3.1Die Entwicklung der europäischen Asylpolitik

3.2Verwaltungskooperation in der europäischen Asylpolitik

3.3Fazit: Verwaltungsharmonisierung als Sisyphusarbeit

4Europäisierung qua Wissen

4.1Das EASO Training Curriculum

4.2›Beweiswürdigung‹ – die Entwicklung eines umstrittenen Moduls

4.3Umsetzung und Transfer der Schulungsinhalte

4.4Europäisiertes Wissen? Die selektive Aneignung durch das geschulte Behördenpersonal

4.5Zwischenfazit: Wege und Grenzen einer kognitiven Europäisierung

5Lokale Behördenpraxis und die Europäisierung des street levels

5.1Ausgangspunkt behördlicher Praxis: die lokale Fallbearbeitung

5.2Europäisierung qua Recht

5.3Europäisierung qua Verfahren

5.4Europäisierung qua Wissen

5.5Fazit

6Fazit

6.1Zur (partiellen) Europäisierung des Verwaltungshandelns

6.2Implikationen

6.3Ausblick

7Untersuchungsanlage, Methoden und Daten

Appendix I: Anmerkungen zur Methode

7.1Methodenkombination

7.2Feldzugang und Sampling

7.3Die Datenanalyse

7.4Der Umgang mit Mehrsprachigkeit und Übersetzungen

Appendix II: Datenübersicht

Literaturverzeichnis

1Einleitung

Die Asylpolitik der Europäischen Union (EU) erhält seit einigen Jahren kontinuierlich eine hohe Aufmerksamkeit. Die dabei vielfach gebrauchte Rhetorik des Krisendiskurses ist fragwürdig, wurde sie doch häufig verwendet, um Fluchtmigration als besondere Herausforderung für die EU bis hin zur Bedrohung für die Mitgliedsstaaten zu postulieren (Chetail 2016a; Krzyzanowski/Triandafyllidou/Wodak 2018). Dabei hat die Zahl der in der EU ankommenden Asylsuchenden nach einem kurzfristigen Anstieg in den Jahren 2015 und 2016 deutlich abgenommen (Eurostat 2018) und war selbst in den Hochphasen gering im Vergleich zur Aufnahme von Geflüchteten in außereuropäischen Ländern, z. B. in Nachbarländern von Konfliktregionen (Gilbert 2015; Chetail 2016a). Die Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU, der Umgang mit den EU-Außengrenzen oder mit der innereuropäischen Migration ist jedoch nach wie vor ein Streitpunkt zwischen den Mitgliedsländern (und auch innerhalb derselben). Angesichts der ungleichen und nicht selten problematischen Bedingungen, die Geflüchtete vor und in Europa vorfinden, ist der Ruf nach einer koordinierten und mit internationalen Rechtsabkommen abgestimmten Asylpolitik der EU bis heute nicht abgeklungen (u. a. Guild 2016; Trauner 2016; Heldt 2018; Beirens 2020). Versuche, innerhalb der EU auf die Asylbehörden vor Ort und ihren Umgang mit Asylsuchenden einzuwirken, sind seit einigen Jahren in die Wege geleitet worden, gehen jedoch mit einer vergleichsweise geringen medialen Aufmerksamkeit einher.

Die EU hat mit der Entwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) den Versuch gemacht, die rechtlichen und politischen Weichen für ein koordiniertes Vorgehen bei der Behandlung von Asylanträgen zu schaffen. Nachdem es mit der Einführung des GEAS in der ersten Phase 1999 bis 2004 (Chetail 2016b: 11) zunächst darum ging, Mindeststandards einzuführen, hat die spätere Reform des GEAS in der zweiten Phase bis 2013 (Toscano 2013; Van de Peer 2016) weitere Schritte hin zu einer gemeinsamen Abstimmung und Koordination der Asylpolitik und der jeweiligen Asylverwaltungspraxis in die Wege geleitet (Velluti 2014; Chetail 2016b). Mittlerweile liegen Entwürfe für erneute Reformen des GEAS vor (vgl. European Council 2021), die in den letzten Jahren eher noch Gegenstand von Diskussionen, kritischen Kommentaren und Auseinandersetzungen gewesen sind (Chetail 2016a, b; ECRE 2016; Ceccorulli 2018). Dies gilt auch für Vorschläge, die Zuständigkeiten für Asylanträge zwischen den Mitgliedsländern neu zu regeln (Groß 2017; Becker 2019: 62-65). Insofern arbeitet die EU seit Jahren an der Etablierung und Weiterentwicklung eines gemeinsamen Regelwerks des GEAS, das für das Verwaltungshandeln von Asylbehörden in den jeweiligen Mitgliedsländern richtungsweisend sein soll. Inwiefern es gelungen ist, solch gemeinsame Regelungen für die Asylpolitik der EU und verbindliche Standards für die Schutzgewährung in den Mitgliedsländern zu schaffen, stand wiederholt kritisch zur Diskussion (Velluti 2014; Chetail 2016b; Costello/Hancox 2016; Parusel 2017). Das Ziel, dass über Asylanträge EU-weit nach gemeinsamen Standards entschieden wird (Noll 2005; Visser 2014), gilt weithin als unerreicht (u. a. Pollet 2016; Parusel 2017; Beirens 2018: 12-13). Die insgesamt eher kritische Betrachtungsweise des GEAS führte auch dazu, dieses als Teil einer Implementierungsphase zu verstehen (Pollet 2016: 75), die noch unabgeschlossen ist. Handlungsbedarf wurde hier sowohl in einer Nachjustierung der Instrumente wie auch in der (besseren) Implementierung des bestehenden Regelwerks gesehen. Aus diesen Gründen richtete sich die Aufmerksamkeit der EU darauf, die finanziellen, organisatorischen und praktischen Voraussetzungen für eine stärkere Koordinierung und Vereinheitlichung der Verwaltungspraxis innerhalb der mitgliedstaatlichen Asylbehörden zu schaffen.

Vor diesem Hintergrund betrachten wir die Entwicklung und Umsetzung eines EU-weiten Schulungsprogramms für das Personal von Asylbehörden, das vom Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (dem European Asylum Support Office, EASO) aufgelegt worden ist. Es hat eine Abstimmung der Schutzgewährung in den mitgliedsstaatlichen Behörden und die Übereinstimmung der jeweiligen Praktiken mit geltendem europäischen und internationalen Recht zum Ziel (EASO 2014: 8). Unser Interesse gilt sowohl der Entwicklung und Beschaffenheit des Curriculums als Instrument zur Implementierung des GEAS als auch seiner Umsetzung in den mitgliedsstaatlichen Asylbehörden in Schweden und Deutschland. Damit untersuchen wir zwei Mitgliedsländer, denen innerhalb der EU einerseits mit Blick auf die verhältnismäßig hohe Anzahl der dort bearbeiteten Asylanträge, andererseits aufgrund ihrer Beteiligung an der Entwicklung und Umsetzung des GEAS eine besondere Bedeutung zugesprochen wird (s. u. a. Parusel 2014; Zaun 2016). Es wird sich im Weiteren außerdem zeigen, dass beide Mitgliedsländer, insbesondere aber Schweden, bei der Entwicklung des EU-weiten Schulungsprogramms für das Personal in Asylbehörden eine wichtige Rolle innehatten. Weiterhin fanden in den Asylbehörden bereits im Untersuchungszeitraum zu Beginn der 2010er Jahre – in Schweden umfangreicher und in Deutschland zumindest ansatzweise – erste nationale Kurse mit dem europäischen Schulungsprogramm statt (Schneider/Wottrich 2017).

Das vorliegende Buch stellt die Ergebnisse einer Untersuchung dar, die die transnationale Verwaltungskooperation zur Entwicklung des Instruments sowie die Vermittlung und Anwendung eines ›europäisierten‹ Wissens in den deutschen und schwedischen Asylbehörden – dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und dem Migrationsverket – analysiert. Die für das Buch verwendeten Interview- und Beobachtungsdaten aus dem Zeitraum zwischen 2010 und 2014 ermöglichen eine empirische Analyse der mit dem ersten Reformversuch in der zweiten Phase des GEAS in die Wege geleiteten Schritte. Die Untersuchungsergebnisse resultieren aus dem Forschungsprojekt ›Auf dem Weg zu einem europäischen Asylverwaltungsfeld?‹, das im Rahmen der DFG-Forschergruppe ›Europäische Vergesellschaftungsprozesse. Horizontale Europäisierung zwischen nationalstaatlicher und globaler Vergesellschaftung‹ (FOR 1539) von 2012 bis 2019 durchgeführt wurde.1

Mit unserem Interesse an der transnationalen Verwaltungskooperation, die mit der Entwicklung und Umsetzung des europäischen Schulungsprogramms in den mitgliedsstaatlichen Asylbehörden einherging, beziehen wir uns auf das Regelwerk und die Praktiken des GEAS. Wegen seiner Komplexität, Unübersichtlichkeit und insbesondere auch wegen seiner Distanz gegenüber den von den Maßnahmen betroffenen Asylsuchenden wurde dieses bereits kritisch als ›migration apparatus‹ dargestellt (Feldman 2011: 13-17). Unsere Untersuchung berücksichtigt mit dem EU-weit bereitgestellten Schulungsprogramm ein Asylcurriculum, das sich an das Personal der mitgliedsstaatlichen Asylbehörden richtet (Visser 2014: 71), welches – häufig direkt im Kontakt mit Asylsuchenden – an der Durchführung von Asylverfahren oder an der Entscheidung über die Asylanträge beteiligt ist. Damit kann unsere Untersuchung auf einen gut entwickelten Forschungsstand aufbauen, denn das asymmetrische Verhältnis zwischen dem Behördenpersonal und den Asylsuchenden war wiederholt Thema der Asylforschung (Triandafyllidou 2003; Jubany 2011), die sich vor allem mit den komplexen Interaktionsabläufen in Asylverfahren befasst hatte (Scheffer 2001; Jacquemet 2009; 2014). Besonders ergiebig sind Studien, die sich mit den dabei stattfindenden Kategorisierungen von Asylsuchenden vonseiten des Behördenpersonals (Jubany 2011; Johannesson 2012; Wikström/Johansson 2013) und den dafür relevanten Wissensvorräten (Probst 2012; Affolter 2017 und 2021; Schittenhelm/Schneider 2017) befassen und die die Bedingungen und Voraussetzungen der Entscheidungsfindung in Asylverfahren kritisch analysieren (Fassin/Kobelinsky 2012; Wettergren/Wikström 2014; Jubany 2017; Miaz 2017; Dahlvik 2018; Pörtner 2021).

Das vorliegende Buch baut auf diesem Erkenntnisstand auf und versucht, die im GEAS vereinbarte Veränderung der mitgliedsstaatlichen Verwaltungspraxis mittels gemeinsamer Wissensbestände zu untersuchen. Im Fokus steht das europäische Schulungsprogramm, das sich direkt auf die in Asylverfahren relevanten Arbeitsschritte bezieht, um mit der Vermittlung von Wissen, Methoden und Arbeitstechniken die Qualität solcher Verfahren zu verbessern und über Ländergrenzen hinweg zu harmonisieren (Visser 2014: 71-72). Dabei konzentriert sich unsere Untersuchung unter europa- und verwaltungssoziologischen Fragestellungen auf die Bedeutung dieses Instruments für eine Angleichung und Abstimmung der mitgliedsstaatlichen Behördenpraxis. Diese Fragestellung verspricht neue Erkenntnisse, denn die mitgliedsstaatlichen Asylverfahren sind in ihren einzelnen Arbeitsschritten bis heute durch die rechtlichen und administrativen Traditionen der jeweiligen Mitgliedsstaaten geprägt (u. a. Schneider/Wottrich 2017; European Migration Network 2021), die sich gegenüber den intendierten Veränderungen der lokalen Verwaltungspraxis auch als resistent erwiesen haben (Gill/Good 2019; Glorius et al. 2019; Servent/Zaun 2020). Damit ist zu klären, ob, auf welche Weise und bis zu welchem Ausmaß eine europäische Veränderung im Sinne einer Annäherung und Koordinierung der mitgliedsstaatlichen Verwaltungspraxis eingetreten ist, welche Faktoren bei der diagnostizierten Transformation bzw. Trägheit des lokalen Behördenhandelns zu identifizieren sind und welche Implikationen dies für die Entwicklung eines gemeinsamen, europäischen Verwaltungsfeldes hat.

Im Zentrum unseres Interesses steht die Frage, wie die Anforderungen der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems vor Ort, d. h. in den mitgliedsstaatlichen Behörden, wahrgenommen und mit Blick auf das konkrete Verwaltungshandeln in Asylverfahren wirksam werden. Uns interessieren also nicht in erster Linie die Entwicklung eines rechtlichen Rahmens und die politische Meinungsbildung auf europäischer Ebene, sondern vor allem die Frage, wie diese durch Zusammenarbeit und Austausch zwischen den Asylbehörden in die Praxis der jeweiligen Länder überführt werden und schließlich für deren Asylverwaltungen bzw. für deren Umgang mit den Anträgen der Asylsuchenden eine Rolle spielen. Unter europasoziologischen Gesichtspunkten steht im Vordergrund, in welcher Weise das GEAS über die Inhalte und Vermittlungsschritte des europäischen Schulungsprogramms Einfluss auf die alltägliche Verwaltungspraxis hatte oder ob für diese Praxis in Asylbehörden auch andere aus nationalen Verwaltungstraditionen und politischen Präferenzen resultierende Voraussetzungen eine Rolle spielten. Darüber hinaus ist von Interesse, welche Folgen eine mehr oder weniger konsequente Umsetzung der Schulungsinhalte für Fragen der Schutzgewährung hat. An dieser Stelle geht es jedoch nicht allein um die Rahmenbedingungen, Verfahren und Praktiken, die für die jeweiligen mitgliedsstaatlichen Behörden zu beobachten waren. Die Deutung und Interpretation geltender Regeln sowie die Routinen und Strategien des Behördenpersonals können auf lokaler Ebene innerhalb nationaler Behörden divergieren und – je nach Spielraum, Vorgaben und Zwängen des in einer mitgliedsstaatlichen Behörde etablierten Verfahrens – Abweichungen und Besonderheiten aufweisen (Oomens et al. 2021). Angesichts der Debatten über die Reichweite, Effizienz und Beschaffenheit des GEAS leistet das Buch so am Beispiel des europäischen Schulungsprogramms eine über mehrere Ebenen und Akteure hinweg durchgeführte Analyse der Entwicklung und Umsetzung des GEAS.

Diese Untersuchung ist für eine europa- und verwaltungssoziologische Einordnung und Bewertung des GEAS sehr instruktiv. Allerdings kann eine solche Analyse dem GEAS nicht in seiner Gänze gerecht werden, zeichnet sich das europäische Asylsystem doch durch ein hohes Maß an Komplexität, Widersprüchlichkeit und Krisenanfälligkeit aus. Das Schulungsprogramm übernimmt in diesem Kontext nur eine sehr spezifische Rolle, deren Bedeutung aber von der Berücksichtigung der genannten Widersprüche abhängt. So ist es sein Ziel, über Wissensvermittlung und Schulung auf Asylverfahren und die Praxis der Schutzgewährung Einfluss zu nehmen. Allerdings sind seit der Einführung dieser durch das EASO koordinierten Schulungen zahlreiche Änderungen des Asylrechts eingetreten. Vor allem sind Maßnahmen ergriffen worden, die eine Schutzgewährung über reguläre Asylverfahren prinzipiell weiter einschränken. Während das von uns untersuchte Programm einer EU-weiten Angleichung der Asylverfahren und einer Verbesserung ihrer Qualität und Übereinstimmung mit internationalem Recht dient, hat die EU den Zugang zu ebendiesen Verfahren in den letzten Jahren deutlich erschwert. So wurde beispielsweise mit der Einführung von sicheren Herkunfts- und Drittstaaten, die zudem in den Mitgliedsstaaten nicht einheitlich festgelegt wurden (Engelmann 2014), die Möglichkeit geschaffen, Asylsuchende ohne individuelle Einzelfallprüfung nach den Standards des Regelwerks abzulehnen (AIDA 2017). Damit ist das GEAS von widersprüchlichen Entwicklungen gekennzeichnet, denn mit den Reformen gingen verbesserte Standards für Asylverfahren und eine stärkere Berücksichtigung der besonderen Bedingungen vulnerabler Gruppen ebenso einher wie eine rechtlich-administrative Legitimation von Schnellverfahren ohne eingehende Prüfung (Costella/Hancox 2016). Das europäische Schulungsprogramm, dessen Wirkungskraft unsere Untersuchung analysiert, betrifft folglich reguläre Verfahren, die im gleichen Zeitraum verbessert und zugleich schwerer zugänglich wurden.

Diese widersprüchlichen Entwicklungen werden durch ein strukturelles Spannungsverhältnis verstärkt, das im GEAS selbst angelegt ist. Zum einen beruht die EU auf einer Aufhebung interner Grenzen und sieht eine Kooperation der Mitgliedsstaaten in zentralen wirtschaftlichen, sozialen und politisch-rechtlichen Angelegenheiten vor. Zum anderen aber bleibt die Schutzgewährung gegenüber Geflüchteten, wenn auch im Rahmen eines EU-weiten Regelwerks, die Aufgabe der einzelnen Mitgliedsstaaten (Guild 2006; Archibugi, Cellini/Vitiello 2021). Die EU etabliert zwar weitreichende Bewegungsfreiheiten für die Bürgerinnen und Bürger, hält aber nationale Grenzen aufrecht, wenn es um die Zuständigkeitenfür die Asylsachbearbeitung und die Geltung der Schutzgewährung geht. Um die Zuständigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten zu regeln und eine innereuropäische Mobilität von Geflüchteten zu verhindern, ist das Dublin-System bis heute eine wichtige Säule des GEAS geblieben. Des Weiteren gelten zwar ablehnende Entscheidungen EU-weit, anerkennende Entscheidungen und der damit verbundene Schutzstatus aber besitzen nur in dem Mitgliedsland Geltung, das für das Asylverfahren zuständig war (Guild 2006). Das im GEAS eingeschriebene Ziel einer europäischen Vergemeinschaftung des Asylrechts wird also durch die Souveränitätsansprüche der Mitgliedsländer deutlich beschnitten. Hier manifestiert sich ein Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen Kräften, denn die EU-Kommission und das EASO sind an einer gemeinsamen Aufgabenerfüllung und Implementation interessiert (Tsourdis 2020), während die Mitgliedsstaaten durch ihre divergierenden Interessen ein stärker integriertes und koordiniertes Vorgehen blockieren (Schilde/Goodman 2021). Die EU hat zwar mit der Überführung des EASO in die Asylagentur der Europäischen Union (European Union Agency for Asylum, EUAA) Anfang 2022 ihre Absicht untermauert, die mitgliedstaatliche Asylverfahrenspraxis verstärkt zu koordinieren und zu vereinheitlichen (Verordnung (EU) 2021/2303), aber ihre Zugriffsrechte bleiben trotz der Zuweisung neuer Kompetenzen an die EUAA begrenzt. Letztendlich wird die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für die Asylverfahren nicht selbst in Frage gestellt.

Diese Widersprüchlichkeiten und Spannungsverhältnisse sind dem gemeinsamen europäischen Asylsystem strukturell eingeschrieben. Sie sind für die Krisenanfälligkeit verantwortlich, die der europäischen Asylpolitik im Bereich der Schutzgewährung an Geflüchtete seit Anbeginn zu attestieren ist (Bendel/Servent 2017; Trauner 2020). Diese latente Krise ist Mitte der 2010er Jahre offen zutage getreten, als sich die EU und ihre Mitgliedsländer als unfähig erwiesen, auf die steigende Zahl der vor Krieg, Vertreibung und Armut Flüchtenden im Sinne ihrer eigenen humanitären und politischen Ansprüche zu reagieren. Mit diesen Widersprüchlichkeiten und Spannungsverhältnissen sind wir folglich auch während unserer eigenen Untersuchungen immer wieder konfrontiert worden. Die Entwicklung und Implementierung des europäischen Schulungsprogramms waren nämlich von den unterschiedlichen Anforderungen und widerstrebenden Kräften geprägt. Deshalb haben wir auf allen Handlungsebenen – bei der Entwicklung der Module, den Schulungsmaßnahmen und der Aneignung durch das Behördenpersonal – ein spannungsreiches Verhältnis von europäischer Vergemeinschaftung und nationaler Souveränität, humanitärer und restriktiver Schutzgewährung beobachten können.

Das vorliegende Buch setzt sich zum Ziel, die administrative Wirklichkeit des GEAS in ihrer inneren Ambivalenz und Widersprüchlichkeit nachzuzeichnen und zu untersuchen. Es soll Einblicke in die Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Harmonisierung und Koordinierung nationaler Asylverwaltungen eröffnen und damit auch die europa- und verwaltungssoziologische Debatte über die Struktur eines europäischen Verwaltungsraums befruchten. Zu diesem Zweck wenden wir uns zunächst den theoretischen Grundlagen einer Soziologie des behördlichen Handelns zu (Kapitel 2), wobei wir einen feldtheoretischen Ansatz für eine soziologische Analyse der Bürokratisierung Europas mit einem Blick auf die Besonderheiten der Asylverwaltung zur Diskussion stellen. Wir schlagen in diesem Zusammenhang eine analytische Unterscheidung verschiedener Modi einer Europäisierung vor, darunter eine Europäisierung qua Wissen, die wir als ›weiche Europäisierung‹ verstehen. Unser Blick richtet sich dann auf die Etablierung des GEAS sowie auf eine grenzüberschreitende Verwaltungskooperation mit ihren rechtlichen Grundlagen und Instrumenten im Rahmen einer europäischen Asylpolitik (Kapitel 3). Unsere empirische Analyse befasst sich anschließend mit dem europäischen Schulungsprogramm, das wir als Instrument des GEAS verstehen und hinsichtlich einer Europäisierung qua Wissen untersuchen (Kapitel 4). Im Rahmen einer prozessrekonstruierenden Fallanalyse richtet sich unser Blick auf die Entwicklung und Umsetzung eines ausgewählten Moduls (›Beweiswürdigung‹/›Evidence Assessment‹), das – wie wir im Weiteren ausführen – für die Entscheidungsfindung über Asylanträge eine zentrale Rolle spielt. Dabei wird sich zeigen, dass das vermittelte Wissen in den nationalen Asylbehörden, d. h. auf dem street level der alltäglichen Behördenpraxis, eine selektive Aneignung erfährt, die der Logik des behördlichen Handelns und den Arbeitsbedingungen des Behördenpersonals geschuldet ist. Auf der Basis dieser Ergebnisse beschäftigen wir uns dann mit der lokalen Behördenpraxis in den deutschen und schwedischen Asylbehörden (Kapitel 5). Auch wenn Unterschiede zwischen den beiden Asylbehörden zu erwarten waren, so richtete sich unser Interesse bei den Feldforschungen darauf, inwiefern eine Europäisierung der behördlichen Praxis zu beobachten war und welche Modi der Europäisierung dabei eine Rolle spielten. Unsere abschließenden Überlegungen zu einer partiellen Europäisierung des Verwaltungshandelns führen zu einer Bestätigung eines Eigensinns der lokalen Verwaltungspraxis. Damit soll nicht behauptet werden, dass das jeweilige Behördenpersonal über eine Handlungsmacht im Sinne einer Ausgestaltung des europäischen Asylrechts verfügt, womit es die mitgliedsstaatliche Praxis der Schutzgewährung maßgeblich prägen würde. Vielmehr geht es darum, die behördliche Praxis mit ihren strukturellen Zwängen und Rahmenbedingungen in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, um die spezifischen Eigenlogiken und Spannungsverhältnisse aufzuzeigen, die – wie wir in unseren abschließenden Überlegungen darlegen – für die Asylverwaltung eine maßgebliche Rolle spielen (Kapitel 6). Die Methoden der empirischen Untersuchung sowie deren methodologische Grundlagen werden in Appendix I (Kapitel 7) detaillierter dargelegt; Appendix II bietet eine Übersicht über die vorliegenden Daten.

1Als Instrument zur Umsetzung des GEAS stand das europäische Schulungsprogramm im Mittelpunkt der ersten Projektphase (2012-2015). Wir danken Jana Heine, Jacqueline Klesse und Kristina Wottrich, die als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen an den Arbeiten dieser ersten Projektphase beteiligt waren. Erste Vorrecherchen und Experteninterviews wurden bereits vor Beginn der geförderten Projektarbeiten durchgeführt.

2Theoretische Grundlagen einer Soziologie behördlichen Handelns in Europa

Die Etablierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wirft eine Reihe von soziologisch relevanten Fragen auf, die der empirischen und theoretischen Erörterung bedürfen. Welche Folgen hat das GEAS für das Verwaltungshandeln in den Mitgliedsländern? Welche Dynamiken sind für den Vollzug des GEAS auf dem street level kennzeichnend? Und lässt sich überhaupt von der Entwicklung eines koordinierten Verwaltungshandelns, gar von einem europäischen Verwaltungsraum sprechen?

Für die Europäische Union sind diese Fragen politisch und administrativ unmittelbar relevant. Denn von der Verwirklichung eines GEAS mit einem einheitlichen Asylverfahren und einem einheitlichen Rechtsstatus sind die Regierungen und EU-Institutionen noch weit entfernt (Europäische Kommission 2009: 8f.; Europäische Kommission 2016: 2f.; Europäische Kommission 2020). Bei der Prüfung der Asylanträge wenden Asylsachbearbeitende die in den europäischen Rechtsinstrumenten festgelegten Kriterien und Konzepte an, doch aufgrund länderspezifischer Auslegungs- und Auffassungsmuster kommen sie zu unterschiedlichen Entscheidungen (Bast 2014; Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2015; Tsourdi 2021). Die Brisanz abgelehnter Asylanträge wird dadurch erhöht, dass den Asylsuchenden nur in einem Land der EU gestattet wird, Schutz zu suchen – in der Regel in dem, über das sie Zutritt zum EU-Raum erlangt haben. Dementsprechend fordern neben den EU-Institutionen auch die thematisch engagierten Nichtregierungsorganisationen (NGOs), dass eine weitere rechtliche Harmonisierung unbedingt von einer praktischen Verwaltungskooperation begleitet werden muss, bei deren Gestaltung sie eine aktive Mitwirkung beanspruchen (Europäische Kommission 2008: 2; Bendel 2013: 22; ECRE et al. 2014). Der Abbau von qualitativen Ungleichheiten in der Asylpraxis zwischen den europäischen Staaten sowie die Stärkung des Flüchtlingsschutzes sind erklärte Ziele dieser Akteure. In diesem Problemzusammenhang gewinnt die transnationale Verwaltungskooperation eine strategische Bedeutung. Dem Austausch von Informationen und Erfahrungen zwischen Behörden und der Konzeption gemeinsamer Lösungsansätze wird vonseiten der EU eine immer größere Bedeutung bei der Schaffung eines integrierten, auf gemeinsamen Verfahrensweisen aufbauenden Asylraums zugesprochen. Dieser soll durch humane, effiziente und faire Asylverfahren gekennzeichnet sein (Europäische Kommission 2016: 5f.). Gleichzeitig stehen die Externalisierung von Grenzkontrollen und Aufgaben der Schutzgewährung, eine (zunehmend) restriktive Grenzpolitik an den Außengrenzen und eine effektive Rückführungspolitik im Fokus der Bemühungen. Auch diese basieren auf einer stärkeren Verschränkung und Verzahnung mitgliedstaatlicher Verwaltungspraktiken, die nach den Vorschlägen zu einem neuen Migrations- und Asylpaket häufiger über Verordnungen als über Richtlinien durchgesetzt werden sollen (Guild 2016; Europäische Kommission 2020; Tsourdi 2020b). In der Folge wurde das EASO im Januar 2022 zu einer vollwertigen Agentur (European Union Agency for Asyl, EUAA) ausgebaut und mit einem weitergehenden Mandat ausgestattet (Verordnung (EU) 2021/2303).

Doch gelingt diese von der EU angestrebte Konvergenz oder Harmonisierung der Verfahrenspraxis auf der behördlichen Arbeitsebene? Diese Frage kann nur eine Analyse beantworten, die das konkrete Verwaltungshandeln auf dem street level ins Visier nimmt. Unsere Untersuchung geht dabei mit einem feldtheoretischen Ansatz vor (siehe 2.1.2). In feldtheoretischer Hinsicht muss geklärt werden, ob auf Grundlage der europäischen Rahmensetzungen (Rechtsakte und Maßnahmen der Verwaltungskooperation) und der diesbezüglichen Veränderungsanstöße lokaler Behördenpraktiken ein vernetztes europäisches Verwaltungsfeld entsteht, das – bei aller Konflikthaftigkeit – durch gemeinsame Problemdeutungen und Wissensbestände, Standards und Regeln, Kontakt- und Handlungsmuster gekennzeichnet ist.

Diese Themenstellung wirft konzeptionelle und theoretische Fragen auf, die es zunächst zu beantworten gilt. Zum einen gilt es zu klären, was mit einer möglichen ›Europäisierung‹ behördlichen Handelns und der Genese eines europäischen Verwaltungsraums gemeint ist und welche Implikationen dies für unser Verständnis von Staatlichkeit in Europa in sich birgt. Zum anderen muss erörtert werden, welche Strukturmerkmale und Eigendynamiken der street level bureacucracy zuzusprechen sind und in welchem Ausmaß und auf welche Weise Verwaltungshandeln innerhalb des GEAS neu aufgestellt und rekonfiguriert wird. In dieser Hinsicht ergeben sich Fragen, die auf der Makro- und Mikroebene bürokratisch konstituierter Staatlichkeit angesiedelt sind. Zu diesen Zwecken soll der jeweilige Forschungsstand referiert und mit Bezug auf die eigenen Frage- und Problemstellungen weiterentwickelt werden.

2.1AUF DEM WEGZU EINEM EUROPÄISCHEN VERWALTUNGSFELD? EINE THEORETISCHE VERORTUNG

Klärungsbedarf besteht zunächst bei der Frage danach, ob und warum es zur Veränderung nationalstaatlicher Verwaltungen innerhalb eines europäischen Rechtsrahmens kommt. Die Etablierung des GEAS durch die Mitgliedsländer und EU-Institutionen legt zwar nahe, dass diese Veränderungen politisch gewollt sind. Allerdings ist bereits deutlich geworden, dass das Ausmaß und die Art der Veränderungen nicht der gewünschten Finalität entsprechen und dass es zu nicht immer beabsichtigten Folgewirkungen kommt. Damit gilt es zunächst, die vorliegenden Befunde zur Entwicklung des europäischen Verwaltungsraums zusammenzutragen und das Warum der genannten Dynamiken zu erörtern.

2.1.1Forschungsbefunde und -desiderate

Die Erforschung des europäischen Verwaltungsfeldes ist innerhalb der Soziologie vernachlässigt worden. Das Thema wurde vor allem der Verwaltungs-, der Rechts- und der Politikwissenschaft überlassen, obschon auch hier kein konsistentes Forschungsfeld auszumachen ist. Dennoch lassen sich Debatten und Befunde identifizieren, die für eine soziologische Forschungsagenda wichtige Anknüpfungspunkte bieten. Im Allgemeinen ist die weitläufige Debatte zur Verrechtlichung Europas von Bedeutung, allerdings wird deutlich werden, dass sich diese Befunde nicht unmittelbar auf das Untersuchungsfeld übertragen lassen. Im Wesentlichen lassen sich zwei Stränge benennen, die direktere Anknüpfungspunkte bieten: die politikwissenschaftlichen Studien zur Europäisierung von Politikfeldern und die rechts- sowie verwaltungswissenschaftlichen Analysen der Verwaltungskooperation. Hinzu kommen soziologische Referenzstudien zur Bürokratisierung Europas.

Ein erster politikwissenschaftlicher Forschungsstrang beschäftigt sich mit der Institutionalisierung des europäischen Asylpolitikfelds (Lavenex 2001; Müller-Graff/Repasi 2017; Zaun 2017). Für eine Untersuchung der Bürokratisierung Europas ist diese Forschungsrichtung insofern von Interesse, als die politisch-rechtliche Regulierung asylpolitischer Themen auf europäischer Ebene eine Voraussetzung für die Entwicklung eines europäischen Asylverwaltungsfeldes ist. So müssen sich heute alle Asylbehörden in der EU in ihrem Handeln bei der Durchführung von Asylverfahren auf die im Rahmen europäischer Rechtsetzungsverfahren verabschiedeten Instrumente beziehen (Tomei 2001: 106; Bast 2014; Glorius et al. 2019). Hinzu kommt, dass die politikwissenschaftliche Forschung Strukturen und Prozesse der Europäisierung eingehend erörtert und untersucht hat (Knill/Lehmkuhl 2000; Featherstone/Radaelli 2003; Börzel 2005), womit sie konzeptionelle Grundlagen für die vorliegende Untersuchung liefert. Vor allem ging es um die Untersuchung der Bedingungen und Formen einer Veränderung nationaler Politikfelder und policies innerhalb des von der EU gesetzten institutionellen und rechtlichen Rahmens.

Der in diesem Zusammenhang genutzte Begriff der Europäisierung wird definiert als »Processes of (a) construction, (b) diffusion, and (c) institutionalization of formal and informal rules, procedures, policy paradigms, styles, ›ways of doing things‹, and shared beliefs and norms which first defined and consolidated in the making of EU public policy and politics and then incorporated in the logic of domestic discourse, identities, political structures, and public policies« (Radaelli 2003a: 30). Folgen wir der Idee der EU als Mehrebenensystem (Marks et al. 1996; Bache/Flinders 2004), so meint Europäisierung einen Prozess der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung auf mehreren Governance-Ebenen, in dem beide wechselseitig (›vertikal‹) miteinander verbunden sind (Kohler-Koch 2000: 16ff.). Damit lassen sich nationale Einflüsse auf die europäische Ebene (Bottom-up-Ansätze) wie auch Wirkungen von der europäischen auf die nationale Ebene (Top-down-Ansätze) untersuchen. Ferner zeigt sich, dass Europäisierung nicht nur vertikal als wechselseitige Beeinflussung der lokalen, nationalen oder europäischen Governance-Ebenen gedacht werden kann. Relevant ist auch die ›horizontale‹ Verzahnung von Themen, Interessen und Ideen zwischen den Mitgliedsländern (Radaelli 2003a). Vor allem die Beiträge zur horizontalen Europäisierung (Knill/Lehmkuhl 1999; Bulmer/Radaelli 2004) zeigen, dass der institutionelle Rahmen der EU den Austausch von Informationen und good practices beflügelt und damit Möglichkeiten einer Annäherung von Problemdefinitionen, Wissensbeständen oder Praktiken politischer Akteure über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg bietet (Radaelli 2004b: 22; auch Sommermann 2015).

Die politikwissenschaftliche Forschung hat jedoch rasch deutlich gemacht, dass von einer Konvergenz nicht notwendigerweise ausgegangen werden kann. Zunächst wurde herausgearbeitet, dass zwischenstaatlicher und transnationaler Austausch nicht per se Prozesse der Kooperation und Nachahmung stärkt: »it also promotes diversity and competition« (Radaelli 2003b: 8). Er kann somit einer Konvergenz entgegenstehen. Darüber hinaus sind nationale Trägheiten und Pfadabhängigkeiten in Rechnung zu stellen. Tatsächlich wirkt sich europäische Politik nicht gleichmäßig auf die Mitgliedsländer aus; vielmehr ist von einem »differential impact of Europe« (Radaelli 2004a: 5) zu sprechen, der einer Gruppenbildung zuarbeitet, insofern es zur »clustered convergence« (Börzel 2005: 61) zwischen Ländern kommt, die aufgrund struktureller Gemeinsamkeiten ähnliche Reaktionen auf Europäisierungsprozesse zeigen (Héritier et al. 2001; Radaelli 2004a; Schmidt/Radaelli 2004; Bulmer/Padgett 2005; Bulmer 2008; Knill et al. 2009). Die politikwissenschaftliche Forschung hat diesen markanten Befund − der Logik von Mehrebenensystemen folgend − durch einen »misfit« (Börzel 1999) zwischen europäischen und nationalen Politiken und politischen Institutionen zu erklären versucht (vgl. auch Risse et al. 2001). Andere Autoren fügen hinzu, dass es trotz des misfit dennoch zu gemeinsamen Willensbildungs- und Lernprozessen kommen kann, vor allem auf Politikfeldern, in denen Maßnahmen freiwilliger Kooperation und Selbstverpflichtungen (soft-law) eine Rolle spielen (Trubek/Trubek 2005). Europäisierung erfolgt hier durch eine kognitive oder normative Veränderung nationaler Problemdeutungen, Politikideen und Lösungsrepertoires (Knill/Lehmkuhl 1999 und 2000; Héritier/Knill 2001; Radaelli 2003a), die eine Grundlage für »major policy change« (Radaelli 2003a: 43) sein können.

Diese Forschungsdebatte interessiert sich primär für policies und damit für den Prozess der legislativen Willensbildung und Entscheidungsfindung. Der administrative Vollzug und die Verwaltungswirklichkeit spielten in diesen Erörterungen eine eher sekundäre Rolle. Studien haben sich mit den Folgen der europäischen Asylpolitik für die mitgliedsstaatliche Politik befasst (Lavenex 2001 und 2008), unter anderem auch in Bezug auf die Bereitschaft, Schutz zu gewähren oder zu versagen (Toshkov/de Haan 2013). Gleichzeitig wurden auch Implementationsdefizite als generelles Problem bereits früh thematisiert (Duina 1997; Falkner et al. 2007; Panke 2007). Die Verwaltungspraxis rückte aber erst allmählich in den Fokus der Europäisierungsdebatte, wobei es hier vor allem um die generelle Debatte über die Europäisierung nationaler Verwaltungen insgesamt ging – und damit auch um die Frage nach der Entwicklung eines europäischen Verwaltungsraums (Olsen 2003; Hofmann 2008; Heidbreder 2011). Im Bereich des Asyls geriet die Verwaltungspraxis vor allem durch die Krise des europäischen Asylsystems in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre verstärkt in den Fokus der Forschung, weil die steigende Zahl der Geflüchteten die bestehenden Inkonsistenzen, Widersprüche und Konflikte zwischen den behördlichen Realitäten der Mitgliedsländer offener noch als zuvor in den Fokus rückte (Gill/Good 2019; Glorius et al. 2019; Tsourdi 2020a; Servent/Zaun 2020). Die Widersprüche und Konflikte, die im GEAS auf politischer und administrativer Ebene seit Anbeginn angelegt sind, verdeutlichen, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem mehr verspricht, als es hält. Asylpolitik, -recht und -verwaltungen haben sich nicht in allen Ländern gleichermaßen als eigenständige Bereiche institutionalisiert. In diesem Zusammenhang beziehen sich die Klagen über eine unzureichende Verwirklichung des GEAS vor allem auf die unzureichende Entwicklung einer administrativen Infrastruktur (Aufnahmeeinrichtungen, Asylbehörden, gerichtliche Kontrollinstanzen etc.) in allen Mitgliedsländern (Tsourdi 2015; Parusel 2017; Beirens 2020). Hinzu kommt, dass das GEAS als Flickenteppich punktueller Maßnahmen und Organe verstanden werden muss (Dreyer-Plum 2019; Servent/Zaun 2020). Manche Bereiche, insbesondere diejenigen, die Migration zu kontrollieren suchen, können als weit entwickelt gelten (bspw. die gemeinsame Visapolitik, die elektronische Erfassung von Fingerabdrücken, das Dublin-Verfahren), andere Bereiche als unterentwickelt (bspw. gleichwertige Asylverfahren, gemeinsame Zuwanderungs- und Integrationspolitiken, Unterbringung und soziale Sicherungssysteme). Darüber hinaus war die Entwicklung dieses Politikfeldes von Interessen- und Wertekonflikten geprägt, die sich im Spannungsfeld zwischen innerer Sicherheit (Bosswick 2000; Guiraudon 2000; Huysmans 2000; Bigo 2001; Lavenex 2001) und einem restriktiven, kontrollorientierten Ansatz (Bendel 2005; Sterkx 2009) einerseits, und einem auf die Belange des Menschenrechts- und Flüchtlingsschutzes orientierten Ansatz (Matera 2014; Wijnkoop 2014) andererseits verorten lassen. Für die Entwicklung des GEAS ist es dabei kennzeichnend, dass die politischen und administrativen Unterschiede beim Umgang der Mitgliedsländer mit Geflüchteten die Diskussionen und Verhandlungen innerhalb der EU maßgeblich beeinflusst haben (Zaun 2019). Der europäische Referenzrahmen institutionalisiert folglich Schieflagen, Brüche und Konflikte, die sich aus der politischen, rechtlichen und administrativen Realität der Mitgliedsländer speisen.

Diese Befunde belegen, dass die administrativen Gegebenheiten einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Asylpolitik ausgeübt haben. Damit stellt sich aber auch die Frage, was wir über den europäischen Verwaltungsraum und die Strukturen und Prozesse einer Europäisierung der mitgliedsstaatlichen Verwaltungen und ihrer Praxis wissen. Beiträge zur Beantwortung dieser Fragen liefern verwaltungs- und politikwissenschaftliche Studien, die sich mit der europäischen Verwaltungskooperation und der Formierung eines europäischen Verwaltungsraums befassen. In dieser Hinsicht lassen sich zwei für unsere Fragestellung relevante Forschungsstränge identifizieren. Ein erster Strang der Forschung greift die bereits behandelte Debatte zur Etablierung des GEAS auf. Entsprechende Beiträge betonen die Konsequenzen der rechtlichen Integration Europas, denn die Verwirklichung des Binnenmarktes wirkte sich unmittelbar auf das nationale Verwaltungshandeln aus (Sommer 2003; Harings 2005; Vogt 2005; Wettner 2005; Heußner 2007). Insbesondere galten die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen und die damit zusammenfallende Forderung nach Ausgleichsmaßnahmen als wichtige Ursachen für transnationale Behördenkooperation im Asylbereich (vgl. Baldwin-Edwards/Schain 1994; Taschner 1997; Marinho/Heinonen 1998). In diesem Sinne führten das Schengener Abkommen und die Politik der offenen Grenzen zur Etablierung des Dublin-Systems und somit zur zwischenstaatlich koordinierten Regulierung von Mobilität aus Drittstaaten. Die Harmonisierung des Verwaltungshandelns und die Förderung der Verwaltungskooperation rückten seitdem in den Mittelpunkt des Interesses der Europäischen Union.

Die verwaltungs- und politikwissenschaftliche Forschung hat diese Thematik aufgegriffen und danach gefragt, ob es in diesem Zusammenhang – und auch über den engen Bereich der europäischen Asylpolitik hinaus – zur Etablierung eines »europäischen Verwaltungsbundes« (Schmidt-Aßmann 2005: 2) oder eines »europäischen Verwaltungsraums« (Siedentopf 2004; Goetz 2006; Hofmann 2008) kommt. Einzelne gingen davon aus, dass es im Zuge der ökonomischen und politischen Integration Europas zwangsläufig zu einer Konvergenz öffentlicher Verwaltungen aller Mitgliedsstaaten und in diesem Zuge dann auch zu einem einheitlichen Verwaltungsraum kommen müsse (Torma 2011). Die Forschungsbefunde allerdings zeichnen ein weniger prägnantes Bild. Trotz anhaltender Bemühungen der EU bleibt es bei einer hohen Diversität nationalstaatlicher Verwaltungsstrukturen und -kulturen. Letztere passen sich nur differenziell dem rechtlichen und institutionellen Rahmen der EU an und entwickeln auch nur aufgaben- und bereichsspezifische Formen der grenzüberschreitenden Verwaltungskooperation (Olsen 2003; Sotiropoulos 2004; Dussauge 2005). Diese differenzielle Europäisierung wird durch eine Reihe von Faktoren erklärt, unter ihnen die geografische Lage, die sozioökonomische Situation, die administrativen Funktions- und Entwicklungsbedarfe und bestehende Verwaltungskulturen (Beck 2021: 148ff.).

Dennoch argumentieren diese Studien, dass es der EU durchaus gelungen sei, die bestehende Diversität nationalstaatlicher Verwaltungen über eine Reihe von Instrumenten vertikal und horizontal zu verzahnen – unter ihnen gemeinsame Rechtsstandards, Programme der freiwilligen Koordinierung, interinstitutionelle Steuerungsorgane und Vollzugsagenturen (Heidbreder 2011). Einen Effekt scheinen diese rechtlichen und institutionellen Mechanismen auch deshalb zu haben, weil sie die mitgliedsstaatlichen Verwaltungen über Programme der organisatorischen, personellen und informationellen Unterstützung befähigen, ihre Funktionsweise – im Sinne der europäischen Vorgaben und Ziele – zu verbessern (Trondal/Peters 2015). Hinzu kommt, dass nationale Verwaltungen stärker miteinander interagieren und kooperieren müssen (Hofmann 2008; Beck 2021). Solche Kooperationsformen setzen nicht nur organisatorische Anpassung in den mitgliedsstaatlichen Verwaltungen voraus, sondern bedingen auch einen Informations- und Erfahrungsaustausch, der zu weiteren Veränderungen der Verwaltungspraxis führt (Sommermann 2015).

Diese verwaltungs- und politikwissenschaftlichen Studien unterstreichen also, dass die EU einen ›europäischen Verwaltungsraum‹ etabliert hat, der die Heterogenität nationaler Verwaltungssysteme zwar nicht aufhebt, aber in einen rechtlichen und institutionellen Rahmen einbindet, durch den es zu einer partiellen Rekonfiguration des Verwaltungshandelns kommt (Olsen 2003; Hoffmann 2008; Heidbreder 2011; Beck 2021). An dieser Stelle nun setzt die verwaltungssoziologische Forschung an, da sie sich dezidiert für die Restrukturierung mitgliedsstaatlicher Bürokratien auf der personellen und arbeitspraktischen Ebene interessiert. Zunächst ist auf personelle Verflechtungen innerhalb grenzüberschreitender Arbeitszusammenhänge auf der zwischenstaatlichen und supranationalen Ebene hingewiesen worden. Als förderlich erweist sich hierbei die Vielzahl an formalisierten Organen (Agenturen, Lenkungsgremien, Ausschüsse), projektförmigen Maßnahmen (Amtshilfen, Konferenzen, Schulungsprogramme etc.), elektronisch gestützten Plattformen des Informations- und Erfahrungsaustausches oder informellen Kontaktnetzwerken. Die Literatur sieht einen deutlichen Prozess der Gruppen- und Gemeinschaftsbildung am Werk, denn vielen dieser Ausschüsse und Gremien ist ein konsensfördernder Diskursstil zu eigen (Bach 2008: 119). Diese Vergemeinschaftung ist vor allem auf der politischen und administrativen Leitungsebene beobachtet worden, weshalb die Etablierung der Europäischen Union als ein Elitenprojekt verstanden wird (Haller 2009). Für die EU kennzeichnend sind eine eigene ›EU-Beamtenschaft‹ (Haller 2009: 146-162) oder ›Fusionsbürokratie‹ (Bach 1999; Wessels 2003) sowie ausdifferenzierte ›Netzwerke-Bürokratien‹ (Bach 2008), die Beamtinnen und Beamte auf supranationaler und nationaler Ebene zusammenbringen und diese als Zugpferde oder Scharniere der europäischen Integration etablieren. Hinzu kommt, dass diese Eliten mit den nationalen Verwaltungsapparaten eng verschränkt sind. Denn neben den Beamtinnen und Beamten der Europäischen Kommission und den in Brüssel aktiven Think Tanks und Lobbygruppen wirken auch Beschäftigte der nationalen Behörden in den vielen Agenturen, Ausschüssen und Anhörungen mit, bei denen es oft um die Vorbereitung oder Durchführung von EU-Rechtsakten geht (etwa im Asylbereich, Tomei 2001: 103). Gleichzeitig wächst eine ›Stellvertreterbürokratie‹ innerhalb der Mitgliedsländer, die mit der Umsetzung des europäischen acquis communautaire betraut ist und entsprechende Arbeitskontakte und Loyalitäten entwickelt (Haller 2009, S. 235ff.).

Doch nicht nur Spitzenbeamtinnen und -beamte gelten als Akteure der Etablierung eines bürokratischen Feldes innerhalb der Europäischen Union. Die Forschung verweist auch auf Arbeitsstrukturen zwischen den nationalen Asylbehörden, die sich u. a. in der Institutionalisierung interadministrativer Netzwerke, dem Austausch von Personal und Informationen sowie operativen Maßnahmen materialisieren (Bartels 1996; Tomei 2000, 2001; Byrne et al. 2004; Ette/Kreienbrink 2008; Thym 2010: 377; Tsourdi/Bruycker 2016; Tsourdi 2020b). Wie wir im folgenden Kapitel ausführen werden, spielen in diesem Zusammenhang nicht nur mitgliedsstaatliche Behörden und zwischenstaatliche Abstimmungsgremien eine wichtige Rolle. Mit der Etablierung des European Asylum Support Office (EASO), das im Jahre 2011 seine Arbeit aufnahm, wurde ein Akteur geschaffen, der sich dezidiert um die Kooperation der nationalen Asylverwaltungen und die Vereinheitlichung der Verwaltungspraxis bemüht (Schneider/Nieswandt 2018; Tsourdi 2020b).

Die Praktiken der grenzüberschreitenden Kooperation gehen aber nicht allein auf europäische Verordnungen und Richtlinien zurück. Zum Teil sind die Eigeninteressen der asyl- bzw. migrationsspezifischen Verwaltungen in den Mitgliedsländern hierfür mindestens ebenso entscheidend, gilt es diesen Akteuren zufolge doch, den eigenen Handlungsspielraum durch den Aus- und Aufbau transnationaler Behördenkooperation und kontinuierlicher Kontakte zur EU-Ebene zu erhöhen (Tomei 2000: 386f.). Zum Teil entwickelt die europäische Behördenzusammenarbeit eine Eigendynamik, die von europäischen Regelungen zur Asylzuständigkeit zwar angestoßen wurde, dann aber selbstverstärkend an Umfang und Bedeutung zunahm (Bartels 1996: 67; Thym 2010: 346). Eigendynamisch kommt etwa zum Tragen, dass die Zusammenarbeit den beteiligten Verwaltungsakteuren administrative Mängel offenbarte, die nur durch eine intensivere Abstimmung der Vorgehensweisen überwunden werden konnten. Der dazu notwendige Informations- und Erfahrungsaustausch intensivierte die Kontakte und begünstigte damit die Vertrauensbildung (Tomei 2001: 119). Schließlich bot die Verwaltungskooperation die Chance für die Genese geteilter Deutungen und Wissensbestände, die wiederum zur »transnationalen Suche nach der bestmöglichen Lösung« (Tomei 2001: 109) beitrug. Alles in allem kann folglich davon ausgegangen werden, dass die mit der transnationalen Asylverwaltungskooperation einhergehenden Lern- und Sozialisationsprozesse eine wichtige Grundlage für eine mögliche Angleichung der Verwaltungspraxis vor Ort bieten.

Diese Befunde legen in ihrer Gesamtheit nahe, dass wir in den letzten Jahrzehnten der Genese eines bürokratischen Feldes beizuwohnen scheinen, auch gerade für den spezifischen Fall der Asylverwaltung (Tomei 2000; Jordan 2001; Lahusen 2016; Schneider/Nieswandt 2018). Allerdings haben wir es weiterhin mit Forschungsdesideraten zu tun. Die politikwissenschaftliche Europaforschung interessiert sich für die Genese von Politikfeldern, während die verwaltungsrechtswissenschaftliche Europaforschung primär Strukturen der Verwaltungskooperation beschrieben hat. Die soziologische Forschung konzentrierte sich auf das Personal und die betreffenden Interaktionsstrukturen auf der Ebene der Spitzenbeamtinnen und -beamten und auf der Ebene lokaler Behördenleitungen. Die Frage nach der Genese eines europäischen Asylverwaltungsfeldes lässt sich auf Grundlage dieser Befunde und Überlegungen nur partiell beantworten. Auch wenn der rechtlich-politische Rahmen in diese Richtung zeigt und die europäischen Arbeits- und Kontaktstrukturen zunehmend den Alltag der lokalen Behörden prägen, so wäre es problematisch, von diesen Beobachtungen direkt auf einen Wandel nationaler Verwaltungspraktiken und auf die Entstehung eines europäischen Asylverwaltungsfeldes zu schließen. Soziologisch interessant – und politisch brisant – ist nämlich die Frage, ob die vielen Bemühungen der EU-Institutionen und Mitgliedsländer bei der Etablierung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und einer Harmonisierung des Verwaltungshandelns bis auf die street level bureaucracy durchschlagen oder auf dem langen Weg des Vollzugs versanden. Erst auf dieser mikrosoziologischen Ebene lassen sich die europasoziologisch relevanten Fragen beantworten. Gibt es belastbare Indizien für die Entstehung eines gesamteuropäischen bürokratischen Feldes bis auf die Vollzugswirklichkeit oder wird dieses als sozialwissenschaftliches Artefakt eher konstruiert? In welchen Bereichen und auf Grundlage welcher Strukturen und Prozesse wird Verwaltungshandeln aus den segmentären Strukturen nationalstaatlich organisierter Verwaltungsräume herausgelöst und innerhalb eines gesamteuropäischen Referenz- und Handlungsrahmens neu strukturiert und konfiguriert? Und welche Folgen haben diese Entwicklungen für bürokratisch konstituierte Formen von Staatlichkeit in Europa? Wie sieht schließlich die Praxis der Schutzgewährung aus, wenn sie nicht mehr in erster Linie als nationalstaatliche Angelegenheit gilt, sondern in diesem rekonfigurierten Rahmen ausgeübt wird?

Diese Fragen sollen mithilfe eines feldtheoretischen Ansatzes beantwortet werden, denn die bourdieusche Analytik, die im Weiteren noch näher erläutert werden soll, versteht soziale Felder – und hier auch das bürokratische Feld der europäischen Asylverwaltungen – als das Produkt von Kämpfen und Aushandlungen. Die Fragen, ob ein europäisches Asylverwaltungsfeld gegeben ist und welche Konturen und Strukturen es entwickelt hat, gilt es folglich mit Blick auf die Auseinandersetzungen und Verhandlungen, die die soziale Praxis der Behörden prägen, zu beantworten (Bourdieu 2014). Ein feldtheoretischer Ansatz empfiehlt sich aber auch deshalb, weil die Genese eines europäischen Asylverwaltungsfeldes nicht der Logik eines Nullsummenspiels zwischen ›gelingender‹ oder ›misslingender‹ Integration im Sinne einer De- oder Re-Nationalisierung entspricht, weshalb die Etablierung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auch nicht zur rechtlichen und administrativen Vereinheitlichung der mitgliedsstaatlichen Asylverwaltungspraxis führen muss. So wie es aussieht, dürften Problemdeutungen, Wissensbestände und Regeln weiterhin divergieren und damit umkämpft bleiben, ohne dass hierdurch die Europäisierung der nationalen Asylverwaltungen ausbleiben müsste. Hinzu kommt, dass lokale Behörden in Verwaltungs-, Politik- und Rechtsräumen auf mehreren Ebenen operieren, weshalb wir von Ambivalenzen und Widersprüchen auszugehen haben. Alles in allem müssen wir ein Denken hinterfragen, das Bürokratie und Staatlichkeit immer noch in nationalstaatlichen Termini versteht. Womöglich beobachten wir innerhalb der EU die Genese eines gesamteuropäischen Verwaltungsfeldes, das nicht als Kopie nationalstaatlicher Formationen gedacht werden kann, sondern transnational geprägt ist.

2.1.2Das europäische Verwaltungsfeld: eine kritische Reflexion der Staats- und Bürokratietheorie Pierre Bourdieus

Der sozialtheoretische Ansatz, den Pierre Bourdieu auch gerade im Bereich der politischen Soziologie entwickelt und präzisiert hat (bspw. Bourdieu 1987, 1998, insb. 2001, 2004, und 2014), bietet sich als Grundlage für eine soziologische Erörterung der Bürokratisierung Europas in der hier vorgeschlagenen Zielrichtung an. Er erlaubt es uns, die Frage nach der Europäisierung nationaler Verwaltungen aus dem institutionalistischen Fokus herauszulösen, der die bisherige Forschung immer noch dominiert. Seine Theorie privilegiert die Analyse der Praxis, die zwar seinem Verständnis nach von den (institutionellen) Strukturen der jeweiligen Felder präformiert und strukturiert ist. Allerdings ist die Praxis innerhalb von Feldern stets als dynamisches Kräfte- und Konfliktspiel zu verstehen (Hillebrandt 2014). So nimmt Bourdieu an, dass sich Felder in ihren institutionellen Strukturen historisch aus spezifischen Konflikten und Kämpfen heraus entwickelt haben und dass sich diese Institutionen als Mittel der Reproduktion, Stabilisierung und Legitimierung spezifischer Praxisformationen herausschälen. Diese feldtheoretischen Annahmen bieten für unsere europasoziologische Zielsetzung mehrere Vorteile (siehe auch Bernhard 2011; Kauppi 2012; Mérand 2012). So ist es zunächst konzeptionell möglich, das Verwaltungshandeln analytisch von den administrativen Strukturen der nationalstaatlich organisierten Rechts- und Verwaltungssysteme zu unterscheiden. Für eine europasoziologische Untersuchung bietet dies Vorteile, denn es ist denkbar, dass sich transnationale Verwaltungspraktiken innerhalb nationalstaatlich strukturierter Verwaltungsstrukturen entwickeln. Eine solche Untersuchung aber setzt voraus, dass wir die bourdieusche Analytik für den hier zu verhandelnden Gegenstand theoretisch fruchtbar machen. Vor allem müssen seine feld- und praxistheoretischen Argumente europasoziologisch kritisch diskutiert und weiterentwickelt werden.

Als Feld versteht Bourdieu einen gesellschaftlichen Teilbereich, in dem es um ein zentrales gesellschaftliches ›enjeu‹, um einen ›Einsatz‹ geht. Insbesondere wird um die Produktion und Reproduktion von gesellschaftlich bedeutsamen Gütern und entsprechender (ökonomischer, kultureller, sozialer, informationeller) Kapitalien gerungen. Damit definiert er Felder über bereichsspezifische ›Spiele‹, Akteursarenen und Kräftekonstellationen (Bourdieu 1991, S. 70f., 1997 und 1998). Gesellschaften haben verschiedene Felder hervorgebracht (das Feld der Ökonomie, der Wissenschaft, des Rechts, der Literatur, der Kunst etc.), die allesamt ähnliche Merkmale aufweisen, insofern es sich um »historisch konstituierte Spielräume mit ihren spezifischen Institutionen und je eigenen Funktionsgesetzen« (Bourdieu 1992: 111) handelt. Parallelen zu den Differenzierungs- und Institutionalisierungstheoremen sind offenkundig, da Bourdieu davon ausgeht, dass diese Felder Produkt einer Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Teilbereichen und einer diesbezüglichen Institutionalisierung eigener Handlungsarenen, -strukturen, -logiken oder -rationalitäten sind (bspw. Parsons 1960; Luhmann 1971; Habermas 1981, S. 229-293; Weber 1988, S. 541-567; Lepsius 1990). Allerdings setzt sich Bourdieu von den Vorstellungen einer funktionalen und zweckrationalen Spezialisierung ab. Felder kennzeichnen sich durch eine Praxis des Ringens um gesellschaftlich bedeutsame Güter, womit es in ihnen letztlich um die Produktion und Reproduktion von Macht und damit von Ungleichheiten im gesellschaftlichen Raum geht. Wie zu zeigen sein wird, erhält der Staat bzw. das bürokratische Feld in diesem Theorieentwurf eine besondere Bedeutung bei der Strukturierung und Zementierung gesellschaftlicher Ordnung. Zugleich geht es Bourdieu stets um die Frage nach der Herstellung von Gefolgschaft und Anerkennung in der an sich konfliktreichen und von Ungleichheiten geprägten Gesellschaftsordnung. Felder sind damit nicht allein durch Ressourcen, Regeln und Institutionen der Handlungssteuerung und -koordinierung gekennzeichnet, die darin auch noch systemisch spezialisiert und zweckrational orientiert sind. Entscheidend ist vielmehr die Genese einer feldspezifischen ›illusio‹, einer stillschweigenden Anerkennung der ›Spieleinsätze‹, die die Teilnahme aller Gesellschaftsmitglieder auch bei ungleichen Chancen garantiert und die gesellschaftliche Ordnung feldspezifisch legitimiert und stabilisiert. Auch hier unterstreicht Bourdieu die Bedeutung der in modernen Gesellschaften realisierten Form des Nationalstaates, denn ihr spricht er diese Stabilisierungs- und Legitimierungsaufgabe zu.

Das bürokratische Feld nimmt in der bourdieuschen Gesellschaftstheorie eine besondere Position ein, insofern es für die Gesellschaft als Ganzes konstitutive Kämpfe austrägt und besiegelt, da es das physische und symbolische Gewaltmonopol zur Durchsetzung und Legitimierung eines geltenden Ordnungsmodells auf sich vereint (Bourdieu 2004). Zugleich unterstreicht Bourdieu, dass das bürokratische Feld auch in die interne Strukturierung der Gesellschaft eingreift, denn es durchzieht die unterschiedlichen Felder (Bildungssystem, Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Sozialsysteme etc.), womit es über den Wert von Kapitalien wie auch über die Konversionsregeln zwischen den Kapitalsorten rechtsverbindlich entscheidet und diese damit verwaltet (Bourdieu 2014).

Veranschaulichen lässt sich diese Annahme am Beispiel des Asyls, denn das bürokratische Feld definiert und reproduziert Außengrenzen, sobald es den Zugang zu Aufenthaltstiteln und Staatsbürgerschaft, zu bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten organisiert und damit Exklusion und Inklusion reguliert. Die ordnungsstiftende Praxis des Staates zeigt sich durch »rites d’institution« (Bourdieu, 1998: 289f.), mit denen Rechte und Titel (Aufenthaltsgestattung, Staatsbürgerschaft, Arbeitserlaubnis, Bildungszertifikate etc.) vergeben werden. Lebenschancen und -formen variieren eklatant zwischen der Vielzahl abgestufter Rechtsansprüche, die die Behörden Nicht-Staatsangehörigen zusprechen können. Damit fungiert das bürokratische Feld nicht nur gegenüber den Einzelnen als Schaltstelle der gesellschaftlichen Teilhabe; über die Zu- oder Aberkennung gestufter Teilhabe der Einzelnen organisiert es gesellschaftliche Ordnung nach außen (bspw. Grenzziehung) wie auch nach innen (bspw. Ungleichheitsstrukturen). Der Staat trägt nach Bourdieus Worten dazu bei, die Hierarchien und die Prinzipien der Hierarchisierung, die ihnen zugrunde liegen, zu produzieren (Bourdieu, 1998: 290).

Das bürokratische Feld ist Bourdieu zufolge das historisch am stärksten umkämpfte, denn in ihm und durch dieses Feld werden Teilhaberechte und Ansprüche, Titel und Privilegien institutionalisiert und reproduziert. Zugleich erhalten Partikularinteressen hierdurch die Weihen des öffentlichen Interesses und Allgemeinwohls. Nach Bourdieu sind es damit spezifische gesellschaftliche Gruppierungen, die das bürokratische Feld gemäß ihrer Position im sozialen Raum etabliert, entwickelt und im modernen Staat zentral verortet haben. Und es sind spezifische Gruppierungen, die er im französischen Beispiel als Staatsadel tituliert (Bourdieu 2014), die sich die bürokratische Logik mit ihrer meritokratischen Doxa zu eigen machen, um ihren sozialen Status zu sichern und an ihre Nachkommen zu vererben. Damit steht die Frage im Raum, ob die bourdieusche Staats- und Bürokratietheorie für eine europasoziologische Untersuchung überhaupt nutzbar gemacht werden kann, da sie die Idee einer staatlichen Konstitution gesellschaftlicher Ordnung – und damit die Idee eines nationalen ›Containers‹ – auf die Spitze treibt. Die Antwort muss differenziert ausfallen, denn in manchen Punkten kann die bourdieusche Analytik ohne Probleme an die neue Fragestellung angepasst und gewinnbringend weiterentwickelt werden. In anderen Aspekten erscheint eine Revision der verwendeten Konzepte und Annahmen notwendig. Im Wesentlichen sind drei Anpassungen erforderlich, um eine feldtheoretische Analyse des ›europäischen Verwaltungsraums‹ konzeptionell abzusichern.

Erstens müssen verschiedene Theorieebenen innerhalb von Bourdieus Bezugsrahmen unterschieden werden. Während seine historische und zeitdiagnostische Argumentation am Nationalstaat ausgerichtet bleibt, ist sein konflikttheoretisches Analyse- und Erklärungsmodell nicht an die Form des modernen Staates gebunden. Gesellschaftliche Ordnung und die ihr zugrunde liegenden Herrschaftsformen sind relativ und variabel, da sie aus historisch spezifischen Kräftekonstellationen und Konflikten heraus erwachsen. Mit Blick auf den europäischen Integrationsprozess kann mit Verweis auf Stein Rokkan (2000) und Peter Flora (2000) argumentiert werden, dass der Nationalstaat seit der Neuzeit eine gesellschaftliche Ordnung institutionell ›eingefroren‹ hatte, indem er die physische und symbolische Gewalt zu ihrer Durchsetzung und Legitimierung monopolisierte. Der europäische Integrationsprozess aber ›taut‹ nationalstaatlich gefasste Herrschaftsordnungen in einer Reihe von Feldern (bspw. beim Binnenmarkt, dem gemeinsamen Hochschul- oder Wissenschaftsraum, bei den Arbeitsmärkten und den industriellen Beziehungen) gewissermaßen wieder auf, womit sich auch die Reproduktionslogik staatlicher Herrschaft und gesellschaftlicher Ordnungsbildung ändern dürfte. Dieser Prozess muss, der bourdieuschen Axiomatik folgend, zwangsläufig die Form von Staatlichkeit in Bewegung setzen. Zugleich dürfte dies nicht ohne Konflikte vonstattengehen, denn der europäische Integrationsprozess und die Verrechtlichung und Bürokratisierung mobilisieren nicht nur verschiedene Regierungen und Eliten, sondern auch die vom Nationalstaat materiell und symbolisch abhängig Beschäftigten, die auf den hierarchieniederen Ebenen entsprechende Europäisierungstendenzen instrumentalisieren, brechen oder abblocken dürften. Diese Akteure versuchen auf den jeweiligen Handlungsebenen divergierende Nationalstaatsinteressen sowie eine länderspezifische Staatsräson mit eigenen Problemdefinitionen, Wissensbeständen, Regelungen und Legitimationsideen zu wahren oder gegenüber anderen auf europäischer Ebene zu institutionalisieren. Herrschaftsansprüche des Nationalstaates und Europäisierungsprozesse schließen sich deshalb aber nicht gegenseitig aus, sondern werden Teil eines gemeinsamen Kräfte- und Konfliktfeldes, bei dem es um die Ausgestaltung neuer Strukturen von Staatlichkeit geht.

Zweitens kann die feldtheoretische Modellierung für europasoziologische Problemstellungen gewinnbringend angepasst werden, sobald sie von der zeitdiagnostischen und gesellschaftsanalytischen Befassung Bourdieus mit Staatlichkeit und Bürokratie emanzipiert wird. Nach Bourdieu führte die historische Entwicklung moderner Gesellschaften geradewegs zur Etablierung eines universalistischen Prinzips von Staatlichkeit, das einen Totalitätsanspruch – das »Monopol der legitimen physischen und symbolischen Gewalt« (Bourdieu 2014, S. 18) – innerhalb eines Territoriums durchsetzt. Diese totalisierende Konzeption des Staates ist nicht nur für eine Analyse der Europäischen Union unangebracht, sondern auch für nationalstaatliche Ordnungen überzeichnet. Sie kollidiert zudem mit dem konflikttheoretischen Leitmotiv des bourdieuschen Ansatzes und seiner Erkenntnis, dass das bürokratische Feld eine Arena dauernder Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des physischen und symbolischen Gewaltmonopols ist. Europasoziologisch problematisch ist des Weiteren, dass Bourdieu für die retrospektive Erklärung der Staats- und Gesellschaftswerdung ein plausibles Narrativ anbietet, das aber wenig geeignet ist, die Widersprüche, Spannungen und Brüche aktueller Staatlichkeit in einem komplexen Mehrebenensystem zu entschlüsseln. Es ist zu bezweifeln, dass die für den Nationalstaat rekonstruierte Bewegungslogik der Staatswerdung (Akkumulation, Konzentration und Transmutation von Kapitalien in den Händen des Staates) für die Genese der EU in ihren Verrechtlichungs- und Bürokratisierungsprozessen ebenfalls gilt. Nationalstaatliche Ordnungen werden in einem europäischen Institutionengefüge nicht aufgehoben, und dies ist auch nicht für die Zukunft zu erwarten. Hinzu kommt, dass sich Staatlichkeit auf nationaler Ebene ebenfalls verändert, dass sie also brüchiger und diskontinuierlicher wird, als in der bourdieuschen Perspektive konstatiert. So hat die sozialwissenschaftliche Forschung reichhaltig Belege dafür gefunden, dass die obrigkeitsstaatliche Logik des Nationalstaates durch Elemente der Gewährleistung, Delegation und Kontraktualisierung, der Managerialisierung, Quasi-Ökonomisierung und Privatisierung ergänzt bzw. zum Teil ersetzt wird (Schuppert 2001; Lahusen 2003; Benz 2004; Kropp 2004). Dies widerspricht der totalisierenden Sicht auf den Staat, aber nicht der feld- und konflikttheoretischen Grundkonzeption Bourdieus, denn die jeweils historisch hervorgebrachte Form von Staatlichkeit ist Materialisierung und Spiegelbild der gesellschaftlichen Ordnungsmuster und der diesbezüglichen Konflikte.

Das Beispiel des Asyls ist auch in dieser Hinsicht sehr instruktiv. Grenzkontrollen verschieben sich von den nationalstaatlichen Grenzen nach innen, etwa durch polizeiliche Kontrollen an den internationalen Verkehrsknotenpunkten (bspw. den Flughäfen). Zugleich werden Grenzen allerorts bürokratisch verwaltet, da die Behörden Entscheidungen über Schutzgewährung, Duldung oder Abschiebung von Asylsuchenden herbeiführen und damit andauernd Unterscheidungen zwischen drinnen und draußen, zwischen Teilhabe und Exklusion treffen. Grenzkontrollen werden auch zusehends privatisiert, etwa durch carrier sanctions für private Transportunternehmen, die ihrer ›Sorgfaltspflicht‹ bei der Identifizierung von Personen ohne gültige Einreisepapiere nicht nachkommen (Baird 2017). Nach außen wird ›Grenzmanagement‹ exterritorialisiert, da die Länder Afrikas, Osteuropas oder des Mittleren Ostens in die Lenkung, Bearbeitung oder Verhinderung von Fluchtbewegungen mit eingebunden werden (Mau et al. 2008; Laube 2013; Vara/Matellán 2021). Für das Binnenverhältnis der europäischen Mitgliedsstaaten schließlich brachte das GEAS ein arbeitsteiliges Kontroll- und Verwaltungssystem, das im Schengener Abkommen seinen Anfang nahm. Denn seit 1997 werden Verwaltungsabläufe im Innern Europas aus dem Souveränitätsbereich einzelner Nationalstaaten herausgelöst, etwa im Bereich der Zuständigkeitsprüfung, in dem das Dubliner Übereinkommen die nationalen Asylbehörden dazu veranlasst, die Entscheidungsfindung an die Behörden jener Mitgliedsstaaten zu delegieren, in denen der Asylantrag zuerst registriert wurde. Nationalstaatlichkeit wird damit nicht aufgehoben, sondern sozialräumlich im Sinne einer gemeinschaftlichen Aufgabe definiert, die minimalistisch durch gegenseitige Anerkennungspraktiken erfüllt wird. Es kommt damit zur Etablierung einer territorial neu zusammengesetzten Kontrollapparatur, die auf der Basis stratifizierter Rechtsansprüche regiert (Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« 2014; Buckel et al. 2017).

Drittens kollidiert das zeitdiagnostische und analytische Erkenntnisinteresse Bourdieus mit der von ihm selbst eingeklagten Analyse feldspezifischer Kämpfe. Die Genese des bürokratischen Feldes erklärt er im Wesentlichen durch die Versuche divergierender Eliten, ein partikulares Projekt durchzusetzen und zu fixieren (Bourdieu 2014). Europasoziologisch ist diese Problemstellung unmittelbar einsichtig und hochgradig relevant. Vor allem im Bereich der europäischen Asylpolitik ist die EU mit dauerhaften Konflikten zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten konfrontiert. Umso erstaunlicher ist es, dass es den EU-Institutionen und Mitgliedsländern immer wieder gelungen ist, das GEAS substanziell weiterzuentwickeln (Zaun 2016). Unklar bleibt aber, wie ein solch politisches Regulierungsprojekt Gefolgschaft generieren und damit Geltung bis auf die lokale Ebene sichern kann. Dabei geht es nicht um die allgemeine Anerkennung durch die Bürgerinnen und Bürger eines Staates, sondern im vorliegenden Untersuchungskontext bereits um die Frage nach der Gefolgschaftssicherung der Staatsbediensteten bis auf die Ebene der street level bureaucrats.

Eine diesbezügliche Skepsis ist bei unseren europasoziologischen Analysen besonders naheliegend, denn angesichts anhaltender Konflikte über die Zukunft der europäischen Asylpolitik und angesichts wiederkehrender Implementations- und Compliance-Defizite ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Regulierungsvorhaben ohne Einschränkungen auf der lokalen Ebene implementiert werden. Dies liegt an der konstitutionellen und institutionellen Architektur der Europäischen Union. So hat die EU judikative und legislative Funktionen in einer Reihe von Politikfeldern vergemeinschaftet, wofür die Arbeit des EU-Parlaments, des Ministerrats sowie des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) steht. In Bezug auf das Verwaltungshandeln ist aber zu betonen, dass die Exekutivfunktionen weitestgehend in den Händen der Mitgliedsländer verbleiben, womit vollziehende und verwaltende Tätigkeiten weiterhin subsidiär organisiert werden und im Gesamttableau eine fraktale Struktur behalten. Im Bereich des behördlichen Handelns haben wir es somit mit einem lose gekoppelten Verwaltungsfeld zu tun, das aus unterschiedlichen Verwaltungsapparaten der Mitgliedsländer besteht. In dieser fraktalen Struktur gelingt es kaum, transnationale Legitimität und Gefolgschaft zu generieren, die fraglos gewährt werden würde. Soll die makrosoziologische Analyse des bürokratischen Feldes gelingen, so muss auf eine mikrofundierte Erklärungsebene rekurriert werden, denn nur auf der Ebene der Verwaltungen und ihres Personals lässt sich erklären, ob und auf welche Weise eine Harmonisierung und Koordinierung des staatlichen Verwaltungshandelns eintritt oder ausbleibt.

Auf dieser Ebene hat der bourdieusche Analyserahmen viel und wenig zu bieten. Mit Blick auf die Strukturen und Dynamiken des lokalen Verwaltungshandelns wurden innerhalb der Feldtheorie wenig konkrete Vorschläge entwickelt, weshalb wir uns im nächsten Unterkapitel einem zweiten Forschungsstrang zuwenden werden, der sich mit dem street level explizit und eingehend befasst hat. Allerdings ist zu betonen, dass die Feldtheorie durchaus Substanzielles für die Analyse des lokalen Verwaltungshandelns abwirft, da sie die Praxis lokaler Behörden analytisch in ein europäisches Kräftefeld einzubetten und von dieser Perspektive aus zu entschlüsseln erlaubt. Das gemeinsame Asylsystem der EU spannt zwar einen sehr breiten und fragmentierten Rechtsrahmen auf, mit dem wir uns im dritten Kapitel eingehender befassen werden. Aber dieses System adressiert die lokalen Verwaltungsbehörden direkt und setzt sie damit unmittelbar einem gesamteuropäischen Kräftefeld aus. So hat der Amsterdamer Vertrag die Flüchtlings- und Asylpolitik im Jahre 1997 der ersten supranationalen Säule zugeschlagen, womit er diesen Politikbereich einer gemeinsamen Rechtsharmonisierung zuführte. Das Haager Programm legte daraufhin das Ziel einer Rechtsharmonisierung im Jahr 2004 fest. In der Folge wurden zahlreiche Rechtsakte auf den Weg gebracht (bspw. die Dublin II-Verordnung, die Aufnahme- und Qualifikations- sowie die Asylverfahrensrichtlinie), die mit den Überarbeitungen im Richtlinien- und Verordnungspaket vom Juni 2013 noch konsequenter auf eine Konvergenz der nationalen Rechtsvorschriften und Verwaltungspraktiken drängten. Vor allem das Dublin-System versinnbildlicht die Etablierung eines europäischen Verwaltungsfeldes eindrücklich, denn das Dubliner Übereinkommen von 1997 und seine Nachfolgeverordnungen (Dublin-II aus dem Jahr 2003 und Dublin-III von 2013) etablieren eine administrative ›Arbeits- und Schicksalsgemeinschaft‹ aller EU-Mitgliedsstaaten und der vier assoziierten Länder (Schweiz, Norwegen, Island und das Fürstentum Liechtenstein).

Das Dublin-System und der darauf fußende Raum behördlicher Zusammenarbeit verdeutlichen in besonderer Weise die Form und Wirkungsweise der europäischen Asylpolitik (Servent/Zaun 2020). Zum einen setzen sie integrative Kräfte frei, denn sie etablieren die bereits genannte Arbeitsteilung zwischen den nationalen Verwaltungen, die auf gemeinsamen Datenbanken, Informationsplattformen, Formularen und Entscheidungsabläufen fußt. Zum anderen aber veranschaulicht das Dublin-System auch die Grenzen und Widerstände einer solchen Arbeits- und Schicksalsgemeinschaft. Bei der überwiegenden Zahl der Anträge sind die nationalen Behörden selbst zuständig, weshalb nur wenige Fälle Übernahmeersuchen bei anderen Mitgliedsländern auslösen – in den Jahren zwischen 2010 und 2014 waren es 10 % (EASO 2016a: 30).1 Bei 23 % dieser ›Dublin-Fälle‹ kommt es zu einer tatsächlichen Überstellung (ebd.), was zeigt, dass die praktische Verwaltungskooperation in nur geringem Ausmaß ›effektiv‹ ist (Lahusen/Wacker 2019). An diesem Umstand sind verschiedene Ursachen beteiligt, denn eine Überstellung von Asylantragstellenden wird nicht selten von den Betroffenen und unterstützenden Initiativen zu verhindern versucht, sie scheitert an mangelnder Abstimmung zwischen den beteiligten Akteuren (Asylbehörden, Polizei, Fluglinien etc.), der Länge der Verfahren, der Arbeitsbelastung der Behörden und dem Unwillen der aufnehmenden Länder (Lutz et al. 2017; Tsourdi 2021)

Der feldtheoretische Ansatz hilft, die grundlegende Konfliktivität des Verwaltungshandelns besser zu entschlüsseln, denn ihm zufolge stehen nationale Verwaltungsapparate in einem spannungsreichen Arbeitsverhältnis mittelbar und unmittelbar in Kontakt. Administrative Konflikte sind in der Grundstruktur des GEAS angelegt, da es ein asymmetrisches Zentrum-Peripherie-Verhältnis zwischen den Kernländern und den Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen etabliert (Groß 2017; Lahusen/Wacker 2019). Das Dublin-System hat Missverhältnisse rechtlich fixiert, denn es wurde vor allem durch nord- und westeuropäische Mitgliedstaaten vorangetrieben und in seiner Grundarchitektur entwickelt, während die süd- und osteuropäischen Länder, die an den migrationsrelevanten Außengrenzen liegen, einen kaum wahrnehmbaren Einfluss ausgeübt haben (Zaun 2016; Trauner 2020). Da Flucht- und Zuwanderungswege zumeist über die Territorien der ost- und südeuropäischen Mitgliedsländer verlaufen, läge die Zuständigkeit für Asylanträge in der Regel bei diesen Ländern, die bereits mit der Kontrolle der Außengrenzen und den damit verbundenen Herausforderungen und menschlichen Tragödien zu kämpfen haben. In einer solchen Situation greifen sie zum Teil zur systematischen Missachtung des Dublin-Prinzips, indem sie Asylsuchende polizeilich und behördlich nicht erfassen und in die Kernländer weiterreisen lassen, wo sie dann zuerst aktenkundig werden (Andrijasevic et al. 2005; Tsianos/Karakayali 2010; Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2015: 70f.). Die im Dublin-System angelegten Asymmetrien und Ungleichheiten haben im Kontext der hohen Zahl von Geflüchteten aus den Krisen- und Kriegsgebieten, die in Europa Asyl und Schutz suchten, zu einer veritablen Krise des GEAS geführt (Bendel/Servent 2017; Schilde/Goodman 2021). Zeitweise wurde das Dublin-System durch die deutsche Regierung ausgesetzt. Mehrere Mitgliedsländer führten Grenzkontrollen wieder ein und vereinbarten bilaterale Rückführungsabkommen mit einzelnen Staaten, um die Verantwortlichkeiten für Asylanträge nach nationalen Interessen klären zu können (Hess/Kasparek 2017). Für mehrere Jahre stand die Zukunft des Dublin-Systems insgesamt infrage, denn die südlichen Mitgliedsländer forderten einen ›solidarischen‹ Verteilungsschlüssel ein, auf den sich die Mitgliedsländer aber nicht einigen können (Wagner et al. 2016). Allerdings scheint das Dublin-System die politischen Krisen des GEAS zu überstehen, denn die EU-Institutionen arbeiten weiterhin an seiner noch konsequenteren Umsetzung, wenn auch nach den Vorschlägen der Kommission im neuen Gewand einer umfassenderen ›Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement‹. Auf dem Programm stehen die Intensivierung der gegenseitigen Normierung und Standardisierung, die Zunahme an Kontrollen, die Einrichtung möglicher Sanktionen und die Entwicklung kompensatorischer Ausgleichs- und Hilfsmaßnahmen (Europäische Kommission 2015; Europäische Kommission 2020). Erstaunlich ist auch, dass die administrative Realität des Dublin-Systems von den Krisenerscheinungen des GEAS nicht unmittelbar beeinträchtigt wird, denn gemessen an der Zahl der Rückführungsanfragen zwischen nationalen Mitgliedsländern scheint die transnationale Verwaltungskooperation über das letzte Jahrzehnt von Stabilität und Kontinuität geprägt zu sein (Lahusen/Wacker 2019).

Am Dublin-System lässt sich folglich veranschaulichen, was das Konzept des europäischen Verwaltungsfeldes meint: Es etabliert eine ›Arbeitsgemeinschaft‹ zwischen den nationalen Asylbehörden, die miteinander um Zuständigkeiten für Schutzsuchende und die administrative Bearbeitung ihrer Anträge ringen. Ob die Mitarbeitenden dies nun begrüßen oder nicht, ihre Behörden sind in ein arbeitsteiliges Verhältnis zueinander eingebunden. Ihre eigene Verwaltungstätigkeit hängt wesentlich davon ab, wie sie sich in diesem europäisierten ›Spiel‹ verhalten und wie sie sich auf die Entscheidungen der Behörden anderer Mitgliedsländer einstellen. Diese Verwaltungszusammenarbeit ist weniger kooperativ als konfliktiv und führt zu wechselseitigen Versuchen der Problemvermeidung und Problemverschiebung, die sich in den bereits genannten Implementationsdefiziten des Dublin-Systems selbst materialisieren (Groß 2017; Lahusen/Wacker 2019). Zugleich ist unverkennbar, dass sich dieses Feld auch dynamisch fortentwickelt, da die Akteure ihrerseits versuchen, die Spielregeln, nach denen die arbeitsteilige Verwaltung von Asylanträgen gestaltet wird, zu beeinflussen. All diese Dynamiken bestätigen aber die Relevanz des europäischen Verwaltungsfeldes. Lokales Verwaltungshandeln kann daher nur entschlüsselt werden, wenn mitberücksichtigt wird, wie der street level auf die Zwänge und Gelegenheiten reagiert, die ihm dieses Feld auferlegt oder eröffnet.

2.1.3Die Europäisierung des lokalen Verwaltungshandelns