Europas Zukunft. Bundesstaat oder Staatenverbund? - Walter Schilling - E-Book

Europas Zukunft. Bundesstaat oder Staatenverbund? E-Book

Walter Schilling

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wandel der Weltordnung, Krieg um die Ukraine, unsichere Energieversorgung, Migration vieler Menschen nach Europa: Vor dem Hintergrund gleich mehrerer tiefgreifender Krisen und gefährlicher Konflikte wird in der Frage der Finalität der Europäischen Union erbittert darum gerungen, ob die EU zu einem eigenständigen Bundesstaat umgestaltet werden soll oder ob die derzeit 27 Mitgliedsstaaten ihre nationale Souveränität und politische Selbstbestimmung im Rahmen eines engen Staatenverbundes behalten sollen. In seiner Expertise analysiert der Politikwissenschaftler Walter Schilling den derzeitigen Zustand der Europäischen Union aus einer realpolitischen Perspektive und gibt fundierte Antworten auf die Frage, wie sich die europäische Staatenwelt in nächster Zukunft weiterentwickeln wird. Seine Analyse bietet zahlreiche Informationen und Anhaltspunkte, um das politische Geschehen wirklichkeitsnah beurteilen zu können.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 245

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Europapolitik: Zwischen Wunschdenken und Realität

Gravierende Legitimationsdefizite und Konflikte

Machtorientiertes Vorgehen europäischer Zentralisten

Trend zur Bewahrung der nationalen Souveränität

Europäische Union als Staatenverbund neu konzipieren

Anhang

Affari Esteri

Der Autor

Vorwort

Wer es unternimmt, den aktuellen Trend in der Entwicklung der Europäischen Union zu beschreiben, wird nicht um die Feststellung herumkommen, dass derzeit ein erbitterter Machtkampf um die innere Konsistenz und die künftige Ausrichtung Europas stattfindet. Dabei ist die Art und Weise, mit der jene politischen Kräfte agieren, die den heute bestehenden „Europäischen Staatenverbund“ zu einem „Bundesstaat“ umformen wollen, bemerkenswert. Sie scheinen aus dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union nichts gelernt zu haben. In der Tat können wir derzeit ein Verhalten führender Repräsentanten Europäischer Institutionen, einiger Staats- und Regierungschefs und zahlreicher Vertreter politischer Parteien beobachten, das mit Blick auf die aktuelle Politik und die künftige Ausrichtung der Europäischen Union ohne Beispiel ist und zwangsläufig die ohnehin schon tiefgreifenden Konflikte innerhalb und zwischen den 27 Mitgliedsstaaten weiter verschärfen wird. Dabei stehen die Fragen der politischen Selbstbestimmung der einzelnen multi-ethnischen Staatsvölker, der nationalen Souveränität der Länder und der Finalität der Europäischen Union im Mittelpunkt der Szenerie. Während zahlreiche Politiker immer wieder betonen, dass die „Vision“ der „Vereinigten Staaten von Europa“ keine leere Formel bleiben dürfe, machen die meisten europäischen Staats- und Regierungschefs – gestützt durch ein starkes demokratisch vermitteltes Mandat – in Wort und Tat immer wieder klar, an der „nationalen Souveränität“ festhalten zu wollen und jede weitere Verlagerung von bedeutsamen politischen Kompetenzen an die Europäischen Institutionen in Brüssel, Straßburg und Luxemburg zu verweigern. Der nach langen und außerordentlich harten Auseinandersetzungen am 31. Januar 2020 vollzogene Austritt Großbritanniens (Brexit) aus der Europäischen Union weist darauf hin, welche Konsequenzen eine Politik haben kann, die sich an höchst umstrittenen ideologischen Vorstellungen orientiert.

Im Hinblick auf die konfliktgeladene Debatte über die Zukunft der Europäischen Union ist besonders bemerkenswert, dass die Befürworter der Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ nicht die geringste Chance haben, ihre Idee umzusetzen. Schon der Tatbestand, dass die Bundesrepublik Deutschland entscheidende politische Kompetenzen aus verfassungsrechtlichen Gründen (Artikel 79, Absatz 3 GG) gar nicht abgeben darf, lässt alle Bestrebungen in Richtung der „Vereinigten Staaten von Europa“ als problematisch erscheinen. Da hilft es auch nicht weiter, wenn man diesen Tatbestand verschweigt und gegenüber den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland so tut, als gebe es für die Entwicklung der Europäischen Union keine Grenzen. Die für einen Europäischen „Bundesstaat“ plädierenden Politiker und Vertreter der Medien befinden sich bereits vom Ansatz ihres Denkens her in einer Sackgasse. Erst recht aber zeigt die beachtliche Entschlossenheit jener politischen Kräfte, die auf politischer Selbstbestimmung der einzelnen multi-ethnischen Staatsvölker und der nationalen Souveränität ihrer Länder beharren, wie realitätsfern die an der Herausbildung eines Europäischen „Bundesstaates“ festhaltenden europäischen Politiker argumentieren und zu handeln suchen.

Auch der in jüngster Zeit immer häufiger zu beobachtende Versuch führender Politiker der Europäischen Union, ihre Argumentationsschwächen durch eine höchst umstrittene Einmischung in die nationale Politik der Mitgliedsstaaten auszugleichen, wie dies etwa bei dem Vorgehen gegen die mit einem starken demokratischen Mandat ausgestatteten Regierungen in Polen und in Ungarn geschieht, wird nichts daran ändern, dass diese Politiker scheitern werden. Ebenso wenig wird den Vertretern der Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ die nachhaltige Unterstützung durch manche Repräsentanten der Medien oder durch die zahlreichen gesellschaftlichen Organisationen fühlbaren Nutzen bringen. Mit ihrem post-demokratischen Verhalten und ihrem autoritär bestimmten Vorgehen stellen sie die Grundlagen der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen europäischen Ländern in Frage.

Das vorliegende Buch zielt zum einen darauf, die in vielen Bereichen verfehlte Politik führender Repräsentanten der Europäischen Union aufzuzeigen und deren Folgen zu analysieren. Zum anderen gilt es, Ansätze für eine realistische Konzeption der Europäischen Union vorzustellen, die für ein „Europa souveräner Staaten“ richtungweisend sein könnten. Dabei wird aufgezeigt, dass die Lösung des politischen Konflikts über die Zukunft der Europäischen Union nicht in der autoritären Festlegung von Strukturen und Kompetenzen, sondern in der Gewährung eines breiten Spielraums von Handlungsmöglichkeiten und allgemeiner Konzilianz liegt.

Walter SchillingMärz 2023

 

Europapolitik: Zwischen Wunschdenken und Realität

Vor dem Hintergrund der Geschehnisse im internationalen System nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird die allmähliche Herausbildung der Europäischen Union sicherlich zu Recht von vielen Menschen als eine beeindruckende politische Leistung angesehen. Sie beruht auf der Idee von einer Staatenwelt in Europa, die ihre früher so zahlreichen Kriege überwinden und zu einer neuartigen Form der supranationalen Organisation finden konnte. Ein genauerer Blick auf die Geschichte macht jedoch deutlich, dass die Abwesenheit von Kriegen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die Entwicklung des neuen Staatenverbundes nach 1945 keine ausschließlich eigenständige Leistung, sondern erst dank der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Rückendeckung seitens der Vereinigten Staaten von Amerika möglich war. Ohne die herausragende Macht der USA und die Bereitschaft zu deren Einsatz hätte sich das „europäische Projekt“ als neuartige Staatengemeinschaft nicht entfalten können. Und nachdem der Ost-West-Konflikt beendet und das Sowjetimperium zusammengebrochen war, wurde allgemein erwartet, dass die Vereinigten Staaten von Amerika für lange Zeit die einzige Weltmacht bleiben und Europa sich in deren Schatten weiterentwickeln würde. Der amerikanische Historiker Francis Fukuyama sprach sogar vom „Ende der Geschichte“. Diese These traf zwar nicht zu, und es verwundert schon, dass ein international bekannter Historiker eine derartige These zu vertreten wagte. Gleichwohl präsentierte sich die internationale Politik in einer Weise, die niemand in der uns bekannten Form vorhergesehen hatte. Die spektakuläre Entwicklung Chinas zur Weltmacht und der auch mit dem massiven Einsatz militärischer Mittel betriebene machtpolitische Wiederaufstieg Russlands lehren uns, dass die Geschichte nicht geradlinig verläuft. Der seit dem 24. Februar 2022 von Russland geführte Krieg um die politische Zuordnung der Ukraine bestätigt dies einmal mehr. Dennoch schien die Europäische Union ein Modell zu sein, das neue Maßstäbe setzen und die ersten Schritte zum „post-nationalen“ Regieren gehen wollte. Betrachten wir die politische Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte, so hat die Europäische Union eine Richtung einzuschlagen versucht, die auf eine zunehmende Integration zielte und wichtige politische Kompetenzen, die entsprechend den geltenden Verfassungen bei den Nationalstaaten liegen, an die Europäischen Institutionen zu übertragen. Die Tatsache, dass der Europäische Verfassungsvertrag bei den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden im Mai und Juni 2005 nicht die notwendige Zustimmung fand, zeigte daher folgerichtig tiefgreifende Widersprüche der Europapolitik auf. Auch die im Zuge dieser unerwarteten Entwicklung schließlich verkürzte Version des gescheiterten Verfassungsvertrages, der im Dezember 2007 unterzeichnete und zwei Jahre später in Kraft getretene „Vertrag von Lissabon“, konnte keine widerspruchsfreie Grundlage für die Europäische Union bieten. Der Vertrag von Lissabon ist nicht Ausdruck der Selbstbestimmung eines „europäischen Volkssouveräns“, sondern geht auf einen Akt der Fremdbestimmung durch die Mitgliedsstaaten zurück. So ist die Europäische Union kein selbsttragendes, sondern ein von den Mitgliedsstaaten getragenes Gebilde. Die Führungsinstitutionen der Europäischen Union in Brüssel, Straßburg und Luxemburg verfügen nicht über das Recht, sich Kompetenzen zu nehmen. Ihnen fehlt die demokratische Legitimation und politische Kompetenzfülle, wie sie nationalstaatliche Verfassungen vermitteln. Dass die Repräsentanten der Europäischen Institutionen trotzdem versuchen, sich die Macht über die Verfassungen der einzelnen Mitgliedsländer anzueignen, erfährt aus den Nationalstaaten zunehmend Widerspruch. Auch das Europaparlament als Teil der aktuellen Herrschaftsstruktur der Europäischen Union ist nicht in der Lage und auch nicht befugt, die fehlenden Voraussetzungen „post-nationalen“ Regierens und eines demokratischen Prozesses auf der europäischen Ebene zu liefern. Es gibt kein gemeinsames „europäisches Staatsvolk“. Darüber hinaus fehlen ein identitätsstiftendes gesamteuropäisches Nationalbewusstsein sowie eine hinreichende Übereinstimmung in der Interpretation der Wertvorstellungen und der kulturellen Tradition. Und wie wir täglich beobachten können, haben der immer härtere Streit über die Finalität der Europäischen Union und die tiefgreifenden Krisen, von der Finanz- und Staatsschuldenkrise bis zur Krise um die illegale Zuwanderung großer Menschengruppen aus Zentralasien, dem Nahen Osten und Afrika sowie um die Überwindung der schwerwiegenden Folgen der Covid-19 (Corona)-Pandemie und das unablässige Streben europäischer Politiker nach der Verlagerung von Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene zu wachsendem Widerstand in der Bevölkerung fast aller EU-Länder geführt. Diese Tatbestände lassen sich mit dem beharrlich wiederholten Hinweis mancher europäischer Politiker auf „Europa als Friedensprojekt“ und das entsprechende Narrativ nicht überdecken. Zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union droht kein Krieg. Wenn es um die aktuelle Haltung zum „europäischen Projekt“ geht, spielen andere Fragen die zentrale Rolle. Dennoch wird von vielen Politikern und manchen Vertretern der Medien die unsinnige Behauptung verbreitet, dass der derzeit sichtbare Trend zur Betonung nationalstaatlicher Interessen und der politischen Selbstbestimmung in der Europäischen Union erneut zu Kriegen zwischen den EU-Staaten führen würde. Aber welcher Staat innerhalb der Europäischen Union sollte denn einen anderen militärisch angreifen? Welche nationalen Parlamente der EU-Staaten würden denn einen derartigen Waffengang beschließen und aus welchen Gründen sollten die Regierungen der EU-Staaten dies tun? Trotzdem werden solche abwegigen Vorstellungen über eine Neigung zu kriegerischen Handlungen zwischen den EU-Staaten beständig verbreitet. Auch die von der früheren deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede vor dem Europaparlament am 13. November 2018 gerichtete Forderung nach einer „europäischen Armee, um der Welt zu zeigen, dass es zwischen den europäischen Ländern nie wieder Krieg gibt“, weist auf eine bemerkenswerte Realitätsferne ihres Denkens hin. Für den spezifischen Charakter des Staatenverbundes und die Haltung der Bevölkerung zur Europäischen Union sind längst andere Kriterien entscheidend. Dabei bildete die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Schaffung eines für alle nutzbringenden Binnenmarktes durchaus eine von den meisten politischen Kräften in den EU-Ländern positiv bewertete Grundlage. Doch bereits die zahlreichen Eingriffe Europäischer Institutionen in das Wirtschaftsgefüge, das zunehmende Streben starker politischer Kräfte nach der Verlagerung weiterer politischer Kompetenzen von den Nationalstaaten auf Europäische Institutionen und die politische Einmischung wichtiger EU-Institutionen in die nationalen Belange der EU-Staaten führten zu immer härteren Konflikten.

Der Beginn dieses Prozesses fiel bereits mit dem Beschluss des Maastricht-Vertrages von 1992 zusammen. Zwar spricht der Vertrag über die Europäische Union im Artikel 1 Absatz 2 von der Verwirklichung „einer immer engeren Union der Völker Europas“. Was dies im Einzelnen bedeutet, blieb bis heute umstritten. Der Vertrag zog jedoch gleichsam „den Schleier von den unpolitisch erscheinenden Pfaden der voranschreitenden Integration weg“, wie der renommierte deutsche Verfassungsrechtler Dieter Grimm dies formulierte. Doch setzte sich diese Entwicklung trotz aller kritischen Einwände herausragender Wissenschaftler unablässig fort. So überrascht es nicht, dass auch in Deutschland seit dem Maastrichter Vertrag diskutiert wird, ob die Übertragung bestimmter Hoheitsrechte zu einem unakzeptablen Verlust staatlicher Souveränität führt.

Inzwischen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass „die exekutiven und judikativen Institutionen der Europäischen Union sich von den demokratischen Prozessen in den Mitgliedsländern wie in der EU selbst weitgehend abgekoppelt haben“. Die hierdurch bedingte Entfremdung vieler Bürger von Europa wird sich offenkundig nicht durch die Umwandlung der Europäischen Union zu einer parlamentarischen Demokratie lösen lassen. Hierzu hat der frühere Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts (2002 – 2010) Hans-Jürgen Papier kühl festgestellt: „Wenn die gewählten Vertretungen der Völker Europas, also die nationalen Parlamente, nichts mehr zu entscheiden haben, weil alle wesentlichen Kompetenzen letztlich nach Brüssel verlagert sind, dann ist die demokratische Ordnung auf staatlicher Ebene entleert“. Dass dennoch zahlreiche europäische Politiker die noch bei den Mitgliedsstaaten liegenden Kompetenzen weiter zu verringern trachten und selbst die charakteristischen Inhalte nationalstaatlicher Regelungen bestimmen wollen, hat inzwischen systemsprengende Kraft. Dieses Streben richtet sich im Übrigen auch gegen die eindeutigen Festlegungen in Artikel 4 des Vertrages über die Europäische Union. Darin ist ausdrücklich und ohne Einschränkung vermerkt, „dass die Europäische Union die nationale Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten achten muss“. Dieser Tatbestand wird von vielen europäischen Politikern und Vertretern der Medien ignoriert. Dabei überrascht es nicht, dass neben den Vertretern der EU-Kommission auch Mitglieder des Europaparlaments die Rechte und Kompetenzen der EU-Länder weiter beschneiden wollen und jene Kräfte in Europa, die für die politische Selbstbestimmung eintreten, wie z.B. die Repräsentanten der national-konservativen und der bürgerlich-konservativen Parteien, mit ziemlich harten Vorwürfen bedenken. Zur nationalen Souveränität zählt ganz sicher das Recht auf politische Selbstbestimmung der einzelnen multi-ethnischen Staatsvölker, die dieses Recht mit dem Eintritt in die Europäische Union nicht abgegeben haben. Und sie wollen dies offensichtlich auch in Zukunft nicht tun. Die Herausbildung neuer Bündnisse zwischen Staaten innerhalb der Europäischen Union, deren Regierungen sich mit einem gewissen Stolz von nationalen Interessen leiten lassen und die politische Selbstbestimmung ihrer Staatsvölker betonen, ist in diesem Zusammenhang ein Phänomen, das immer stärkere Beachtung findet. Es ist daher kein Zufall, dass manche europäische Politiker, die sich für „liberal“ halten, aber eher dem autoritären, „post-demokratischen“ Denken anhängen, neuerdings die Idee propagieren, mit Hilfe von Mehrheitsentscheidungen die politische Selbstbestimmung und die eigenständige Ausrichtung der Nationalstaaten zu konterkarieren. Doch dürfte dieses Unterfangen kaum erfolgreich sein. Vielmehr wird ein derartiges Vorgehen eher die Konflikte zwischen den EU-Staaten vertiefen. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass bereits das Austrittsbegehren Großbritanniens (Brexit) als ein deutliches Misstrauensvotum gegen die Europäische Union angesehen werden muss. Und die Art und Weise, wie man nach den am 26. Mai 2019 abgehaltenen Wahlen zum Europaparlament die Besetzung der Spitzenposten der Europäischen Union regelte, machte nicht nur deutlich, welche Ausmaße der Streit sowohl zwischen den EU-Ländern, als auch zwischen den einzelnen politischen Parteien in Europa angenommen hat. Auch das kaum als demokratisch zu bezeichnende Verfahren bei der Auswahl des Spitzenpersonals und die häufigen Konflikte zwischen dem Rat der Mitgliedsstaaten und dem Europaparlament spiegeln diese Entwicklung wider. Darin zeigt sich erneut, dass die Europäische Union nicht über die grundlegenden Voraussetzungen eines freiheitlich-demokratischen Staates verfügt. Mit der Wahl der deutschen Politikerin Ursula von der Leyen zur Präsidentin der EU-Kommission durch die Mitglieder des Europaparlaments am 16. Juli 2019 ist dieses Problem nicht beigelegt worden. Die seit dem 1. Dezember 2019 amtierende Präsidentin der EU-Kommission wird die in ihrer Antrittsrede genannten vollmundigen Versprechungen zur „Vertiefung der Union“ und zur „Erweiterung der Macht“ des Europaparlaments nicht halten können. Schon die außerordentlich knappe Mehrheit von neun Stimmen, mit der Ursula von der Leyen gewählt wurde, weist darauf hin, wie tief zerstritten die Europäische Union de facto ist. Der Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs wird sich seine Kompetenzen nicht nehmen lassen. Vielmehr zeigte sich selbst bei der Prozedur zur Auswahl der neuen Präsidentin der EU-Kommission, dass nationale Interessen – in diesem Falle insbesondere die nationalen Interessen Frankreichs und Deutschlands – entscheidend blieben.

Darüber hinaus stellt sich in jüngster Zeit immer häufiger die Frage nach der Duldung politischer Anmaßungen vor allem mit Blick auf die Verhängung und Durchführung von Strafmaßnahmen gegen einzelne Mitgliedsstaaten durch die EU-Kommission sowie deren Eingriffe in nationale Rechte und staatliche Souveränität. Diese Vorgehensweise wird noch verschärft durch fragwürdige richterliche Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und dürfte die Spaltungsprozesse in der Europäischen Union wohl weiter vertiefen.

Abgesehen von dem Tatbestand, dass der Europäischen Union sowohl für ihre innere Legitimation, als auch für ihre politische Handlungsfähigkeit nach außen eine allseits anerkannte Zielvorstellung fehlt, nehmen die Bürger immer deutlicher wahr, wie gering die Neigung bei vielen europäischen Politikern ist, die recht unterschiedlich verlaufene Geschichte der Mitgliedsstaaten und die in vielen Jahrhunderten gewachsenen geschichtlichen Traditionen anzuerkennen, obwohl die Identität Europas auch in dieser Vielfalt zum Ausdruck kommt. Dabei ist es nicht nur die Tendenz zu unerwünschten politischen Einbindungen und autoritären Forderungen, die immer mehr Bürger in den europäischen Ländern abstößt. Sie fürchten in jüngster Zeit vielmehr noch eine Entwicklung, die das historisch gewachsene Fundament und die genuinen Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten in Frage stellt, das freiheitlich-demokratische Wertesystem beschädigt und der europäischen Staatengemeinschaft eine klare und zweckmäßige Finalität verweigert.

Kaum ein anderer Bereich der Politik in Europa zeigt so deutlich die Fehlkonzeption und das Versagen der Europäischen Union wie das Verhalten der EU-Kommission und einiger Regierungen in Europa bei der Frage des Zustroms von illegalen Migranten aus Zentralasien, dem Nahen Osten und Afrika über das Mittelmeer und den Atlantik. Jeden Tag kann die ganze Welt zusehen, wie hilflos und zerstritten die Regierungen auf das dramatische Geschehen an den Grenzen der Europäischen Union und innerhalb der EU-Länder reagieren. Und es sieht nicht so aus, dass die EU-Länder in absehbarer Zeit eine praktikable und tragfähige Antwort auf diese Herausforderung finden werden. Vielmehr erweist sich die Europäische Union – wie in anderen Bereichen auch – als eine Maschinerie für fragwürdige Entscheidungen, die nichts lösen, sondern zu neuen gefährlichen Konflikten führen.

Die mit den wiederholten Verletzungen der europäischen Verträge wachsende Skepsis der Bürger gegenüber der Europäischen Union in ihrer überkommenen Konzeption dürfte noch stärker hervortreten, wenn sich die Befürworter einer großzügigen Zuwanderung weiterhin durchsetzen sollten und damit neue Wellen der Migration auslösen. Mit Blick auf die Migrations-Frage hat vor allem Deutschland ohne Not gefühlsbetonte Alleingänge unternommen, die grundlegende politische Maßstäbe und Erfahrungen ignorierten und nicht nur das eigene Land, sondern auch die Partnerländer in der Europäischen Union in große Schwierigkeiten brachten.

Über die negativen Folgen des Versagens der Europäischen Union hinaus haben die gravierenden Legitimationsdefizite für zunehmende Kritik an der Europäischen Union gesorgt und die Betonung der nationalen Souveränität sowie das Streben nach politischer Selbstbestimmung vorangetrieben. Immer mehr Menschen ist aufgefallen, dass die politischen Entscheidungsträger in Europa auf wechselnde Situationen und Herausforderungen ad hoc zu reagieren pflegen und dazu neigen, sich gegen die geltenden Verfassungen, Gesetze und Verträge neuen Spielraum zu verschaffen, um ihre ideologischen Vorstellungen durchsetzen zu können. Daher überrascht es nicht, dass nunmehr die gravierenden Legitimationsdefizite der Europäischen Union ins Zentrum der politischen Debatte rücken. So hat der Rechtswissenschaftler und frühere Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht (1987 – 1999), Dieter Grimm, in einer fundierten Analyse darauf hingewiesen, wie schwach die Legitimation der Europäischen Union ist, aber die verschiedenen EU-Institutionen dennoch die Einflusssphäre der Nationalstaaten beständig mindern.

Der von europäischen Politikern verbreitete Glaube, man könne die Europäische Union voranbringen, wenn man immer mehr Bereiche „vergemeinschaftet“, den Institutionen in Brüssel beständig neue Kompetenzen überträgt und größere finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellt, wird in jüngster Zeit immer häufiger durch die konkrete Politik widerlegt. Ebenso falsch ist die von zahlreichen europäischen Politikern vertretene Vorstellung, dass jede Annäherung an die bundesstaatliche Symbolwelt Gewinn bringt. Vielmehr lässt sich nicht leugnen, dass schon in der Vergangenheit mit jedem weiteren Versuch, Schritte zur Zentralisierung der Macht zu unternehmen, neue heftige Konflikte und gravierende Legitimationsverluste verbunden waren. Und dies war keineswegs „eine Frage der mangelnden Erklärung“, wie manche Wissenschaftler meinen.

 

Gravierende Legitimationsdefizite und Konflikte

Vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzungen über die Gestaltung der Europäischen Union sollte es die politischen Analysten nicht überraschen, welche gravierenden Legitimationsdefizite und Konflikte die Europäische Union beherrschen. Dabei verhalten sich zahlreiche europäische Politiker und viele Vertreter der Medien – ähnlich wie seinerzeit die Repräsentanten des Ancien Régime in Frankreich – unfähig zur Anpassung an die tatsächlichen Verhältnisse und herrschsüchtig gegenüber ihren Gegnern. Im Zusammenhang mit dem prekären Zustand der Europäischen Union macht auch die Flucht in Allgemeinplätze und in längst nicht mehr relevante Narrative, wie sie etwa in der „Erklärung von Rom“ anlässlich des 60sten Jahrestages der Europäischen Union und in vielen Reden hochrangiger Politiker in jüngster Zeit zum Ausdruck kam, wenig Sinn. Aus realistischer Perspektive lässt sich nicht bestreiten, dass die Europäische Union in kaum einer Frage zu gemeinsamem Handeln findet und beständig an innerer Konsistenz verliert. Auch im Zuge der regelmäßigen Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel im Laufe der vergangenen zehn Jahre konnte man die gravierenden Legitimationsdefizite und die Konflikte der Europäischen Union sowie den Wirklichkeitsverlust vieler europäischer Politiker und zahlreicher Vertreter der Medien beobachten.

Von der fragwürdigen Vorgehensweise der Mitgliedsländer in der Staatsschuldenkrise und den zahlreichen Rechtsbrüchen der Europäischen Zentralbank (EZB) bis zum tiefgreifenden Streit um die Frage der illegalen Zuwanderung großer Menschengruppen aus islamisch geprägten Ländern Zentralasiens, des Nahen Ostens und Afrikas wird vor aller Welt sichtbar, dass die Europäische Union ihrem Wesen nach keine homogene Wertegemeinschaft ist. Sie erweist sich vielmehr als ein fragiles, ideologisch überhöhtes künstliches Gebilde, das an der politischen Wirklichkeit zu zerbrechen droht und offenbar nicht einmal in der Lage ist, seine Außengrenzen zu verteidigen. Jeden Tag können wir beobachten, dass die Wirklichkeit den europäischen Entscheidungsträgern davoneilt.

Wie ausgeprägt die Legitimitätsdefizite und Konflikte der Europäischen Union sowie der mangelnde Realitätssinn europäischer Politiker sind, kann man an dem Drängen hochrangiger europäischer Politiker und einiger Regierungschefs nach einer zügigen Verteilung der zumeist muslimischen Migranten vor allem aus Zentralasien, dem Nahen Osten und Afrika ablesen. Diese Verteilung kommt nicht in Frage, weil die meisten EU-Staaten die Aufnahme dieser Migranten ablehnen und die Kontrolle über soziale Veränderungen behalten wollen. Hier konnte auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 6. September 2017 zur Verteilung von Asylbewerbern nicht weiterhelfen. Der EuGH hatte schon damals ein Fehlurteil gefällt, da ein gemeinsamer Wille aller Mitgliedsstaaten, Fragen der Verteilung auf supranationaler Ebene entscheiden zu lassen, nicht zu erkennen ist. Das weitere Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 2. April 2020, nach dem Polen, Ungarn und Tschechien in der „Flüchtlingskrise“ im Jahre 2015 EU-Recht verletzt haben, weil sie die Übernahme von Asylbewerbern ablehnten, liegt auf derselben Linie. Es erscheint vielmehr abwegig, sich in Fragen des Selbstverständnisses und der nationalen Souveränität der einzelnen Mitgliedsstaaten per Mehrheitsbeschluss hinwegzusetzen. Mit dem „Solidaritätsprinzip“ kann man hier nicht argumentieren, denn erzwungene „Solidarität“ ist keine Solidarität, sondern Zwang. Die betroffenen Staaten verhalten sich daher korrekt und entsprechend dem von ihrem Staatsvolk erhaltenen Mandat, wenn sie den Urteilsspruch des EuGH nicht beachten. Die zu beobachtende Tendenz in der EU-Kommission und vor allem bei den autoritär und zentralistisch eingestellten Kräften in der Europäischen Union, den EuGH als Machtinstrument zu nutzen und finanzielle Sanktionen gegen die betroffenen EU-Länder zu verhängen, zeigt einmal mehr den mangelnden Realitätssinn an, der viele europäische Politiker kennzeichnet.

Auch der im Zusammenhang mit den Versuchen zur Reduzierung des Migrantenstroms nach Europa vereinbarte äußerst fragwürdige „Deal“ mit der nicht-demokratischen Türkei und das Plädoyer mancher europäischer Politiker für eine Aufnahme dieses islamischen Landes in die Europäische Union – obwohl der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan die Meinungs- und Pressefreiheit systematisch unterdrückt, die kurdische Minderheit in der Türkei in brutaler Weise mit militärischer Gewalt bekämpft, das Streben des Staates Israel nach Sicherung seiner Existenz beständig unterläuft und mit der islamistischen Terrorgruppe Hamas eine strategische Partnerschaft eingegangen ist, weist nicht nur auf die geringe Lernbereitschaft führender Repräsentanten der Europäischen Union hin. Ihr problematisches Verhalten verstärkt auch die Sorge in zahlreichen EU-Staaten, dass die lebenswichtigen Interessen der Bürger im europäischen Kontext nicht gut aufgehoben sind. Dem Anspruch der Bürger auf politische Selbstbestimmung und nationale Souveränität kann offenbar in der Europäischen Union unter den derzeitigen Rahmenbedingungen nicht in einer Weise Rechnung getragen werden, die der nationalen Demokratie gleichwertig ist. Die Briten hatten dies als erste erkannt und mit ihrem Votum für den Austritt aus der Europäischen Union am 23. Juni 2016 und der entsprechenden formellen Erklärung des Austritts durch die damalige Premierministerin Theresa May am 29. März 2017 klar ausgedrückt. Das Ergebnis der von Theresa May ohne Not herbeigeführten Parlamentswahlen am 8. Juni 2017 konnte an dem allgemeinen Trend nichts ändern. Dieser Trend zielte aus der Sicht der britischen Regierung darauf, „to take back control“, d.h. die nationale Souveränität und Selbstbestimmung zurückzuerlangen. Die Austrittsverhandlungen Großbritanniens mit der Europäischen Union waren mit dem am 25. November 2018 in Brüssel unterzeichneten Austrittsvertrag zunächst abgeschlossen worden. Dabei war das unverantwortliche und kurzsichtige Vorgehen der EU-Vertreter bemerkenswert. Die in den Verhandlungen erkennbare und von der damaligen deutschen Bundesregierung unter Führung von Angela Merkel (CDU) geduldete Tendenz der EU-Kommission, die Briten für den Austritt aus dem Europäischen Staatenverbund zu bestrafen, die damalige Premierministerin Theresa May in eine ausweglose Lage zu drängen und eine Abkehr der Briten vom Brexit in einem zweiten Referendum zu erreichen, anstatt auf einen sinnvollen, auf freundschaftlichem Umgang miteinander beruhenden, beiden Seiten dienenden Interessenausgleich hinzuarbeiten, hat in der Tat großen Schaden angerichtet. Doch politische Klugheit und Voraussicht mit Blick auf die künftigen Beziehungen zu Großbritannien suchte man in Brüssel und in anderen Hauptstädten Europas leider vergebens. Entgegen den von amtlicher Seite in Brüssel und von zahlreichen Vertretern der Medien zumeist verbreiteten Behauptungen war die Strategie der EU-Kommission von Anfang an darauf angelegt, in Großbritannien ein zweites Referendum zu erreichen, um den Austrittsversuch der Briten rückgängig zu machen. Die klare Ablehnung des Austrittsvertrages durch das Britische Parlament am 15. Januar 2019 mit 432 gegen 202 Stimmen bei 16 Enthaltungen demonstrierte, dass man in London viele Bestimmungen des Vertrages als demütigend empfand. Aus wissenschaftlicher Sicht war dies keine Überraschung. Schon unmittelbar nach der Unterzeichnung des Vertrages hatte der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn in einer Sendung des österreichischen Fernsehens am 25. November 2018 darauf hingewiesen, dass „das Abkommen mit der EU für das Britische Parlament nicht zustimmungsfähig sein wird“. Zwei weitere Versuche, den mit der EU ausgehandelten Deal durch das Britische Parlament zu bringen, scheiterten ebenso und bestätigten die Beurteilung des renommierten deutschen Ökonomen eindrucksvoll.

Vor diesem Hintergrund Vorschläge zur Lösung der Krise der Europäischen Union zu unterbreiten, die darauf zielten, den Handlungsspielraum der Mitgliedsstaaten noch weiter einzuengen, belegt eine ausgeprägte Konfliktbereitschaft und eine erschreckende Realitätsferne.Wie abgehoben und wenig lernbereit sich führende Repräsentanten der Europäischen Union in jener Zeit gaben, hat der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit seiner Rede zur Lage der EU vor dem Europaparlament in Straßburg am 13. September 2017 gezeigt. Er plädierte nicht nur mit großem Nachdruck dafür, „im Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden“ zu können, sondern verlangte auch, „dass der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) schrittweise zu einem Europäischen Währungsfonds ausgebaut“ werden müsse. Seine Vorschläge zur Vertiefung der Union, der weiteren Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel und der Umgestaltung der Währungsunion widersprechen den genuinen Interessen der meisten EU-Staaten. Dass Jean-Claude Juncker auch ein Jahr später, anlässlich seiner letzten großen Rede vor dem Europaparlament am 12. September 2018, keine Nähe zur Realität gesucht hat, ist geradezu erschütternd. Seine Bemerkungen zur Rolle der Europäischen Union in der Welt, zur Politik gegenüber Afrika, zur Außen- und Sicherheitspolitik und zur Lösung der Migrations-Krise repräsentierten reines Wunschdenken. Und zu den künftigen Beziehungen mit Großbritannien wie dem Drängen vieler politischer Parteien und mancher Regierungen nach nationaler Selbstbestimmung in Europa waren dem Präsidenten der EU-Kommission nur alte Vorwürfe eingefallen. In ähnlicher Weise grotesk mutet die Vorstellung des damaligen Chefs der Liberalen im Europaparlament Guy Verhofstadt an, der in einem Interview mit der deutschen Zeitung „Die Welt“ vom 15. November 2018 erklärte, dass „der Nationalstaat als solcher keine Zukunft hat“. Die Wirklichkeit des internationalen Systems und der internationalen Beziehungen bestätigt uns dagegen täglich aufs Neue, dass die Bedeutung der Nationalstaaten eher zunimmt.

Ebenso konfliktträchtig und realitätsfern sind die Vorstellungen, die Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron mit seiner Grundsatzrede zur Zukunft Europas am 26. September 2017 in der Pariser Universität Sorbonne dargelegt hat. Insbesondere seine Forderung nach einem gemeinsamen Euro-Zonen-Etat hatte in vielen anderen EU-Staaten Verärgerung ausgelöst. Ein Euro-Zonen-Etat würde sich kaum mit der fiskal- und sozialpolitischen Vielfalt der Mitgliedsstaaten vertragen. Diese Vielfalt ist ein erhaltenswertes Charakteristikum der europäischen Länder. Das Eingehen auf die Forderung des französischen Staatspräsidenten würde vielmehr zu einer „Transferunion“ führen. Auch die von Emmanuel Macron mehrfach vorgebrachten Vorschläge zur Verteidigungsunion Europas und zur „europäischen Armee“ haben keinen großen Eindruck hinterlassen. Vor dem Hintergrund der tatsächlichen Entwicklung der internationalen Politik gingen auch die am 27. August 2018 von Macron vor französischen Diplomaten in Paris präsentierten Vorschläge zur Architektur der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ins Leere. Führende Politiker eines Staatenverbundes, der nicht einmal seine eigenen Außengrenzen sichern kann, sollten besser nicht von einer „militärisch bedeutsamen Rolle“ und von „Europa als Weltmacht“ reden.

Auch die Vorstellungen des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zur Veränderung der Wirtschaftsstruktur Europas und der länderübergreifenden Finanzpolitik liegen weit entfernt von den tatsächlichen Möglichkeiten. Dabei bewegte sich bereits die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrer bis zum 21. Juli 2022 strikt durchgehaltenen Nullzins-Politik und dem Ankauf von Staatsanleihen ordnungspolitisch und rechtlich außerhalb des erlaubten Rahmens. An diesem Tatbestand ändert auch die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nichts, dessen Richter argumentieren, dass die Anleihekäufe der EZB nicht gegen das Verbot der Staatsfinanzierung verstoßen. Die EuGH-Richter haben bei ihrem Urteil vom 11. Dezember 2018 ignoriert, dass sie das genuine Recht der nationalen Parlamente verletzen, den Haushaltsplan ihrer Länder zu bestimmen. Die EZB ist nicht demokratisch legitimiert, in die nationale Haushaltspolitik einzugreifen. Trotzdem handelte die EZB unter ihrer Präsidentin Christine Lagarde seit Jahren in dieser Weise und hat damit viel Vertrauen verspielt. Insofern erscheint die Einschätzung des Berliner Finanzwissenschaftlers Markus C. Kerber, dass wir mit dem Urteil des EuGH zum Vorgehen der EZB „den Weg für eine entgrenzte Institution bereiten“, aus politikwissenschaftlicher Sicht durchaus korrekt. Eine Geldpolitik, die ihre Aufgabe, den Geldwert zu sichern, exzessiv auslegt und in Abhängigkeit von ideologisch streng festgelegten Regierungen gerät, ist auch aus ökonomischer Sicht problematisch. Sie nimmt Aufgaben wahr, für die demokratisch gewählte Politiker in ihren jeweiligen Ländern zuständig sind. Dieser Missstand wäre ohne die Mitwirkung der Bundesregierung in Berlin unter der Führung von Angela Merkel (CDU) nicht entstanden. Das Verhalten der EZB gefährdete daher offensichtlich nicht nur die Stabilität des europäischen Finanzsystems, da sie die Motivation der Regierungen und der nationalen Parlamente, dringend notwendige Reformen anzupacken und durchzuführen, deutlich verringerte. Aus der Sicht von Markus C. Kerber hätte nicht nur die deutsche Bundesregierung, sondern auch der Deutsche Bundestag seine Rechte wahrnehmen und die EZB-Chefin konterkarieren müssen. Darüber hinaus vertiefte das Handeln der EZB auch den schon lange währenden Streit zwischen den Regierungen der EU-Staaten und rief darüber hinaus neue Konflikte hervor. Schließlich hat der Vertrag über die Europäische Union die Eigenverantwortung der öffentlichen Haushalte der Mitgliedsstaaten zum Prinzip erhoben. Eine Rettung einzelner Mitgliedsstaaten war nicht vorgesehen. Doch wurde dieses Prinzip nicht mehr beachtet und de facto