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Düster, realistisch und packend.
Ausgezeichnet mit dem 3.Platz des Tolino media Newcomer Preis 2021.
»Es war besser, als ich von alledem nichts wusste. Leichter. Jetzt warte und bange ich.«
Vor 200 Jahren hat die Insel Selvia sich vom Festland abgeschottet. Eine gewaltige Mauer wurde gebaut, um die Bevölkerung vor den massiven Unruhen auf dem Festland zu schützen.
Technisch und medizinisch hochentwickelt, ähnelt ihr gesellschaftliches System noch immer dem von vor 200 Jahren. Die Regierung unter Präsident Adam hält unangefochten an dem Herrschaftsrecht der Männer fest. »Nur wenn die natürliche Geschlechterordnung beibehalten wird, kann Frieden und Wohlstand herrschen.« (Präsident Adam in seiner Rede zum 200-Jährigen Jubiläum der Mauer)
Eva, Tochter eines Kaufmannes, steht kurz vor einem bedeutenden Ereignis in ihrem 16-jährigen Leben: der Heiratsmarkt. Der Preis, den sie erzielt, bestimmt ihren Wert und ihre Zukunft. Eine Rebellion stellt diesen Wert in Frage und ihr Leben auf den Kopf. Was ist noch wahr in einer Welt, in der nichts so scheint, wie sie es jahrelang geglaubt hat.
EVA Herrschaft ist Teil der Selvia-Reihe, kann aber eigenständig gelesen werden und ist in sich abgeschlossen.
Enthält Szenen mit Angst, Gewalt und Tod.
(Selvia-Reihe: EVA Herrschaft und MARTHA Anarchie)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2021
Vorwort
Teil I
10 Tage vor der Dunkelheit
9 Tage vor der Dunkelheit
8 Tage vor der Dunkelheit
7 Tage vor der Dunkelheit
6 Tage vor der Dunkelheit
5 Tage vor der Dunkelheit
4 Tage vor der Dunkelheit
3 Tage vor der Dunkelheit
2 Tage vor der Dunkelheit
1 Tag vor der Dunkelheit
0 Tage vor der Dunkelheit
Teil II
Tag 1 in der Dunkelheit
Tag 2 in der Dunkelheit
Tag 3 in der Dunkelheit
Tag 4 in der Dunkelheit
Tag 5 in der Dunkelheit
Tag 6 in der Dunkelheit
Tag 7 in der Dunkelheit
Tag 8 in der Dunkelheit
Tag 9 in der Dunkelheit
Tag 10 in der Dunkelheit
Licht
Teil III
Ein Tag danach
Zwei Tage danach
Drei Tage danach
Vier Tage danach
Fünf Tage danach
Sechs Tage danach
Sieben Tage danach
Acht Tage danach
Teil IV
Namensverzeichnis
Danksagung
Liebe Leser und Leserinnen
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Über die Autorin
Bücher von Franziska Szmania
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Leseempfehlung
Eva, Tochter eines Kaufmannes, lebt in einer Welt, in der die Männer regieren und Frauen keine Rechte haben. Für sie eine Normalität, die sie nicht in Frage stellt. Doch der bevorstehende Heiratsmarkt und eine aufkommende Rebellion wecken Zweifel in ihr.
Zweifel, die sie nicht haben darf, Gedanken, die verboten sind, und Worte, die unerhört bleiben müssen. Jeder Versuch, sich den Geschehnissen zu entziehen, misslingt und am Ende muss sie erfahren, wozu die Männer, die geschworen haben, das schwache Geschlecht zu beschützen, fähig sind. Wird sie es schaffen, der Dunkelheit zu entfliehen und die Wahrheit über sich und ihre Heimat Selvia herauszufinden?
Buch enthält Szenen mit Angst, Gewalt und Tod.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
2. Auflage, 2020
© 2020 Franziska Szmania – alle Rechte vorbehalten.
Berlin
Coverdesign: Nadine Merschmann
https://coverfunken.jimdosite.com
und Isabel Aust
unter Verwendung von Bildmaterial:
©Depositphotos.com: OlgaYakovenko, @illu, @koo,
@faestock
Lektorat und Korrektorat: Zeilenfeuerlektorat Raphaela Schöttler-Potempa
www.szmania.org
Erstellt mit Vellum
Für Carmen-Lysann und Marc
Ihr seid das Licht in meiner Dunkelheit.
Inmitten einer Mädchenschar schlendere ich durch den Eingangsbereich unserer Schule in den Innenhof. Ich habe heute die Ehre, den Morgenappell zu leisten. Es ist nicht das erste Mal, aber Fehler werden nicht toleriert. Ich wische meine schwitzigen Finger an meinem grauen Rock ab. Langsam macht sich Aufregung in mir breit. Mit einem Räuspern zwinge ich mir ein Lächeln auf mein Gesicht. Auf keinen Fall sollen mir die anderen die Anspannung anmerken. Ich wärme die Stimmbänder auf, indem ich einige Mitschülerinnen begrüße. Immer wieder werde ich angerempelt, daher zwinge ich meine Füße, schneller zu laufen. Vor der Tür zum Innenhof staut es sich. Mein Atem beschleunigt sich und ich versuche, mich zu beruhigen. Einatmen und langsam ausatmen.
Von der Menge der Schülerinnen nach vorne geschoben gehe ich wie aufgezogen weiter und halte Ausschau nach meiner besten Freundin, Rahel. Dabei fällt mir Lillit ins Auge. Wir waren einmal unzertrennlich, bis ihr Verhalten dafür gesorgt hat, dass mir jeglicher Kontakt zu ihr verboten wurde. Ich wette, heute steht sie nicht rein zufällig an der Tür zum Innenhof und bremst den Strom der Schülerinnen aus. Ich husche an ihr vorbei und hatte Recht. Sie hält ein Plakat in den Händen. Aus den Augenwinkeln versuche ich, die Schrift zur entziffern. ›Freiheitsberaubung ist gegen die Menschenrechte‹. Spielt sie etwa wieder auf die Mauer und das Handelstor an? Ja, die Insel hat sich den Menschenrechten des Festlandes zu beugen. Das war eine Bedingung für die Aufnahme der Handelsbeziehungen. Die Abgeschiedenheit ist kein Käfig, sondern der Schutz vor unerwünschten Eindringlingen. Ich schüttle den Kopf. Sie wird es nie lernen. Wenn gleich die Aufseherinnen kommen, wird sie eine wirkliche Freiheitsberaubung erleben – zur Strafe eingesperrt in eine winzige Kammer ohne Licht. Ich war nie drin, man soll verrückt werden, wenn man länger als ein paar Minuten dort eingepfercht ist. Ich frage mich, warum der Direktor sie weiterhin toleriert. Die Regierung schreibt den Schulbesuch bis zum 14. Lebensjahr vor. Hat er Bedenken, die Tochter eines angesehenen Verwaltungsbeamten der Schule zu verweisen? Wie lange kann dieser Umstand sie schützen? Schulterzuckend lasse ich sie und ihr Plakat hinter mir zurück. Niemand soll mich mit ihr in Verbindung bringen.
Wie eine Mauer umfasst das Schulgebäude den Innenhof. Von Sonnenstrahlen beleuchtet, versammeln sich alle Mädchen um eine Bühne auf dem Betonplatz. Meine Datenverarbeitungsuhr, kurz DV-Uhr – eine technische Erfindung der Insel –, wird den Appell auf die DV-Uhren meiner Mitschülerinnen übertragen, damit ich in der letzten Reihe zu hören bin. Ich gehe die Rede im Kopf durch. Im Morgenappell huldigen wir unserer Regierung und ihrem System. Wir ehren Präsident Adam. Er wurde vor 10 Jahren gewählt und steht fest in seinem Amt. Die männlichen Bürger der inneren Ringe könnten eine Neuwahl beantragen, wenn sie unzufrieden sind. Aber es sieht nicht so aus, als ob das in den nächsten Jahren passieren wird. Nachdem wir den wichtigsten Männern der Insel gedankt haben, schwören wir uns auf unsere Rolle ein. Wir erinnern uns daran, wer wir sind: »Ich bin eine Inselfrau und stolz darauf.« Die Schule lehrt uns, eine gute Ehefrau zu sein, uns demütig zu verhalten. Damit wir tugendhaft, anständig und fürsorglich werden. Elegant und graziös sollen wir durchs Leben schreiten. Keine dieser Attribute fallen mir leicht oder wurden mir gar in die Wiege gelegt. Es war ein harter Weg bis hierher.
Mein Blick gleitet zu den vereinzelten Wölkchen und ich danke dem Einzigen und Wahren für einen blauen Himmel. Der Morgenappell wird jeden Tag abgehalten, ganz gleich, welches Wetter. Meine letzte Rede hielt ich im strömenden Regen. Es ist schwer, eine gute Miene zu wahren, wenn der ganze Leib vor Kälte zittert – ganz abgesehen von dem Gefühl, wie das Wasser mir den Rücken hinabläuft. Ich erinnere mich genau an den Anblick der Mädchen unter mir. Ein nasser Haufen Elend, der mutig dem Regen trotzte. Es wurden nur wenige bestraft, weil sie keine Haltung gezeigt hatten.
Jeden Moment erscheinen der Direktor und die Lehrer auf dem Hof. Mit einer Hand streiche ich den Rock glatt und versuche, das Pochen in meinem Magen zu beherrschen. Schultern zurück! Kinn nach vorn! Aufrecht stehen! Knie dezent gebeugt, Hände ineinanderlegen! Augen nach vorne! Heute noch gibt es Hiebe mit dem Stock, wenn meine Schulterblätter nicht ordnungsgemäß aneinander liegen.
Über unseren Handgelenken erscheint die Fahne mit dem Wappen der Insel: eine Welle, die auf ein Gebirge zurollt. Sofort stimmen wir gemeinsam die Nationalhymne an: »Wir danken unserem Präsidenten. Er ist unser Kopf und unser Verstand. Wir danken der Regierung und dem System. Sie schützen uns vor jeder Bedrohung und Angst. Wir danken unseren Vätern und Brüdern, durch ihre Gnade können wir überleben. Wir danken dem Einzigen und Wahren, der uns von unserer Sünde befreit und uns den Weg weist.« Mit dem Singsang im Hinterkopf beobachte ich, wie die Lehrerschaft ins Freie tritt. Das ist mein Zeichen. Ich betrete das Podium. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine Bewegung und lasse den Blick eine Sekunde hinübergleiten. Rahel winkt mir zu. Sie dreht ihre Hand aus dem Gelenk sachte hin und her. Zaghaft. Damenhaft. Meine Augen fixieren das Mikrofon, doch ich spüre, dass mein linker Mundwinkel zuckt. Sie hat geübt.
Der letzte Ton verstummt. Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Eine graue Masse, die sich kaum vom grauen Boden abhebt. Nur die unbedeckten Haare der unverheirateten Schülerinnen stechen wie zufällig verstreute Farbkleckse hervor. Die Lehrerinnen und Aufseherinnen verschwimmen dank ihrer grauen Haartücher zu einer einzigen Einheit.
Ich atme aus und fange an zu sprechen: »Verehrter Direktor, verehrte Lehrerschaft. Mitschülerinnen. Am heutigen Tage und an jedem zukünftigen Tag gilt unser Lobpreis der Insel. All unsere Ehrerbietung möge bis zur Regierung aufsteigen, sodass unsere Dankbarkeit von jedem Ohr in Selvia gehört werde. Durch das Erbauen einer Mauer werden wir seit jeher von der Insel und Regierung beschützt. Unruhe und Revolution sind uns erspart geblieben. Wir stehen fest und in Einheit, erleben die strahlende Lebensblüte und Wohlstand!« Inbrünstig betone ich jedes einzelne Wort, als hinge mein Leben davon ab. Ich fahre fort und füge einen Hauch Unheil hinzu. Hunderte Male habe ich das vor dem Spiegel geübt.
»Ein jeder von uns hat seinen zugewiesenen Platz. Das erkannten die großen Männer der Vergangenheit und behielten die natürliche Geschlechtertrennung bei. Nur dadurch sind wir alle das, was wir heute sind. Eine wohlgesittete und funktionierende Gemeinschaft. Als Kaufmannstochter weiß ich aus sicherer Quelle, wie schlimm die Zustände auf dem Festland sind. Vergewaltigungen und Mord gehören dort zur Tagesordnung. Mädchen und Frauen leben in ständiger Angst. Sie müssen Arbeiten leisten, die ihre Gesundheit gefährden. Nicht selten sind Frauen arm und sterben einsam.« Meine Stimme hallt über den Innenhof. Ich hoffe, dass sie den gewünschten Effekt erzielt. Durch die DV-Uhren klingt sie verzerrt, aber ich lasse mich nicht beirren: »Wir sind dankbar, Inselfrauen zu sein!« Das steht außer Frage. Mit diesen Worten schließe ich die Rede. Ich neige den Kopf und senke meinen Blick auf das Podium. In Gedanken zähle ich: ›22, 23, 24‹, auch das habe ich ein Dutzend Mal geübt. Ich erhebe mein Haupt wieder. Früher habe ich meinen Kopf zu kurz gesenkt, zu früh aufgeblickt. Doch die Aufseherinnen und ihr Stock sowie meine Mutter haben viel Zeit damit verbracht, mir die nötige Demut beizubringen.
Es ist mucksmäuschenstill. Kein Applaus. Das wäre unangebracht. Bei den berühmtesten Morgenappellen des vergangenen Jahrhunderts gab es tosenden Beifall. So steht es jedenfalls in den Geschichtsbüchern. In der Realität ist jeder Ausdruck von Leidenschaft unerwünscht. Eine Inselfrau hat sittsam und zurückhaltend zu sein. Bevor ich das Podest verlasse, stimme ich das Abschlussgebet an. Wie eine einzige Stimme hallen unsere Worte über uns hinweg in den Himmel. Keiner betet außerhalb des Rhythmus. Niemand tanzt aus der Reihe.
Mit gemischten Gefühlen steige ich singend die Treppe hinab. Ich hebe meine gefalteten Hände und drücke sie auf mein Schlüsselbein – erleichtert, es überstanden zu haben, es gut gemacht zu haben. Leer von den gesprochenen Worten. Ich weiß, es ist nicht das, was die anderen Mädchen empfinden, wenn sie eine Rede gehalten haben. Rahel platzt jedes Mal fast vor Stolz. Ihre Augen glänzen vor Freudentränen, die Wangen sind rosig – und ich frage mich, was das über mich aussagt.
Lautstark stimmt der Mädchen-Chor die letzte Strophe an. Aus meinen Gedanken gerissen zucke ich zusammen und blicke mich um. Flach atmend betrachte ich die Mädchen, die demütig nach unten schauen. Ich habe Glück. So ist mein unkonzentriertes Verhalten nicht aufgefallen. Ich fokussiere mich auf das Danklied für den Einzigen und Wahren.
Die Masse verstummt, meine Frage bleibt. Wieso fühle ich keinen Stolz, sondern nur diese innere Niedergeschlagenheit?
Die grauen Wände im Klassenzimmer rufen heute ein bedrückendes Gefühl in mir hervor. Nur wenig Licht fällt durch die Scheiben und lässt die Gesichter der anderen blass und fahl wirken. Die Fenster sind aus dem künstlichen Stoff der Variabilispflanze hergestellt und nicht derart durchsichtig wie Scheiben aus Glas. Aus der Zuchtpflanze lassen sich Rohstoffe für viele Materialien gewinnen. Angefangen bei Kunststoffscheiben über Kleidung hinweg bis hin zu Verpackungsmaterialien, ist sie für so gut wie alles brauchbar. Fast der gesamte Norden wird für die Anbaufläche der Kunstpflanze genutzt. Eine Erfindung mit unschätzbarem Wert, da sie das Überleben und die Unabhängigkeit der Insel sichert.
Auf die Sekunde genau kommt Frau Aquila, unsere Literaturlehrerin, ins Klassenzimmer. Ihre Gestalt ist klein und dürr. Der Lehrerberuf ist der einzige, in dem Frauen arbeiten dürfen, ohne schief angeschaut zu werden. Dennoch bedeutet der Umstand, dass sie hier arbeitet, dass ihr Mann nicht genug Geld verdient. Sieht sie deswegen immer müde aus? Sie trägt ein graues Kleid ohne Stickereien. Sie ist keine der Frauen, die versuchen, mit ihrer Garderobe aufzufallen. Ihre Haare sind unter ihrem grauen Haartuch versteckt. Sie trippelt mit winzigen Schritten zum Schreibtisch. Genauso wie meine Mutter trägt sie enge Bekleidung, die es ihr nicht ermöglicht, einen Fuß gescheit vor den anderen zu setzen. Diese Gangart ist angeblich besonders weiblich.
Meine Mutter kauft mir immer wieder enge Röcke. Doch ich versuche, sie zu meiden, seitdem ich einmal auf Grund des Bewegungsmangels eine Treppe hinuntergefallen bin. Ich streiche mit den Fingern über meinen Lieblingsrock. Er ist weich, weit und leider bald zu kurz. Ich schiebe die Füße unter den Stuhl, damit meine Knöchel nicht zu sehen sind.
Frau Aquilas Augen wandern über uns hinweg. Die Mädchen in der ersten Reihe setzen sich kerzengerade hin, starren die Lehrerin so intensiv an, als wollten sie diese hypnotisieren. Die Streberinnen versuchen alles, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich blicke hingegen sofort auf den Tisch vor mir.
Seufzend fordert Frau Aquila: »Sarah, lies bitte das Gedicht vor, welches ich euch letzte Stunde auf eure Tafeln geladen habe.«
Ich vermute, sie hat Mitleid mit ihnen. Augenblicklich hören Geraschel und Gewisper auf und es wird still im Klassenzimmer.
Die Zeilen handeln von der Liebe zwischen einem Mann und einer Frau. Ich begreife diese altmodischen Worte kaum. Es klingt zu schön, um wahr zu sein, dass ein Mann eine Frau aus Liebe heiratet und andersherum – kaum vorzustellen. Eine Frau heiratet jemanden, der ihr einen guten Lebensstandard bietet. Männer wollen hübsche, zarte Mädchen. Ich gebe meiner Mutter Recht. Alles andere entspricht nicht der Wahrheit.
»Das Gedicht ist eine Lüge!«, ertönt Lillits Stimme hinter mir.
Erschrocken drehe ich mich um. Wie hat sie es geschafft, den Aufseherinnen zu entgehen, und wie ist sie ins Klassenzimmer geschlüpft? Sie fordert ihr Glück heraus.
»Wo entscheidet die Liebe, wer wen heiratet, wenn die Mädchen auf dem Heiratsmarkt an den höchst Bietenden versteigert werden?« Herausfordernd wandern ihre Augen durch die Reihen. Ist das Wahnsinn in ihrem Blick? Oder glaubt sie tatsächlich, was sie da sagt? Alle, einschließlich mir, senken die Augen auf die DV-Tafeln. Niemand antwortet.
»Das ist so nicht richtig, Lillit«, entgegnet die Lehrerin. Ihre Stimme zittert. Das ist kein gutes Zeichen. Ich schiele nach oben. Zwischen ihren Augen hat sich eine tiefe Falte gebildet. Die linke Hand wandert zu ihrer DV-Uhr. Bei Lillit wird nicht mehr gezögert.
»Ach nein? Wie erklären Sie dann das demütigende Zurschaustellen der Mädchen mit diesen übertriebenen Kleidern auf dem Markt?« Lillit hört nicht auf, obwohl sie gesehen haben muss, dass die Lehrerin die Aufseherinnen gerufen hat. Ich versuche, nicht hinzuhören, nicht über ihre Worte nachzudenken. Sie benutzt sie wie eine Waffe gegen das männliche Geschlecht und die Regierung. Ihr ewiger Kampf, den ich so wenig nachvollziehen kann wie ihre Abneigung gegenüber bunten Kleidern. Meine Hände sind zu Fäusten geballt. Ich bohre die Fingernägel in die Handflächen. Der Schmerz durchströmt meinen Körper – eine willkommene Ablenkung von Lillits unablässigem Gerede.
»Der Heiratsmarkt ist eine ungerechte Tradition, um uns Frauen niederzumachen, uns klein zu halten, uns zu beschämen. Wir haben keine Rechte. Wir werden wie Gegenstände behandelt! Oder finden Sie es wirklich gerecht, uns zu verkaufen?«
Verkaufen? Ich verstehe ihre Aussage nicht. Wie kann sie nur so etwas sagen? Meine Wangen werden heiß.
»Wir werden doch nicht verkauft!«, kreischt Frau Aquila. »Der Kaufpreis soll unseren Wert darstellen. Wir sind wertvoll!«
Ehe Lillit etwas erwidern kann, platzen die Aufseherinnen herein. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie abgeführt wird. Sie wehrt sich nicht. Vielleicht ahnt sie, dass es dadurch nur schlimmer wird. Ich atme durch. Sie hat es eindeutig übertrieben. Die meisten Mädchen schütteln den Kopf, schnaufen erleichtert durch. Sie freuen sich auf den Heiratsmarkt. Ich schaue beunruhigt zu Frau Aquila, und hoffe, dass sie aufgrund von Lillits Verhalten nicht die ganze Klasse bestrafen wird. Beim letzten Mal mussten wir einen zehnseitigen Aufsatz darüberschreiben, warum wir es als Frauen auf der Insel gut haben. Lillit saß währenddessen in der Kammer in der Dunkelheit und schmorte. Mich macht allein der Gedanke verrückt, in einem Raum ohne Licht eingesperrt zu sein. Sie muss sich da wohlfühlen.
Die nächste Stunde ist bei Frau Hanniel. Eine weitere graue Gestalt in meinem Leben. Sie unterrichtet Handarbeiten. In ihren Augen ist dieses Fach das wichtigste von allen. Ihre Nase ist so spitz wie die Nadel in meiner Hand. Passend. Ihre Stimme steht im völligen Widerspruch zu ihrem Verhalten. Lieblich trällert sie uns vor, welch traumhafte Stunde uns bevorsteht. Sie bleibt vor einem Mädchen aus der ersten Reihe stehen.
»Oh wie hübsch, Liebes!«, rühmt sie dessen Arbeit und hält ein perfekt gesticktes Tuch nach oben. Deutlich hebt sich die Stickerei von diesem ab und keine Naht ist schief oder falsch gesetzt. Meine Mitschülerin lächelt und ich sehe, wie ihre Wangen erröten.
»Das ist ein Beispiel für eine gelungene Umsetzung unseres Themas«, spricht die Lehrerin zu der ganzen Klasse. »Der Engel in einem Bett aus Rosen. Einfach nur wunderschön.« Das letzte Wort betont Frau Hanniel auf jeder einzelnen Silbe.
Sie liebt es. Was so toll daran sein soll, verstehe ich nicht. Auf der Insel existieren nur wenige Rosen. Engel aber sind allgegenwärtig. Unsere Religion beruht auf dem Glauben an den Einzigen und Wahren. Die Engel sind seine Diener und vollstrecken seine Urteile.
Ich schaue auf mein Haartuch. Das hellgraue Garn setzt sich von dem dunkleren Saum ab. Dennoch sieht es furchtbar aus. Es ist kein Muster zu erkennen, sondern ein Wirrwarr aus grauen Fäden auf grauem Stoff. Nähen, Sticken und Klavier spielen sind Dinge, die eine Frau der Insel können muss. Für mich sind sie eine Tortur, meine Finger verrichten nie das, was ich von ihnen will, führen nicht aus, was mein Kopf ihnen befiehlt. Vielleicht liegt es an den Schlägen, die sie zu oft erhalten haben? Wird diese Arbeit wieder ein ›Ungenügend‹, gibt es Ärger zu Hause. Sie ist die letzte Chance, die Note auf meinem Zeugnis zu verbessern. Ich unterdrücke ein Seufzen. Literatur und Mathe liegen mir wesentlich besser. Mein grauer Garnengel starrt mich an. Vorwurfsvoll und zugleich verhöhnend. Ich beiße die Zähne zusammen. Blöder Engel.
Ich schaue zu Rahel. Sie sitzt neben mir und stickt unbekümmert weiter. Konzentriert hat sie ihre Lippen zusammengepresst und ihre Nadel sticht in einem gleichmäßigen Rhythmus in ihr Tuch. Meine beste Freundin ist mein Vorbild und die perfekte Inselfrau.
Ich wende mich wieder meiner Arbeit zu. Der Engel erinnert mich an mein gestriges Gespräch mit meinem Kindermädchen, Beth. Sie ermahnte mich nachdrücklich, dass Engel alles sehen. Mein Herz setzte in diesem Moment einen Schlag aus. »Sie wollen uns nur vor uns selbst beschützen«, erklärte sie. »Uns vor unserer Sünde der Lasterhaftigkeit bewahren. Frauen erdulden den Geschlechtsverkehr. Frauen, denen das Freude macht, sind Dirnen!«, hat sie mich eindringlich ermahnt.
Ich habe mich nicht mehr getraut, sie anzusehen, denn mein Gesicht war heiß geworden. Weiß sie, was ich nachts unter der Decke treibe? Hat sie eine Videokamera in meinem Zimmer angebracht?
Die Sticknadel rutscht hin und her. Würde ein Mann mich auf die Art berühren ... Hitze steigt in mir auf und ein wohliger Schauer überfährt meinen Körper. Ich schüttle den Kopf. Frauen macht das keinen Spaß. Sie hat Recht. Die Hochzeitsnacht ist etwas Furchtbares, Schmerzhaftes. Mein Brustkorb zieht sich zusammen und ich steche meine Sticknadel so fest in das Tuch, dass sie auf die Tischplatte stößt. Sofort sind alle Blicke auf mich gerichtet. Eine Entschuldigung murmelnd sticke ich weiter. Ahnend, dass Frau Hanniel sich auf den Weg zu mir macht.
Ich betrachte mein Werk und Panik ergreift mich. Die Rose ist halbwegs gelungen, der Engel sieht furchtbar aus. Eine Karikatur, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem alten Ermel hat. Eine riesige mit Pockennarben verzierte Nase und gelbunterlaufene Augen zieren den gebrechlichen Mann vom Markt. Er hat einen Stand, ohne dass ich sagen kann, was er dort verkauft. Ekel steigt in meiner Kehle auf und legt sich bitter auf meine Zunge. Er hat immer eine Hand in seiner Hose und selbst die älteren Frauen beschimpfen und bespucken ihn. Eine Straftat, der nicht nachgegangen wird, wenn es den Ermel betrifft. Wie eine unausgesprochene Regel. Jeden widert er an. Ich seufze innerlich auf. Jetzt ziert er mein Haartuch, das ich tragen soll, wenn ich verheiratet bin.
Das Aufgehen der Tür lässt mich zusammenfahren. Ich blicke auf und bemerke Frau Hanniels misstrauischen Ausdruck in meine Richtung. Wortlos wendet sie sich zur Tür. Ich habe die Luft angehalten und atme erleichtert aus. Lillit kommt, begleitet von einer Aufseherin, herein. Ihr Blick ist hart. Mit geballten Fäusten setzt sie sich stumm und ohne Aufforderung an ihre Stickarbeit. Ich und die anderen Mädchen starren sie einen Moment an.
»Weiterarbeiten!«, poltert Frau Hanniels Stimme und meine Finger stechen die Nadel im Akkord in den Stoff.
Ohje, meine Hände haben sich verselbstständigt. Der Ermel ist einem Wirrwarr aus bunten Nähten gewichen. Der Versuch, aus ihm einen Engel zu machen, ist misslungen. Stattdessen habe ich Würmer vor mir, die sich übereinander schlängeln. Ich streife mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Meine Stirn fühlt sich nass an und das liegt nicht nur an der Wärme des Klassenraumes.
Ein Klaps auf den Hinterkopf holt mich aus den Gedanken.
»Wie sieht das denn wieder aus, Eva! Das ist die schrecklichste Arbeit, die ich je gesehen habe, selbst von dir!«, keift Frau Hanniel in meinem Nacken und reißt mir die Stickerei aus der Hand. Ich schlucke schwer und sage kein Wort. Mit einem Kopfschütteln schmeißt sie das Tuch vor meine zitternden Hände auf den Tisch. Ich mache mich schleunigst daran, die Stickerei wieder aufzutrennen, und beobachte gleichzeitig, wie die Lehrerin eine Notiz ins Klassenbuch schreibt. Das wird Ärger zu Hause geben. Ich presse die Lippen aufeinander. Meine Finger sind geschwollen und schmerzen. Zu oft habe ich mir in die Kuppen gestochen.
In der Frühstückspause versorgt Rahel mich mit Pflastern. Sie lacht über meine Ungeschicktheit, doch das ist mir egal. Hier mit ihr ist meine Brust nicht mehr eng. Auf jede Bandage malen wir ein Gesicht und spielen Theater. Ich wackle mit meinen weißen Fingerspitzen vor ihrem Gesicht, bis eine Aufseherin sich neben unserem Tisch platziert. Ihre vor Zorn funkelnden Augen fixieren uns unter tief zusammengezogenen Augenbrauen. Sie tippt mit ihrem Stock auf ihre linke Hand. Eine unausgesprochene Warnung, wenn wir uns nicht benehmen. Ich lasse die Hände sinken. Breitbeinig steht sie vor uns, wartet mit finsterer Miene. Ihre graue Uniformjacke hebt sich auf und ab. Ihr Atem dringt keuchend an meine Ohren und steigt mit einem fauligen Geruch in meine Nase. Atmet sie vor Wut so schwer, oder weil ihr Gewicht sie auf dem kurzen Weg zu uns überanstrengt hat? Ich nehme meinen Vitaminsaft, den wir täglich erhalten, und trinke ihn mit einem Zug leer. Hastig tut Rahel es mir nach. Gleichzeitig senken wir unsere Köpfe und sehen zu Boden.
»Geht doch«, knurrt die Aufseherin. Ich verharre in der Position, wage es nicht, zu atmen, doch sie rührt sich nicht von der Stelle. Was denn noch? Ich erwarte einen Schlag. Nichts passiert. Endlich bewegt sich ihr langer, grauer Rock und sie entfernt sich. Ich erlaube es mir, zu Rahel zu linsen, und bemerke, dass sie ein Grinsen unterdrückt.
Die nächsten Stunden ziehen an mir vorüber. Das Grau des Gebäudes findet seinen Weg in meinen Kopf. Ich habe Mühe, mich zu konzentrieren. Die Eintönigkeit lullt mich ein. Mir ist langweilig. Den anderen Mädchen geht es ähnlich. Häufiger als sonst rutschen sie auf ihren Plätzen hin und her. Bei ihnen ist es jedoch die Aufregung wegen des Heiratsmarktes. Aber jedes Kichern wird sofort im Keim erstickt. Mehrere Mädchen müssen nach unkontrolliertem Seufzen den Satz ›Ein Inselmädchen ist still und zurückhaltend‹ zehnmal auf ihre Datentafel schreiben. »Ihr seid doch keine Delfine«, bekommen wir mehr, als einmal zu hören.
In der Mittagspause scheint die Sonne und Rahel und ich beschließen, draußen zu essen. Auf der hinteren Seite des Schulgeländes befindet sich der Pausenhof. Bänke und Tische stehen hier auf Betonboden, der wegen des ständigen Windes vom Strandsand bedeckt ist. Die frische Meeresbrise bietet dort eine Abkühlung und die Strahlen lockern meine triste Stimmung auf. Der salzige Duft des Meeres überdeckt den Geruch unseres Mittagessens aber leider nicht. Steckrübensuppe mit gerösteten Heuschrecken. Ich starre auf mein Tablett und unterdrücke ein Würgen. Ich hasse Steckrüben. Doch Essen wird nicht weggeworfen. Das steht genauso unter Strafe wie das Vergeuden von Materialien. Unsere Insel hat nur begrenzt Land zur Verfügung und was wir selbst nicht herstellen, wird teuer auf dem Festland eingekauft.
Ich löffle die Suppe, ohne das Gesicht zu verziehen.
»Schmeckt es dir?«
Ein Klumpen der Steckrübe wandert in meinen Mund. Ich sehe auf. Rahel grinst mich verschwörerisch an.
»Wenn du brav aufisst, habe ich etwas für dich.« Ihre Stimme klingt verheißungsvoll.
Ihr Onkel arbeitet in einer Lebensmittelfabrik. Von Zeit zu Zeit bringt sie mir etwas Außergewöhnliches mit. Was ist es heute? Ich hoffe Süßigkeiten. Ich denke an den berauschend süßen Geschmack von getrockneten Datteln. Der Speichel läuft mir im Mund zusammen. Meine Mutter meidet Derartiges wie die Pest. Sie glaubt, das würde die Zähne und den Verstand verkleben. Doch mein Vater und ich lieben alles, was süß ist. Ein einziges Mal hat er mir Schokolade vom Festland mitgebracht. Ein Traum, wie sie auf der Zunge zerfließt. Später hat die Regierung die Einfuhr verboten. Nachdem wir aufgegessen haben, packt Rahel tatsächlich eine Tüte mit getrockneten Früchten aus. Ich erkenne Aprikosen, Datteln und Feigen und greife zu.
»Heute Abend ist ein Kollege meines Vaters mit seiner Familie bei uns zu Gast. Er hat einen Sohn, der eine Anstellung im Regierungskrankenhaus übernommen hat«, erzählt Rahel. Sie schaut mich an und zwinkert mir zu. Wieso betont sie das so? Da ich nicht reagiere, redet sie weiter. »Vater hat das Treffen arrangiert, damit er meine Bekanntschaft bereits vor dem Heiratsmarkt machen kann. Mutter hat mir zu diesem Zwecke ein neues Kleid gekauft. Natürlich kann es bei weitem nicht mit einem Heiratsmarktkleid mithalten, aber ich werde umwerfend aussehen«, schwärmt sie mir mit strahlenden Augen vor. Sie hält immer noch die erste Frucht in der Hand, während ich die Hälfte der Tüte allein gegessen habe.
Ich lächle ihr zu. »Das klingt gut. Ich hoffe, er ist nett.« Innerlich erschaudere ich. Wird mein Vater ebenfalls demnächst Kollegen mit Söhnen einladen? Welch schrecklicher Gedanke. Ich verspüre keinerlei Sehnsucht, andere Männer kennenzulernen. Wenn es nach mir ginge, würde ich erst in zwei Jahren heiraten.
Aber Rahel möchte wohl bereits mit 16 verheiratet werden. Ein Arzt der Regierung ist nicht ohne. Ihr Leben in Wohlstand wäre gesichert.
Der restliche Schultag ist langatmig. Genauso wie der gestrige, vorgestrige und überhaupt jeder im Jahr. Eine Sekunde dehnt sich zu einer Stunde, eine Stunde wirkt wie ein Tag. Ein Tag wie eine Ewigkeit. Die Ewigkeit wird zur Qual. Ich sammle alle Kräfte für den Kampf gegen meine Augenlider, die immer wieder zufallen.
In der letzten Stunde habe ich Mathematik. Dieser Unterricht ragt als Hoffnungsschimmer im Stundenplan hervor.
»Hier, bitte sehr, Eva.« Herr Nahum reicht mir meine Datentafel. Ein Schmunzeln umspielt seine Mundwinkel. Er hat mir neue Aufgaben hochgeladen. Ich nicke mit einem Knicks und gehe zurück auf meinen Platz.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass ich andere Lektionen bekomme als meine Mitschülerinnen. Ich bin oftmals schneller und brauche nicht so viele Wiederholungen. Gespannt, welcher Stoff auf mich wartet, öffne ich das Dokument. Eine schwarze Fläche starrt mir entgegen. Nur mit viel Fantasie kann ich das Wort ›Wahrscheinlichkeitsrechnung‹ entziffern. Der Rest des Kopfteils ist geschwärzt – genau die Stelle, an der normalerweise die Adresse unserer Schule steht. Ich halte den Atem an. Ob das bedeutet ... Mein Herz beginnt heftig zu hämmern. Ob Herr Nahum sich vertan hat? Fieberhaft streiche ich eine dünne Haarsträhne mit meiner Hand hinters Ohr. Sie ist schwitzig. Ich atme tief ein und aus, zögere und sehe zu Herrn Nahum. Er beobachtet mich. Täusche ich mich, oder nickt er mir kaum merklich zu? Ich senke den Blick auf die Aufgaben. Unsicherheit macht sich in mir breit. Wieso sollte ich anspruchsvolle Themen der Jungenschule begreifen?
Doch ich überrasche mich selbst. Es fällt mir nicht schwer. Im Gegenteil. Keine Sekunde lang muss ich überlegen, wie die Rechnungen zu lösen sind. Ich versinke in den Zahlen und vergesse alles um mich herum.
Die Hand meines Mathelehrers auf der Datentafel holt mich in die Gegenwart des Unterrichtsraumes zurück. Er lächelt und zieht die Arbeitsblätter mit seiner DV-Uhr wieder herunter. Beide sagen wir kein Wort. Was die anderen Mädchen wohl denken? Im Grunde kann mir das egal sein. Hoffentlich zeigt Herr Nahum mir seine Korrektur. Ich senke den Blick auf die Tischplatte. Auf der anderen Seite will ich keinen Ärger und ihn als Mathelehrer unbedingt behalten. Hoffentlich spricht mich niemand darauf an.
Nach dem Unterricht wartet Beth vor der Schule, um mich abzuholen. Ihre steinerne Miene ist wie ein Leuchtsignal für mich. Sie macht jeden Tag das gleiche Gesicht. Mit verkniffenem Mund läuft sie stumm neben mir her. Wir haben kein besonders gutes Verhältnis. Früher war sie wie ein Elternteil für mich. Die Blutung hat mir das genommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Mutter ihr klar gemacht, dass sie anders mit mir umgehen muss. Seitdem ich eine Frau und kein Kind mehr bin, hat sie aufgehört, mich zu bemuttern. Aus dem Augenwinkel beobachte ich sie einen Moment. Womöglich schmerzen ihre Gelenke, aber sie würde Vater nie um Medikamente bitten. Ich überlege, ob ich ihr anbieten soll, ihn für sie zu fragen. Er würde ihr welche geben, aber ... Lieber nicht. Beth ist eigen. Ginge ich zu Vater, hätte sie das Gefühl, nicht mehr ernst genommen zu werden. Langsam gehen wir die Straßen entlang. Ich lasse die Grübeleien über meine Begleiterin weiterziehen und genieße den Weg. Entspanne mich, während ich Schritt vor Schritt setze, koste die körperliche Bewegung aus.
Die Häuser, grau und alle gleich, umfassen die Straßen zu einem engen Labyrinth. In den Arbeitersiedlungen soll es Häuser geben, die über zwanzig Stockwerke hoch sind. Hier genügen sechs, um die Sicht zu versperren. Der Blick reicht nie weiter als bis zur nächsten Ecke. Die Gebäude haben nur vorne Fenster, da von den Seiten und von hinten weitere Häuser angebaut sind. Effizient und ressourcenschonend. Die Eckhäuser haben mehrere. Sie sind teurer und die Bewohner zwangsläufig reicher.
An einer Ampel bleibe ich stehen. Die zweispurige Straße ist kaum befahren. Die wenigen Autos rollen langsam an mir vorbei. Niemand fährt schnell. Die Fahrer wollen gesehen werden. Außerdem ist die Schutzwehr bei Verkehrsregelmissachtungen gnadenlos. Es gilt Effizienz. Eine niedrige Unfallrate sorgt für geringeren Medikamentenverbrauch, weniger Verlust an Arbeitskräften und eine sparsamere Nutzung von menschlichen wie räumlichen Ressourcen im Krankenhaus. Ich beobachte die leisen, grauen Schatten. Geräuschlos und geruchsneutral fährt eins nach dem anderen an mir vorbei. Unsere Fahrzeuge fahren mit einem von der Insel entwickelten Wasserstoffbrennmotor. Vorsicht ist geboten. An jeder Straße stehen Warnschilder. Leuchtend. Blinkend. Mein Bruder hat mir erklärt, dass es viele Unfälle gab, nachdem die neuen Autos eingeführt wurden, weil niemand die Fahrzeuge hörte oder roch. Früher sollen sie gestunken haben wie die Deponie. Ihr Geruch weht manchmal von Osten über die Stadt.
Die Ampel springt auf Grün und ich drehe mich zu Beth um. Mein Kindermädchen ist noch ein gutes Stück entfernt und ich warte die nächste Grünphase ab. Ein Bus kommt angefahren, ebenso geräuschlos wie seine kleineren Gefährten. Autos fahren nur die Bürger der Stadtringe. Die Menschen aus den Randzonen werden mit den Bussen zu ihren Arbeitsstellen in die inneren Stadtringe transportiert. So wie Marie, unsere Köchin, die im Osten der Insel direkt neben der Mülldeponie lebt. Allein die Vorstellung lässt mich die Nase rümpfen.
Zu Hause angekommen empfängt uns der Duft von frisch gekochtem Tee.
»Eva, erst Hände waschen und deine Sachen ordentlich wegräumen«, ermahnt mich Beth.
Ich rolle mit den Augen – wohlbedacht, dass sie es nicht sieht. Ich kenne die Regeln in- und auswendig! Wie ein gehorsames Kleinkind komme ich mir vor, wenn Beth mir Lappalien vorschreibt und ich sie folgsam erledige.
»Willst du Ärger mit deiner Mutter bekommen?«, hat sie mich ein Dutzend Mal schon gefragt, sobald ich in der Vergangenheit nicht augenblicklich gespurt habe. Und natürlich will ich keinen Stress. Auch heute nicht.
Mit einem Pochen in der Brust, aber sauberen Händen gehe ich in die Küche und umarme die Köchin. Marie ist dünn, beinahe ausgemergelt. Sie lacht immer, sie könne essen, was sie will, und würde nicht zunehmen. Ich beneide sie um diese Veranlagung. Trotz ihres strengen Aussehens – die grauen Haare hat sie wie jede verheiratete Frau unter ein Tuch gesteckt und das Gesicht ist mit tiefen Falten übersät – ist Marie die Einzige neben Tirza, unserem zweiten Dienstmädchen, die etwas Herzlichkeit in dieses trostlose Heim bringt.
»Also wirklich, Eva! Lernst du es nie? Die Küche ist kein Ort für ein Mädchen deines Standes. Setz dich ins Esszimmer, Lea bringt dir deinen Tee.« Beth ist wie ein Aasgeier. Immer auf der Suche nach Fressen – oder besser: nach dem, was ich ausfresse. Ich wende mich zu ihr und nicke. Sie sieht müde aus. Sie sollte sich lieber hinlegen, anstatt mich zu überwachen.
»Einen Moment noch.« Marie lächelt und wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie nickt zu einer Dose und greift hinein. Beinahe hätte ich die Hände vor meiner Brust zusammengeschlagen. Ich bremse mich und lege sie stattdessen lautlos zusammen. Kekse! Nur Marie schafft es, aus geschmacklosen Haferflocken was Leckeres zu zaubern.
»Aber nur einen!«, ermahnt Beth die Köchin und zieht die Augenbrauen zusammen.
»Ach Beth, du bist zu streng mit dem Mädchen.« Ich sehe, wie sie lächelnd einen Keks, der so groß ist wie meine Handfläche, aus der Dose fischt.
Eilig verschwinde ich aus der verbotenen Zone. Hoffentlich wird Beth ihn nicht halbieren.
Im Essbereich angekommen seufze ich. Gern würde ich in meinem Zimmer essen. Beth scheint heute nicht bei bester Laune zu sein. Dem Schicksal ergeben setze ich mich an den Tisch. Wenigstens kann ich aus dem Fenster schauen.
Die Wohnung besteht aus zwei Etagen, was unseren Stand und Reichtum widerspiegelt. Ich weiß, dass die aus dem äußeren Ring in wesentlich kleineren leben. Die Menschen aus dem inneren Ring hausen dafür in größeren. Teilweise gehen deren Wohnungen über drei Etagen. In unserer befindet sich unten die Küche, das Esszimmer sowie Herren- und Damenzimmer. Eine kleine Toilette sorgt für die Annehmlichkeit, dass Gäste nicht in die obere Etage müssen. Dort liegen unsere Schlafräume – vier an der Zahl – und zwei Badezimmer. Da die Inselhäuser aneinandergebaut sind, haben nur die Zimmer an der Vorderseite des Hauses Fenster. Bei uns sind es unten das Ess- und Damenzimmer und oben die Schlafräume von Vater und Aaron. Die Räume ohne Fenster müssen mit der Lüftungsanlage auskommen.
Zehn Stühle umgeben den Tisch. Zusammen wirken sie verloren in diesem kahlen Raum. Allein hier zu sitzen, fühlt sich seltsam leblos an. Insgesamt können in diesem Raum bis zu 15 Personen Platz finden. Das ist wichtig für Geschäftstreffen und Empfänge.
Ich habe früher eine Menge unsichtbarer Freunde erfunden. Mutter und Beth haben mir diese Marotte ausgetrieben. Gerne würde ich mich jetzt mit ihnen unterhalten. Mein Blick wandert über die Stühle und Sitzpolster. Alles ist akribisch symmetrisch ausgerichtet. Ein Krümel oder Staubkörnchen ist nirgends in Sicht – nicht einmal in der Luft. Alles ist grau. Farbe wird auf Selvia nicht gerne gesehen. Dekoration und unnützes Zeug noch viel weniger. Lediglich ein besticktes, graues Deckchen ziert den Tisch, der aus abgeschliffenem, verwittertem Treibholz gefertigt wurde. Die Tischdecke ist nicht von mir, das würde Mutter nie tun. Zu beschämend sind meine Arbeiten. Bei dem Gedanken breitet sich eine dumpfe Leere in meiner Magengegend aus. Ich versuche, Trauer zu fühlen, aber da ist nichts außer Gleichgültigkeit in mir.
Lea kommt herein und ich reiße mich zusammen. Auf ihrem Tablett ruht der unberührte Keks mit einer frischen Tasse Tee. Das Dienstmädchen deckt mir meinen Platz und geht, nicht ohne einen Knicks zu machen. Das ist lächerlich. Ich bin nicht Mutter. Schon oft habe ich sie darum gebeten, aber sie wird es nicht lassen. Zum Glück ist morgen Tirza da. Mit Beginn meiner Menstruationsblutung nahm ich die Rolle einer Inselfrau an. Was hatte ich die rote Zeit herbeigesehnt. Ich schüttle den Kopf und rühre geräuschlos in meinem Tee.
Wenn ich daran denke, bald eine Ehefrau zu sein, läuft es mir eiskalt den Rücken hinab. Unvorbereitet komme ich mir vor. Ich fühle mich nicht erwachsen, nicht bereit für einen Mann, nicht bereit für ein eigenes Zuhause mit all seinen Verpflichtungen und Regeln. Nicht bereit für ein Kind. Eine Wahl habe ich nicht. Wenn Vater es gut mit mir meint, schickt er mich die letzten zwei Jahre auf die Schule, ehe ich heirate. Wenn nicht, dann muss ich heiraten. Wer auch immer bereit ist, den Preis zu zahlen, den Vater verlangt.
Lillit sprach einmal davon, dass Männer und Frauen auf dem Festland gleich wären. Ich konnte nur den Kopf darüber schütteln.
Wie sollen die Mädchen und Frauen dort anders leben als hier? Wir sind nicht so schlau, nicht so stark, nicht so entscheidungsfähig wie die Männer.
Meine Mutter, die Vaters Geschäfte leitet? Unmöglich. Andauernd ist sie krank. Außer zu ihrem Kaffeekränzchen zu gehen, einzukaufen und Gäste willkommen zu heißen, ist sie zu nichts in der Lage. Wenn sie sich nicht diesen Dingen widmet, liegt sie im Bett und klagt über Migräne. Wieso sollte es bei irgendeiner Frau anders sein? Ich schnaube und zucke über meinen Laut zusammen.
Ich spitze die Ohren, ob Beth herbeieilt, um zu sehen, was ich treibe. Stille. Hastig beginne ich, an dem Keks zu knabbern. Er schmeckt fad, so allein. Meine Gedanken schweifen zu Rahel. Verabredungen sind schwer geworden. ›Eine junge Frau treibt sich nicht herum. Lesen, Klavier spielen oder malen sind die Vergnügungen einer Tochter aus gutem Hause‹. Mit fremder Stimme hallen die Worte durch meinen Kopf. Sticken wäre natürlich auch eine Möglichkeit. Zum Lesen fehlt mir die Lust und alles andere ist eher eine Strafe als eine Option.
Eine Glocke läutet und der Duft eines schweren, süßen Parfüms kündigt meine Mutter an.
»Eva, bist du zu Hause?« Ihre hohe Stimme durchschneidet die Stille wie ein Messer ein Brot. Ich seufze und frage mich, warum ich mich über meine Einsamkeit beklagt habe. Sie kommt mir mit einem Mal wie ein Segen vor. Ich bin versucht, ›Nein‹ zu rufen, und unterdrücke ein Grinsen. Mutter ist nicht für ihren Humor bekannt und sollte sie schlechte Laune haben, verdonnert sie mich womöglich noch dazu, das Gotteswerk zu lesen.
»Ja Mutter, bin ich.« Ich stehe auf und gehe ihr entgegen. Eine vollgepackte Tüte lässt mich wissen, dass sie ihrer Lieblingsaufgabe nachgegangen ist: das mit harter Arbeit verdiente Geld meines Vaters ausgeben. Direkt heute, am ersten Verkaufstag der Kleider für den Heiratsmarkt, ist Mutter los, um welche zu besorgen. An jenem Tag repräsentiere ich meine Familie und mich als mögliche Ehefrau. Je luxuriöser mein Kleid, umso mehr bieten die Herren für mich. Ein gutes Geschäft für meinen Vater: einen reichen Schwiegersohn bekommen und eine nutzlose Tochter loswerden.
›Das ist kein Akt der Liebe.‹ Diese Stimme in meinem Kopf war nicht fremd. Es war Lillits.
»Wie siehst du bloß wieder aus?«, keift meine Mutter entsetzt, als ich ihr im Flur entgegenkomme. »Du musst achtgeben auf dein Äußeres! Du willst doch gut aussehen, oder?«
Ich blicke zu Boden und lege die Hände zusammen. Es ist nicht das Entsetzen in ihrer Stimme, nein, es ist der verachtende Ausdruck, der mich überspült wie eine Welle. Ich unterdrücke den Drang, wegzulaufen, um mich ihren kritischen Blicken zu entziehen. Stattdessen sehe ich auf und lächle. Wortlos ergreife ich eine Tüte und gehe voran ins Damenzimmer. Das wird länger dauern. Meine Mutter hat immer etwas auszusetzen. Jetzt schon schimpft sie hinter mir weiter. Ich versuche, nicht hinzuhören. Etwas, das mir immer besser gelingt. In ein Ohr rein, zum anderen wieder raus.
»Und diese Bluse! Was soll das, Eva?«
Was ist falsch an ihr? Sie hat sie mir selbst gekauft. Und überhaupt: Meine Sachen sind grau – wie ihre. Geschnitten – wie ihre. Ich trage Schuhe – wie ihre! Ich fühle mich aus der Puste. Mein Herz hämmert. Ich gestehe, dass Mutter trotz grauer Kleidung schön und elegant aussieht. Ich dagegen bin wie eine graue Tapete. Unauffällig. Rau. Hässlich.
»Natürlich ist unser Stand und Vaters Verdienst nicht unerheblich dabei«, plappert sie.
Ich erahne mein Lieblingsthema und stelle die Taschen im Damenzimmer ab. Auch wenn ich erst 16 Jahre alt bin, will sie mich dieses Jahr verloben. Sie setzt alles dran, eine respektable Inselfrau aus mir zu machen. Eine gute Partie, damit ich einen annehmbaren Ehemann finde.
»Das Aussehen ist dennoch wichtig. Stell dir vor! Sollte ein Mann des inneren Ringes oder sogar ein Mann der Regierung auf dich aufmerksam werden! Dein Vater wäre unglaublich stolz auf dich.«
Mit dem Rücken zu ihr kann ich ein Augenrollen nicht unterdrücken. Meine Eltern stolz zu machen, gelingt mir in etwa so gut, wie das Sticken in der Schule. Der Gedanke erfüllt mich mit Schwere und ich lasse die Schultern hängen. Zum Glück ist sie mit ihren Tüten beschäftigt.
»Ich habe etwas ganz Wundervolles bekommen! Die Frauen haben sich darum gestritten.«
Entnervt wende ich mich um. Ihre Wangen sind gerötet vom Stolz – auf ihre Errungenschaft, nicht auf mich. Obwohl ich zugeben muss, dass ihre Aufregung etwas gedämpfter ist als sonst. In ihren Augen liegt eine gewisse Anspannung, die nicht nur von meinem Anblick stammt. Ich frage aber nicht nach. Egal, ob etwas schiefgelaufen ist, für mich bleibt die Qual die gleiche. Gelangweilt nicke ich und setzt mich. Es graut mir davor, was sie im Eifer des Gefechts gekauft hat. Ich bezweifle, dass sie es mitgebracht hat, weil es schön ist. Der Grund ist dafür einzig und allein gewesen, dass alle anderen es haben wollten. Auf die Idee, mich zum Einkaufen mitzunehmen, kommt Mutter nie. Das wäre ihr zu anstrengend. Außerdem könnte ich etwas anderes wollen.
Ich verschränke die Hände auf meinem Schoß, unterdrücke ein Wippen mit den Beinen und beobachte sie weiter. Mir fällt ein, dass ich den Keks hätte mehr genießen sollen. Wenn das Kleid zu eng sein sollte, heißt es für mich die nächsten Tage wieder: Radikaldiät.
Ein Piepen ertönt und Mutter hört auf, das sündhaft teure Kleid – wie sie mehrmals betont – aus der Tüte zu heben. Unsere DV-Uhren leuchten auf. Ich springe hoch, erschreckt durch die eindringliche, mechanische Stimme des Haussystems. Sie wiederholt monoton: »Eva muss zum Klavierunterricht! Eva muss zum Klavierunterricht!« Ein wenig wehmütig blicke ich auf das verpackte Kleid. Mutters Hin und Her zwischen Schimpfen und Schwärmen zu entkommen, ist auf einmal gar nicht mehr so dringend. Doch ehe ich Mutter bitten will, wegen dem Kleid zu Hause bleiben zu können, erscheint Beth in der Tür, um mich zu begleiten. Mutter lässt das Kleid wieder in die Tüte sinken und scheucht mich nach oben: »Schnell Eva, zieh dir etwas Ordentliches an. Die Bluse, die ich dir letzte Woche gekauft habe!«
Ich gehe stumm auf mein Zimmer, ohne sie darauf aufmerksam zu machen, dass ich diese bereits trage. Sie würde es doch nur abstreiten.
Der Weg zu meinem Klavierlehrer ist weit und ich genieße jeden Meter. Er führt eine Straße hinauf und oben angelangt muss ich warten, da Beth kaum hinterherkommt. Für einen kurzen Moment wünsche ich mir, sie würde umknicken. Kein Klavierunterricht. Ich spüre ein Lächeln auf meinem Gesicht. Gleich darauf schäme ich mich dafür. Doch der Gedanke an Herrn Kornelius lässt mich schaudern. Er ist ein alter Mann, dem Haare aus den Ohren wachsen, ein Meister seines Faches und bei der Regierung äußerst anerkannt. Übelkeit steigt in mir auf, sodass ich befürchte wie schon oft nach dem Klavierunterricht, Herpes zu bekommen. Das wäre sehr zum Verdruss meiner Mutter.
Ich starre auf die grauen, hohen Häuser, um mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Doch der Mangel an Ausblick verbessert meine Stimmung nicht. Die Gebäude verbergen die Weite. Von oben betrachtet muss die Insel wie ein graues Gebirge aussehen. Selbst die meisten Pflanzen, die wir für Nahrung, Medizin und zur Herstellung von Stoffen und Materialien anbauen, wachsen in grauen Gewächshäusern. Ein paar sind sogar, wie die Variabilispflanze, grau. Die einzig grüne Stelle auf der Insel muss die Versorgungszone Südwest sein, wo sich die Obst- und Gemüseplantagen befinden.
Beth taucht schnaufend neben mir auf. Ich gebe ihr einen Moment, dann wandern wir bergab in den inneren Stadtring.
Vor dem Haus meines Klavierlehrers angekommen, straffe ich die Schultern und atme tief ein und aus. Beth klingelt und sofort werden wir von dem Besucher-Sensor gescannt. In meinem Nacken ist ein Chip eingepflanzt, der alle Daten enthält – wer ich bin, wo ich wohne, was ich mache. Nicht jedes Haus darf von Frauen und Kindern betreten werden. Ich unterdrücke ein Seufzen.
Vor ein paar Jahren hat mein Lehrer mich ausgelacht, als ich ihm eröffnet habe, dass ich bald im Orchester spielen möchte. Jeden Tag reisen können, auch aufs Festland – ein Traum. Dort sind unsere Musiker sehr berühmt. Herr Kornelius hat mich darüber aufgeklärt, dass Frauen das nicht erlaubt ist. Ich war verstört. Wozu müsse ich denn Klavier spielen lernen, habe ich ihn gefragt. »Es hat eine veredelnde Wirkung auf Mädchen.«
Bis heute denke ich über seine Worte nach. Auf mich scheint es leider nicht zu wirken. Ich habe nur gelernt, dass zu viele Fragen Strafen zur Folge haben.
Die Tür öffnet sich und ich wappne mich innerlich für das Kommende, suche in meinem Kopf nach einem Gedanken, an den ich mich klammern kann – finde aber keinen. Die Angst vor der nächsten Stunde ergreift Besitz von mir und ich laufe wie in Trance meinem Kindermädchen hinterher. Ein Portier führt uns zum Fahrstuhl. Oben an der Wohnungstür wartet ein Dienstmädchen. Ihre Knopfaugen mustern mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich balanciere auf einem Bein und versuche wie eine Dame, meinen Schuh abzustreifen, ohne zu fallen oder beide Hände zu benutzen. Bei mir hat diese Aktion jedes Mal den Charakter eines Kreiseltanzes. Hüpfend, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, kämpfe ich mit dem linken Schuh. Er sitzt eng und ich ärgere mich darüber, vergessen zu haben, sie einzufetten, damit sie besser abgleiten. Die Blicke der Frauen machen es nicht einfacher. Ich höre mein Kindermädchen seufzen. Sie hat gut reden. Aufgrund ihres Alters darf sie sich setzen.
Endlich habe ich es geschafft und betrete mit klopfendem Herzen das Refugium des alten Mannes. Er erwartet mich mit zusammengelegten Händen. Hat er gebetet?
»Schön, schön, die kleine Eva ist wieder da«. Die näselnde Stimme treibt mir eisige Schauer über den Rücken. Sie verfolgt mich bis in meine Alpträume. Er reibt sich die Hände, als wenn er einen erfreulichen Kauf gemacht hätte. Ich schlucke. Beth verschwindet mit dem Dienstmädchen und ich bleibe allein mit dem Mann vor mir zurück. Meine Brust zieht sich zusammen und eine Gänsehaut überkommt mich. Mein Herz rutscht mir in den Rock, hört auf zu schlagen, versteckt sich. Ich möchte es ihm gleichtun. Mich verstecken. Kriege keine Luft. Mein Körper verkrampft und erzittert.
Herr Kornelius erhebt sich, starrt mich mit seinen trüben Augen an und tritt dicht an mich heran. Er taxiert mich, leckt sich die Lippen. Ich habe Mühe, das Zittern zu kontrollieren, möchte keine Schwäche vor ihm zeigen. Seine Augen bleiben an meinem Busen hängen und weiten sich. Scham steigt in mir auf, mein Kopf wird heiß und ich wünschte, der Erdboden würde sich unter mir auftun. Mein Atem geht stoßweise. Ich wage es nicht, mich zu rühren. Am Ende ragen meine Brüste nur deutlicher hervor. Ich weiß nicht, wie ich mich unscheinbar machen soll.
›Wieso forderst du den Mann so heraus?‹ Mutters schneidende Stimme tobt in meinen Gedanken. Ich habe ihr einmal vorgeschlagen, hässliche Kleider anzuziehen. Das wurde von ihr mit mehreren Ohrfeigen quittiert.
Mein Lehrer schreitet einmal um mich herum, studiert jede Rundung meines Körpers. Sein Atem riecht wie der Dünger auf den Feldern. Die knochigen, langen Finger zucken, als wollten sie am liebsten nach mir grabschen. Beim Anblick seiner gelben, gebogenen Nägel möchte ich mich übergeben. Ein Kitzeln im Nacken verrät mir, dass eine Schweißperle in meinen Blusensaum sickert.
»Guten Tag«, flüstere ich und senke den Kopf, als könne ich mich so seinen Blicken entziehen.
»Was denn, so schüchtern heute? Ist deine Blutung wieder vorbei, Kleines? Ja? Rein und sauber, so gefallen mir meine Mädchen.« Seine Stimme ist rau, gefolgt von einem schmierigen Glucksen. Die Gänsehaut klingt gar nicht mehr ab. Er legt eine Hand gefährlich tief auf meinen Rücken und schiebt mich zum Klavierhocker. Mit wackligen Knien setze ich mich. Ehe ich die Finger positionieren kann, höre ich seine näselnde Stimme an meinem Ohr: »Sei ein braves Mädchen und antworte mir. Du willst doch nicht, dass ich dein Kleid lüften muss.«
Ich gefriere zu einem Eiszapfen, weite die Augen, sodass es weh tut. Wie kann er nur ...? Selbst meine Mutter spricht nicht mit mir darüber. Beth hat mich mit knappen Worten aufgeklärt. ›Ein Mädchen spricht nicht darüber! Hast du verstanden?‹, schießen ihre Worte durch meinen Kopf. Aber ich kenne die Konsequenzen.
»Ja, mein Herr, das sind sie. Das schwöre ich ihnen!« Vor lauter Panik bricht meine Stimme.
»Gut so. Fein. Das ist brav.« Er tätschelt mir den Kopf. Ich unterdrücke ein Würgen.
»Es gibt nichts Abscheulicheres!«, zischt er. Seine Hand gleitet meinen Rücken hinunter. »Schön, dass du wieder da bist. Ich habe dich schon vermisst. Ich überlege schon seit längerem. Ich liebe junge, hübsche Frauen.« Aalglattes Gackern folgt seinen Worten.
Tränen schießen mir in die Augen. Mein Körper ist hart und steif. Wie eine Beute, die vor ihrem Räuber erschrickt, atme ich hektisch. Mir wird schwindelig.
»Und jetzt fang an zu spielen«, weist er mich forsch an.
Ich glaube, vergessen zu haben, wie man die Finger bewegt. Sie schweben zitternd über der Klaviatur.
»Gerader Rücken, Brust raus. Eine gute Haltung ist das A und O beim Klavier spielen. Fang mit der C-Dur-Tonleiter an!«
Ich spiele, als hinge mein Leben davon ab. Seine Hand wandert auf meine Schulter, die Finger knapp über dem Busen. Er tippt mit einem Fuß im Takt.
»Nein, nochmal«, schnurrt er vergnügt, als ich mich verspiele.
Ich blinzle die Tränen weg und spiele von vorn. Ich bereue es, meine Blutung bekommen zu haben? Sie sind ein Geschenk! Herr Kornelius möchte mich an diesen Tagen nicht sehen.
Er schnalzt mit der Zunge. »Du musst dich konzentrieren, liebe Eva. Noch mal.« Eine Ahnung steigt in mir auf und ich unterdrücke ein Schluchzen. Erneut versuche ich mich an der Tonleiter. Bereits beim fünften Ton treffe ich nicht die richtige Taste.
»Meine Eva, ich glaube, wir haben heute noch eine Menge vor uns.« Bei diesen Worten wandert seine Hand tief meinen Rücken hinunter.
Immer wieder muss ich von vorne anfangen, zu spielen. Ich kann nicht mehr. Habe das Gefühl, unter dem Druck zu zerbrechen. Doch die Stunde ist lange nicht zu Ende.
Herr Kornelius entfernt sich kurz und blättert in seinen Noten. Ich atme hastig ein und aus. »Eva, achte auf deine Haltung.«
Sofort setze ich mich wieder kerzengerade hin. Mein Klavierlehrer legt ein neues Notenblatt vor mir hin.
»Spiele das Sonett von letzter Woche. Ich möchte hören, was du gelernt hast.«
Ich schlucke. Es ist ein schweres Stück und er weiß genau, dass ich nicht einmal die erste Zeile fehlerlos spielen kann. Die Noten verschwimmen, dennoch lasse ich meine Finger auf der Klaviatur. Ich beiße mir auf die Unterlippe und klimpere besonders langsam. Die Tasten, die wie eine weißgraue Masse vor mir liegen, sind nicht mehr zu unterscheiden. Ein Rauschen in meinen Ohren macht es mir unmöglich, zu hören, ob ich die richtigen Töne treffe.
Die Hände von Herrn Kornelius legen sich fest auf meine Schultern. Er steht eng hinter mir, drückt sich an mich. Ich spüre, wie meine Brust sich zusammenzieht, und verspiele mich. Ein schiefer Ton schallt einsam durch den Raum. Meine Hände zittern, ohne dass ich sie daran hindern kann.
»Meine Geduld ist am Ende, Eva. Steh auf und lüfte dein Kleid.«
Auf dem Heimweg kann ich kaum laufen. Beth sagt kein Wort. Das muss sie auch nicht. Ihr Blick verrät alles.
Rahels Ratschlag kommt mir in den Sinn. ›Du musst einfach mehr zu Hause üben! Je weniger Fehler du machst, desto weniger Gründe hat Herr Kornelius, dich zu bestrafen.‹
Bestrafen. Durchstehen ist meine Devise gewesen! Maximal zwei Jahre noch, dann hat das ein Ende, sofern ein Mann mich heiratet, der Klavierspielen nicht relevant findet. Überlegt Herr Kornelius, mich zu heiraten? Ich weiß, dass er sich regelmäßig von seinen Frauen trennt und sich eine Neue sucht. Nie hält er es länger als zwei Jahre mit ein und derselben aus. Ich versuche, die wieder aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Mutter darf mich so nicht sehen. Ich stapfe weiter.
Würde mein Vater dem zustimmen?
»Du bist ja ganz blass, Kind. Es ist aber auch heiß,« schnauft Beth. Ihre Bewegungen sind mühsam. Kein Wunder bei unserer Kleidung. Ich ziehe am Kragen, der schneidend auf meine Kehle drückt. Er ist jetzt enger, genau wie die ganze Bluse. Kein Wind regt sich zwischen den Häusern und der Rock scheint die Hitze einzufangen.
Noch ein gutes Stück liegt vor uns. Wir laufen von Ost nach West. Dabei muss das Zentrum umlaufen werden. Unsere Stadt ist wie eine Spirale aufgebaut und Herr Kornelius wohnt im inneren Ring. Dort sitzt die Regierung. Im Wohnviertel sieht jedes Haus gleich aus. Sie sind hoch und schmal. Wir kommen am Heiligtum vorbei. Drum herum wohnen die Priester und Nonnen. Der Tempel ist der einzige Prunkbau neben dem Regierungsviertel. Mein Viertel liegt im Westen des mittleren Ringes. Neben Kaufmännern sind dort medizinische Fachkräfte und die Schutz- und Feuerwehr vertreten.
»Wo wart ihr?« Mutter taucht hinter Lea im Türrahmen auf. Ihre hysterische Stimme klingelt in meinen Ohren. Sie scheint getrunken zu haben. Ihre Wangen leuchten in einem verdächtigen Rot. Das tut sie öfter – etwas trinken – Wein oder sogar Schnaps. Ich sage nichts. Kritik kann sie nicht ertragen, lieber kritisiert sie mich. Ich mache einen Knicks: »Entschuldige Mutter, wir … «
Eine Ohrfeige unterbricht mich. Nahtlos fängt sie an, zu zetern, wie schwer sie es mit mir habe. »Ich habe vor Sorge Herrn Kornelius angerufen. Und er hat mir erzählt, wie schlecht und aufmüpfig du gewesen bist!« Obwohl sie lallt, ist ihre Entrüstung über mein angeblich furchtbares Verhalten ausgezeichnet zu hören.
In meiner Brust ballt sich ein Klumpen zusammen, so massiv wie ein Stein. Meine Hände formen sich zu Fäusten und ich atme schwer. Mir liegen die passenden Worte auf der Zunge, doch ich halte den Mund. Sie glaubt mir ja doch nicht.
Ich habe ihr vor einiger Zeit erzählt, dass Herr Kornelius mich anfassen würde. Ihre Antwort war eine Reihe heftiger Schläge, dass ich Angst vor ihr bekam. Damals war mein Vater in mein Zimmer gekommen. Er sah mich an und meinte, dass ich keine Lügen erzählen dürfe. Herr Kornelius sei ein angesehener Mann bei der Regierung, verheiratet und nicht an Mädchen wie mir interessiert. Wenn er hören würde, dass ich mich wie eine Dirne benähme, gäbe es gewaltigen Ärger. »Benimmst du dich wie eine Dirne? Hat er einen Grund, sich zu beschweren?«, hat er mich mit unheilverkündender Stimme gefragt. Mir liefen stumm die Tränen hinunter und ich konnte nur den Kopf schütteln. »Gut«, hatte mein Vater gesagt und das Zimmer verlassen. Nie wieder habe ich darüber gesprochen.
Hat Vater Recht und ich bin schuld daran, dass Herr Kornelius mich so behandelt? Bin ich eine Dirne?
Auf dem Zimmer schlinge ich die Arme um ein Kissen. Ungeachtet meiner Frisur lasse ich mich aufs Bett fallen. Rahel würde das nie passieren. Sie ist unter den Lehrern und Eltern als vorbildlich, zurückhaltend und damenhaft bekannt. Ich reibe mir die Wange und konzentriere mich auf meine graue Höhle. Ein Bett und ein Schrank passen in dieses Zimmer. Mein Zimmer. Mein Reich. Ich kuschle mich in meine Babydecke und ihr beruhigender Duft strömt in meine Nase. Beth hat sie mir zu meiner Geburt genäht und mit gelbem Garn Sonnen darauf gestickt. Eigentlich ein Frevel auf der Insel. Dennoch hat Mutter sie mir gelassen. Ich will nicht über sie nachdenken und verbanne die Frage, wieso.
Auf meiner Daten-Tafel öffne ich willkürlich ein Buch.
Nach wenigen Sätzen dringt Lärm von unten zu mir herauf. Ich spitze die Ohren.
»Kaufmann Paradi! Herzlich willkommen zurück. Das Haus ist ohne Sie nicht dasselbe!« Leas Stimme ist glitschig wie die Seife, die sie zum Putzen benutzt.
Beth setzt hinterher: »Ach, Kaufmann Paradi, Sie sehen müde aus! Kommen Sie, die Köchin wird Ihnen gleich ihre geliebte Tasse Tee zubereiten.« Sie überwerfen sich damit, Vater zu begrüßen. Er war die letzten Tage geschäftlich auf dem Festland.
»Schon gut, die Damen«, wimmelt mein Vater sie ab und seine schweren Schritte hallen durch das Gebäude.
Ich hoffe, Mutter erzählt ihm nicht direkt von dem Telefonat mit Herrn Kornelius. Meist ist er nach einer Geschäftsreise bei bester Laune, weil seine Einnahmen gestiegen sind.
Ein Knall, als wenn jemand einen schweren Gegenstand abgestellt hätte, schreckt mich auf. Bestimmt sein Koffer. Vielleicht hat er mir sogar etwas mitgebracht? Ein klein wenig Hoffnung steigt in mir auf, auch wenn die Chancen gering sind, ein Geschenk zu bekommen. Die Regierung hat vor einem Jahr die Einfuhrregeln verschärft.
›Die Festländer sind nicht unsere Freunde, sondern Feinde, die das System unterwandern und vernichten wollen. Sie verbreiten Lügen und versuchen, die Inselbewohner auf ihre Seite zu ziehen‹. Ich kann die Grundsätze der Insel auswendig.
Ich streiche den Rock vor dem Spiegel am Kleiderschrank glatt und bändige meine Haare. Aaron, mein Bruder, hat mir erklärt, dass jeder Kaufmann, der eine Ausreisegenehmigung hat, bei der Einreise erklären muss, warum er welche Güter auf die Insel bringt. Sie müssen einen Nutzen haben. Geschenke für die Tochter zählen nicht dazu.
Ich lausche angestrengt an der Tür, möchte Vater ohne Mutter begrüßen. Ihre Stimme dringt nicht durch die Wohnung, dafür aber eine andere. Eine männliche. Aaron. Er muss ebenfalls nach Hause gekommen sein. Soll ich runtergehen, um sie zu begrüßen?
Eine Tür schlägt zu und ich weiß, dass die Männer im Herrenzimmer verschwunden sind.
»Lea! Richte das Esszimmer her!«, kreischt Mutter.
Die Chance ist vertan. Ich gehe zurück zu meinem Bett und warte darauf, dass ich zum Abendessen gerufen werde.
Ich starre auf meinen Teller, auf dem sich verloren ein wenig gedämpftes Gemüse trollt. Es weiß nichts mit dem vielen Platz anzufangen. Ich pikse mit der Gabel eine Erbse auf und stecke sie mir in den Mund. Wie in Zeitlupe kaue ich. Meine Zunge schiebt den Happen hin und her. Mutter meint, wenn man langsam isst, tritt das Sättigungsgefühl ein, bevor man zu viel gegessen hat.
Ich schiele auf die Teller von Aaron und Vater. Sie sind randvoll gefüllt mit Teigtaschen und gebackenem Gemüse. Saftige Käferbuletten vollenden das Gericht. Mein Magen zieht sich bei dem Anblick zusammen. Das ist ungerecht! Vater isst nicht einmal etwas von seinem Teller.
Stattdessen schimpft er in einem fort: »Ich kann euch nicht sagen, welchen Schund sie dort herstellen!« Mutter nickt eifrig, hängt wie gebannt an seinen Lippen, als ob wir das nicht jedes Mal hören würden. Mitgebracht hat er mir leider nichts. »Wie unzivilisierte Barbaren vegetieren die Festländer ohne Regeln und Verstand vor sich hin!«
Zustimmend verzieht meine Mutter ihr Gesicht zu einer abschätzigen Miene. Ihre Augenbrauen gehen zusammen, die Mundwinkel wandern nach oben und ihre Nase ist gerümpft. Es wirkt einstudiert. Vater steigert sich weiter hinein. Seine Stimme dröhnt von den kahlen Wänden und ich muss mich zusammenreißen, mir nicht die Ohren zuzuhalten.
Aaron scheint das Ganze nicht zu interessieren. Er isst, ohne ein Wort zu sagen oder sich von dem leckeren Essen ablenken zu lassen. Würde ich an seiner Stelle auch nicht. Mein Teller bietet zu wenig, worauf man die Aufmerksamkeit lenken kann. Meine Gabel findet ein Stück Karotte. Ich spüre Mutters Blick auf mir und stecke sie mir hastig in den Mund. Nicht, dass sie der Meinung ist, ich hätte genug gegessen, weil ich so langsam bin.
»Sie reißen mir die Waren regelrecht aus der Hand. Kennen ja auch kaum gute Materialien«, lenkt Vaters Stimme Mutters Aufmerksamkeit wieder weg von mir. Ich atme aus.
»Sie sind wie Kannibalen. Tragen immer noch die Häute und Pelze von Tieren. Sie haben sich nicht im Geringsten fortentwickelt!« Seine Worte triefen vor Abscheu. Mich erfüllt die Erzählung mit Ekel. Die Haut einer Kuh zu tragen. Welches Monster tut so etwas?
Vater handelt mit Kleidung, die aus der Variabilispflanze hergestellt wurde. Er ist einer der wenigen Kaufmänner, die Geschäftsverträge mit dem Textilfabrik-Inhaber pflegen. Als Einziger darf er die Ware auf dem Festland verkaufen.
Aus den Augenwinkeln behalte ich Mutter im Blick. Ihre Wangen sind gerötet. Ich bin mir nicht sicher, ob es vom Alkohol oder Stress ist. Ihrer Meinung nach sind die Geschäfte mit dem Festland eine Belastung. Sie hätte lieber nichts mit den Wildlingen zu tun.
Als das Abendessen zu Ende ist, klingelt es. Lea öffnet die Tür. Aaron entschuldigt sich und eilt in den Flur – Besuch für ihn.