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Die neue Dystopie von Franziska Szmania (Autorin von EVA Herrschaft 3.Platz Tolino media Newcomer Preis 2021)***//*** Wenn Plastik dein Überleben bedeutet… In ferner Zukunft wandert die Herde – eine Ansammlung von Tausenden von Menschen – über den Planeten. Immer auf der Flucht vor dem Wetter. Ihr wertvollster Rohstoff: Plastik. Die siebzehnjährige Wanderin Marjola ist Teil dieser Herde. Regen, Hitze, Stürme und Erdbeben bestimmen ihr Leben. Doch das Wetter ist nicht das Einzige, das die Menschen fürchten müssen. Innerhalb der strengen Hierarchie der Herde brechen immer wieder Machtkämpfe aus, und auch von außerhalb lauern Gefahren. Die oberste Regel: Vertraue keinem Fremden. Als Marjola dem Städter Omeo begegnet, bricht sie genau diese Regel. Obwohl sie gewillt ist, ihn auf Abstand zu halten, schleicht er sich in ihr Herz. Doch ist er wirklich der nette junge Mann, der er vorgibt zu sein, oder verfolgt er in Wahrheit seine eigenen Interessen? ***//*** "Eine gelungene Mischung aus Abenteuer, Romantik und dystopischer Vision, die zum Nachdenken anregt und lange in Erinnerung bleibt. Ein absolutes Muss!" (Leserfeedback)***//*** Jetzt Vorbestellen!
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Veröffentlichungsjahr: 2023
© 2023 Franziska Szmania
Berlin
Lektorat und Korrektorat: Melina Coniglio – Autorin & Lektorin www.melinaconiglio.de
Umschlaggestaltung: Nina Austermeier www.isabelaust.com
Illustrationen: Arni Arnold @skribbelfabrik
Taube: Faris Mohammed
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Epilog
Verzeichnis
Nachwort
Danksagung
Liebe Leser und Leserinnen
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Über die Autorin
Bücher von Franziska Szmania
EVA Herrschaft
MARTHA
FLORA
Splittersterne
Die Farbe der Vernunft
Das Geflüster der Nachtfalter
Die 17-jährige Marjola kämpft als Teil der Herde ums Überleben in einer vom Wetter verwüsteten Welt, stets auf der Suche nach kostbarem Plastik.
Doch als der Städter Omeo ihren Weg kreuzt, wagt sie es, die gefährlichste Regel der Herde zu brechen: Sie beginnt einem Fremden zu vertrauen.
Ein dystopischer Roman.
* * *
Enthält Szenen mit Angst, Gewalt und Tod. Achte auf dich!
„Du siehst die Welt nicht so, wie sie ist.
Du siehst die Welt so, wie du bist.“
– Mooji –
Der Regen prasselt unablässig auf die steinernen Ruinen der Hochhäuser und sammelt sich zu Pfützen in den Rissen und Löchern der Straßen. Das wenige Moos und Gras wird ertränkt, ehe es groß genug werden kann, dem ständigen Niederschlag standzuhalten. Ich ducke mich unter einen hervorstehenden Balken eines hohen Gebäudes, dessen Dach in den dunklen Wolken verschwindet.
Wir haben endlich Northtown erreicht. Nach dem monatelangen Marsch durch Wüste und Sumpf freue ich mich auf die Auszeit im Norden, ehe es zurück in den Süden geht. Seit Jahrzehnten wandert die Herde – eine Ansammlung von Tausenden von Menschen – über den Planeten. Immer auf der Flucht vor dem Wetter.
Während meiner Suche nach einem sicheren Ort für meinen Clan, den GoLab, und unsere Tauben, bin ich tief in das Innere der Stadt vorgedrungen. Diesen Teil kenne ich selbst nach siebzehn Wanderjahren nicht besonders gut.
Die Hochhäuser ragen unzählige Armlängen über mir in den grauen Himmel. Sie wirken stabil und ihr Zerstörungsgrad noch nicht so weit fortgeschritten wie am Rand der Stadt.
Doch ich muss mir sicher sein, dass dieser Ort für unser Sommerlager infrage kommt, ehe ich den Rest meines Clans holen kann.
Meine kurzen braunen Haare hängen mir ins Gesicht. Ich wische mir den Schleier von den Augen und stopfe die nassen Zotteln zurück unter die Kapuze.
Das neue Regencape ist zum Glück absolut wasserdicht. Ich habe ewig an diesem Kleidungsstück gearbeitet. Allein das Sammeln der dicken Tüten und Planen hat Wochen gedauert; das Nähen und Versiegeln der Nähte war eine reine Tortur. In der Wüste an einem Regenmantel zu arbeiten, hatte etwas Irrsinniges. Heute bin ich dankbar für das Durchhaltevermögen meines vergangenen Ichs.
Das Gebäude, an dem ich dicht gedrängt Schutz suche, ist halb zerfallen, bietet aber einige geschlossene Räume, in die wir uns zurückziehen könnten. Auf der anderen Straßenseite steht eine halb offene, niedrige Ruine mit einem fast unversehrten Dach. Die Wände sehen stabil genug aus, um den Wagen mit den Tauben vor der Witterung zu schützen.
Der Ort wäre perfekt für unser Sommerlager, wenn nicht eine zerbrochene Betonplatte den Eingang zur Halle versperren würde.
Leider ist unser Unterschlupf vom letzten Jahr nur noch ein Geröllhaufen. Wind, Eis und Kälte haben dem Gebäude zugesetzt.
Die Städte ändern ihr Angesicht und zerfallen immer mehr. Nichts bleibt, nichts ist beständig. Die Nord- und die Südstadt sind die letzten Zeugnisse unserer Vorfahren.
Früher soll es Tausende Städte gegeben haben, in denen Tag und Nacht elektrisches Licht gebrannt hat; und flirrende Bilder sollen jedes noch so kleine Gebäude geschmückt haben. Metallene Fluggeräte sind bis zum Mond – und weiter – geflogen. Maschinen, die selbstständig denken konnten, haben die schweren Arbeiten für die Menschen übernommen. Es gab unendlich viel Energie, und unsere Vorfahren haben das Wetter kontrolliert.
Die Anhänger der Alten Welt erzählen jedem davon, ob dieser es hören will oder nicht. Vieles halte ich für ein Hirngespinst, eine Fantasie der abergläubischen Jünger.
Meine zwei Jahre jüngere Schwester Zofia ist eine glühende Anhängerin dieser Bewegung. ›Die Alte Welt erbebe!‹, das ist ihr Motto. Diese nichtsnutzigen Eiferer wollen mithilfe der angeblich noch existierenden Technologien das frühere Paradies wieder zum Leben erwecken.
In meinen Augen ist das, was Zofia und die anderen Anhänger finden, nichts weiter als Schrott und Müll. Stattdessen sollten sie lieber Plastik sammeln.
Ich verbanne die Gedanken an meine Schwester und ziehe die Kapuze über die Stirn. Mein Clan wartet am Rand der Stadt und ist ebenso hungrig und müde wie ich.
Ich stemme mich gegen den aufkommenden kalten Wind und den Regen, der mir ins Gesicht peitscht. Meine Schuhe, gefertigt aus dünnen Plastiksohlen und einer dicken Tüte, versinken im Matsch der aufgebrochenen Straße. Tief gebeugt kämpfe ich mich bis zu der Halle durch.
Winzige Mücken mit ledrigen, wasserabweisenden Flügeln setzen sich auf meine Arme. Noch ein Grund, mich über das Cape zu freuen; es schützt mich vor den schmerzhaften Stichen der Insekten.
Tief atme ich ein und drücke gegen den Stein. Meine Beine zittern, und meine Füße verschwinden im matschigen Boden. Die Platte vor der Halle rührt sich kein Stück. Wäre auch zu schön gewesen.
Auf keinen Fall will ich meine Cousins um Hilfe bitten. Sie würden mich den ganzen Sommer damit aufziehen.
Meine Geschwister kann ich ebenfalls nicht fragen. Tomasz, der zwei Jahre älter ist als ich, jagt vermutlich Frösche, während Zofia bestimmt jeden Stein umdreht auf der Suche nach Überbleibseln unserer Vorfahren. Wieso diese unsinnige Schatzsuche von meiner Tante toleriert wird, kann ich nicht nachvollziehen. Meine Schwester sollte lieber mir helfen. Der Ärger über ihre Unzuverlässigkeit rumort in meinen Magen.
Zweiter Versuch. Ich lege den Boho auf einem Mauervorsprung ab, weil mich die lange Stange aus Holz am Rücken behindert. Ohne die Waffe fühle ich mich nackt, und ich kontrolliere die Umgebung. Ich scheine allein zu sein.
Dennoch ist mir nicht wohl. Aber je schneller der Eingang frei ist, desto eher kann ich den Clan holen.
Ich kreise die Schultern und drücke mit aller Kraft beide Hände gegen den Beton. Meine Schuhe finden keinen Halt im Schlamm, und ich falle auf die Knie – sinke ein.
»Uff«, keuche ich.
Eine unangenehme Hitze breitet sich unter meiner Kleidung aus. Die Anstrengung lässt mich schwitzen. Mir ist heiß, gleichzeitig schlägt mir der kalte Regen ins Gesicht. Mit meinem gesamten Gewicht stemme ich mich gegen den Brocken, kneife die Augen zusammen und atme konzentriert durch den Mund ein und aus.
Nur ein Stückchen, bete ich zu allen Gottheiten, die mir beistehen wollen. Mir ist jede recht.
Ein Ruck geht durch den Stein, und die Platte bewegt sich. Überrascht öffne ich die Augen.
Ein junger Mann presst sich neben mir gegen den Beton. Feine Adern treten vor Anstrengung auf seiner Stirn hervor. Die dicken Tropfen sickern in seine graue Kluft, und die Haare kleben nass und platt an seinem Kopf.
Der Felsen bewegt sich erneut ein Stück. Überrumpelt von der unvorhergesehenen Hilfe drücke ich ebenfalls gegen die Platte. Endlich rutscht der Stein zur Seite und gibt den Eingang frei.
Der Junge stemmt sich hoch und drückt seinen Rücken durch. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um in sein Gesicht zu schauen.
Mit seinem dunkelbraunen Teint und der breiten Nase sieht er Yaris ähnlich.
Yaris gehört dem Nugget-Clan an und ist der beste Freund von Zofia. Doch mein ungebetener Helfer trägt nicht die aufwendige Kleidung der Steingott-Anbeter. Zitternd steht er in einem völlig durchnässten Stoffkleid vor mir und schlingt die nackten Arme um seine schmale Brust. Auch seine Beine stecken unverhüllt im Schlamm.
Ich mustere ihn misstrauisch. Er ist bestimmt drei Wanderjahre älter als ich. Von welchem Clan stammt er? Hilft er mir, weil er in der Schuld von uns GoLab steht? Oder ist er eine Ablenkung und jemand will mich bestehlen? Meine Kleidung? Er muss frieren – so halb nackt, wie er herumläuft.
Mit der rechten Hand taste ich langsam über die Schulter, doch fasse ins Leere. So eine Plastikschmelze! Ich hatte den Boho abgelegt.
Der Fremde regt sich nicht. Worauf wartet er? Ist er ein Städter?
Die Städter kommen nur aus ihren Bunkern, um unsere Vorräte und Güter zu stehlen. Und unartige Kinder, wie Vater früher scherzhaft sagte.
In den unterirdischen Anlagen der Städte suchten die Menschen nach der großen Klimakatastrophe Schutz vor dem Wetter.
Doch nicht alle fanden dort Platz. Seitdem gibt es die Städter und die Herde. Wir sind gezwungen zu wandern, um der Hitze, der Kälte, den Stürmen und den Erdbeben zu entkommen, während sie in Sicherheit an Ort und Stelle bleiben können.
Der Junge schaut mich so intensiv an, dass mir mulmig wird. Vielleicht ist an Vaters Warnung doch etwas dran?
Ich muss weg. Weg von ihm. Ich bin zu erschöpft, um es mit Städtern aufzunehmen. Scheiß auf die Ruine. Es gibt andere. Langsam wanke ich rückwärts.
»Ich bin Omeo.« Der Junge lächelt und reicht mir seine Hand. Sie ist groß, mit langen, zarten Fingern.
Was soll das? Will er mich packen?
»Weiß zwar nicht, was der Stein dir getan hat, aber na ja … bitte, gern geschehen.« Jetzt grinst er so breit, dass ich seine Zähne sehen kann.
›Getan‹? Wovon redet er? Ist er wirr im Kopf? Nein, ich selbst denke wirr.
Ich taumele zurück. Aus den Augenwinkeln beobachte ich die Ruinen und den Platz, doch ich kann keine Verstärkung entdecken. Ist er wirklich allein?
Der Eingang zur Halle steht offen vor mir. Was soll ich tun? Der Ärger über den Kerl schnürt mir die Kehle zu.
»Wer bist du und was willst du?« Meine Stimme ist ein Fauchen im plätschernden Regen.
»Du brauchtest Hilfe, oder?«
»Nicht von dir!«, antworte ich und ziehe mich weiter zurück. Der Boho liegt nur noch einen Schritt entfernt.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht verärgern.« Der Junge geht langsam rückwärts und hält die Hände abwehrend nach oben. Er hat eine Gänsehaut. Wie kann er so dünn angezogen in den Regen gehen?
Ich schüttele den Kopf. Nur Städter sind so dumm.
Der Junge schaut mich noch einmal kurz an, winkt wie zum Abschied und verschwindet zwischen den Ruinen.
Was war das denn?
Blinzelnd stehe ich da und überlege. Keine Ahnung, warum er mir geholfen hat. Vielleicht wollte er auskundschaften, wo wir unser Lager aufbauen. Vielleicht war er geistig verwirrt.
Ich bin völlig erschöpft. Egal, wo wir unterkommen – wenn die Städter wollen, finden sie uns.
Ich gehe vorsichtig in die Halle hinein. Nur wenige Löcher im Dach lassen den Regen durch. Die Wände sehen stabil und sicher aus. An diesem Ort wären die Tauben gut geschützt.
Nein, ich lasse mich von einem dahergelaufenen Jungen nicht vertreiben. Wir verstecken uns nicht wie die Städter. Wenn er es wagen sollte, uns anzugreifen, werde ich ihm zeigen, wozu wir Wanderer fähig sind.
Müde wende ich mich ab und schlage den Weg zurück zu meinem Clan ein. Ich wate wachsam durch den Regen. Die gesamte Herde sucht Schutz in der Stadt. Tausende Wanderer errichten ihre Lager zwischen den Ruinen von Northtown, um den Sommer hier zu verbringen. Auf der Wanderung sind wir aufeinander angewiesen – in der Stadt werden wir zu Rivalen.
Im lauten Plätschern des Regens sind Geräusche nur schwer zu hören. Immer wieder suche ich die gewaltigen Häuserruinen ab, doch niemand scheint in diesem Teil der Stadt unterwegs zu sein. Die meisten Mitglieder der Herde bleiben am Rand von Northtown. Tante Danuta will aber, dass wir uns wegen der Tauben im inneren Teil der Stadt niederlassen. Das ist sicherer.
Begehe ich einen Fehler, den jungen Mann nicht ernst zu nehmen, und bringe uns damit in Gefahr? Mein Bauchgefühl stimmt dem zu, mein Verstand will dagegenhalten. Diebe sind überall. Es wäre verrückt, diesen guten Platz deswegen aufzugeben. Dennoch lässt mich das ungute Gefühl nicht los.
Irgendetwas liegt in der Luft. Dieses Wanderjahr wird anders werden. Das spüre ich bis tief in die Knochen.
Die Straße unter mir besteht aus brüchigem Beton mit vielen Rissen und Löchern. Immer wieder stolpere ich, da ich im Regen und in der aufkommenden Dunkelheit kaum etwas sehe. Die Nacht vertreibt das wenige Tageslicht und der Mond versteckt sich hinter den Wolken.
Danke Luna für deine Hilfe. Nicht.
Die Mondgöttin kann, wie der Sonnengott Solar, den Norden nicht gut leiden. Sie werde ich hier kaum zu Gesicht bekommen.
Die Häuser am Straßenrand wirken bedrohlich. Das wenige Restlicht wird von den Löchern in den Wänden verschluckt. Überall könnten sich Städter oder Wanderer aus dem hinteren Rang verstecken und mir auflauern.
Ruhig bleiben, Marjola.
Ich bin gewiss keine lohnende Beute. Eher suchen sie nach dem Taubenwagen. Doch an meinen Cousins kommt niemand vorbei.
Der Geruch des Regens vermischt sich mit dem rauen Duft des Betons. Nach der monatelangen Wanderung genieße ich das frische Gefühl. Doch das wird nicht lange währen.
Mein Fuß bleibt stecken, und ich falle. Hart lande ich auf dem Boden.
»Plastikmüll«, schimpfe ich und stehe wieder auf.
Ich habe mir die Handflächen aufgeschürft und die Hose an den Knien aufgerissen. So etwas Dummes. Ich habe die letzte Tüte für mein Unterhemd aufgebraucht.
»Augen auf im Straßenverkehr«, murmele ich einen Kinderspruch, der in diesem Moment etwas Wahres hat.
Ein Seil liegt halb versteckt hinter einem Mauerteil, und ich bin über das lose Ende gestolpert. Fasziniert hebe ich es hoch. Es ist kein Seil aus Plastikleinen oder geknoteten Tüten, sondern aus Fasern, wie ich es noch nie gesehen habe.
Ich kenne keinen Clan, der solch ein Seil hat. Gehört es dem Städter? Wollte er etwas fangen? Einen Fuchs? Die sind schnell und schlau. Selbst meinem Bruder gelingt es selten, einen zu erhaschen. Eher reißen sie dich oder die Tauben.
Ich rolle das Seil auf. Vater wird staunen, wenn ich ihm den Fund zeige, und vielleicht ein gutes Wort für mich übrighaben.
Ich schüttele den Kopf. Undwovon träumst du nachts, Marjola?
Mein Clan hat sich in eine Gasse zwischen zwei Hochhäusern zurückgezogen. Schutz vor dem Wind und Regen findet er hier nicht, aber er ist sicher vor Dieben.
Als sie mich entdecken, aufgrund der Kapuze jedoch noch nicht erkennen können, heben meine Cousins Jarek und Marek sofort ihre Keulen. Ich zeige meine Hände und gehe langsam näher. Die Laternen am Taubenwagen beleuchten ihre grimmigen Gesichter.
Unbeeindruckt vom Regen bewachen sie die Gasse und scheinen sich nicht daran zu stören, dass sie völlig durchnässt sind. Ich verachte ihre Grobschlächtigkeit, aber die Tauben sind bei ihnen sicher.
Meine Cousins sind Zwillinge und sehen bis aufs Haar genau gleich aus. Obwohl sie zwei Wanderjahre jünger sind als ich, überragen sie mich und sind breit wie zwei Mann.
Langsam schiebe ich die Kapuze ein Stück zurück. Das dumpfe Trommelkonzert der Regentropfen auf dem Wagen übertönt mein »Hallo«. Erst als ich dicht vor ihnen stehe, senken sie ihre Keulen.
»Na endlich«, murrt Jarek.
Ich runzele die Stirn, schlucke aber eine passende Antwort hinunter. Jedes falsche Wort könnte einen Streit provozieren – und dafür habe ich keine Kraft mehr.
»Hab’ einen Ort gefunden«, ist alles, was ich mit zusammengebissenen Zähnen hervorpresse.
Die Jungs antworten nicht und hängen sich sofort das Zuggeschirr um, mit dem sie den Wagen ziehen.
Sie sind selten nett zu mir. Wir können uns nicht leiden; das ist kein Geheimnis.
Ich gehe auf Vater zu, der missmutig unter einem Vorsprung hockt. Sein Zopf hat sich im Regen halb aufgelöst, und das Wasser läuft ihm ungehindert über die Beine. Doch er ignoriert dies, ebenso wie die Möglichkeit, sich weiter zurückzuziehen. Ich greife nach der Laterne, die neben ihm auf dem Boden steht und flackernd dem Regen trotzt.
Finster blickt Vater auf und streicht sich seine langen, nassen Haare aus dem Gesicht. Tiefe Falten haben sich um seine Mundwinkel gegraben und lassen ihn um Jahre älter wirken. »Wurde auch Zeit. Was hast du getrieben? Ein Nickerchen gemacht?«
Seufzend ignoriere ich seine Frage und hänge die Laterne an die Griffe seines Rollstuhls. Das rostige Metall kratzt an meiner Haut. Ich sammele alles an Energie zusammen, was ich noch habe. Die werde ich brauchen, um auf dem letzten Stück Weg Vater zu schieben. Morast und brüchige Steine sind kein guter Untergrund für Räder.
Die Tortur der Wanderung sitzt mir in den Knochen. Ich kann kaum meine Arme heben. Doch Jammern hilft mir nicht weiter und würde mir nur eine Tirade an Schimpfwörtern einbringen. Wie undankbar ich sei. Wie faul. Wie nutzlos.
Vater hasst sein Leben. Und er hasst seine Tochter. Mich. Weil ich schuld daran bin, dass er im Rollstuhl sitzt.
Vornübergebeugt hockt er vor mir in seinem Gefängnis auf Rädern, wie er es nennt, und wartet darauf, dass ihn jemand fortbewegt. Manchmal vergisst er, dass er zwei gesunde Arme hat. Oder er leidet gern. Um mir ein schlechtes Gewissen zu machen?
Ich schlucke und bemühe mich, dieses wirre Knäuel aus Gewissensbissen, Mitleid, Gram und Wut zu unterdrücken. Der Druck in meinem Magen schmerzt ebenso wie der mir entgegengebrachte Hass.
»Da bist du ja endlich, Mädchen!«
Ich straffe die Schultern und drehe mich zur Seite.
Tante Danuta kommt mit großen Schritten aus dem hinteren Teil der Gasse auf mich zu. »Hast du was gefunden?« Ihr Blick ist durchdringend und herausfordernd.
Sofort sinke ich zusammen und würde mich am liebsten hinter Vater verstecken. »Ja. Ein sicheres Haus und ’ne Halle für den Taubenwagen.«
Auf keinen Fall werde ich ihr von dem Städter erzählen.
»Hoffentlich. Ich will die Nacht im Trockenen verbringen.« Ihre laute Stimme übertönt selbst den Regen.
Tante Danuta ist wie ihre Söhne groß und muskulös. Eine Frau, der man nicht widersprechen sollte. Sie sagt, wo es langgeht und wer was zu machen hat.
Ich zittere. Nicht nur, weil mir kalt ist. Ob ihr der Platz gefallen wird? Was, wenn sie etwas daran auszusetzen hat? Dann müssen wir weitersuchen. Und ich wäre schuld.
»Du gehst voran!«, befiehlt sie mir barsch und geht zu dem Taubenwagen. Sie erwartet keine Erklärung von mir, sondern Ergebnisse. »Spannt an, Jungs«, ruft sie ihren Söhnen zu und greift sich ihre Keule.
Onkel Piotr steht neben unserem zweiten Gefährt, eine Karre mit unseren Habseligkeiten und Vorräten, und zieht eine komische Grimasse. Trotz meiner Angst muss ich lachen. Er ist das genaue Gegenteil von seiner Frau. Schlank, athletisch und immer gut gelaunt. Egal, wie nass oder trocken es ist.
Pfeifend spannt er sich vor die Karre. Wie macht er das? Gute Laune zu haben, obwohl wir bereits den ganzen Tag unterwegs sind, es ununterbrochen regnet und er mindestens so müde und erschöpft sein muss wie wir alle.
»Ich habe mir fast schon Sorgen gemacht, Marjola.«
Überrascht zucke ich zusammen und drehe mich um. Mein Bruder Tomasz grinst mich frech an. Seine hellbraunen Haare sind vom Regen dunkel und hängen ihm ins Gesicht, was ihm einen verwegenen Ausdruck gibt.
»Merke ich«, antworte ich mürrisch.
Ich weiß, dass er es scherzhaft meint. Doch mir ist nicht nach Spaß. Ich hätte eine Aufmunterung gebraucht. Und steckt nicht in jedem Scherz ein Funken Wahrheit? Sollen sie das nächste Mal lieber Zofia schicken.
Doch wie, wenn sie nie da ist? Denn wichtiger als ihr Clan ist meiner Schwester die Suche nach Schätzen aus der Alten Welt. Was sie nach all den Jahrzehnten noch finden will, ist mir schleierhaft.
Hoffentlich taucht sie noch rechtzeitig auf. Tante wartet auf niemanden.
»Kann es jetzt losgehen?«, geht Vater dazwischen, ehe ich Tomasz auf Zofia ansprechen kann.
»Ja«, antworte ich brav und greife nach den Rollstuhlgriffen.
Mein Bruder geht Onkel Piotr zu Hilfe. Ich schiebe Vater an dem Taubenwagen vorbei und setze mich an die Spitze, um den Clan zu unserem Sommerlager zu führen.
Monatelang sind wir, angeführt von der königlichen Familie, mit den anderen Clans in der Herde gewandert. Jeder Clan hat dabei eigene Rituale, betet andere Götter an und schwört auf seine Vorfahren. In der Stadt löst sich die Herde für wenige Wochen auf, und jeder Clan ist für sich. Die Größe eines Clans reicht dabei von einer Handvoll Wanderer bis zu Hunderten Mitgliedern. Wir GoLab bestehen, seit Mutter uns verlassen hat, aus nur acht Menschen. Das hat Vor-, aber auch Nachteile.
Wir brauchen jede Hand, um unsere Karre und unseren Wagen zu ziehen und zu beschützen. Während der Wanderung kann ich mich an dem Vorderclan orientieren und sehe anhand der Wagen, ob Hindernisse auf uns zukommen.
Sind wir allein unterwegs, kann mir niemand den Weg freiräumen. Ich muss daher viele Umwege machen.
Die Wege, die ich bei meiner Suche nach einem Lagerplatz zu Fuß benutzen konnte, sind mit dem Wagen und der Karre nicht befahrbar, weswegen ich auf andere Straßen ausweiche. Immer wieder flucht Vater, weil er wegen der Steine auf der brüchigen Straße beinahe herausfällt. Die Reifen sind so abgenutzt, dass selbst kleine Kiesel das Gefährt ins Schlingern bringen. Es ist anstrengend und kräftezehrend.
Der Regen scheint nicht aufhören zu wollen. Er fließt mir in die Augen und Nase. Ich traue mich aber nicht, die Griffe loszulassen, um mir die nassen Haare aus dem Gesicht zu streichen. Jede Unebenheit könnte den Rollstuhl umwerfen. Meine Finger sind aufgeweicht und schwammig. Das macht das Halten der Griffe noch schwerer. Ständig rutsche ich wegen der Nässe ab, und das Metall reißt mir die Haut auf. Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht zu weinen.
Es ist dunkel, und ich bekomme Angst, den Weg nicht mehr zu finden. Vater muss mich vor Hindernissen warnen, doch er flucht nur vor sich hin. Ich halte die Umgebung und die Straße vor uns im Auge und bitte den Windgott um Unterstützung.
Erneut verhaken sich die vorderen kleinen Räder in den breiten Rillen der brüchigen Straße, und Vater bäumt sich auf. Hastig greife ich nach seinen dürren Schultern und ziehe ihn zurück.
»Pass doch auf«, keucht er. »Willst du mich umbringen?«
Erneut spüre ich den Groll in meiner Brust aufsteigen. Er hätte mich warnen können. Aber Vater macht es sich in seinem Rollstuhl bequem und kommandiert lieber herum.
Ich beiße mir auf die Zunge. Er kann nichts dafür, dass er nicht mehr laufen kann.
»Entschuldige, Vater!«, murmele ich und schiebe ihn vorsichtig weiter.
An einer Kreuzung erwartet uns eine riesige Pfütze. Das Wasser scheint mindestens knietief zu sein, und der Regen wühlt die dunkle Oberfläche auf. Nichts lässt erahnen, ob sich in der Pfütze etwas versteckt. Doch ob wir wollen oder nicht, wir müssen an ihr vorbei.
Tante Danuta hebt ihre Keule abwehrbereit hoch und nähert sich vorsichtig. Laut ertönen ein Dutzend Frösche. Erleichtert atme ich aus. Wo Frösche quaken, lauert kein Krokodil. Mit einem Wink gibt mir meine Tante zu verstehen, dass ich weitergehen soll.
Schnell schiebe ich den Rollstuhl an der Pfütze vorbei. Auch wenn die Frösche ein lautes Konzert geben, könnte das Wasser tiefer sein, als es aussieht, und ein hungriges Reptil sich am Grund verstecken.
Das Ankommen der Herde in der Stadt scheucht sie auf, und nach dem langen Winter sind die Tiere hungrig. Jede halbwegs tiefe Pfütze wird benutzt, um Wanderern aufzulauern. Warum sich mit Fröschen zufriedengeben, wenn es schmackhaftere Beute gibt?
Die Mücken umschwirren mich, und Vater schlägt um sich.
»Kannst du nicht mal was gegen die Viecher tun?«, blafft er.
Kein Problem. Ich befehle den Wolken, sich aufzulösen, schiebe den Wagen, sorge dafür, dass wir nicht gegen Steine stoßen, und vertreibe die Mücken.
Ich schüttele den Kopf. Zum Glück kann Vater das nicht sehen. Er würde nur eine weitere Standpauke loslassen.
Wir werden uns an die Mücken gewöhnen müssen. Sie sind bestens dem nassen Wetter angepasst und warten nur darauf, sich an uns zu laben. Den langen Winter überdauern sie in einer Art Kokon, wofür sie Reserven brauchen.
»Mach mal schneller, Cousinchen! Wir wollen ankommen.« Jarek keucht und lacht gleichzeitig. Dass er noch immer die Kraft hat, mich zu verhöhnen, ist doppelt unangenehm.
Ich würde ihm gern eine saftige Antwort geben, doch mir fällt beim besten Willen nichts ein. Mein Kopf ist so schwammig wie meine Haut.
Ich betrachte die Ruinen um uns herum. Der Städter ist nicht zu sehen. Ich wünschte, ich könnte ihn als Einbildung abtun. Als Kind hatte ich ständig imaginäre Freunde. Aber ich bin erwachsen geworden und so sehr ich auch die Zeit zurückdrehen will, der Städter ist genauso echt wie die Tatsache, dass ich wahrscheinlich mal wieder Mist gebaut habe.
Hätte ich meiner Tante von dem Städter erzählen sollen? Hätte ich einen anderen Unterschlupf suchen müssen? Doch egal, ob dieser Städter oder andere Diebe – immer will irgendwer unsere Vögel und Vorräte stehlen. Es hätte keinen Unterschied gemacht.
Für die Herde sind die Tauben überlebenswichtig. Sie sind die einzige Möglichkeit, Nachrichten schnell zwischen den Clans zu verschicken. Für die Städter und die Wanderer aus dem hinteren Rang sind sie ein leckeres Essen. Die Letzten in der Herde empfinden Hunger schlimmer als die Aussicht, keine Nachricht zu bekommen. Irgendwie verständlich.
Doch wenn es egal ist, wieso habe ich dann trotzdem das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben?
Weil es nicht das erste Mal wäre, antworte ich mir selbst.
»Marjola«, ruft Marek übertrieben laut und zieht meinen Namen unnötig in die Länge. »Bist du eingeschlafen?«
Ich drehe mich um und puste ihnen zu. Eine unflätige Geste in unserem Clan, welche unter anderem bedeutet, dass ich meinen Cousins Gegenwind wünsche. Lieber würde ich ihnen das Grinsen aus ihren Gesichtern schlagen. Aber ich hätte keine Chance. Sie übertrumpfen mich in allem. Sei es mit Muskeln oder Worten.
Daher habe ich mir angewöhnt, sie zu ignorieren. Nur manchmal kann ich mich nicht zügeln.
Zofia hätte die passende Antwort parat gehabt. Mit ihren fünfzehn Wanderjahren lässt sie sich so gar nichts mehr gefallen. War ich lange Zeit ein Vorbild für sie, muss ich mir mittlerweile eingestehen, dass ich viel lieber wie sie sein würde. Tough. Entschlossen. Mutig.
Ich bin das Gegenteil. Empfindlich. Unentschlossen. Misstrauisch.
Endlich erreichen wir das Hochhaus, das ich zu unserem Sommerlager auserkoren habe. Noch scheinen wir die einzigen Menschen in diesem Stadtteil zu sein.
Das wird sich ändern. Die Stadt wird voller werden. Es dauert seine Zeit, bis die gesamte Herde Northtown erreicht. Viele Clans werden die ersten Nächte am Rand der Stadt verbringen, ehe sie tiefer in Stadt ziehen.
Ich bleibe mitten auf der Straße zwischen Hochhaus und Halle stehen. Es ist so weit. Mir wird heiß und kalt zugleich. Was wird Tante zu dem Ort sagen?
Tante Danuta kommt nach vorn, und ich halte den Atem an. Selbst Jarek und Marek lassen keinen Mucks hören. Alle warten angespannt. Was, wenn Tante diesen Ort ablehnt? Dann müssten …
»Sieht gut aus«, bewertet sie das Gebäude, und ich bin erleichtert.
Ich höre, wie selbst Vater ausatmet.
»Glück gehabt!«, ruft mir Marek zu.
Ich sage nichts. Meine Beine bestehen nur noch aus geschmolzenem Plastik, und meine Arme sind wie Strohhalme. Die Anspannung fällt von mir ab, und ich würde mich am liebsten auf den Boden legen und nie wieder aufstehen.
Meine Tante betritt das Hochhaus durch ein großes Loch in der Wand, in der früher eine Tür gewesen sein muss.
Ich drehe mich zu Jarek und Marek um. »Der Taubenwagen kann in diese Halle.« Ich zeige auf die gegenüberliegende Ruine. »Geht schon mal vor, ich komme gleich.«
»Ist gut, Marjola. Ich helfe den beiden.« Onkel Piotr schenkt mir ein Lächeln und hilft seinen Söhnen, den Wagen in die Halle zu ziehen.
Tomasz hat bereits die Karre abgestellt und kämpft sich aus seinem Zuggeschirr. Zofia hat sich immer noch nicht blicken lassen. Wo steckt sie nur? Hoffentlich findet sie uns so tief in der Stadt.
»Bringst du mich endlich mal rein oder wartest du auf eine Einladung?«, schimpft Vater.
Ich zucke zusammen, und die Wut auf Mutter flammt wieder in mir auf. Sich um Vater zu kümmern, wäre ihre Aufgabe, nicht die seiner siebzehnjährigen Tochter. Ich hatte gehofft, sie würde diesen Sommer zu uns zurückkehren. Mir falsche Hoffnungen zu machen, ist ein beliebter Zeitvertreib von mir.
Mutter hat uns verlassen, nachdem Vater meinetwegen am Rücken verletzt wurde und seitdem nicht mehr laufen kann. Sie hat seine Wut nicht mehr ausgehalten. Ein bitterer Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus. Ich bin so sauer auf sie, gleichzeitig gebe ich mir die Schuld dafür, dass sie uns im Stich gelassen hat. Der Schmerz in meiner Brust zerreißt mich beinahe. Sie ist bei dem Clan ihres Bruders untergekommen. Ein Verrat in meinen Augen. Doch was hilft es, zu meckern?
Ich lasse Vater kurz stehen und hieve große Steine zur Seite, die den Weg zu dem Haus versperren. Durch den offenen Eingang sehe ich meine Tante, wie sie die Stabilität des Gebäudes überprüft. Sie klopft Boden und Decke ab und kontrolliert die Treppe. Zwar fehlt das Geländer und einige Stufen sind zerbrochen, doch sie ist sicher genug. Das habe ich als Erstes getestet, als ich das Hochhaus fand. Tante Danuta will sicher in der oberen Etage ihre Schlafstätte errichten, um einen guten Blick auf die Karre zu haben. Sie besteht, wie alles von uns, aus Kunststoffmaterialen und beinhaltet das Leben meines gesamten Clans: Habseligkeiten, Vorräte und lebensnotwendige Utensilien für acht Menschen.
Der Weg ist frei, und ich schiebe Vater in das Innere des Gebäudes. Meine Geschwister und ich bleiben wegen ihm im Erdgeschoss. Wehmütig beobachte ich, wie Tante vorsichtig die Treppe nach oben geht.
Hier unten befindet sich nur ein einziger großer Raum. Nur wenige Wände, zum Teil halb eingefallen oder mit Löchern versehen, bieten Rückzugsmöglichkeiten. Durch eine Spalte in der Decke kann man direkt in das obere Stockwerk sehen. Onkel Piotr baut bereits ein behelfsmäßiges Schlaflager für sich und seine Frau auf.
Ich richte Vaters Schlafstätte neben dem Eingang ein. Zwei halbwegs intakte Wände bieten ihm den Komfort des Alleinseins. Ich baue aus einer Plastikplanke und Kisten ein niedriges Bett und stelle eine Schüssel mit kaltem Regenwasser bereit.
Nachdem ich ihm beim Waschen geholfen habe, mache ich mich auf den Weg zu den Tauben. Ich habe die erste Nachtschicht, und die Vögel brauchen Futter und frisches Wasser. Außerdem will ich Dove zu mir holen. Mein kleiner Schützling vermisst mich sicher schon.
Dove hat sich bei einem Sturz im Wagen beide Flügel gebrochen und kann deswegen nicht mehr fliegen. Er wäre gegessen worden, wenn ich ihn nicht gerettet und gesund gepflegt hätte. Seitdem ist er mir ein treuer Gefährte und trippelt mir am liebsten auf Schritt und Tritt hinterher.
Der Regen hat endlich aufgehört, und die Wolken haben sich etwas verzogen.
In der Halle kommt Onkel Piotr auf mich zu. »Die Wände des Taubenwagens müssen wir dringend flicken und außerdem das Dach erneuern. Aber ein, zwei Tage wird es noch gehen.«
Ich nicke müde.
Er legt eine Hand auf meine Schulter und lächelt mich an. »Bei Mondmitte lösen dich Jarek und Marek ab. Hab eine ruhige Wache.«
Ich mühe mir ein Lächeln ab und gehe zu dem Taubenwagen. Der Wagen ist ein Mix aus halben Kanistern, verwaschenen Kunststoffbehältern, Rohren und Flaschen, zusammengebunden mit Schnüren und Leinen. Ein kompliziertes Knotenmuster, wie es nur die GoLab verwenden. Die Räder sind das Wertvollste. Die riesigen schwarzen Gummireifen sind selten geworden und unentbehrlich, um die Anhänger sicher und schnell auf unserer Wanderung zwischen dem Norden und dem Süden zu bewegen.
Die Wände sehen wirklich schlimm aus. Einzelne Flaschen hängen nur noch lose in den Leinen. Doch ich vertraue Onkels Urteil.
Ein Gähnen entweicht mir. Langsam und leise öffne ich die Ketten und Riegel am Wagen, um die Vögel nicht zu erschrecken.
Vater hat sich einst ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem einfallen lassen: Sollte sich ein Dieb an den Schlössern zu schaffen machen, wird er einiges zu tun haben und vor allem laut sein. An unzähligen Ketten und Riegeln hängen kleine, selbst gefertigte Glöckchen, und die Verschlüsse sind kreuz und quer und auf den ersten Blick vollkommen wirr angebracht. Es braucht Zeit, sie immer wieder zu öffnen und zu schließen, aber die Sicherheit der Tauben geht vor.
Endlich ist die letzte Kette abgehangen und der letzte Riegel zur Seite geschoben. Weit öffne ich die Tür. Den mir entgegenkommenden Gestank ignoriere ich; er ist mir vertraut. Morgen werde ich als Erstes den Wagen säubern, heute bin ich zu erschöpft dafür.
Ich zünde eine Laterne an und leuchte in das Wageninnere. Dove kommt sofort zu mir getorkelt. Mit der freien Hand hebe ich ihn hoch und hänge die Laterne an den Wagen. Sacht streiche ich ihm über das graue Gefieder. Sein Hals schimmert grün-violett, und in Flügeln und Schwanz sind Streifen von schwarzen Federn zu erkennen. Er gurrt leise und schmiegt sich in meine warme Hand.
»Hast du Hunger?« Ich hole ein paar Körner aus der Tasche und halte sie ihm hin.
Sofort gurren die anderen vierzig Tauben los.
»Ist ja gut, ihr Lieben!«
Lachend setze ich Dove und die Körner zurück auf den Boden. Dann klettere ich ganz hinein, öffne die Luken, um frische Luft hereinzulassen, und werfe den Vögeln ihr Futter hin. Sie sind noch ganz benommen von der Reise, aber sie werden sich schnell erholen.
»Hallo, Maja, wie geht es dir?« Einigen zutraulichen Tauben habe ich Namen verpasst.
Als Antwort gurren die Vögel lauter.
»Du weißt schon, dass sie nicht reden können?«
Mein Atem setzt kurz aus, und ich drehe mich abrupt um. Tomasz steht vor dem Wagen und grinst mich an. Seine Haare hängen ihm noch immer nass und dunkel ins Gesicht.
»Sehr witzig.« Ich puste ihm zu. Diesmal als Zeichen, dass seine Worte nur leere Luft sind.
Er lacht auf. »Ich helfe dir.«
»Bring bitte das Wasser!«
Tomasz nickt und verschwindet in Richtung unserer Karre.
Kurz darauf kehrt er mit einem Kanister zurück.
»Hallo, Dove«, begrüßt er meinen Schützling, der zur Antwort gurrt. »Hast du gehört? Er hat Hallo zurück gesagt!«
»Du bist doof!« Ich werfe Körner nach ihm.
Sofort schwirren die grauen Vögel auf Tomasz zu und setzen sich auf ihn.
»Ey«, ruft er gespielt grimmig.
Lachend bewerfen wir uns gegenseitig mit dem Getreide, und die Tauben fliegen wild flatternd hin und her.
Wenig später sind die Vögel versorgt, und Tomasz übernimmt die Wache der Karre. Ich lehne am Wagen und genieße die Ruhe. Die Innigkeit zwischen mir und Tomasz hallt in mir nach. Solche Momente sind selten geworden. Er ist erwachsen und ich sollte es sein.
Doch ich fühle mich nicht so. Erwachsen. Reif. Alt genug für das harte Leben. Anstatt Aufgaben und Pflichten zu haben, wünschte ich mir oft, dass mich Tomasz wieder an die Hand nimmt und meine Tränen trocknet. Er war für mich nach Vaters Unfall und Mutters Weggang da. Doch diese Zeiten sind vorbei. Ich muss auf eigenen Beinen stehen und kann mich nicht mehr darauf verlassen, dass mich mein großer Bruder vor allem beschützt.
Der Mond leuchtet hell durch die wenigen Löcher in der Decke, und ich lösche die Laterne am Wagen, um Öl zu sparen. Hoffentlich kommt morgen die Sonne raus. Das würde das Flicken und Trocknen erleichtern.
Ein Geräusch lässt mich aufblicken.
»Tomasz?«, rufe ich in die Nacht.
Doch niemand antwortet.
Ich greife nach dem Boho und richte mich auf. In meinem Nacken kribbelt es. Ich werde beobachtet, da bin ich mir sicher.
Ohne zu zögern, hebe ich meine Pfeife an den Mund, um im Notfall den Clan zu warnen, und kreise den Boho in der anderen Hand. Vorsichtig gehe ich um den Wagen herum. Soll der Eindringling nur kommen.
Es kommt niemand. Bis auf das Surren der Mücken und entferntes Quaken ist es wieder still geworden. Der ungebetene Besucher hat es sich anders überlegt.
War es dieser Städter? Ich schüttele den Kopf. Genauso gut könnte es ein Wanderer aus dem hinteren Rang oder ein Fuchs gewesen sein, der hungrig ist und gehofft hat, eine Taube erbeuten zu können.
Warum geht mir der schlaksige, junge Mann nicht mehr aus dem Kopf?
Ich atme leise aus. Bald kann ich schlafen, und morgen habe ich diesen Omeo hoffentlich vergessen.
Ich strecke vorsichtig den Arm hoch. Meine Fingerspitzen bekommen die Kante des Fensterrahmens zu fassen, und ich ziehe mich hinauf. Ächzend hieve ich mich über den Vorsprung und hänge halb im Gebäude. Meine Beine baumeln in der Luft, und der rissige Rahmen drückt mir unangenehm in den Bauch. Vor mir hängt das Objekt meiner Begierde: eine dicke Plastikplane, welche einst als Abdeckung des kaputten Fensters gedient hat.
Leider kam ich nicht von unten in das Gebäude. Das Hochhaus ist halb in sich eingefallen, schwere Felsplatten blockieren den früheren Hauseingang. Doch ein Geröllhaufen, genau unter dem Fenster, verschaffte mir Abhilfe. Zum Glück stecken keine Glasscherben mehr in dem Fensterrahmen.
Ich lege meinen Kopf in den Nacken und suche eine Erhebung, an der ich mich festhalten kann. Neben mir ragt ein Metalldraht aus der brüchigen Wand. Ich mache mich lang und greife nach dem Draht. Meine Tasche kratzt über den Stein, und ein reißendes Geräusch ertönt. Plastikmüll!
Reflexhaft fasse ich nach dem Riemen, aber es ist zu spät. Ich spüre, wie mir die Tasche von der Schulter rutscht.
»Dove!«, rufe ich aus.
Doch meine Taube kann nichts tun. Ich höre sie in der Tasche grunzen, dann fällt sie. Und ich mit ihr.
Ich stürze auf den Steinhaufen unter mir. Zum Glück fängt mich eine breite Platte auf. Vorsichtig rappele ich mich hoch und klopfe mich ab. Alles ist noch dran, und nichts tut weh. Da hat der Windgott wohl meinen Sturz aufgefangen. Ich puste in die geschlossene Hand und werfe als Dank meinen Atem in die Luft.
Dove steckt, noch halb in der Tasche, zwei Armlängen unter mir in einem Spalt fest.
»Alles gut, mein Kleiner. Ich hole dich raus«, spreche ich ihm und mir Mut zu.
Er piepst und versucht, mit den Flügeln zu schlagen, doch er klemmt fest.
Ich wusste, dass es gefährlich ist, Dove mit auf die Erkundungstour zu nehmen. Heute Morgen habe ich jedoch befürchtet, dass Tante Danuta ihn bei der Kontrolle der Tauben töten würde. Sie hat zwar nichts angedeutet, aber zuzutrauen wäre es ihr. Das konnte ich nicht riskieren.
Der Versuchung, eine dicke Plane für meinen Schlafplatz zu bekommen, konnte ich aber ebenso wenig widerstehen. Ein fataler Fehler, wie mir jetzt klar ist.
Langsam klettere ich hinunter. Der Geröllhaufen wackelt bedrohlich, und ich halte den Atem an. Bloß keinen falschen Schritt machen, sonst löse ich noch einen Steinrutsch aus.
Dicke Regentropfen landen auf mir. Auch das noch. Verdammter Chaac. Der Gott des Regens und der Amphibien ist mir von allen Göttern der verhassteste.
Ich erreiche meine Taube und ziehe sie vorsichtig aus der Spalte. Dove grunzt vor Aufregung und schmiegt sich in meine Hand.
Ich halte sie fest in meiner linken Hand und zerre mit der rechten an dem Riemen.
»Willst du wohl da rauskommen?!«, fluche ich.
Endlich löst sich die Tasche, und ich stecke Dove wieder hinein. Das herausgefallene Stroh sammele ich ebenfalls ein und polstere damit die Innenseite um meine Taube aus.
Fest umgreife ich den gerissenen Riemen und klettere vorsichtig und einhändig den Geröllhaufen hinunter. Unter meinen Schuhen lösen sich kleine Steine, und der Haufen wankt. Ich befürchte, dass ich etwas gelöst habe und das Geröll instabil geworden ist. Das war es wohl mit der Plane.
So ein Plastiksalat.
Unten angekommen, atme ich durch. Vorsichtig hebe ich meine Tasche hoch und begutachte Dove in ihrem Inneren. Er grunzt noch immer, aber scheint sonst unversehrt.
Über mir wird es dunkler, und ein donnerndes Geräusch erklingt. Ich blicke aufgeschreckt zum Himmel.
Der Geröllhaufen bricht in sich zusammen, und die obere Platte schlittert genau auf mich zu. Alles in mir schreit ›Weg!‹, doch meine Beine sind zu langsam.
Etwas Schweres trifft mich von der Seite, und ich stürze zu Boden. Ich rolle, die Tasche mit Dove an mich gepresst, über die Straße. Jemand liegt halb auf mir. Die gewaltige Steinplatte landet genau da, wo ich eben noch stand.
Der Stein hätte mich umgebracht!
Langsam schaue ich zu meinem Retter.
Es ist der junge Städter von gestern.
Wie? Was? Woher kam er?
»Steine sind nicht gerade deine besten Freunde.« Omeo rappelt sich auf und klopft seine nackten Beine ab, an denen nasser Sand und winzige Kiesel kleben.
Ich kontrolliere hastig, ob es Dove gut geht. Er hockt zerrupft und zitternd in seiner Tasche. Hoffentlich hat er sich nichts gebrochen. Zweimal ist er knapp dem Tod entkommen. Ich muss dem Windgott heute unbedingt eine Dankesgabe zukommen lassen.
Um Dove muss ich mich jedoch später kümmern. Ich habe ein Problem.
»Verfolgst du mich?«
Falsche Frage. Ich müsste ihm danken und ihm etwas anbieten. Doch wie kann ich diese Tat jemals wiedergutmachen?
Meine Brust drückt sich zusammen. Ich stehe in der Schuld eines Städters.
Jede Tat, mag sie noch so gut und nett gemeint sein, hat eine weitere Tat zur Folge. Dankbarkeit ist teuer und kann den Ruin eines Clans bedeuten. Deswegen ist es wichtig, als Clan so autark wie möglich zu bleiben und nicht auf die Hilfe von anderen angewiesen zu sein. Jeder muss seinen Beitrag leisten. Besonders wir als kleiner Clan können uns keine Fehler erlauben und müssen gut zusammenarbeiten. Doch wieder einmal habe ich versagt.
»Keine Sorge, ich verfolge dich nicht! Ich suche mein Seil.«
Verwirrt runzele ich die Stirn und brauche einen Moment, um zu verstehen, wovon er redet.
Seil? Ah, ich hatte also recht. Es gehörte ihm.
»Das habe ich gefunden«, antworte ich zaghaft.
»Oh, wie gut. Kann ich es bitte zurückhaben?«
»Das geht leider nicht.«
Ich zittere noch immer. Von dem Schreck, von der Erkenntnis, geradeso davongekommen zu sein, und der Last einer neuen Schuld.
»Wieso?« Jetzt wirkt er aufgeschreckt. Geradezu verängstigt. Seine Augen sind weit aufgerissen, und er reibt sich fahrig über die Arme.
»Wir haben es heute Morgen gegen Nahrung getauscht«, gestehe ich leise.
So eine Plastikschmelze. Hätte ich es noch, könnte ich es ihm zurückgeben und vielleicht einen Teil meiner Schuld damit bezahlen. Es scheint ihm sehr wichtig zu sein.
Omeo wankt zwei Schritte zurück. »Wem habt ihr es gegeben?«
»Keine Ahnung. Meine Tante handelt mit den anderen Clans.«
Ich drücke meine Tasche sachte gegen meine Brust, um Dove vor dem Regen zu schützen.
»Das ist nicht gut.«
Omeo dreht sich im Kreis. Hofft er trotzdem, sein Seil hier zu finden? Doch wenn er das Seil meint, das ich in der Nähe gefunden habe, wird er keinen Erfolg haben. Es sei denn, es wurden gestern zwei verloren – was so unwahrscheinlich ist wie ein regenfreier Tag im Norden.
»Przepraszam, tut mir leid«, antworte ich matt. Weil ich mich irgendwie schuldig fühle. Nicht nur, weil er mir das Leben gerettet hat.
Er sieht regelrecht verzweifelt aus. Immer wieder fährt er sich durch die Haare und murmelt: »Das ist nicht gut.«
»Ich könnte dir ein anderes Seil geben.« Zwar habe ich keine Ahnung, wo ich auf die Schnelle ein neues finden soll – vor allem eins, das nicht aus Kunststoff ist –, aber ich muss ihm irgendwie helfen.
Endlich schaut er mich wieder an. »Das ist nett.«
Nett? Eher meine Pflicht. Aber darauf weise ich ihn nicht hin.
Vielleicht haben Städter nicht dieselben Regeln wie wir Wanderer. Vielleicht ist es für sie ganz selbstverständlich, anderen zu helfen und sie zu retten. Das wäre seltsam, aber gut für mich.
Ich sollte weg, ehe mich jemand mit ihm entdeckt. Ohne Folgen wäre es nur eine weitere unsägliche Episode in meinem Leben, und ich könnte diesen Vorfall vergessen.
Mein Boho ist wie immer zu weit weg. Heute Abend werde ich mir eine kürzere Schlagwaffe fertigen, die mich nicht beim Klettern behindert.
»Hast du es dabei?«, fragt er mich, und ich kann die Hoffnung in seiner Stimme hören.
»Nein«, antworte ich und lächele den Städter entschuldigend an. »Ich müsste erst eins suchen.« Langsam gehe ich einen Schritt zur Seite.
Er hält mich nicht auf, stattdessen rauft er sich wieder die Haare. »Das dauert zu lange. Ich muss es jetzt haben!«
»Ich könnte dir einen Kanister geben«, spreche ich weiter, während ich mich weiter von ihm entferne. Einen Kanister habe ich noch übrig. Er hat zwar ein Loch, aber nur ein kleines.
»Was soll ich denn mit einem Kanister?«, fragt er mich und starrt mich entgeistert an.
Ist er zu dumm, um zu wissen, wofür man Kanister braucht?
Ich zucke mit den Schultern und gehe, noch immer rückwärts, schneller. »Na gut. Keinen Kanister. Eine Flasche?«
»Ich muss das Seil haben, damit ich je–« Er schließt den Mund und öffnet ihn wieder. »Äh … etwas für die Ausfälle bringen kann.«
Von was für Ausfällen redet er? Er verheimlicht etwas, das ist klar. Aber was?
Mittlerweile habe ich bestimmt vier Armlängen zwischen uns gebracht.
Zeit zu rennen, denke ich mir und greife die Tasche fester.
»Omeo!«
Erschrocken schaue ich hinter den jungen Städter. Mehrere Gestalten biegen auf die Straße in unsere Richtung.
Omeo zieht zischend den Atem ein. »Ich muss weg.« Damit rennt er hastig davon.
Ich schaue ihm verdattert hinterher. Das sind wohl keine Freunde von ihm.
Ich kehre zurück zu dem Geröllhaufen und greife meinen Boho. Wegrennen ist keine Option mehr. Die drei Fremden sind bereits zu nahe, und der Kleidung nach sind sie ebenfalls Städter. Ich ducke mich hinter einen großen Steinbrocken. Besser, ich warte ab, bis sie wieder verschwunden sind.
Zwei weitere Städter betreten von der anderen Seite die Straße. Omeo ist umstellt. Er war zu langsam.
»Hast du das Seil?« Ein großer, dürrer Mann pikst ihn mit einer Metallstange an die Brust.
»Nein. Ich kann mich nicht erinnern, in welchem Teil ich war. Vielleicht doch mehr im Westen.« Omeo wankt rückwärts.
Sofort schubst ihn ein Städter, der hinter ihm steht, wieder nach vorn.
»Du Kanalratte! Hast du wenigsten was zu essen gefunden?« Eine Frau mit kahlen Stellen am Kopf spuckt ihm ins Gesicht. Ihr restliches Haar steht in Strähnen ab.
Ist sie krank? Dann könnte sie Omeo mit ihrem Speichel anstecken. Das würde bei uns hart bestraft werden. Wer krank ist, muss sich Nase und Mund bedecken und darf niemanden berühren. Die Städter sind wirklich widerlich.
Omeo schüttelt den Kopf. »Nein. Ich kam nicht an den Wagen heran.«
Erneut wird Omeo von hinten geschubst, diesmal stärker. Er fällt auf den Bauch, und die Frau tritt nach ihm.
Der Mann hebt seine Stange drohend hoch. »Wieder einmal hast du versagt!« Mit Wucht schlägt er auf den jungen Städter ein. »Das wird dir eine Lehre sein.«
Omeo krümmt sich auf dem Boden und rollt sich zusammen. Mit seinen Händen schützt er seinen Kopf. Die anderen treten von allen Seiten auf ihn ein. Ich spüre jeden einzelnen Tritt und wende mich entsetzt ab. So gern würde ich ihm helfen, doch gegen diese fünf Städter komme ich allein nicht an.
»Komm erst wieder, wenn du was anzubieten hast«, rufen sie.
Vorsichtig blicke ich auf. Endlich lassen sie Omeo in Ruhe und gehen davon.
»Vergiss nicht, du brauchst nicht mit leeren Händen zurückzukehren. Bring uns einen Plastikträger oder verrecke!«
Ich runzele die Stirn. Plastikträger? Sie wollen unseren Kunststoff? Deswegen überfallen sie einen von ihnen? Das kommt mir mehr als absurd vor.
Omeo liegt reglos auf der Straße. Haben sie ihn zu Tode geprügelt? Ich hadere. Soll ich zu ihm? Er hat mir das Leben gerettet. Ich bin es ihm schuldig.
Die Straße ist bis auf mich und den Städter leer. Ich renne zu ihm und drehe ihn sachte auf den Rücken. Mit den Fingern fühle ich seinen Puls am Hals und kontrolliere die Atmung. Omeos Lider flattern. Gut, er ist nicht bewusstlos.
Sein Stoffkleid ist am Rücken gerissen, und seine Arme und Beine sind voller Schlamm. Die Haut wirkt rot und geschwollen. Sie haben ihn übel zugerichtet. Zum Glück kann ich keine größeren Verletzungen erkennen, und sein Kopf scheint auch nichts abbekommen zu haben. Nur auf seinem linken Arm ist ein großer, blutiger Kratzer zu sehen. Der muss verbunden werden.
Doch wie komme ich an unsere Erste-Hilfe-Tasche, ohne dass Tante Danuta es bemerkt?
Die Tauben setzen sich auf meinen Kopf, meine Schultern und meinen Arm. Ich halte die Faust fest geschlossen.
»Habt ihr Hunger?«
Ich öffne die Hand und werfe die Körner in die Luft. Die Halle füllt sich mit Flügelschlägen und Federn. Ich streiche meine Haare zurück, die von den Krallen der Vögel zerzupft wurden.
Die Halle ist der perfekte Ort, um den Vögeln ein wenig Freiheit zu schenken, denn die Decke und Wände halten sie ab, zu weit zu fliegen, und das Futter lockt sie immer wieder zu mir zurück.
Heute ist einer der seltenen Tage, an denen es nicht regnet, und ich genieße es. Vereinzelte Sonnenstrahlen schaffen es durch die Löcher im Beton, und ich halte mein Gesicht in das Licht. Das schwere Regencape liegt ordentlich gefaltet neben dem Eingang. Eine Last weniger, zumindest für ein paar Atemzüge.