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Franziska Szmania

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Beschreibung

Der neue Roman der Tolino media Newcomer Preisträgerin 2021


Der Foresta –; ein weißer Regenwald, der die unterschiedlichsten Pflanzen beherbergt. Wunderschön sind sie, doch genauso tödlich. Zeigen Menschen in ihrer Gegenwart Emotionen, verfärben sie sich; und locken fleischfressende Pflanzenmonster an.


Das Leben der sechzehnjährigen Valerie wird von den Regeln der Götter bestimmt. Die Gemeinschaft steht über dem Individuum. Wer seine Gefühle nicht unterdrückt, gefährdet das Dorf. Als bei ihrem Bruder die Magie erwacht und er zum Kontrolleur erhoben wird, wird sie von ihren Emotionen überwältigt und anschließend verbannt. Nach sieben Tagen in der Wildnis darf sie zurückkehren. Doch niemand überlebt allein im Foresta, denn hier herrschen die Pflanzen. Angezogen von ihren Gefühlen, machen sie Jagd auf Valerie. Wird sie den Kampf ums überleben gewinnen und in ihr altes Leben zurückfinden?


Eine fantastische Dystopie. Düster. Beklemmend. Herausfordernd.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Impressum

* * *

 © 2022 Franziska Szmania

Berlin

Lektorat und Korrektorat: Melina Coniglio – Autorin & Lektorin

www.melinaconiglio.de

Umschlaggestaltung: Nina Austermeier

www.isabelaust.com

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

www.szmania.org

www.instagram.com/franziska_szmania

Inhalt

Farben und Emotionen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Jarlan

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Jarlan

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Jarlan – Sieben Sonnenwochen später

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Jarlan

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Jarlan

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Jarlan

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Jarlan

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Epilog

Verzeichnis

Nachwort

Danksagung

Liebe Leserin, lieber Leser

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Über die Autorin

Bücher von Franziska Szmania

EVA Herrschaft

MARTHA Anarchie

MARJOLA Flucht vor den Elementen

Leseempfehlungen

Crys Tale of Ice, the Moon and a Shadow: Sammelband 1

Das Fragment des Schicksals (Die Schicksalsfragmente 1)

Die Goldene - Gefangen im System (Die Goldene Band 1 )

Buchbeschreibung:

Das Leben der sechzehnjährigen Valerie wird von den Regeln der Götter bestimmt. Nur wer seine Gefühle unterdrückt, überlebt. Die Gemeinschaft steht über dem Individuum. Das Forum wacht über die Regeln und die Menschen. Mithilfe von Magie können sie erkennen, wer seine Gefühle nicht unter Kontrolle hat und das Dorf gefährdet. Als bei ihrem Bruder die Magie erwacht, verliert Valerie die Kontrolle und wird verbannt. Doch niemand überlebt allein im Foresta. Hier herrschen die Pflanzen, angezogen von ihren Emotionen, machen sie Jagd auf Valerie. Ein Kampf auf Leben und Tod beginnt, den sie nicht gewinnen kann.

 

Eine fantastische Dystopie. 

* * *

Enthält Szenen mit Angst, Gewalt, sexualisierter Gewalt und Tod. Achte auf dich!

Für Isa

 

»Eine Freundin ist

ein Mensch vor dem man laut denken kann.«

Frei nach Ralph Waldo Emerson (1803-1882)

 

Farben und Emotionen

Blau – Angst

Rot – Wut, Ärger

Gelb – Freude

Orange – Neugierde

Schwarz – Traurigkeit, Trauer

Braun – Ekel, Scham

Grün – Neid

Violett – Arroganz, Stolz

Rosa – Zuneigung, Liebe

Kapitel1

Nervös trotte ich Adelyna hinterher. Meine heutige Partnerin fliegt regelrecht durch den Regenwald. Wie gelbe Sonnenstrahlen tanzen ihre blonden Haare durch das fahlweiße Gestrüpp des Foresta.

Wir bezeichnen den Foresta als Regenwald, weil Hitze und Regen so rasant wechseln. Im einen Sonnenstrahl brütest du unter der heißen Sonne, im nächsten wirst du nass bis auf die Haut. Das perfekte Wetter für die Bewohner und Herrscher dieses Waldes: die Pflanzen.

Ihr Rascheln und Wispern vermischt sich zu einem Rauschen, das an meinen Nerven zerrt. Ich fühle mich wie ein zu fest geknüpftes Seil in einem Netz. Als könnte ich jederzeit zerreißen.

Ich kämpfe mich mit meiner Machete durch das Gewirr aus weißen Blü­ten, Blättern und spitzen braunen Ästen. Die Zweige verheddern sich in meinen schwarzen Locken.

Ich reiße den Kopf hin und her, um mich zu befreien. Das Ziepen und Zerren treibt mir Tränen in die Augen. Doch ich höre nicht auf. In Bewegung zu bleiben, ist das Einzige, was in dieser Situation hilft. Und Ruhe zu bewahren.

Letzteres fällt mir am schwersten. Ich weiß genau, warum mich die Pflanzen angreifen. Mein Sensus bebt unaufhörlich.

Im Sensus sitzen unsere Gefühle. Um zu überleben, müssen wir ihn verschlossen halten. Und genau da liegt das Problem. Statt mit meinem sechzehnten Lebensjahr die Kontrolle über meinen Sensus erlangt zu haben, fällt es mir mit jedem Sonnentag schwerer, meine Gefühle zu unterdrücken. Sie brechen hervor wie die Wurzeln eines Baumes beim Wechseltag. Nur dass ich in diesem Wald keinen neuen Platz finde, sondern gefressen werde, wenn meine Stimmungen an die Oberfläche kommen.

Die rötlich schimmernden, herzförmigen Blätter der Mondblüten spiegeln die Unfähigkeit, meine Emotionen zu kontrollieren, wider.

Mit Wucht schlage ich auf die Pflanze ein. Die Blüten färben sich dunkelrot. Schreiend lasse ich die Machete sinken. Es hat keinen Sinn. Hier herrschen die Pflanzen und ich bin die Beute.

Tief durchatmend eile ich weiter. Die Schneise, welche Adelyna ge­schlagen hat, wächst so rasch zusammen, dass sie kaum zu sehen ist. Der Regenwald verschluckt sie. Ich hacke schneller. Auf keinen Fall will ich allein zurückbleiben.

Eine ungewöhnliche Mischung aus Mondblüten, Sonnentau und Mons­tera­blättern verdichtet sich vor mir. So unterschiedlich die Pflan­zen aussehen, eins haben sie alle gemeinsam: Sie greifen mich so­fort an. Ihre harten, spitzen Blätter stechen durch meine weißgraue Tu­nika, und ihre dürren Stängel krallen sich in den aus den Fasern des Fibrisbaumes gewebten Stoff. Zum Glück reicht das Kleid bis zu den Handgelenken und Knöcheln, sodass meine helle Haut gut geschützt ist.

Dass sich die Pflanzen an einem Ort sammeln, kann nur bedeuten, dass keine Blume bisher die Vorherrschaft darum errungen hat.

Ich hacke mit meiner Machete schneller und winde mich aus dem Griff der Blätter. Schweiß fließt mir den Rücken hinunter.

Der Sonnentau bekommt leichte blaue Schlieren, der süß-faulige Geruch steigt mir in die Nase und seine klebrigen Fangblätter beugen sich mir entgegen. Das Zittern wirkt erwartungsvoll. Ich schlucke und ignoriere das schnelle Schlagen meines Herzens.

Nicht nur die Angst vor dem Foresta macht mir heute zu schaffen. Die anstehende Prüfung meines Bruders ist ein Stein auf meiner Brust, welcher mir das Atmen schwer macht. Heute wird sich zeigen, ob er die Magie in sich trägt.

Die Magie wird Jarlan vor den Pflanzen schützen, ihn mir aber weg­nehmen. Es ist rücksichtslos, sich deswegen schlecht zu fühlen, und ein Be­weis, warum Liebe gefährlich und verboten ist. Wie alle Gefühle.

Etwas schiebt sich durch das Gestrüpp vor mir, und ich hebe ab­wehrbereit meine Machete. Adelyna taucht vor mir auf.

»Reiß dich zusammen, Valerie!«, faucht sie mich an.

Die Blätter der Mondblüte färben sich rot. Adelynas dunkelbraune Augen funkeln wütend in ihrem kakaobraunen Gesicht. Sie blutet aus einigen Kratzern auf ihrer Wange.

Mir wird übel, und ich würde mich am liebsten verstecken. So er­geht es mir immer, wenn ich unkontrolliert bin oder mir Fehler leiste.

Adelyna hackt auf die Ranken ein, die sich an meiner Tunika zu schaf­fen machen, und hilft mir, durch das Dickicht der Pflanzen zu drin­gen.

Sie ist ein Jahr jünger, aber größer als ich. Ihr Zorn ist ungewöhnlich für sie. Selten zeigt ihre Mimik eine Regung. Mit ihren fünfzehn Son­nenjahren ist Adelyna Meisterin darin, ihre Gefühle verschlossen zu halten. Sie hätte Kontrolleurin werden können. Das ganze Dorf hatte damit gerechnet, doch die Prüfung zeigte bei ihr keine Ver­än­der­ung.

Ich mag sie, aber das beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Sie geht, wann immer es ihr möglich ist, mit jemand anderem Bacasbeeren sam­meln. Verständlicherweise.

Allein dass ich mir zugestehe, sie zu mögen, zeigt deutlich, dass mit mir etwas nicht stimmt. Meine Zuneigung zu anderen bringt das Dorf in Gefahr. Ich bin gefährlich.

Bis sieben zählend atme ich ein und aus, dabei massiere ich mit ei­ner Hand die weiche Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger.

Die Mas­sage hilft mir, die Kontrolle über meine Emotionen zu er­langen. Eine Technik, die wir im Kleinkindalter lernen.

Die Blüten werden wieder fahlweiß.

Konzentrier dich, Valerie, rede ich mir in Gedanken zu. Tief atme ich die feucht-schwüle Luft ein.

Mir beißt der faule Duft von einer Rafflesie in der Nase, und ich gehe bedächtig weiter. Der Geruch lockt die Plantis an – kleine, fliegende Pflänzlinge, die sich von Nektar oder Blut ernähren. Aber der Gestank hält die Motus – riesige pflanzliche Jäger, die sich auf ihren Stängeln durch den Wald bewegen – auf Abstand. Im Foresta hat alles seinen Preis.

Es raschelt in den Baumkronen. Ich spitze die Ohren, immer vor­sichtig. Immer achtsam. Das Leben um mich herum schreit mir mit je­der Pflanzenfaser entgegen, dass ich nicht hierhergehöre. Ich bin ein Fremd­körper. Der ganze Wald ist giftig und gefährlich.

Adelyna verschwindet in dem weißen Monsteragewächs vor mir. Ich wechsele die Machete in die linke Hand. Die Schulter kreisend, lasse ich die Klinge auf die Pflanzen sausen, damit mir kein Ast oder Blatt zu nahe kommt. Ich schaffe es, meinen Sensus so weit unter Kontrolle zu hal­ten, dass nur leichte graue Flecke die Blätter der Monstera färben.

Der leere Sack schlägt gegen meinen Rücken. Noch ist er leicht, auf dem Rückweg hoffentlich prall gefüllt mit Bacas. Die Beeren sind Teil un­serer Nahrungsgrundlage, und heute steht neben der Prüfung der Vier­zehnjährigen die Abgabe an das Forum an.

Das Forum wacht über uns. Beschützt uns. Aber dafür erwartet es auch etwas. Einen Beitrag, in Form von Kleidung, Nahrung und an­deren Gütern. Sollten wir unseren Teil nicht aufbringen können, wer­­den wir bestraft.

Ein Plant kommt auf mich zugeflogen, und ich weiche rasch aus.

Der fliegende weiße Pflänzling sieht ungefährlich aus mit seinem dick­lichen Wurzelkörper, an denen sechs bewegliche Stängel herunterhängen. Die durchsichtigen Blätter flattern wild auf und ab und verursachen ein unangenehmes, sirrendes Geräusch.

Doch wie überall im Regenwald trügt der Schein. Plantis sind fast im­mer giftig. Nur von wenigen ist der Pflanzensaft zur Heilung von Wun­den und Krankheiten nutzbar.

Die glockenförmige, zahnbesetzte Blüte des Plant streckt sich mir ent­­gegen. Fuchtelnd verjage ich den fliegenden Pflänzling. Hau ab, du wi­derliches Pflanzending.

Ich zerre an meiner Tunika. Meine schwarzen Haare locken sich ver­schwitzt im Nacken und geben den Hals frei. Gefährlich. Der dicht ge­webte Stoff schützt nicht nur gut vor Dornen, sondern auch vor den Bis­sen der Plantis. Ich richte die Kleidung und konzentriere mich wie­der auf die Umgebung. Wo ist Adelyna?

Eine Liane, weißgräulich schimmernd, räkelt sich um einen dicken brau­nen Stamm, kaum zu erkennen zwischen den fahlen, zerfransten Pal­menblättern des Coccosbaumes.

Ich weiche zurück. Die beweglichen Lianen sind immer giftig und auf der Jagd. Im schlimmsten Fall gehören sie zu einem Motus.

Egal, ob Liane oder Jäger, eins haben die Pflanzen hier alle gemeinsam: Sie können töten. Und ich bin eine beliebte Beute.

Das Keuchen meines Atems vermischt sich mit dem Wispern und Rauschen der Blätter. Die Geräuschkulisse ist ein gutes Zeichen. Wenn es still wird, habe ich ein Problem. Dann ist der Jäger nah.

Ich gehe weiter, vorbei an einer zerfallenen Mauer, die verloren zwi­schen einem Monsteradickicht und einem Sonnentaubusch steht. Kei­ne Pflanze kommt diesem Relikt aus einer längst vergangenen Zeit zu na­he. Auf dem Mauerrest ist ein Metallschild angebracht. Schwach sind noch grüne Farbreste zu erkennen, die den Abdruck von einem Pflänzling umgeben.

Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und gehe schneller. Die bes­te Überlebenschance habe ich, wenn ich mich an Adelyna halte.

Kapitel2

Völlig erschöpft erreiche ich hinter Adelyna die Palmenwiese. Braune Stämme mit riesigen, spitzen, weißen Blättern überragen die umgebenden Mahagoni- und Kakaobäume.

Sonne dringt bis zum Boden durch, und die Hitze trocknet meinen Schweiß zu einer juckenden Kruste auf meiner Haut.

Adelyna läuft langsam und mit dem Blick nach oben zwischen den Pal­men umher.

Die hellen Blätter der Bäume bilden vor dem blauen Himmel kleine Dächer und schützen so ihre dunklen Früchte vor der prallen Sonne.

Von hier unten ist es schwer, zu erkennen, ob die Beeren reif sind. Wir müssen unser Glück versuchen und hoffen, dass sie essbar und vor allem nicht angeknabbert sind.

Angefressen haben sich meist Plantis ein­­genistet und sie sind damit un­genießbar.

Ich lasse den Sack auf den Boden fallen und ziehe mich an dem erstbesten Stamm hoch. Die Fußsohlen gegen das harte, raue Holz ge­stemmt, immer einen Zug nach dem anderen tuend. Erst die Arme, dann die Füße. Immer weiter.

Dass ich klein und leicht bin, ist bei dieser Arbeit von Vorteil, daher ist das Palmenklettern meine bevorzugte Aufgabe.

Ich brauche nicht lange, bis ich die Früchte erreiche. Sie sind weich und saftig und die Stauden voll mit ihnen. Ich erlaube mir ein zufriedenes Lächeln.

Die Bacaspalmen bilden einen Kreis inmitten der kleineren Laubbäume und anderen Palmengewächsen. Ich sehe weit über den Foresta hin­weg. Die weißen Wipfel wiegen sich in der Hitze. Die Luft flimmert über ihnen. Mahagonibäume umgeben die Bacaspalmen. Dazwischen ste­hen in Gruppen Kakaobäume. Ich glaube, mein Dorf zu erkennen, wel­ches im Norden hinter den Coccosbäumen liegt. Wie ein blau-braunes Band durchschneidet der Fluss Fluvius die weiße Welt. Meine Welt.

Ich wünschte, ich würde an dieser Stelle Zufriedenheit und Ruhe ver­spüren. Wie es die Lieder auf unseren Dorffesten versprechen. Doch stattdessen legt sich nur ein großer Stein auf meine Brust, der mir das Atmen schwer macht. Mir wird schwindelig, und ich brauche einen Moment, um wieder zur Besinnung zu kommen.

Ich atme mit den sieben Göttern. Einatmen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Ausatmen. Ein Atemzug für jeden unserer Götter. Mein Herz beruhigt sich, meine Brust wird weit.

Ich muss loslegen. Vor der Mittagssonne sollten wir zurück im Dorf sein. Steht die Sonne im Zenit, beginnt die Zeit der Jäger. Was nicht heißt, dass einige Motus nicht schon früher unterwegs sind.

Ich suche Adelyna. Sie ist nur drei Palmen entfernt und mit mir auf glei­cher Höhe. Beruhigt greife ich nach der Machete an meinem Gürtel und fange an, zu hacken und zu säbeln.

Dutzende Hiebe später senke ich erschöpft die Klinge und atme durch. So weit oben prallt die Sonne erbarmungslos auf uns nieder. Je­der Schlag kostet Kraft und Schweiß.

Ich nehme einen Schluck aus meiner Flasche, und schwenke das Was­ser in meinem Mund hin und her. Es schmeckt leicht nach Coccos. Aus de­ren großen, runden Nussschalen fertigen wir die meisten unserer Ge­fäße an.

Ein Mammutwald versperrt mir – trotz meiner Höhe – die Sicht auf den westlichen Teil des Foresta. Die Baumkronen der Riesen ver­schwin­den unter einer dichten Wolkendecke. Ein heißer Wind kommt auf, und ich umfasse den Baum fester. Schwingend bewegt sich die Pal­me. Ich kann den erlösenden Regen kaum abwarten.

Keuchend hacke ich weiter; meine Beine umfassen fest den Stamm, mein linker Arm umgreift einen Ast, während meine rechte Hand in ste­ter Bewegung die Machete schwingt. Meine Finger schmerzen, weil ich die Waffe so fest umgreife.

Ich darf auf keinen Fall die Machete verlieren. Hier oben gibt es ge­nügend Motus, die nur darauf warten, dass ich einen Fehler begehe. Vor allem die fliegenden Jäger sind wahre Monster.

Eine graue Spitze, die durch die bleichen Wipfel der Bäume stößt, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich.

Ruinen aus längst vergangenen Zeiten finden sich überall im Fo­resta. In einem dieser hohen, eckigen Gebäude ist das Forum unter­ge­bracht. Dort huldigen die Magier den Göttern und bilden die Kon­trol­leure aus. Dort würde Jarlan hinkommen, sollte in ihm die Magie er­wa­chen. Als Kontrolleur würde er die Dörfer bewachen und alle ent­fer­nen, die diese gefährden.

Erneut schwingt der dünne Stamm der Palme hin und her, und mei­ne Füße verlieren den Kontakt zum Holz. Ich greife nach, doch mei­ne linke Hand rutscht ab und ich schlittere den Stamm herunter. In letz­ter Sekunde bekomme ich die harte Rinde zu fassen, und meine Bei­ne umklammern erneut den Baum.

Keuchend klebe ich am Holz, die Machete fest im Griff. Meine Haut hat sich an der rauen Palmenrinde aufgeschürft und brennt.

Spüren die Götter meine aufgewühlten Gedanken? Wie kann ich hof­fen, dass Jarlan die Magie nicht in sich trägt? Er wäre sicher. Sie wür­de ihn vor den Pflanzen beschützen. Das Ziehen in meiner Brust würde we­ni­ger werden und meine Gedanken könnten aufhören, um ihn zu krei­sen.

Ich schüttele den Kopf. Valerie, reiß dich zusammen. Jarlan ist un­wichtig. Das Dorf ist wichtig, die Beeren sind wichtig. Die Götter haben recht, mich daran zu erinnern, was meine Aufgabe ist.

Ich ziehe mich wieder hoch und hacke die Staude von der Krone. Nur mit den Beinen umklammere ich den dünnen Stamm und ergreife das Ende der Staude, ehe sie fallen kann. Vorsichtig stecke ich die Ma­chete weg und rutsche, die Beeren in der Hand, einarmig die Palme her­unter.

Ich komme ohne Schwierigkeiten unten an. Nacheinander streife ich die Bacas von ihren Ästen und werfe sie vorsichtig in den Sack.

Dann ist die nächste Palme dran. Auch hier finde ich reife Beeren.

Ehe ich die Staude ganz absäge, gönne ich mir einen Moment zum Durchatmen. Die Hitze hier oben ist kaum auszuhalten.

Eine Rauchfahne steigt aus der Ruine. Verbrennen die Kontrolleure etwas? Eine Huldigung für die Götter?

»Valerie!«, hallt mein Name durch den Foresta und scheucht einen Schwarm Plantis auf.

Ich blicke schuldbewusst zu Adelyna. – Erneut war ich abgelenkt. Nicht bei der Sache.

Sie hockt hoch oben auf einer Palme und wedelt aufgeregt mit einer Hand. Was will sie?

Ihre Finger stechen in die Luft, zeigen auf dunkle Flecke, die sich uns nähern. Mein Herzschlag beschleunigt sich.

Drei Motus fliegen her­an. Ihre schweren Wurzelkörper werden von durchsichtigen, dün­nen Blättern, die wild auf und ab flattern, durch die Luft getragen. Rie­sige Blüten sitzen auf ihren Rücken und strecken sich uns ent­gegen.

Wir müssen weg.

Ich rutsche den Stamm herunter. Vor den fliegenden Jägern ver­steckt man sich am besten auf dem Boden.

Ein Schrei schneidet durch die schwere Luft.

Ich falle vor Schreck die letzten Meter und komme unsanft auf dem Boden auf.

Adelyna hängt am Stamm und wird von einem Motus angegriffen.

Der dicke, weißpelzige Wurzelkörper mit einer lilafarbenen röhrenförmigen Blüte taumelt durch die Lüfte direkt auf sie zu. Lange Stängel schlagen auf Adelyna ein. Sie hat keine Hand frei, um sie mit ihrer Ma­chete abzuwehren.

Die anderen zwei Motus erreichen die Palmenwiese.

Adelyna blutet aus mehreren Stellen am Körper. Ihr Hilferuf hallt durch den stillen Foresta. Nur das Flattern und Schlagen der Motus ist zu hören.

Niemand wird antworten.

Niemand wird uns zu Hilfe kommen.

Ich renne zu der Palme, die ihr Verhängnis zu werden scheint, und schreie, um die Pflanzen abzulenken, doch die Motus reagieren nicht.

Hier unten hätten wir einen Vorteil. Sie sind schwerfällig und ungelenk auf der Erde.

Ich werfe meine Machete nach einem der Jäger, doch sie fällt wie ein Stein auf den trockenen Boden, ohne in seine Nähe gekommen zu sein.

Adelyna lässt mit einer Hand den Stamm los und schlägt mit ihrer Machete auf die Stängel der Motus ein. Sie rutscht ab, eine Liane zerrt an ihr; sie kann sich nicht mehr festhalten und fällt.

Ich schreie auf. Die Motus behindern sich gegenseitig dabei, sie aus der Luft zu ergreifen. Ich renne im Zickzack hin und her, um sie auf­zu­fangen.

Zu langsam.

Sie fällt und prallt auf den Boden. Es knackt laut in der Stille des Foresta. Die Motus flattern aufgebracht um uns herum, kommen aber nicht herunter.

Ich stürze zu Adelyna und taste nach ihrem Puls. Reglos liegt sie da, den Kopf merkwürdig verrenkt. Sie atmet nicht. Ihr Herz ist stumm.

Meins schreit dafür umso lauter. So laut, dass mein Körper bebt und ich wanke. Doch meine Lippen verlässt kein Ton.

Um mich herum schwillt der Lärm des Foresta wieder an. Die Mo­tus sind weg.

Kapitel3

Ich schleppe Adelyna durch das Dickicht. Sie ist schwer, aber der Ge­ruch nach Tod hält zumindest die Motus und Plantis fern. Es wäre eine gute Überlebensstrategie, den Tod bei sich zu führen. Jedoch würde man dafür selbst zu einem Toten werden müssen.

Adelyna ist nicht die Erste, die ich zu den Pilzen bringen muss. Der Weg ist leicht zu finden. Ein schwarzes Band teilt den Foresta. Die Spur aus fliegenden Pilzsporen weist mir den Weg.

Vor ihnen fürchten sich selbst die mächtigen Bäume. Sie beugen sich weit zur Seite, um keiner Pilzspore zu nahe zu kommen. Geäst und Gestrüpp legen eine Schneise frei, und ich ziehe den leblosen Körper über den Boden. Das Moos hüpft davon, Gräser suchen das Weite; Adelynas Leichnam schleift über die Erde.

Schweiß tropft mir von der Stirn. Mein Sensus brodelt, meine Wan­gen sind nass.

Es liegt an mir. An meinem Unvermögen, mich zu beherrschen, mich zu kontrollieren, mich anzupassen.

Die Schuld an Adelynas Tod legt sich schwer auf meinen Körper. Sie ist eine weitere Last, die ich tragen muss.

Ich beiße die Zähne zusammen und werde schneller. Ignoriere mei­ne schmerzenden Schultern und das brennende Zie­hen in den Hand­­gelenken.

Die Haut schält sich wegen der harten Er­de von meinen Füßen. Ich keuche und würde alles für eine Handvoll Wasser geben.

Endlich taucht der Totentempel vor mir auf. Eckig und grau wie alle Gebäude aus früheren Zeiten. Er ist halb eingestürzt und überwuchert von dem Mortempilz. Braun hebt er sich von dem weißen Fo­resta ab. Wir bringen unsere Toten hierher, damit der Pilz nicht zu uns kommt.

Eine brüchige Mauer kündigt seine Grenze an.

Ich lege Adelynas Kör­­­per knapp hinter der Steinwand ab. Dürre brau­ne Wur­zeln stoßen durch die Erde. Sie wickeln sich um den Leich­nam und zie­hen ihn lang­sam in das Innere des verfallenen Tempels. Die Spo­ren sin­ken auf ihren neu­en Wirt nieder. Bald wird von Adelyna nichts mehr üb­rig sein.

Hastig stolpere ich zurück und lasse die Grenze weit hinter mir. Der Geruch des Todes lockt die Mortempilze an, aber sie machen keinen Un­terschied zwischen den Toten und den Lebenden.

Blaue Farbtupfer begleiten meine Flucht vor dem Pilz, dem Tod und dem Leben selbst. Meine Sicht ist verschwommen, Tränen be­net­zen meine Augen. Ich weine, obwohl ich die Schmerzen gerade nicht füh­le. Der Druck auf mir bedeckt alles.

Dankbar nehme ich wahr, wie mein Sensus Ruhe gibt und sich der be­kannte Schatten auf mich legt. Er dämpft die Welt und mein Inneres. Alles wird mit einem Mal erträglicher. Das Blau der Blätter verblasst, und ich laufe wie durch Nebel.

Kapitel4

Ich schlage die Richtung zurück zur Palmenwiese ein. Ohne die Säcke mit den Bacas brauche ich nicht ins Dorf zurückzukehren.

Müde mache ich mich auf den Weg, wohlwissend, dass ich mich be­eilen muss.

Neben der Dunkelheit ist die Mittagsstunde die gefährlichste Zeit im Foresta. Die Motus lieben die Sonne, die Plantis den Mond.

Wie ein Schleier legt sich die feuchte Luft auf meine Locken, und Schweiß läuft mir unter der Tunika den Bauch hinab. Ich sehne mich nach einem Eimer frischen Brunnenwassers.

Beinahe friedlich liegt die Palmenwiese da. Die Sonne steht fast im Ze­nit, und das Surren und Wispern erschien mir nie schöner. Geräusche bedeuten keine Motus. Geräusche bedeuten, die Pflanzen haben mich nicht im Visier.

Ich greife den einzigen gefüllten Sack, der verloren zwischen den Pal­men liegt, stopfe die leeren restlichen Beutel dazu und schmeiße ihn mir über die rechte Schulter. Den Schmerz, der durch meinen Nacken schießt, ignoriere ich. Darin bin ich, dank vieler Unfälle und Angriffe, Meis­terin geworden. Wenn ich meine Emotionen nur genauso leicht weg­drücken könnte.

Der Geruch des Todes, der mir anhaftet, hält die Pflanzen weiterhin auf Abstand, und ich erreiche unversehrt die dicke Mauer aus Holzstämmen. Sie schützt das Dorf vor dem Foresta und seinen Motus.

Zu der Erleichterung, nach Hause zu kommen, mischt sich Unbehagen. Der Tod von Adelyna wird niemanden traurig stimmen, aber mir eine Kerbe auf einem Stein einbringen.

Der Gedanke lässt meinen Sensus zittern, und die Pflanzen um mich färben sich himmelblau. Die Farbe passt so gar nicht zu dem, was mir bevorsteht. Ich könnte ver­bannt werden. Entfernt werden. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zu­sammen.

Das Steingericht ist nicht das Problem, sondern meine Unfähigkeit, mich zu kontrollieren, schelte ich mich und verdränge den Gedanken an Adelyna und eine mögliche Verbannung.

Ich steuere ein kleines Holztor an und überprüfe meinen Sensus. Nicht, dass ich einen Motus in das Dorf locke.

Tief vergrabe ich den Klumpen aus wirren Gedanken in mir. Wie ein glühendes Stück Kohle macht er mir mein Leben schwer.

Der vertraute Schatten legt sich auf meinen Geist, lässt die Welt fahl und gleichgültig wirken. Wenn wir den Sensus verschließen, lösen wir uns von menschlichen Leiden und Empfindungen. Das Denken wird klar und nicht von gefährlichen Emotionen blockiert.

Ich hasse es. Alles wird schwerer. Dunkler. Jede Tätigkeit, jede Be­we­gung fühlt sich an, als würde ich durch Schlamm waten. Es ist, als ob sich die Son­ne selbst langsamer bewegt.

Im Dorf wende ich mich nach links und gehe auf die erste Hütte zu. Die Beeren müssen schnell verarbeitet werden, denn sobald sie vom Baum gepflückt sind, verderben sie rasch.

Unsere Hütten sind aus Holz gebaut und mit einer seltenen hellbraunen Rinde bedeckt. Einige von ihnen haben Löcher und sind nur notdürftig abgedeckt. Einen Sturm werden sie nicht überstehen.

Von den Borkenbäumen, von denen wir die Rinde für unsere Häuser abschälen, existieren immer weniger. Alle Pflanzen und Bäume, welche uns von Nutzen sind, verschwinden.

Auch nach dem Pflücken sind die meisten Pflanzen noch giftig und rechtfertigen die gefährliche Arbeit nicht.

Die Hütte, in der die Bacas verarbeitet werden, ist ein halb offenes Gebäude mit einer riesigen Veranda. Eine Frau steht an der Presse und drückt die Beeren aus. Leise quietschend bewegt sich der Hebel. Die Maschine müsste dringend geölt werden. Mein Sensus zuckt. Ich halte mich zurück, zerre an dem Schatten. Zu schnell will er sich auflösen.

Ich habe die Maschine einmal auseinandergebaut und geölt. Dafür bekam ich eine Kerbe auf einen Stein. Heute würde ich sofort verbannt werden. Mein Knospenschutz ist mit meinem sechzehnten Sonnenjahr vorbei. Ich bin für diese Arbeit nicht zuständig.

Jeder bekommt seine Aufgabe von den Göttern zugewiesen, und egal, wie viel ich bete, für die Pflege der Maschinen wurde ich bisher nicht eingeteilt. Weil Begehren bestraft wird.

Das Quietschen schmerzt in meinen Ohren. Die Maschine ist aus Metall und damit ein Relikt aus früherer Zeit. Auf der hinteren Seite schüttet man die Beeren in ein tiefes Sieb. Mithilfe des langen Hebels wird ein schwerer metallener Zylinder auf die Bacas gedrückt. Der Hebel erleichtert die Arbeit, dennoch ist man nach wenigen Minuten schweißgebadet. Schiere Mengen werden jeden Tag gepresst.

Der nährstoffreiche Saft läuft nach unten ab und wird in Eimern auf­gefangen. Aus den Resten der Beeren stellen wir heilende Um­schlä­ge her oder sie werden unter unser Mehl gemischt.

Ein älterer Mann wässert die Beeren. Das ist nötig, damit sie weich ge­nug für die Presse sind. Tief gebeugt, schüttet er einen Sack nach dem anderen in einen Bottich mit Wasser. Ein weiterer Dorfbewohner holt aus einem anderen Bottich bereits eingeweichte Beeren heraus und trägt diese zur Presse.

Bei der dritten, jüngeren Person muss ich zweimal hinschauen, um zu erkennen, ob sie ein Mann oder eine Frau ist. Wir tragen alle die glei­che Tunika und haben die Haare auf Schulterlänge geschnitten.

Es ist verboten, sich von den anderen abzuheben. Jede Darstellung könnte den Sensus wecken. Nur die Kontrolleure schmücken sich und stel­len ihr Geschlecht zur Schau.

Ich kenne den Unterschied zwischen Frauen und Männern und weiß, warum es wichtig ist, dass ich später einem Mann beischlafe. Aber ab­gesehen von dem Bestreben, Kinder zu zeugen, besteht die Beziehung zwischen Bewohnern aus Zweckmäßigkeiten. Dafür ist es nicht wichtig, sich hervorzutun, und schon gar nicht als Frau oder Mann. Das wä­re zu verwirrend.

Ich stelle vorsichtig meinen Sack ab und nicke den Arbeitern zu. Sie rea­gieren nicht. Der alte Mann greift nach den Beeren und arbeitet schweig­sam wei­ter.

Ich verlasse die Veranda und bleibe auf der linken Seite des Dorfes. Die Sehnsucht nach der Kühle meiner Hütte, in der ich zurzeit wohne, lässt mich schneller gehen.

Das Dorf ist kreisförmig angebaut. Ich laufe an weiteren Hütten vorbei und umrunde den Dorfplatz und den Garten. Dorfbewohner stehen gebückt im Radixfeld und ernten die essbaren Wurzeln. Radix sind neben den Früchten und Blättern des Foresta unser Hauptnahrungsmittel. Als gekochte Knolle, zu Mehl gemahlen und gebacken zu Brot oder geröstet in heißer Asche.

Es herrscht vor vielen Hütten reger Betrieb. Überall wird gearbeitet. Der Lärm des Foresta ebbt ab und wird von Schlagen, Stampfen und Hämmern abgelöst.

Der Lärm der Arbeiten bringt ein unangenehmes Schweigen mit sich. Niemand redet. Niemand lacht. Niemand singt. Eine Stille, die mein Leben bestimmt. Aber gerade wirkt sie noch dichter. Noch zäher. Noch drückender. Sie ist kaum noch zu ertragen.

Der Grund dafür kommt mir entgegen. In einer bunt bestickten Tunika mit einem tiefen Ausschnitt, welche den Blick auf eine behaarte dunkelbraune Brust freigibt, schlendert ein Kontrolleur an den Hütten vorbei. Sein Zepter schleift er nachlässig hinter sich her – zumindest wirkt es so.

Doch ich weiß, dass er nur darauf wartet, dass sich jemand vergisst. Sich ärgert. Wütend wird. Ich senke den Blick.

Seine Magie lässt ihn die Sensi sehen. Er registriert jede Veränderung, jedes zu viel an Gefühlen. Alles, was die Motus anlockt, lockt auch die Kontrolleure an.

Ich gehe vom Weg ab. Langsam, um auf keinen Fall seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Hinter einer Hütte bleibe ich stehen und schiele um die Ecke. Er hat mich nicht bemerkt. Erleichtert atme ich aus. Sie spüren von Weitem, wenn wir unsere Sensi nicht unter Kon­trol­le haben.

Zum Glück sehe ich viel jünger aus als sechzehn Sonnenjahre und könnte damit noch Knospenschutz haben. Er wird mich nicht direkt als Gefahr für das Dorf eingestuft haben.

Aber – und das muss ich mir immer wieder in Erinnerung rufen – ich bin eine Gefahr für die Bewohner hier, weil ich mich nicht unter Kon­trolle habe.

Ich habe das kritische Alter erreicht. Mit meinem gestrigen Geburtstag sind die Verwarnungen vorbei. Es wird nicht mehr nur bei Besuchen in der Casa – einem dunklen Verschlag, in den man gesperrt wird, um sich zu besinnen – bleiben.

Mit den Fingerspitzen fahre ich unter meinen Ärmel und über die Tätowierung an meinem Unterarm. Sie ist noch ganz frisch und wund. Die eingestochenen Symbole stellen meinen Namen dar. Ein Pfeil nach unten. Zwei schräge Striche in der Mitte verbunden. Eine Linie auf einem Pfeil nach rechts. Vier weitere Symbole. Mein Name ist lang.

Jeder wird mit seinem sechzehnten Lebensjahr gekennzeichnet und ist damit ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft. Mit all seinen Pflich­ten. Keine Nachsicht mehr. Keine weiteren Gelegenheiten. Wer bis hier überlebt hat, muss aufpassen. Das Tattoo ist wichtig für das Steingericht und die Verteilung der Frauen auf die umliegenden Dörfer im Foresta.

Der Kontrolleur hebt seinen Kopf. Schnell ziehe ich mich wieder hinter die Hütte zurück. Durchatmen, Valerie.

Ich zähle bis sieben und riskiere erneut einen Blick.

Seine weißen Haare irritieren mich. Sie sind kraus. Wie meine.

Wenn uns die Magie innewohnt, färben sich unsere Haare bei der Er­wachungsprüfung weiß. Meine sind an meinem vierzehnten Ge­burtstag schwarz geblieben. Ich war erleichtert und enttäuscht zugleich. Was mir eine weitere Kerbe eingebracht hat.

Ich bin im Gegensatz zu ihm hellhäutig. Aber die Nase – sie ist eben­so breit wie meine. Das Blähen der Nasenflügel ist genauso wie bei Jarlan. Könnte er … mein … unser Vater sein?

Ich schüttele sacht den Kopf. Das denke ich bei mindestens jedem dritten Kontrolleur, den ich sehe. Ich habe mich da in etwas verrannt, das weiß ich. Es ist gefährlich, das weiß ich auch. Lange atme ich aus und ein.

Ich habe keine Ahnung, warum es mir wichtig ist, zu wissen, wer mei­ne Eltern sind. Niemand kennt die Identität seiner Familie.

Die Götter betrachten Familienverbindungen als gefährlich, des­wegen hat das Forum verboten, die eigene Herkunft in Erfahrung zu brin­gen.

Wir werden nach der Geburt in einem Kindergarten großgezogen. Mit dem fünften Lebensjahr ziehen wir in die erste Häusergemeinschaft. In regelmäßigen Abständen wechseln wir diese. Wahllos werden wir einer Hütte für eine unbestimmte Zeit zugeordnet. Wir bleiben nie lange in einer Gemeinschaft, um keine festen Verbindungen zu bilden, die unsere Sensi herausfordern könnten.

Bis zu unserem sechzehnten Sonnenjahr müssen wir gelernt haben, unsere Gefühle mithilfe von Meditationen, Trance und anderen Techniken zu unterdrücken.

Es fällt mir bis heute schwer. Mein Sensus ist wie ein Vulkan, ständig am Brodeln und kurz vor dem Ausbruch. Es wurde erst leichter, als ich meinen Bruder gefunden habe. Das Wissen könnte mir aber zum Ver­häng­nis werden.

Ich atme tief ein und aus und lehne mich an die Hütte. Verbanne die Anspannung und Neugierde, die mich nur reizt und zu unbedachten Regungen verleitet.

Ich massiere die weiche Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand. Dort sollen uns die Götter berührt haben, nach­dem sie der Menschheit eine zweite Chance gegeben haben.

Der Schatten legt sich auf meinen Verstand. Bedeckt meine Haut wie ein Tuch. Die Welt um mich herum wird grau.

Kapitel5

Es riecht nach frischem Kakao. Auf den Dächern unserer Hütten werden die braunen Bohnen getrocknet, und der Duft wird vom Wind weitergetragen. Zum Schutz vor Plantis spannen einige Dorfbewohner Netze darüber. Ich ziehe einen winzigen, weiß leuchtenden Plant aus meinen Locken. Diese fliegenden und krabbelnden Pflänzlinge sind überall.

Eine schlaksige Gestalt mit schwarzen krausen Locken in einer zu großen Tunika kommt mir entgegen. Mein Schatten zittert, aber ich be­halte die Kontrolle. Zwinge meine Mundwinkel, unten zu bleiben.

Jarlan hat ein Dutzend Lianen im Arm. Ich nehme meinem Bruder wel­che ab, und gemeinsam tragen wir sie zur Hütte, wo aus ihnen Schnü­re und Seile geknüpft werden. Die Lianen sind ölig und glitschig.

Lianen zu fangen, ist eine gefährliche Aufgabe. Noch gefährlicher ist es, sie unschädlich zu machen. Selbst die harmlosesten Ranken wer­den immer bissiger. Trotz tagelanger Einölung und Glättung spüre ich bei einigen winzige Dornen, die in meine Haut ritzen.

Jarlan ist zum Glück nur für das Knüpfen zuständig. Ihn langweilt die Aufgabe, mir bereitet das eine Sorge weniger.

Meinen Bruder gefunden zu haben, war ein Wunder.

Ich habe Jarlan und anderen Kindern das Knüpfen von Netzen und Seilen beigebracht. Damals, mit vierzehn Sonnenjahren, war das meine Aufgabe wie jetzt seine. Er war zwölf und gehörte zu einer neunköpfigen Gruppe. Ein geburtenstarker Jahrgang.

Mir ist ein Muttermal auf seinem rechten Fuß aufgefallen. Ich habe genau dasselbe. Danach habe ich immer mehr Ähnlichkeiten gefunden. Unsere Haare und die weiße Haut. Die seltsamen grünen Sprenkel in der rechten Iris, während die linke nur mahagonibraun ist.

Ich habe es ihm gesagt, was ein Fehler war. Sein Sensus ist explodiert. Er hat geschrien, dass ich lüge. Dass dieses Wissen verboten ist. Seine damalige Mater hat ihn stundenlang beten lassen. Das schlechte Gewissen, ihn dermaßen aufgewühlt zu haben, fraß sich wie das Gift einer Rankule durch meinen Körper.

Aber mir bedeutet es sehr viel. Es knüpft für mich eine Verbindung zu der Gemeinschaft.

Ich habe mich immer so fremd hier gefühlt. – Mein ganzes Leben lang. Meinen Bruder hier zu wissen, bedeutet, ich gehöre hierher. Seine Nähe erdet mich. Ich habe mich durch ihn besser unter Kontrolle.

Wir haben nie wieder darüber gesprochen, aber er hat mich auch nie verraten. Dass er meine Nähe sucht, ist Antwort genug. Er fühlt wie ich die Verbundenheit.

Keiner von uns beiden redet. Ungewöhnlich. Normalerweise will er immer wissen, was ich draußen erlebt habe. Immerzu muss ich ihm von den Gefahren im Foresta erzählen. Er will alles über die Pflanzen da drau­ßen wissen.

Ihn scheint etwas zu bedrücken. Er verzieht sein Gesicht, als ob er Schmerzen hat.

Gewiss liegt es an der Prüfung. Wer könnte es ihm verübeln, heute seinen Sensus nicht unter Kontrolle zu haben? Sonst ist er so viel besser darin als ich.

Ich kann das Ende des Tages nicht erwarten, wenn sich endlich herausstellt, dass Jarlan kein Kontrolleur ist. Sofort schelte ich mich für diesen egoistischen Gedanken. Ich wünsche meinem Bruder ein gefährliches Leben aufgrund meiner Zuneigung. Das ist falsch.

Wir umrunden den Dorfplatz, auf dem eine riesige Skulptur steht. Der sechste Gott ist so groß wie unsere Hütten und starrt uns aus dunklen Augenhöhlen entgegen. Die Skulptur ist seltsam und wirkt befremdlich.

Als kleines Mädchen hat ihr Anblick mir Albträume verursacht.

Statt zwei Arme und Beine hat der Robota vier riesige, angewinkelte Stelzen, die in breiten Rollen enden. Von seinem Bauch, welcher dem Boden zugewandt ist, hängen zum Teil mir unbekannte Werkzeuge herunter. Einige ähneln Zangen und Messern.

Die Geräte eines Gärtners, erklärte mir eine Mater einmal. Mit ihnen wurden die Pflanzen und Menschen erschaffen. Warum unsere Götter die Motus erschaffen haben, konnte sie mir nicht beantworten. Aber ich wurde gezwungen, nach dieser Frage lange zu beten.

Auf dem Rücken stecken dünne und dicke, unterschiedlich lange, metallene Äste und Lianen. Einen Kopf hat der Gott nicht. Dafür vier Augen an dem vorderen und hinteren Teil seines länglichen Körpers – dunkle Höhlen, die bei Bekanntmachungen aufleuchten.

Ich streiche über meine Arme. Ein Kribbeln und Summen überkommt mich. Wie immer in seiner Nähe. So leblos der Gott aussieht, sei­ne Magie spüre ich. Ob das an meinem starken Sensus liegt? Er­mahnt er mich, mich zu kontrollieren?

Jarlan reibt sich ebenfalls seinen Arm.

»Spürst du es auch?«, flüstere ich ihm zu.

Er zuckt zusammen und weicht einen Schritt von mir zurück. Irritiert blinzele ich.

»Nichts spüre ich. Und du solltest das auch nicht«, zischt er mir zu und geht schneller.

Mir wird kalt. In meinem Hals formt sich ein Kloß. Ich schlucke ihn herunter. Er hat ja recht.

»Ich habe nur gesungen!«

Die laute Stimme lässt mich innehalten, und ich drehe mich um. Der Kontrolleur reißt einer großen Frau mit dunklen Haaren das Waschbrett aus den Händen. Die Person entpuppt sich als Carminis, die gern beim Waschen ein Lied singt. Sehr zum Unmut der anderen Be­wohner, denn es handelt sich dabei nicht um unsere meditativen Trance­lieder, sondern um selbst komponierte Melodien. Ich habe ihr oft heimlich zugehört. Die Lieder haben mir Herzklopfen verursacht. Sie klangen so … lebendig und kraftvoll. Verboten und gefährlich.

Ich kann nicht zählen, wie oft sie wegen ihrer Lieder in der Casa war. Die Dunkelheit und das Alleinsein sollen helfen, die Kontrolle über den Sensus wiederzuerlangen. Wie man sieht, hilft es nur kurzfristig.

Heute hat ein Kontrolleur sie erwischt. Wie konnte sie so leichtsinnig sein, am Tag der Prüfung ihre Gefühle herauszulassen?

Ein weiterer Kontrolleur kommt dazu. Er hat glatte Haare, die bis zu seinem Po reichen. Ist es eine Frau? Ich kann das Gesicht nicht se­hen. Die bunt bestickte Tunika verrät nichts, sondern verdeckt den gan­zen Körper.

Er oder sie packt die Frau an den Oberarmen und hält sie fest. Carminis hört nicht auf zu schreien. Der kraushaarige Kontrolleur drückt ihr etwas auf die Stirn. Ihre helle Stimme wird zu einem Kreischen. Der Ton geht mir durch Mark und Bein. Keuchend sinkt die Frau zu Boden, auf ihrer hellbraunen Haut prangt das Siegel der Fehlerhaften. Ein ERROR verschnörkelt in einem Quadrat mit zwei Kreisen. In die Haut geätzt mit dem Gift eines Motus.

Wie die Kontrolleure an dieses gelangen, ist mir nicht bekannt. Aber die Schmerzen kann ich über den Platz hinweg spüren.

Ich fasse mir an die Stirn. Mir ist klar, dass ich kurz davor stehe, ebenfalls gezeichnet zu werden.

Carminis nennt sich selbst Human. Menschlich. Sie ist sich be­wusst, dass sie uns mit dem Ausleben ihrer Gefühle in Gefahr bringt. Und nimmt es in Kauf.

Ich will niemanden in Gefahr bringen. An diesem Unterschied halte ich mich fest. Ich bin nicht wie sie. Eine Fehlerhafte. Eine, die das Dorf gefährdet. Ich bin nur schwach. Doch daran arbeite ich.

Der Kontrolleur senkt seine Hand, an dem der Siegelring steckt, und schaut sich um. Seine schwarzen Augen huschen hin und her.

Einatmen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.

Massieren.

Ich gehe weiter und ziehe Jarlan mit.

Loslassen.

Ausatmen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.

Das Dorf arbeitet weiter. Niemand unterbricht seine Arbeit. Nie­mand kommt der Frau zu Hilfe.

Freude und Lust sind fehlerhafte menschliche Züge. Sie machen un­vorsichtig, egoistisch und ungenau. Solches Verhalten wird vom Fo­rum nicht geduldet. Die Markierung ist eine Warnung. Bei der nächs­ten Kontrolle wird sie aus dem Dorf entfernt.

---ENDE DER LESEPROBE---