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"Verena Keßler verwandelt die unerträgliche Gleichzeitigkeit aus Apokalypse und Nachwuchs in wunderbare Literatur." Marlene Knobloch, Süddeutsche Zeitung Was, wenn Sina nicht schwanger werden kann? Wenn Mona nie Kinder bekommen hätte? Wäre die Welt dadurch ein besserer Ort? Ja, findet Klimaaktivistin Eva Lohaus: Nur ein Geburtenstopp kann unseren Planeten noch retten. Während sie mit den Konsequenzen ihrer radikalen Vision kämpft, hadern die Schwestern Sina und Mona mit ihren eigenen Lebensentwürfen. Aus der Ferne beneiden, aus der Nähe bemitleiden sie sich, gemeinsam versuchen sie, Verantwortung und Erwartungsdruck zu widerstehen. Doch erst die Begegnung mit Monas neuer Nachbarin verändert unseren Blick aufs Muttersein wirklich. Was spricht heute gegen, was für eigene Kinder? In ihrer präzisen und bestechend schmucklosen Sprache erzählt Verena Keßler von vier Frauen, die ihre ganz eigenen Antworten auf diese Frage finden.
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Seitenzahl: 256
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Verena Keßlers Roman über das Kinderkriegen und die Klimakatastrophe ist ein nuanciertes, warmherziges und tiefgründiges Porträt von Mutterschaft.Was, wenn Sina nicht schwanger werden kann? Wenn Mona nie Kinder bekommen hätte? Wäre die Welt dadurch ein besserer Ort? Ja, findet Klimaaktivistin Eva Lohaus: Nur ein Geburtenstopp kann unseren Planeten noch retten. Während sie mit den Konsequenzen ihrer radikalen Vision kämpft, hadern die Schwestern Sina und Mona mit ihren eigenen Lebensentwürfen. Aus der Ferne beneiden, aus der Nähe bemitleiden sie sich, gemeinsam versuchen sie, Verantwortung und Erwartungsdruck zu widerstehen. Doch erst die Begegnung mit Monas neuer Nachbarin verändert unseren Blick aufs Muttersein wirklich.Was spricht heute gegen, was für eigene Kinder? In ihrer präzisen und bestechend schmucklosen Sprache erzählt Verena Keßler von vier Frauen, die ihre ganz eigenen Antworten auf diese Frage finden.
Verena Keßler
EVA
Roman
Hanser Berlin
Eva Lohaus kam in Begleitung einer Golden-Retriever-Hündin, die sie mir als Maddie vorstellte. Wie das vermisste Mädchen?, hätte ich fast gefragt, lächelte dann aber nur und sah zu, wie sich das Tier brav unter den Tisch legte.
»Gut erzogen«, sagte ich.
»Ja«, sagte sie. »Bei Hunden geht das.«
Meine Ressortleiterin hatte mich gewarnt, die Lohaus sei speziell, ich solle mich nicht einschüchtern lassen. Ich hatte abgewunken und gesagt, ich sei durchaus in der Lage, einer wenig medienerprobten Lehrerin ein paar Fragen zu stellen, ohne mich aus dem Konzept bringen zu lassen, doch jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Die Frau hatte eine natürliche Überlegenheit an sich, die in mir die Erinnerung wachrief, vorne an der Tafel zu stehen und die Aufgabe nicht lösen zu können. Sie bestellte Tee, ich tat es ihr gleich. Nachdem die Bedienung unseren Tisch verlassen hatte, legte ich das Aufnahmegerät zwischen uns und schaltete es ein.
»Na dann«, sagte sie und sah mich auffordernd an. Ich spürte ein Flattern im Bauch und hatte das Bedürfnis, meine Hand daraufzulegen, riss mich aber zusammen.
»Frau Lohaus, in Ihrem Essay ›Verhüten rettet Leben‹ sprechen Sie sich dafür aus, die Fortpflanzung einzustellen, um der Klimakrise etwas entgegenzusetzen. Der Text hat einiges an Empörung hervorgerufen und wurde emotional diskutiert, Sie haben sogar Morddrohungen bekommen. Haben Sie mit dieser Reaktion gerechnet?«
Sie antwortete, kaum hatte ich das letzte Wort ausgesprochen, und sofort hatte ich das unangenehme Gefühl, eine zu offensichtliche Frage gestellt zu haben.
»Sicher. Sicher habe ich damit gerechnet. Die Deutschen gehen ja schon auf die Barrikaden, wenn man ihnen vorschlägt, weniger Würstchen zu essen. Bei Kindern hört dann alles auf, das ist ein absolutes Tabu. Aber man hat mich auch missverstehen wollen. Ich habe nie gesagt, dass wir jetzt alle unter Zehnjährigen einschläfern müssen.« Sie griff sich in das krause, dunkelblonde Haar, das von einzelnen grauen Strähnen durchsetzt war, und nahm es kurz im Nacken zusammen, dann stützte sie sich mit den Unterarmen auf den Tisch. »Es ist schon ein bisschen lächerlich, das alles.«
Die Bedienung kam mit unserem Tee, es entstand eine kurze Pause, in der wir beide unsere Teebeutel ins heiße Wasser hängten.
»Sie schreiben, dass der Verzicht auf ein eigenes Kind 58,6 Tonnen CO2 pro Jahr einsparen könne. Wie diese Zahl berechnet wurde, ist mittlerweile stark kritisiert worden, aber selbst wenn wir sie mal so stehenlassen: Gibt es denn keine andere Lösung, als keine Kinder mehr zu bekommen?«
Sie lachte, als könnte sie nicht glauben, dass ich diese Frage wirklich stellte. Als hätte sie mir das schon tausendmal erklärt, als sei ich ein wenig begriffsstutzig.
»Gut«, sagte sie. »Wir könnten natürlich alle auf Autos und Elektrizität verzichten, nicht mehr fliegen, kein Fleisch mehr essen, unseren Konsum radikal einschränken und in kleinen, unbeheizten Wohnungen hausen. Aber selbst dann bliebe immer noch die Frage, wovon wir alle ernähren. Anbauflächen sind eine endliche Ressource, jeder abgeholzte Wald, jedes Moor, das einem Acker weichen muss, sorgt für den Ausstoß weiterer Treibhausgase. Die Meere sind überfischt, leer im Prinzip, da braucht es nicht noch mehr Fischstäbchenesser. Es kann kein unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten geben, das ist eine einfache Rechnung.«
Sie hob die Schultern einmal kurz nach oben und sah mich an, als wollte sie prüfen, ob ich es endlich verstanden hatte. Dann nahm sie den Porzellandeckel von ihrer Tasse und zog den Teebeutel wieder heraus, er hatte keine zwei Minuten im Wasser gehangen.
»Sie sagen also: Lieber denen, die bereits geboren sind, ein angenehmes Leben ohne Einschränkungen ermöglichen?«
»Ich sage, keine Kinder zu bekommen erspart Leid. Es muss allen klar sein, dass jedes Kind, das heute geboren wird, die Folgen der Klimakrise mit voller Härte zu spüren bekommen wird. Sehr wahrscheinlich wird es Ressourcen-Kriege geben, die den gesamten Planeten betreffen. Das Beste, was Eltern für ihre Kinder tun können, ist, sie gar nicht erst in die Welt zu setzen.«
Ich griff nach einem der kleinen Zuckertütchen, die in der Mitte des Tisches standen, riss es auf und leerte es in meinen Tee. Eigentlich wollte ich gar keinen Zucker, aber ich brauchte diese fünf Sekunden, um meine Gefühle in den Griff zu bekommen.
»Wussten Sie immer schon, dass Sie keine Kinder wollen?«, fragte ich und bereute es augenblicklich. Ich hatte nicht persönlich werden wollen, so eine Journalistin war ich nicht. Ich spürte, wie meine Wangen warm wurden. Die Lohaus hingegen schien mit einem Mal vollkommen gelassen. Sie lächelte wie jemand, der am Ende Recht behalten hatte.
»Ich mache hier kein privates Unglück im Nachhinein zum Politikum, falls Sie das meinen. Ich menstruiere noch sehr regelmäßig.«
*
Nach dem Interview fuhr ich mit der U-Bahn in die Redaktion. Ich steckte meine Kopfhörer in die Ohren, wollte mich ein paar Minuten von der Außenwelt abkapseln. Ich spürte ein leichtes Ziehen in der Brust, aber ich verbot mir, irgendetwas hineinzuinterpretieren, es war noch zu früh. Die U-Bahn war fast leer, trotzdem setzte sich an der nächsten Station ein Mann mit seiner vielleicht zweijährigen Tochter auf den Platz mir gegenüber. Sie stand mit den Schuhen auf dem Sitz und patschte mit ihren kleinen Händen gegen die schmierige Scheibe. Als sie anfing, das Fenster abzulecken, nahm er sie auf den Schoß. Ich hatte das Gefühl, ich hätte das Mädchen schon mal irgendwo gesehen, doch der Vater kam mir nicht bekannt vor. Vielleicht hatte ich sie zu lange angestarrt, denn auf einmal zeigte sie auf mich und lachte. Der Vater sagte irgendwas und lachte auch, aber ich hörte nichts, die Musik war zu laut. Unauffällig stellte ich sie leiser. Das Mädchen zeigte noch mal auf mich, und diesmal verstand ich: »Mama!« »Das ist nicht Mama, du Quatschkopf«, sagte der Vater und drückte sanft die Hand seiner Tochter nach unten. »Mama ist im Büro, das weißt du doch.« »Mama!«, sagte sie noch mal und lachte sich kaputt. »Mama, Mama!« Ich tat, als könnte ich nichts hören, und sah wieder aus dem Fenster. An Zeichen dieser Art glaubte ich schon lange nicht mehr.
*
Irgendwann hatte es einfach angefangen und seitdem nicht mehr aufgehört. Wir waren vielleicht Mitte zwanzig, als sich dieses Thema allmählich in die Gespräche mit Freundinnen schlich, als wir anfingen, einander zu fragen, ob wir es uns vorstellen könnten, wann der richtige Zeitpunkt wäre, wie viele wir wollten und mit wem. Eine Weile war das alles rein hypothetisch, wir taten so, als hätten wir ewig Zeit, als würden unsere Frauenärztinnen uns nicht bei jedem Termin daran erinnern, dass wir bloß nicht zu lange zögern sollten. Doch dann machte die Erste Ernst. »Hast du Angst?«, wollte ich fragen, als sie mir erzählte, dass sie schwanger war. »Was, wenn es dir nicht gefällt? Wenn du merkst, dass das nichts für dich ist?« Aber ich sagte nichts. Sie wirkte nicht wie jemand, der Angst hatte, und ich wollte nicht diejenige sein, die ihr solche Gedanken einflüsterte. Bei der Zweiten war ich schon weniger überrascht, und ab der Dritten wusste ich bereits vorher, wenn mir eine von ihnen von ihrer Schwangerschaft erzählen würde. Sie strahlten diese freudige Nervosität aus, bevor sie die Nachricht mit einem breiten Grinsen und den Worten »Es gibt noch Neuigkeiten« einleiteten. Ich gewöhnte mir eine angemessene Reaktion an, ein überschwängliches »Oh, wie schön!«, Umarmung, Glückwünsche, strahlendes Lächeln. Ich hatte die ersten Standardfragen parat: Wie fühlst du dich? Wann ist es so weit? Wie macht ihr es mit der Elternzeit? Es war, als führte ich ein kleines Stück auf, der Text stand, nur das Publikum wechselte. Doch ich war nicht die Einzige, die vorbereitet war, auch auf der anderen Seite gab es eine Standardfrage. Es dauerte nie lange, bis sie aufploppte wie ein nerviges Werbebanner: »Und was ist mit euch?«
*
Als ich an diesem Abend nachhause kam, hatte Milo vegetarische Lasagne gemacht und auf dem niedrigen Couchtisch vor dem eingeschalteten Fernseher für uns gedeckt. So aßen wir meistens, wie zwei Teenager, zu bequem, um auf Stühlen zu sitzen, die Beine des einen auf dem Schoß des anderen, als könnten wir nur in Verbindung sein, wenn unsere Körper sich berührten. Es lief eine Tier-Doku, Milo hatte eine spleenige Vorliebe dafür, er sagte, es sei beruhigend, Tieren beim Tiersein zuzusehen, einer der wenigen Punkte, in denen er sich mit meiner Schwester Mona einig war. Während ich den BH unter meinem Pullover auszog und in meine Jogginghose schlüpfte, erzählte ich ihm, wie das Interview mit der Lohaus gelaufen war.
»Was hältst du von ihr?«, fragte ich, als ich mich neben ihn aufs Sofa fallen ließ.
»Nichts natürlich«, sagte er und lud uns jedem ein großes Stück Lasagne auf den Teller.
»Aber hat sie nicht auch ein bisschen Recht?«, fragte ich. »Weniger Menschen, weniger CO2. Ist doch kein schlechter Plan, um die Erde zu retten. Mehr Käse bitte.«
Milo sah mich an, als hätte ich gesagt, die Mondlandung sei nie passiert. Dann zog er ein Stück der Käsekruste von seinem Teller auf meinen.
»Für wen denn die Erde retten, wenn keiner mehr da ist?«, fragte er.
»Für die Natur?«, schlug ich vor. »Die Tiere? Für ihren Golden Retriever vielleicht.«
Ich nahm einen Bissen, er war noch viel zu heiß, und ich verbrannte mir die Zunge.
»Sie hat einen Hund?«
Ich nickte, immer noch damit beschäftigt, das heiße Essen in meinem Mund hin und her zu bewegen, um es vor dem Runterschlucken etwas abzukühlen.
»Eine Hündin. Maddie.«
Milo gab ein missbilligendes Schnauben von sich und schaufelte sich eine große Gabel Lasagne in den Mund. Es schien ihm nichts auszumachen, dass sie praktisch noch glühte.
»Was denn?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf und antwortete mit vollem Mund.
»Ist doch heuchlerisch«, sagte er. »Anderen Leuten das Kinderkriegen verbieten zu wollen und selbst ein Lebewesen zu halten, das täglich mehrere Dosen Fleisch frisst.«
»Tierfeind«, sagte ich.
Milo sah mich mit zusammengekniffenen Augen an und pickte den Käse, den er mir gerade erst überlassen hatte, wieder von meinem Teller. Wir fochten einen Moment mit unseren Gabeln, doch als etwas Tomatensoße auf dem Sofa landete, einigten wir uns auf einen Waffenstillstand. Milo stellte den Fernseher lauter. Ein Pinguinvater erbrach gerade halb verdauten Fisch in den Rachen seines Jungen.
»Abartig«, sagte ich.
»Tierfeindin«, sagte Milo.
*
Ein letztes Mal würden wir es noch so versuchen, das hatten Milo und ich drei Wochen zuvor beschlossen. Wir hatten auf dem Bett gelegen, mein Gesicht in seinem Pullover vergraben, eine Wärmflasche unter dem Bund meiner Jogginghose.
Natürlich hatten wir uns untersuchen lassen, Spermiogramm, Hormoncheck, Eileiterprüfung, das volle Programm. Körperlich war alles in Ordnung, wir waren beide gesund. Dass dieses Ergebnis das denkbar schlechteste war, verstanden wir erst allmählich. Nur weil es keine Ursache gab, war der Fehler nicht behoben. »Selbstverständlich können Sie es weiter auf dem natürlichen Weg probieren», hatte die Ärztin bei unserem letzten Termin in der Kinderwunsch-Praxis gesagt. «Aber ich würde Ihnen empfehlen, sich mit der Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung auseinanderzusetzen.» Mir war ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Ich hasste alles an diesem Ausdruck, ich wollte nicht befruchtet werden, schon gar nicht künstlich. Einmal noch so, hatten wir also gesagt, als ich kurz darauf wieder meine Tage bekommen hatte, ein letztes Mal noch, dann würden wir entscheiden, ob wir den nächsten Schritt gehen oder es ganz lassen wollten. Dass wir uns in dieser Frage nicht einig sein könnten, hatte keiner von uns beiden ausgesprochen.
*
Wir kannten uns erst wenige Wochen, als Milo seinen Unfall hatte. Er arbeitete auf Großbaustellen, ein Missverständnis mit dem Kranfahrer, Milos Hand zwischen Boden und Betonplatte. zwei Tonnen gegen ein paar Knochen. Ich hörte mehrere Tage nichts von ihm und wollte mich schon damit abfinden, dass es vorbei war, dachte, dass ich mich in ihm getäuscht hatte und er doch einer von denen war, die sich einfach nicht mehr meldeten. Da schickte er mir eine SMS aus dem Krankenhaus. Ob ich starke Nerven hätte, ob ich mich trauen würde, ihn zu besuchen. Sie hatten den kleinen Finger, den Ringfinger und den halben Mittelfinger der linken Hand amputieren müssen, das schrieb er mir vorher, und ich stellte mich darauf ein, für ihn da zu sein, ihn zu trösten und ihm gut zuzusprechen. Aber Milo war bestens gelaunt. »Besser als Daumen und Zeigefinger, oder?«, sagte er und lachte. An diesem Tag im Krankenhaus verliebte ich mich in ihn. Wann immer Pflegepersonal ins Zimmer kam, scherzte er mit ihnen, rief, dass er etwas zu reklamieren hätte. »Hier fehlen Teile! Der ist nicht vollständig!« Da wusste ich, dass ich mit so einem Menschen mein Leben verbringen wollte. Einem Menschen, den nichts brechen konnte.
Von dem Schmerzensgeld, das seine Firma an ihn zahlen musste, weil die vorgeschriebenen Sicherheitsauflagen nicht erfüllt worden waren, machten wir im Sommer darauf unsere erste gemeinsame Reise. Drei Wochen lang fuhren wir durch Albanien, von Saranda nach Durrës, immer die Küste entlang. Wir hatten keinen festen Plan, wir blieben, wo es uns gefiel, buchten Unterkünfte spontan, nahmen den Bus oder stellten uns einfach an die Straße und ließen uns mitnehmen. Es erstaunte mich, wie einig wir uns bei allen Entscheidungen waren, bis mir auffiel, dass Milo sich einfach meinem Willen fügte. Als ich ihn darauf ansprach, gab er zu, dass er keine Lust auf Diskussionen hatte. Die meisten Dinge seien doch viel zu unwichtig, um sich darüber zu streiten, er wolle die Zeit mit mir genießen, und wenn ich zufrieden war, sei er es auch. Als es das nächste Mal darum ging, ob wir den Weg in den Ort wandern oder uns Mofas leihen wollten, weigerte ich mich, meine Meinung zu sagen, sodass Milo gezwungen war, selbst zu entscheiden. Es kostete mich einiges an Willenskraft, im Anschluss nicht darüber zu nörgeln, dass es zum Laufen zu heiß war und die Strecke perfekt für eine kleine Spritztour gewesen wäre. Schon bald darauf fielen wir wieder in unser altes Muster zurück.
Nur im Bett sagte Milo klar, was er wollte. Mit ihm zu schlafen fühlte sich so leicht an wie Malen nach Zahlen, er führte meine Hände dorthin, wo er sie haben wollte, sagte mir, wie ich mich bewegen und drehen sollte, gab das Tempo vor und moderierte uns so sicher zum Höhepunkt. Wenn ich mich hin und wieder zu sagen traute, was ich mir von ihm wünschte, verwehrte er es mir meist. »Das willst du also, ja?«, sagte er dann und tat etwas völlig anderes. Warum mich das so anmachte, verstand ich selbst nicht.
Wenn ich später an diesen Urlaub zurückdachte, nannte ich ihn manchmal für mich den Grundkurs Milo. Ich lernte in diesen drei Wochen alles Wesentliche, was ich über ihn wissen musste. Zum Beispiel, dass die wichtigsten Menschen in seinem Leben seine Geschwister waren. Er hatte zwei Brüder und eine Schwester, sie alle waren im Abstand von kaum mehr als einem Jahr zum jeweils älteren Kind geboren und standen sich sehr nah. Milo war der Jüngste. Es sei, als hätte er schon bei seiner Geburt Freunde gehabt, erklärte er mir. Selbst jetzt, wo sie alle weit weg wohnten, fühlte er sich nie wirklich allein. Jeden Tag schickte er unzählige Sprachnachrichten in den Geschwister-Chat, und abends hörten wir uns oft zusammen die Nachrichten der anderen an, in denen sie von ihrem Tag erzählten. Sein ältester Bruder und seine Schwester hatten jeweils schon Kinder, bald würde das erste des mittleren Bruders auf die Welt kommen. Wenn Milo mir Fotos und Videos von seinen Neffen und Nichten zeigte, bekam sein Gesicht diesen ganz speziellen Ausdruck. Anfangs konnte ich ihn nicht richtig deuten, doch irgendwann wurde mir klar, dass es eine Mischung aus Liebe und Schmerz war.
Natürlich erzählte ich ihm auch von Mona. Dass wir als Kinder unzertrennlich gewesen waren und ständig aneinandergeklebt hatten, dass ich nicht hatte schlafen können, wenn sie nicht neben mir lag, dass ich früher manchmal das Gefühl gehabt hatte, wir könnten die Gedanken der jeweils anderen lesen, dass ich mit niemandem sonst so leise sprechen konnte und trotzdem verstanden wurde. »Wieso rufst du sie nie an?«, hatte Milo gefragt, und ich hatte wirklich versucht, es ihm zu erklären. Wir seien eben anders als seine Geschwister und er, wir bräuchten nicht täglich voneinander zu hören, um uns nah zu sein. »Aber willst du denn gar nicht wissen, wie es ihr geht?«, hatte er gefragt. Aber will sie denn gar nicht wissen, wie es mir geht?, hätte ich am liebsten geantwortet. Sie sei ziemlich beschäftigt, seit sie Kinder habe, rechtfertigte ich mich halbherzig, und Milo ließ die Sache auf sich beruhen. Doch so richtig verstand er die Beziehung zwischen Mona und mir auch später nicht.
Es war der letzte Abend unserer Reise, Tirana, 42 Grad. Wir hatten den Tag im klimatisierten Hotelzimmer verbracht, mehrmals miteinander geschlafen und albanische Soaps gesehen, zu denen wir uns eigene Storys ausdachten, weil wir die Dialoge nicht verstanden. Abends bekamen wir Hunger und beschlossen, uns raus in die Hitze zu wagen, um zum Abschluss anständig essen zu gehen. Ich weiß nicht, warum wir dachten, es sei eine gute Idee, Sushi von einem »All you can eat«-Buffet für zehn Euro zu essen, Drinks inklusive. Schon auf dem Rückweg zum Hotel wurde mir schlecht. Ich hoffte, dass es nur daran lag, dass ich zu viel gegessen und getrunken hatte, aber kaum waren wir auf dem Zimmer, erbrach ich einen rosa Schwall aus Fisch, Reis und Gin Tonic in die Toilette. Das Bad war durch eine dünne Schiebetür vom kleinen Zimmer getrennt, doch so, wie ich auf dem Boden hing, konnte ich sie ohnehin nicht schließen. Milo bekam alles mit. Jedes Mal, wenn ich aufstehen wollte, rumorte es in meinem Magen, und ich übergab mich erneut. Nach einer Weile kam er zu mir und legte mir die Hand auf die Stirn. Ich sei sehr heiß, sagte er und drückte mir eine Wasserflasche in die Hand, die ich gierig leer trank. Es dauerte keine Minute, bis alles wieder herausschoss. Milo sah mich besorgt an. »Du verlierst zu viel Flüssigkeit«, sagte er. »Du dehydrierst.« Ich nahm seine Worte wahr, aber ich verstand sie nicht, mein Gehirn schien wie ausgeschaltet, alles, was ich tat, wurde nur noch von meinem Körper kontrolliert. Irgendwann hörte ich Milo nebenan telefonieren. Sein Englisch war nicht gut, das hatte ich auf dieser Reise schon mitbekommen, trotzdem schaffte er es, einen Krankenwagen zu rufen, der schon wenige Minuten später da war. Wie sich herausstellte, befand sich das nächste Krankenhaus nur ein paar hundert Meter die Straße runter. In der Notaufnahme hatte ich schnell meinen Spitznamen weg: Sushi-Girl. Man kannte den Laden schon, erzählte einer der Sanitäter, das Gesundheitsamt sei längst informiert. »But why still open?«, fragte Milo. Der Sanitäter zog nur vielsagend die Augenbrauen hoch und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. Ich wurde in ein volles Sechserzimmer gebracht, auf eine dazugestellte Liege gelegt, kam an den Tropf und schlief sofort ein. Als ich wieder aufwachte, war es draußen hell. Ich drehte meinen Kopf zur Seite, und da sah ich Milo, der ungesund zusammengefaltet auf einem Stuhl neben meiner Pritsche schlief, das Kinn auf der Brust, ein Speichelfleck auf seinem T-Shirt. Er war die ganze Nacht geblieben, obwohl das Hotel nur zwei Minuten entfernt war.
»Warum hattest du eigentlich nichts?«, fragte ich ihn später am Flughafen. »Du hast doch vom selben Buffet gegessen.«
Er antwortete nicht, grinste nur und rieb Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand aneinander.
»Wir sollten jedenfalls unbedingt daran arbeiten, weniger im Krankenhaus zu sein, wenn wir zusammenbleiben«, sagte ich.
»Wenn?«
*
In der Nacht nach dem Interview konnte ich nicht schlafen. Das Ziehen in der Brust hatte nachgelassen, und auch sonst spürte ich keinerlei Regung in meinem Körper, nichts, was es mich einfach spüren ließ, wie manche der Frauen in den Foren schrieben. Als sei schwanger sein so eine Art magischer Inbesitznahme, ein sphärischer Zustand. Aber was wusste ich. Vielleicht war es das ja, vielleicht spürte man tatsächlich den Beginn des Lebens wie einen göttlichen Stromschlag in seinem Unterleib, und alles, was ich mir bisher eingebildet hatte, waren Blähungen. Ich fuhr mit den Händen unter mein T-Shirt und tastete meinen Bauch ab, ohne zu wissen, wonach ich suchte. Mit den Fingern strich ich über die leichten Erhebungen meiner Muskeln, spannte sie an, zählte die Streben. Seit ein paar Monaten machte ich wieder jeden Morgen meine Übungen und ging alle zwei Tage laufen. Eine Zeitlang hatte ich damit aufgehört, nachdem ich im Internet gelesen hatte, dass Sport zwar grundsätzlich die Fruchtbarkeit steigere, allerdings nicht jeder Sport in der Einnistungsphase ratsam sei. Man solle sich auf Aktivitäten konzentrieren, die möglichst wenig Stöße in der Gebärmutter verursachten und am besten die eigene Weiblichkeit betonten. So kam ich zum Fruchtbarkeitsyoga. Anfangs hatte ich wirklich das Gefühl, dass es mir guttat. Ich fand unzählige Videos auf YouTube, die Haltungen waren beruhigend und sorgten dafür, dass meine Schmerzen im unteren Rücken beinahe vollständig verschwanden. Doch irgendwann klickte ich auf ein Video, bei dem es im Anschluss an die Yogaeinheit noch eine geführte Meditation gab. Man sollte sein zukünftiges Kind visualisieren und es einladen, zu einem zu kommen. Milo fand mich weinend auf der Yogamatte, da war das Video längst vorbei. Was denn los sei, fragte er und legte sich neben mich. Unser Kind habe keinen Bock auf mich, erklärte ich ihm aufgelöst, es ignoriere meine Einladung und warte wahrscheinlich darauf, dass sich etwas Besseres ergab. »Was?«, fragte er verständnislos, und ich zeigte auf den Laptop, der immer noch aufgeklappt auf einem Hocker stand. Milo setzte sich auf und las den Titel des Videos laut vor: »Fertility-Yoga, Loslassen & Empfangen, spirituelle Begleitung bei Kinderwunsch«. Er hatte den Laptop zugeklappt und darauf bestanden, dass ich am nächsten Tag wieder laufen ging.
Ich sah auf mein Handy, es war 00:42 Uhr. Milo atmete regelmäßig und tief neben mir. Er hatte die Gabe, sich hinzulegen und auf der Stelle einzuschlafen, ganz egal, wie der Tag gewesen war. Um nichts beneidete ich ihn mehr. Ich fing an, von hundert runterzuzählen, damit meine Gedanken zur Ruhe kamen, doch es funktionierte nicht, ich schweifte immer wieder ab, erreichte nicht mal die achtzig. Ich erinnerte mich an einen TED-Talk, den ich vor Jahren gesehen hatte, ein Drummer hatte erklärt, wie man in den Schlaf abdriften konnte, indem man einen bestimmten Rhythmus klopfte, aber mir fiel nicht mehr ein, was für ein Rhythmus das war. Ich fixierte einen Punkt an der Decke und zwang mich, die Augen offen zu halten, in der Hoffnung, dass sie dadurch müde wurden und einfach zufielen, doch auch das zeigte keine Wirkung. Um kurz nach eins stand ich leise auf und schlich mich aus dem Schlafzimmer.
Milo mochte es nicht, wenn ich nachts laufen ging. Wir hatten darüber schon oft diskutiert, es war eines der wenigen Themen, bei denen er nicht nachgab. »Was, wenn du einem Irren begegnest?«, fragte er dann immer und packte irgendwelche Geschichten aus, die er in seinen True-Crime-Podcasts gehört hatte. Ich sei doch schon aufgewärmt, sagte ich dann, ich würde einfach wegrennen und wäre viel zu schnell für so einen Mörder, der wahrscheinlich stundenlang im Busch gehockt hatte und ganz steif in den Knien war. Milo fand das gar nicht lustig und drohte damit, allen zu erzählen, ich sei durchgebrannt, sollte meine Leiche nicht gefunden werden. Damit würde er sich nur selbst verdächtig machen, sagte ich dann, und so ging es ewig hin und her, wechselte übergangslos zwischen Ernst und Spaß, bis ich am Ende wütend laufen ging und Milo beleidigt darauf wartete, dass ich heil zurückkam.
Die Luft draußen war angenehm kühl. Es war Ende März, der Frühling hatte sich schon angekündigt, es hatte erste warme Tage gegeben, doch noch war der Winter nicht ganz vorbei. Ich zog mein Stirnband zurecht und lief los. Natürlich dachte auch ich nicht, dass ich nachts allein auf der Straße vollkommen sicher war. Ich hatte bloß irgendwann beschlossen, dass ich mich deshalb nicht zuhause einsperren würde, sobald die Sonne untergegangen war. Ich blieb auf den gut beleuchteten Hauptstraßen, das war mein Kompromiss. Und tatsächlich stellte sich nach ein paar Metern oft ein Hoch ein, ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, der Glaube daran, dass ich wirklich weglaufen könnte, wenn es darauf ankam.
Ich war vielleicht zwanzig Minuten unterwegs, als ich den Igel sah. Er steckte mit der Schnauze voran bis zur Hälfte in einem großen Joghurtbecher und schob ihn so über die Straße. Das kratzende Geräusch, das dabei entstand, kam mir in der Stille der Nacht unverhältnismäßig laut vor. Ich blieb stehen und hockte mich neben das Tier. Einen Moment lang bewegte auch der Igel sich nicht mehr, er musste mich gehört oder gerochen haben. Dann kroch er weiter. Vermutlich hatte auch er beschlossen, dass er sich durch mögliche Gefahren nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen würde. Wo Menschen sind, da ist auch Müll, der Satz kam mir jetzt wieder in den Sinn. Die Lohaus hatte ihn am Vormittag während des Interviews gesagt und dann erklärt, wie man Müll dementsprechend am einfachsten reduzieren konnte: »Indem man die Müllverursacher reduziert.« Ich holte mein Handy aus der Reißverschlusstasche meiner Laufhose und machte ein Video. Ich wollte es Milo schicken, ließ es dann aber doch bleiben. Vielleicht hatte er ja gar nicht gemerkt, dass ich weg war. Nach kurzem Zögern schickte ich es stattdessen Mona. »Das bist du«, schrieb ich darunter, ein alter Witz zwischen uns. Zu meiner Überraschung war sie online, die Häkchen wurden sofort blau. Ich hockte mitten in der Nacht allein auf der Straße und sah zu, wie meine Schwester ihre Antwort eingab. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam dann doch nur ein Foto. Sie musste es gerade eben im Zimmer der Mädchen aufgenommen haben, ich erkannte die Bettwäsche einer meiner Nichten. Auf dem Foto war eine hässliche Puppe zu sehen, irgendwer hatte ihr die Lippen mit Kugelschreiber blau angemalt und die Haare abgeschnitten. »Und du bist das«, schrieb sie dazu. Ich musste grinsen, steckte das Handy wieder ein und befreite den Igel aus dem Joghurtbecher. Als ich nachhause lief, fühlte ich mich angenehm müde und leicht.
*
Wann immer ich an meine Kindheit dachte, sah ich Mona. Es gab in meiner Erinnerung kein Bild ohne sie. Als wir klein waren, hatten wir unsere Betten nebeneinandergeschoben, sie standen in der Mitte unseres Kinderzimmers wie ein Ehebett. Es gab unzählige Fotos von uns, wie wir ineinander verschlungen schliefen, zusammengerollt wie kleine Tierbabys, als müssten wir einander wärmen. Saßen wir irgendwo, hatte immer eine die Beine auf dem Schoß der anderen, und standen wir beisammen, schlang die Hintere ihre Arme um den Bauch der Vorderen, ruhte ihr Kinn zwischen meinen Schulterblättern und umgekehrt. Wir hatten ein Spiel, das wir Schmetterling nannten, dabei kamen wir uns mit den Gesichtern so nahe, dass wir unsere Wimpern ineinanderflattern lassen konnten. Manchmal überredete ich Mona, unsere Haare miteinander zu verflechten. Eine Zeitlang fand sie es lustig, so herumzulaufen, doch immer war sie es, die irgendwann keine Lust mehr hatte und den Zopf löste. Sie war nur elfeinhalb Monate älter als ich, nur elfeinhalb Monate hatte sie die Welt ohne mich gekannt. Ich wünschte mir lange, wir wären Zwillinge. Ich stellte mir vor, dass man uns als Einheit wahrnehmen würde, die durch nichts zu trennen war. Schon damals hatte ich diesen Wunsch: einen Menschen zu haben, nur einen, der bedingungslos zu mir gehörte.
Ich war dreizehn und Mona vierzehn, als sie ganz plötzlich einen Freund hatte. Er wohnte in unserem Viertel, ging aber auf eine andere Schule. Sie hatte ihn bei den Tischtennisplatten kennengelernt, wo wir unsere Nachmittage mit ein paar Freunden verbrachten, ohne Tischtennis zu spielen. Er war einfach zu uns rübergekommen und hatte sie gefragt, ob sie sich mit ihm auf eine der Bänke setzen wollte. Sie ging mit, und ich beobachtete, wie sie ihr Knie immer wieder gegen seins fallen ließ, wie sie ihre Haare im Nacken zusammennahm und ihm ihre spitzen Ellenbogen entgegenstreckte, wie sie ständig nickte und lachte, als wäre er der witzigste Mensch der Welt. Nach einiger Zeit verschwanden sie zusammen und kamen nicht zurück, bevor sich unsere Gruppe auflöste. Ich ging an diesem Abend allein nachhause.
»Kanntest du den schon vorher?«, fragte ich, als wir später in unseren Betten lagen, die schon seit einer Weile wieder einzeln an der Wand standen.
»Nee, wieso?«
»Und was habt ihr noch gemacht?«
»Was denkst du denn, was wir gemacht haben?«
»Seid ihr jetzt zusammen?«
Mona stöhnte genervt auf.
»Sei nicht so zurückgeblieben«, sagte sie. »Man muss nicht immer gleich zusammen sein.«
Und dann waren sie es doch. Anfangs trafen sie sich jeden Tag an den Tischtennisplatten, doch schon bald verschwanden sie oft stundenlang, wahrscheinlich zu ihm, ich fragte Mona nie danach. In dieser Zeit fing sie an, mich wegzuschieben, wenn ich mich auf der Couch neben sie legte, beschwerte sich, dass ich ihr keine Luft ließe, wenn ich mich von hinten an sie hängte, während sie vor der Mikrowelle auf ihr Essen wartete. Ich wusste lange nicht, was los war, fühlte mich zurückgewiesen und alleingelassen, bis ich irgendwann selbst einen Freund hatte und verstand. Es lag an der Nähe. Sie ließ sich nicht aufteilen.
*
Ich hatte fast den gesamten Tag gebraucht, um das Interview zu transkribieren. Immer wieder hatte ich die Aufnahme angehalten und war in die Küche gegangen, um mir ein Glas Wasser zu holen oder Kaffee zu machen und Kolleginnen über ihre Wochenendpläne auszufragen. Ich hatte jede E-Mail sofort beantwortet und sogar die Suppenspritzer der letzten Wochen mit einem Bildschirmreinigungstuch von meinem Laptop gewischt. Ich hatte es noch nie besonders gemocht, meine eigene Stimme zu hören, ich hasste die Ähms und Irgendwies und Sozusagens, die unsicheren Lacher, das laute Atmen, die unvollständigen Sätze. Eigentlich hatte ich mir deshalb angewöhnt, einfach so zu tun, als sei es eine fremde Person, die da sprach. Doch bei diesem Interview gelang es mir nicht, es war, als würde ein Film vor meinem inneren Auge ablaufen, ich sah uns wieder einander gegenübersitzen, konnte die Unsicherheit spüren, die Eva Lohaus in mir ausgelöst hatte. Erst eine knappe Stunde vor Abgabe schaffte ich es endlich, mich zusammenzureißen und den Rest des Interviews einigermaßen konzentriert runterzutippen.
Nun ist die Geburtenrate in Deutschland ja ohnehin seit Jahren sehr niedrig, Frauen bekommen hier im Durchschnitt gerade mal 1,4 Kinder. Die Bevölkerung schrumpft also sowieso. Müssten da nicht eher andere Teile der Welt auf Nachwuchs verzichten?