Ever – Wann immer du mich berührst - Nikola Hotel - E-Book
SONDERANGEBOT

Ever – Wann immer du mich berührst E-Book

Nikola Hotel

0,0
9,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebe wird aus Mut gemacht! Verletzt. Verängstigt. Verloren. So fühlt Abbi sich momentan. Sie will einfach nur nach Hause, weg aus der Reha-Klinik, wo sie nach einem schlimmen Autounfall wieder laufen lernen soll. Nur macht sie keine Fortschritte. Überhaupt keine. Abbi hat seit dem Unfall panische Angst vor Schmerzen, und die Therapie läuft dementsprechend schlecht – bis sie einen neuen Physiotherapeuten bekommt. David Rivers ist noch Student, aber mit seiner geduldigen, sanften Art dringt er zu ihr durch. Wann immer er sie berührt, verfliegt ihre Angst. Sie fühlt sich sicher. Doch das ist sie nicht. Denn David kennt ein Geheimnis, das ihre ganze Welt zerreißen könnte … Der Auftakt der zweibändigen Paper-Love-Reihe Mit Origami-Faltanleitungen

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 592

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Nikola Hotel

Ever – Wann immer du mich berührst

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Liebe wird aus Mut gemacht!

 

Verletzt. Verängstigt. Verloren. So fühlt Abbi sich momentan. Sie will einfach nur nach Hause, weg aus der Rehaklinik, wo sie nach einem schlimmen Autounfall wieder laufen lernen soll. Nur macht sie keine Fortschritte. Überhaupt keine. Abbi hat seit dem Unfall panische Angst vor Schmerzen, und die Therapie läuft dementsprechend schlecht – bis sie einen neuen Physiotherapeuten bekommt. David Rivers ist noch Student, aber mit seiner geduldigen, sanften Art dringt er zu ihr durch. Wann immer er sie berührt, verfliegt ihre Angst. Sie fühlt sich sicher. Doch das ist sie nicht. Denn David kennt ein Geheimnis, das ihre ganze Welt zerreißen könnte …

 

Der Auftakt der zweibändigen Paper-Love-Reihe.

Vita

Nikola Hotel hat eine große Schwäche für dunkle Charaktere und unterdrückte Gefühle. Obwohl sie auch schon romantische Komödien geschrieben hat, hängt ihr Herz daher vor allem am New-Adult-Genre. Und das merkt man ihren ebenso gefühlvollen wie mitreißenden Liebesgeschichten an. «It was always you», der erste von zwei Bänden um die Blakely-Brüder Asher und Noah, stieg unmittelbar nach Erscheinen auf die Spiegel-Bestsellerliste ein. Das Buch wie auch der Nachfolger «It was always love» wurden aufwendig von Carolin Magunia mit Handletterings illustriert. Und auch die neue Reihe «Paper Love» ist mit einem Daumenkino und Origami-Faltanleitungen wieder aufwendig ausgestattet. Nikola Hotel lebt mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Söhnen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bonn und tauscht sich auf Instagram gern mit ihren Lesern aus. Mehr Informationen sind auf ihrer Homepage zu finden: www.nikolahotel.de

Für David, der mich gerettet hat.

Für das, wofür er steht.

Und für alle, die einen David brauchen.

All you have to do is close your eyes

And just reach out your hands and touch me

Hold me close don’t ever let me go

EXTREME

Playlist

World Gone Mad – Bastille

Do You Remember – Jarryd James

Losing Sleep – Tom Gregory

Blood, Sweat & Tears – Ava Max

Wonderful Life – Black

Eyes Shut – Years & Years

Small Steps – Tom Gregory

Pictures – Tom Gregory

The Power Of Love – Frankie Goes To Hollywood

Give Me Something – Jarryd James

Fever – Elvis Presley

Another Place – Bastille, Alessia Cara

Desire – Years & Years

Always On My Mind – Elvis Presley

More Than Words – Extreme

Don’t Panic – Years & Years

The World Is Not Enough – Garbage

Hypnotised – Years & Years

The Reason – Hoobastank

When I Watch The World Burn All I Think About Is You – Bastille

1000x – Jarryd James ft. Broods

1. KapitelAbbi

Ich presse die Lippen zusammen. Obwohl ich Angst habe, versuche ich, an etwas Schönes zu denken, so wie meine Physiotherapeutin es mir geraten hat. Ich soll mir etwas Konkretes vorstellen. Dinge, die ich tun möchte, wenn ich wieder laufen kann. Aber jetzt in diesem Moment möchte ich einfach nur nach Hause.

Keiner ihrer Vorschläge will mein Kopfkino in Gang bringen. Auf einer Party wild tanzen (das war noch nie mein Fall), eine Radtour durch die White Mountains machen (ich hasse Radfahren) oder einfach in Chase’ Diner ein Stück Blueberry Pie essen – okay, die Vorstellung ist wirklich toll. Leicht säuerliche Beeren, der süße Teig, ein Klecks lockerer Sahne. Bei jedem Bissen explodieren die Geschmacksknospen im Mund. Aber ich schaffe es trotzdem nicht, mich auf dieses Bild zu konzentrieren. Weil es leider so weit von meiner Realität entfernt ist, dass es den Schmerz nicht überlagern kann, der in meinem Bein pocht. Und auch nicht die Angst. Das Einzige, was bestimmt gleich explodieren wird, ist mein Kniegelenk.

Ich spüre es jetzt schon kommen.

Es startet immer mit einem leichten Stechen, schraubt sich nach oben, bis es wie eine Stichflamme hochschießt, die ewig nicht verebbt. Mit einem Wimmern schiebe ich mich auf der Matratze zurück, kralle die Fingernägel in das Laken.

«Wie lang machen wir das jetzt schon?», fragt Kadence in einem Tonfall, der mich an meine alte Cello-Lehrerin erinnert.

Sie muss so sehr von mir genervt sein. Ich bin selbst von mir genervt, weil ich es einfach nicht schaffe, diese Angst zu unterdrücken. Ich versuche, ruhig durch den Mund zu atmen und mich zu beruhigen, aber vom Flur her höre ich neben den gewohnten Klinikgeräuschen auch noch einen weit entfernten Alarmton.

Kadence’ Finger sind kühl, und ich bekomme eine Gänsehaut, als sie meinen rechten Fuß umschließen. Es ist die Art Gänsehaut, die einen überzieht, wenn man etwas Schlimmes erwartet. Seit dem Unfall vor drei Monaten habe ich diese Erwartung jeden Tag. Immer. Und ich kann sie nicht abstellen.

«Wie lange üben wir das schon?», fragt Kadence noch einmal.

«Ich weiß nicht, wie lange sitzt man denn sonst im Fegefeuer?», keuche ich und gebe schließlich nach. «Seit genau sechs Minuten.»

Ihr kehliges Lachen wirkt zwar versöhnlich, kann das Stechen in meinem Knie aber auch nicht abmildern. «Ich meine, seit wie vielen Tagen.»

«Seit drei Wochen. Und diese Übung hier zum fünften Mal.» Ich wünschte, sie würde mich nicht so quälen, auch wenn ich weiß, dass es notwendig ist. Ich wünschte, ich müsste in meinem Leben nie wieder Schmerzen haben.

«Eben. Schon fünfmal, und du vertraust mir immer noch nicht. Es wird echt Zeit, dass wir Fortschritte machen. Du kennst mich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich dir nicht weh tue.»

Nicht absichtlich, nein. Unwillkürlich schiebe ich mich noch einige Zentimeter mehr zurück, um dem Druck, den sie auf mein Gelenk ausübt, zu entgehen.

Kadence seufzt und legt mein Bein vorsichtig zurück auf das Klinikbett. «Natürlich ist der Schmerz real, aber dein Körper erwartet ihn inzwischen auch. Er erinnert sich daran, und sobald ich dich anfasse, spult er diese Erinnerung ab. Das ist nicht gut.»

Das kann sie laut sagen. Der Gedanke ist beängstigend, weil er bedeuten könnte, dass ich den Schmerz vielleicht nie wieder loswerde. Nun nimmt Kadence ein zusammengerolltes Handtuch in die Hände, und ich weiß nicht, was sie damit vorhat. Es sieht wie eine Würgeschlange aus.

«Es ist wahrscheinlich besser, wenn wir wieder eine Übung machen, bei der ich dich nicht anfasse und dein Körper nicht sofort jede Zelle in Alarmbereitschaft versetzt. Also, du bist dran. Halte die Enden mit beiden Händen fest und leg das Handtuch um dein Schienbein. Und dann ganz vorsichtig ziehen. Nur so stark, wie es für dich auszuhalten ist. Du weißt, wenn du dein Bein easy in einen 90-Grad-Winkel bekommst, darfst du bald nach Hause.»

Toll. Dann kann ich mich hier auch gleich häuslich einrichten. Niemals werde ich es schaffen, mein Bein so weit anzuwinkeln, und ich möchte aufgeben, bevor ich es überhaupt versucht habe. Doch um Kadence nicht noch mehr zu enttäuschen, ziehe ich dann doch mit dem Handtuch meinen Unterschenkel nach unten und spiele mit dem Schmerz. Als würde ich zwanghaft immer wieder mit der Zungenspitze gegen einen entzündeten Zahn stoßen, übe ich Druck auf mein Bein aus, womit das Stechen mal mehr und mal weniger stark aufbrandet. Tränen steigen mir in die Augen.

«Du musst dir schon etwas mehr zutrauen, Abigail Hayden.»

Ich blinzle. Das sagt sie nur, um mich herauszufordern. Sie weiß genau, dass mein voller Name mich jedes Mal zusammenzucken lässt. Es ist der Name meiner Grandma, und für mich hört er sich einfach nur falsch an. «Abbi, bitte. Abigail klingt so altmodisch. Als wäre ich hundert.»

«Im Augenblick bewegst du dich auch wie eine Hundertjährige. Ich habe Omas mit Schenkelhalsfraktur auf dieser Station, die sind agiler als du.» Sie hebt die Brauen über ihren stark geschminkten Augen aufmunternd nach oben.

Das glaube ich ihr. Aber diese Omas haben vielleicht auch keinen schweren Autounfall hinter sich und lagen innerhalb einer Woche zweimal auf dem OP-Tisch. Auch wenn ich beim zweiten Mal nur narkotisiert wurde, weil das Einrenken meines Hüftgelenks im Wachzustand zu schmerzhaft gewesen wäre – ich kann es immer noch spüren. Inzwischen habe ich so viele Arten von Schmerz kennengelernt, dass ich eigentlich daran gewöhnt sein müsste. Aber man gewöhnt sich nie daran, ganz im Gegenteil. Doch ich will Kadence beweisen, dass ich an mir arbeite, dass ich wirklich an mir arbeite, und ziehe noch fester am Handtuch. Eine Sekunde später lasse ich mit einem Schmerzenslaut die Rolle fallen.

«Heyheyhey, ich habe doch gesagt, nur so weit, wie es gut auszuhalten ist.» Besorgt beugt Kadence sich über mein Knie, das unter ihrem Blick pocht, als würden darin die sieben Zwerge Diamanten abbauen. «Ich kann dir gleich etwas zum Kühlen holen. Ach verdammt, Abbi, ich geb’s auf mit dir. Und ich schwöre dir, das ist mir in fünfzehn Jahren als Physio noch nicht passiert.»

Ich habe nach dem Bettgitter auf der linken Seite gegriffen und halte mich daran fest. Jetzt erst merke ich, wie fest. Meine Hand ist fast taub. «Es ist … schon in Ordnung. Geht gleich wieder.» Aber das sage ich nur, um mich selbst davon zu überzeugen. Irgendwann wird das alles nur noch eine Erinnerung sein. Irgendwann ist es vorbei. Alles, was passiert ist. Auch das, was vor dem Unfall war. Überleg dir, woran du dich in sechs Wochen oder in einem Jahr noch erinnern wirst, Abbi. Wird es dann noch eine Rolle spielen? Wenn nicht, dann hake es ab.

Ich hoffe so sehr, dass Dad damit recht hat und ich in einem Jahr wirklich nicht mehr daran denken muss. Aber so richtig glauben kann ich es nicht. Wachsam beobachte ich Kadence’ Hände, die nun das Handtuch auseinanderrollen und zu einem Quadrat falten.

«Was hast du vor? Hören wir für heute auf?» Meine Frage klingt viel zu hoffnungsvoll. Dabei muss ich üben. Jeden Tag. Ich muss trainieren, damit ich irgendwann wieder gehen kann. Ich will es unbedingt, ich will nach Hause, aber dieser Schmerz …

Die Aussicht, diese Übungseinheit einfach auf den nächsten Tag zu verschieben, ist zu verlockend.

«Wir machen nur eine Pause.» Als sie die Enttäuschung sieht, die sich auf meinem Gesicht abzeichnen muss, fügt sie hinzu: «Ich komme später wieder, wenn ich mit dem nächsten Patienten durch bin. Aber ich überlege, ob wir es bei dir nicht lieber wieder mit einer automatischen Bewegungsschiene versuchen.»

«Was? Nein!» Auch wenn in den letzten Wochen so viele Fremde an mir rumgedrückt haben, dass ich froh wäre, mal etwas Ruhe vor Menschen zu haben, löst die Aussicht auf diese Maschine eher das Gegenteil in mir aus.

«Es sei denn, es gibt an dieser automatischen Bewegungsschiene inzwischen einen Not-Ausschalter, den ich in die Hand nehmen kann. Den werde ich nämlich brauchen, weil ich …»

«Du bist wirklich ein Angsthase», unterbricht sie mich mit einem Kopfschütteln. «Dann hetze ich dir eben einen Kollegen auf den Hals. Jemanden, der mehr Geduld hat als ich.»

Noch jemand Fremdes, der mich anfassen wird. «Die Maschine ist vielleicht doch okay», sage ich schnell. «Ich nehme die Maschine. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie ich es in Erinnerung habe.»

«Vielleicht, vielleicht.» Kadence’ Lachen klingt so heiser, als hätte sie sich in den letzten Tagen ausschließlich von Whiskey und Zigaretten ernährt. Dabei weiß ich, dass sie sehr viel Wert auf ihre Gesundheit legt. Was man ihr unter dem hellblauen T-Shirt mit dem Logo der Rehaklinik auch ansieht: Sie ist in Topform. Was man von mir leider nicht sagen kann, denn die vergangenen Wochen in diesem Krankenhausbett haben jeden noch so kleinen Muskel von mir verkümmern lassen.

«Ich besorge dir eine der studentischen Aushilfen.» Sie klemmt sich das Handtuch unter den Arm. «Die sind supermotiviert. Ich habe sogar schon jemanden im Kopf.»

Das meint sie hoffentlich nicht ernst. Dann kann ich mir das Label Versuchskaninchen auch gleich auf die Stirn tätowieren. «Wir können es doch einfach morgen noch mal versuchen.» Aber weil Kadence daraufhin nur einen Mundwinkel anhebt, sage ich schnell: «Ich vertraue dir. Wirklich. Und ich werde ab sofort Überstunden machen, das verspreche ich.» Zum Beweis hebe ich mein Bein an und versuche, es aufzustellen. Was mir aber nicht gelingt.

«Ich denke, es tut dir gut, wenn jemand frischen Wind in deine Behandlung bringt. Ich weiß, dass dein Vater das nicht gern sieht, aber unsere Aushilfen sind mitten im Studium und voll drin im Thema. Sie wissen, was sie tun. Und sie sehen noch mal mit einem anderen Blick auf deine Probleme.»

Meine Probleme.

Ich schlucke, weil sich das anhört, als wären meine Probleme irgendwie eingebildet. Als wären die Schmerzen wirklich nur in meinem Kopf. Aber das stimmt nicht. Ich habe Schmerzen. Echte Schmerzen. Das ist mein Problem, ja, trotzdem würde dieses Wort meinem Dad gar nicht gefallen. Hätte er das mitbekommen, würde er meiner Physiotherapeutin jetzt einen Vortrag darüber halten, wie wenig positiv das formuliert ist und dass sie mich mehr motivieren müsse. Dabei versucht sie es andauernd. Von ihr habe ich mein Mantra. Ich werde bald wieder laufen können. Ich werde bald wieder laufen können. Ich werde bald wieder laufen können …

Und ich glaube daran.

Vielleicht.

Nachdem Kadence gegangen ist, verstummt auch endlich das Alarmpiepsen vor der Tür. Ich seufze und greife nach dem Handy auf meinem Nachttisch, um meinen Dad anzurufen. Mein Finger hat bereits seinen Namen aufgerufen, als ich es mir anders überlege. Ganz bestimmt ist er gerade in einer seiner Besprechungen mit dem Wahlkampfteam. Seit Anfang Juni befindet er sich offiziell im Wahlkampf für das Gouverneursamt und hat selbst für seine Firma kaum noch Zeit. Da sollte ich ihn lieber nicht stören. Ich könnte stattdessen meine Mutter anrufen. Nur dass Mom … sie ist eben Mom.

Als das Gerät in meiner Hand vibriert und das Foto meines Dads plötzlich den gesamten Bildschirm einnimmt, denke ich im ersten Moment, dass ich aus Versehen doch draufgetippt habe, aber es ist …

Gedankenübertragung.

Das ist so typisch, dass ich lächeln muss. So was passiert uns andauernd. Und es ist etwas, worüber Mom sich regelmäßig aufregt. Weil Dad und ich eine Verbindung zueinander haben, die zwischen meiner Mom und mir fehlt, egal wie sehr ich mich bemühe.

«Hi, Dad. Gerade wollte ich dich anrufen.»

«Dachte ich mir.» Er lacht leise. «Du hast sicher die Mappe bekommen. Ich habe sie extra in die Klinik an deine Physiotherapeutin schicken lassen, damit sie sie dir nach dem Training geben kann.»

Dad nennt es immer Training. Als wäre das hier ein Sportcamp. Damit will er vermeiden, dass ich mich krank fühle. Was natürlich nicht klappt, denn ich fühle mich trotzdem krank. Und kaputt. Und ziemlich unfähig.

«Gefallen dir die Papiere?», fragt er nach. «Sind sie so geworden, wie du dir das vorgestellt hast? Große Dinge passieren nämlich nie aus der Komfortzone heraus. Und ich finde, damit hast du etwas Großes in Angriff genommen.»

Normalerweise muss ich über seine ständigen Motivationssprüche lachen, aber die Mappe, um die es geht, lässt gerade keinen anderen Gedanken zu. «Die neuen Muster? Sind sie schon fertig? Davon hat Kadence gar nichts gesagt. Warte, vielleicht habe ich nur nicht mitbekommen, dass sie mir etwas hingelegt hat.» So schnell ich es mit meinem lahmen Bein schaffe, rolle ich mich auf die Seite und ziehe den Schubkasten des Nachttischs auf, weil nichts auf dem Tisch liegt. Als ich in der Schublade keine Mappe finde, hänge ich mich über die Bettseite nach unten, um in das untere Fach gucken zu können. Aber auch dort ist nichts. «Mist. Sie hat die Mappe vermutlich vergessen. Hier ist sie jedenfalls nicht.»

«Sie sollte sie dir geben, wenn du deine Übungen heute schaffst.»

Danke, Dad, denke ich zähneknirschend. Jetzt weiß ich auch, warum Kadence nichts gesagt hat. Wenn sie doch vorher mit der Mustermappe gewinkt hätte! Dann wäre die Übung vielleicht anders verlaufen. Vielleicht ist diese Mappe das Wundermittel für mein verfluchtes Knie. Ich würde alles geben, um sie endlich in den Händen zu halten, ich warte schließlich schon seit Monaten.

«Wie ist es heute gelaufen?», fragt er. «Machst du Fortschritte?» Die Sorge in seiner Stimme, die Sorge und auch das Mitleid, das mitschwingt, führt dazu, dass ich mich noch schlechter fühle.

«Es war in Ordnung. Es geht nur nicht ganz so schnell, wie ich dachte.»

«Ich verstehe», brummt er. «Hast du deine Tabletten genommen?»

«Der Arzt meinte, dass wir es jetzt reduzieren müssen. Ich darf nicht über Monate hinweg so hochdosiert Schmerzmittel nehmen. Er will, dass ich nur noch bei Bedarf etwas einnehme. Also nur vor den Übungen.» Keine Ahnung, wie ich das überleben soll.

«Kommst du denn damit zurecht?»

«Ich denke schon», sage ich. Was eine glatte Lüge ist. Ich komme nicht mal mit Schmerzmittel zurecht, wie soll ich es da ohne schaffen?

«Wenn ich mit deinem Arzt reden soll, dann sag es mir. Deine Mutter hat außerdem vorgeschlagen, dass wir einen Termin mit einem Schmerztherapeuten ausmachen. Einen Spezialisten zu kontaktieren, der genau für so etwas zuständig ist, kann sicher nicht schaden.»

Für so etwas. Für Patienten wie mich, die sich einbilden, dass sie Schmerzen haben, meint meine Mutter wohl. Das ist es jedenfalls, was sie mir vor ein paar Tagen vorgeworfen hat. Dass ich mir das alles nur einbilde, dass es doch jetzt langsam mal gut sein müsse, dass ich mich anstelle. Sie würde mich sicher lieber zu einem Psychotherapeuten schicken.

«Ich denke darüber nach. Vielleicht können wir das beim nächsten Mal besprechen. Wie läuft deine Kampagne an? Hast du nicht heute dieses superwichtige Interview wegen der Kommission zur Untersuchung der Todesstrafe?»

«In einer Stunde. Aber ich würde mir ein schöneres Thema fürs Telefonieren mit meiner Lieblingstochter wünschen.»

«Lieblingstochter, hm? Das lässt sich leicht sagen, wenn du nur die eine hast.»

Er gibt ein gespieltes Stöhnen von sich. «Ich habe keinen Vergleich, also lass mir bitte meine Illusion, dass du die beste Tochter bist, die man sich vorstellen kann.» Das Lächeln in seiner Stimme ist nicht zu überhören. «Wir können gerne noch ein paar Minuten über Gewaltverbrechen reden, wenn du willst, aber deswegen habe ich nicht angerufen. Ich wollte nur wissen, ob die Papiere deine Erwartungen erfüllen. Vielleicht solltest du dich auf die Suche nach Ms. Sawyer machen. Nimm den Unterarmgehwagen. Sie hat mir gesagt, dass das mit deinen Rippen in Ordnung ist und du ihn schon benutzen darfst.»

«Eine gute Idee. Mache ich.»

Auf gar keinen Fall nehme ich das Ding, aber ich lasse Dad lieber in dem Glauben, dass ich es versuche. Ich habe den Gehwagen schon gesehen und allein von seinem Anblick ist mir der Schweiß ausgebrochen. «Viel Erfolg bei deinem Interview.»

«Viel Erfolg beim Kampf gegen die Schwerkraft, mein Liebling.»

Nachdem ich aufgelegt habe, kann ich an nichts anderes denken als an die Mustermappe mit den neuen Papiersorten. Ich habe so lange daran gearbeitet und kann es nicht erwarten, sie endlich zu sehen. Ich liebe Papier. Und natürlich besitze ich alle Mustermappen, die von Dads Firma, der Hayden Paper Group, seit 1898 herausgebracht wurden. Inzwischen sind es einundzwanzig Stück. Aber diese ist etwas Besonderes. Weil ich sie zusammengestellt habe und mich an der Entwicklung der neuen Serie mit alterungsbeständigen Naturpapieren beteiligen durfte. Dad hat mir fast freie Hand gelassen, weil er mit den Vorbereitungen für seinen Wahlkampf beschäftigt war. Das war eine Heidenarbeit neben meinem Studium, aber hoffentlich hat sie sich gelohnt.

Ich muss Kadence suchen, aber ganz sicher nehme ich dafür keinen Gehwagen. Der Rollstuhl neben meinem Bett ist meine einzige Option. Etwas unbeholfen rutsche ich bis an die Bettkante und schiebe meine Beine vorsichtig über den Rand. Mit dem nackten Fuß taste ich über den Boden und stoße an meinen linken Sneaker, in den ich zum Glück ganz leicht reinschlüpfen kann. Das rechte Bein halte ich steif nach vorne und beiße die Zähne zusammen, bis ich mich umständlich in den Rollstuhl gewuchtet habe. Autsch, meine Hüfte! Unwillkürlich geht meine Hand an die Stelle.

Vielleicht hätte ich mich vorher umziehen sollen. Ich trage nur eine kurze Pyjamahose und ein ärmelloses Top und sehe damit etwas verwahrlost aus. Meine Beine sind blass und nicht enthaart. Die Härchen sind blond und nicht sonderlich auffällig, aber das ändert auch nichts daran, dass ich, würde ich ein Foto davon auf Instagram hochladen, wahrscheinlich einen Shitstorm ernten würde. Meine Freundin Willow würde witzeln, dass ich damit zum Casting von «Planet der Affen» oder «Der Hobbit» gehen könnte. Aber ich bin momentan einfach zu unbeweglich. Ich kann schon froh sein, dass eine der Schwestern mir gestern die Fußnägel geschnitten hat. Ich kann sie schlecht darum bitten, mir auch noch die Beine zu rasieren. Die haben hier wirklich andere Sorgen.

In der Hoffnung, dass mich niemand so genau ansieht, stoße ich die Räder mit den Händen an, rolle an dem kleinen Tisch mit den zwei Stühlen vorbei und schnappe mir den Bademantel, der darüber hängt, um ihn mir über die Beine zu legen, bevor ich die Tür aufdrücke und das erste Mal seit drei Tagen mein Zimmer verlasse. Beim letzten Mal hat Kadence mich ins große Badezimmer gefahren, um mir auf der Waage zu zeigen, wie viel zwanzig Kilo sind. Denn mit mehr darf ich mein rechtes Bein noch nicht belasten. Deshalb weiß ich jetzt, dass das so gut wie nichts ist. Selbst wenn man den Fuß ganz ohne Druck nur auf der Waage abstellt, sind es schon zwölf Kilo. Um den Unterarmgehwagen zu benutzen, müsste ich mich mit vollem Gewicht auf die Arme stützen und quasi in der Luft hängen. Unmöglich.

Auf dem Flur herrscht wie immer Betrieb. Manche Zimmer stehen offen, und ein Senior auf Krücken dreht grad seine Runden. Ein monströses Gerät, das so aufgeblasen aussieht wie der Anzug eines Astronauten der NASA, steht mitten auf dem Flur. Ich weiß, dass so was zur Lymphdrainage benutzt wird, weil ich da auch schon mal dringesteckt habe. Dazu kann ich nur sagen: Bitte nie wieder.

Mit Schwung schiebe ich mich daran vorbei und entdecke Kadence mit einer älteren Patientin. Sie redet gerade auf den Typen ein, der die alte Frau stützt und mit ihr langsam einen Fuß vor den anderen setzt. Er ist groß und sportlich, und neben ihm sieht die Oma an seinem Arm geradezu winzig aus. Sie hat einen ausgeprägten Damenbart und himmelt ihn an. Er lächelt, runzelt aber nur eine Sekunde später die Stirn, als er mich bemerkt.

Kadence gestikuliert.

Seine Lippen bewegen sich, ich meine, ein «Scheiße, was soll das, Kady?» daraus ablesen zu können. Er schüttelt den Kopf, dann trifft mich sein Blick, und das Stirnrunzeln verstärkt sich noch einmal mehr. Er sagt etwas, und Kadence blickt ebenfalls kurz zu mir, was es für mich aussehen lässt, als hätten die beiden gerade über mich geredet. Aber das ist Unsinn, es geht ganz sicher nicht um mich.

Ich hebe die Hand, um Kadence’ Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie redet angestrengt weiter auf ihren Kollegen ein. Ich sollte es lieber lassen. Die beiden sind beschäftigt, und die Mustermappe läuft mir nicht weg. Dann frage ich sie eben später, wenn sie für unsere Übung wiederkommt, auch wenn es mir schwerfällt.

Seufzend ziehe ich den Bademantel über meinen Knien ein Stück höher, weil er nach unten gerutscht ist, und will nur das rechte Rad bewegen, um auf dem Flur zu wenden. Was aber nicht geht.

Ich hänge irgendwo fest. Mist.

Mit einem Fluch auf den Lippen umfasse ich das Metallrad und stemme mich dagegen. Dennoch rolle ich nur wenige Millimeter vor und zurück und kann nicht erkennen, wo zum Teufel ich überhaupt festhänge. Hat sich die Bremse aus Versehen festgestellt? Nein, das ist es nicht. Ich ziehe am Bademantel und begreife, dass ich über den blöden Gürtel gerollt bin und er sich in den Speichen verfangen hat. Es geht nicht vor und nicht zurück. Schweiß bricht mir aus, ich zerre an dem Gürtel und hoffe gleichzeitig, dass niemand sieht, wie dämlich ich mich anstelle und dass ich gerade einen aussichtslosen Kampf mit einem verflixten Bademantelgürtel führe.

«Schwester!», ruft der alte Herr mit Krücken und hebt das Kinn in meine Richtung. «Da braucht jemand Hilfe.»

«Nein, danke, es geht schon», zische ich ihm zu und spüre, wie mein Gesicht heiß anläuft. Oh Gott, hoffentlich hat ihn niemand gehört.

«Schwester!», kräht er noch lauter.

Mit aller Gewalt zerre ich an dem verdammten Frottee-Gürtel und würde ihn am liebsten abreißen. Dann bewegt er sich tatsächlich ein winziges Stück. Nur dass ich jetzt auf der Stelle rotiere wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt, aber immer noch nicht vom Fleck komme.

Als ich aufblicke, stelle ich fest, dass ich Kadence’ volle Aufmerksamkeit habe. Sie übernimmt die alte Dame und verpasst ihrem Kollegen einen Stoß in die Seite. Unschlüssig fährt er sich durch das kurze Haar und starrt mich an, bevor er sich sichtbar einen Ruck gibt und auf mich zugeht.

2. KapitelDavid

Schon seit dem Aufstehen weiß ich, dass dieser Tag einfach nur beschissen wird. Eigentlich war das schon gestern Nacht klar, nachdem ich Jane und ihre Freundin um halb drei von der Straße gekratzt habe. Achtmal hat sie mich auf dem Handy angerufen, bis ich das nervtötende Klingeln nicht mehr ignorieren konnte und mich im Halbschlaf hinters Steuer gequält habe. Irgendwann lasse ich sie laufen. Aber das habe ich mir schon verdammt oft vorgenommen. Und garantiert werde ich es auch beim nächsten Mal nicht schaffen, das verfluchte Verantwortungsgefühl niederzuringen.

«Das muss ja eine wilde Party gewesen sein», bemerkt Madame Mustache, als ich sie mit ungewohnt rauer Stimme begrüße. Sie heißt nicht wirklich Madame Mustache, aber die ganze Station nennt sie so, weil … verdammt, mit diesem Schnurrbart könnte sie Wettbewerbe gewinnen. Ich reibe mir über das Kinn, wo meine eigenen Stoppeln mich daran erinnern, dass ich heute Morgen keine Zeit hatte, mich zu rasieren.

«In deinem Alter habe ich das auch gemacht. Aber irgendwann habe ich den Alkohol nicht mehr so gut vertragen.»

Wenn sie wüsste. Ich trinke nichts. Erst recht nicht, wenn ich am nächsten Tag in die Klinik muss. Das Einzige, was mich letzte Nacht beschäftigt hat, war die miese Vorahnung, dass ich meinem Schicksal heute nicht entgehen werde. Kadence will mich seit Tagen in das Zimmer Nummer zwölf schleifen, und seit Tagen lasse ich mir unentwegt Ausreden einfallen. Ich habe nur leider das untrügliche Gefühl, dass ich heute fällig bin.

«Sie könnten mich ganz sicher immer noch unter den Tisch trinken, Mrs. Mus… Browning.»

Scheiße, ich brauche dringend eine Pause. Schlaf ist ein Luxus, von dem ich nicht mal tagträume, aber zehn Minuten an der frischen Luft würden mir schon reichen, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen.

Mrs. Browning kichert. Ich gähne unauffällig gegen meine Schulter und halte dann ihr linkes Fußgelenk fest. Seit ihrem Sturz vor zwei Wochen ist sie nicht wirklich mobiler geworden, und wenn das nicht langsam besser wird, kommt sie nie wieder zurück in ihre eigene Wohnung. Ich überprüfe die Funktion des tibialis posterior, indem ich sie versuchen lasse, die kleinen Zehen herunterzudrücken, während ich den Muskel palpiere. Alles okay. Danach lockere ich den Flexor am Sprunggelenk und massiere sie nach oben bis zu ihrer Kniekehle. Nicht, weil das unbedingt nötig wäre, sondern weil ich weiß, dass sie das mag. Sie wird gerne angefasst. Eigentlich gibt es meiner Erfahrung nach kaum jemanden über siebzig, der sich nicht insgeheim danach sehnt, berührt zu werden.

Mrs. Browning bekommt nie Besuch. Ihre Tochter lebt in Miami und hat sie, wie ich rausgehört habe, das letzte Mal an Thanksgiving besucht. Wahrscheinlich Thanksgiving im letzten Jahrtausend. Keine Ahnung, ob sie seitdem auch nur einmal jemand umarmt hat. Es ist erbärmlich, wie wenig Körperkontakt Menschen in ihrem Alter haben. Ich habe schon Patienten massiert, die dabei in Tränen ausgebrochen sind, weil es ihre erste Berührung nach Jahren war, die nicht mit Waschen oder Hinternabputzen zu tun hatte.

Das ist etwas, was nicht in meinen Kopf will. Was so schwierig daran ist, jemanden spüren zu lassen, dass er wichtig ist. Egal in welchem Alter. «Was macht Ihr Rücken heute?», frage ich sie deshalb und weiß schon vorher, was sie mir antworten wird.

«Oh, David, du kannst es dir nicht vorstellen. Meine Schulter …» Sie verrenkt sich, überraschend gelenkig, um über eine Stelle an ihrem Oberarm bis zum Nacken zu streichen. «Vielleicht könntest du dir das mal ansehen. Das kommt vom Liegen. Ganz bestimmt kommt das vom Liegen. Und du hast wirklich goldene Hände, mein Junge.»

Es fällt mir schwer, das Grinsen zu unterdrücken. Ganz genau lasse ich mir von ihr erklären, wo es am schlimmsten ist. Und nachdem ich ihre Schulter massiert habe, kann ich sie dazu überreden, endlich ein paar Schritte mit mir zu gehen.

Ich helfe ihr in die Pantoffeln mit der rutschfesten Sohle. «Auf drei», sage ich, um sie vorzuwarnen, aber Mrs. Browning zieht sich beinahe sofort an meinem Arm hoch und fällt nach halber Strecke auf die Bettkante zurück. Überrascht davon, dass ihr mit Sicherheit gerade jegliches Blut in die Beine gesackt ist.

«Alles klar», sage ich mit todernster Miene. «Die Drei war’s also nicht. Welche Zahl würde Ihnen denn besser gefallen, Ma’am?»

Sie schlägt mir auf den Arm. «Mach dich nicht über mich lustig. Ich war nur etwas voreilig.»

Beim nächsten Versuch klappt es problemlos. Sie zählt diesmal mit. Für einen Moment wankt sie, dann setzen wir gemeinsam einen Fuß vor den anderen. «Wir können Sie nächste Woche gleich beim Fitness anmelden, würde ich meinen. Sie laufen mir ja jetzt schon davon.»

«Sei nicht albern, David», sagt sie, zeigt mir bei ihrem Lächeln aber beide Zahnreihen. Dabei bin ich das nie. Albern. Doch Jane meint, dass man immer an meinen Augen sehen kann, wenn ich innerlich lache, und ich schätze, Mrs. Browning hat das auch schon durchschaut.

Auf dem Flur müssen wir als Erstes Mr. Hamilton ausweichen, der mit seinen Krücken den Gang unsicher macht, aber schon nach wenigen Metern geraten wir in Kadence’ Radar. Als sie auf uns zusteuert, liegt mir sofort ein «Scheiße» auf den Lippen, das ich nur wegen Mrs. Browning zurückhalte. Ich ahne, was sie von mir will, bevor sie auch nur den Mund aufmachen kann. Also komme ich ihr zuvor: «Vergiss es, Kady. Ich werde deine Patientin nicht übernehmen. Viel Spaß noch mit ihr!» Danach versuche ich, sie zu ignorieren. Was nicht funktioniert, weil sie mir an den Sohlen klebt wie ein ausgespuckter Kaugummi.

Sie hakt sich an meiner freien Seite ein. «Ich kenne niemanden außer dir, der das mit ihr hinkriegen könnte. Solltest du dich davon nicht eigentlich geschmeichelt fühlen?»

«Nein. Das lässt mich völlig kalt.» Und damit schüttele ich sie ab.

«Komm schon, David. Du kannst doch sonst nie nein sagen. Warum ausgerechnet bei ihr? Sie ist okay, wirklich. Nur eben total panisch. Ich weiß genau, dass du in fünf Minuten mit ihr weiter kommst als ich in drei Wochen. Muss an deiner vertrauenerweckenden Ausstrahlung liegen.»

Klar, Kadence, netter Versuch. Stur halte ich Mrs. Brownings Arm fest, und die alte Dame blickt mit einem Ausdruck zu mir hoch, als wäre ich der persönliche Schutzheilige dieser Klinik. «Du hast doch ein weiches Herz, David. Warum tust du ihr nicht den Gefallen?»

Weil ich verdammt noch mal kein weiches Herz haben will. Mit meiner freien Hand reibe ich mir über die Schläfe, weil es anfängt, dahinter zu pochen, und das ziemlich hartnäckig. Als ich vor drei Wochen erfahren habe, dass die Tochter von William Hayden unsere Patientin wird, dachte ich, das muss ein beschissener Witz sein.

Ist es auch, aber einer von der Sorte, die das Schicksal sich erlaubt, weil es die Popcorn-Maschine schon angeschmissen hat. Eher würde ich freiwillig im New Hampshire State Prison eine Schicht einlegen und allen Männern dort die Füße waschen, als mich um William Haydens kleinen Liebling zu kümmern.

Bisher konnte ich es erfolgreich vermeiden, seiner Tochter auch nur auf dem Flur zu begegnen. Ich weiß nicht mal, wie sie aussieht, weil ich auf keinen Fall anfangen will, irgendwelche Vergleiche zu ziehen. Ich werde ihre Therapie nicht übernehmen, und das sage ich Kadence jetzt bestimmt schon zum zehnten Mal. «Ich mach’s nicht. Und es ist mir egal, ob du mich deswegen die nächsten Wochen die Klos putzen lässt. Also schmink es dir ab, Kadence Sawyer.»

Kadence’ Augen blitzen. Dann lächelt sie sanft, was mir eigentlich Warnung genug sein müsste. «Weißt du was, ich werde dich die nächsten Wochen einfach gar nicht mehr einteilen, wegen Dienstverweigerung. Wie klingt das für dich, David Rivers?»

«Scheiße, was soll das, Kady?» Ruckartig bleibe ich stehen, weil ich nicht glauben kann, dass sie das wirklich ernst meint. Sie weiß genau, dass ich das Geld brauche. Die verdammten Studiengebühren betragen zwölftausend Dollar pro Semester, und mein Stipendium deckt gerade mal die Hälfte ab. Wenn ich in diesen Ferien nicht mindestens viertausend zusammenbekomme, habe ich ein Problem.

«Du kannst dir die Patienten nicht aussuchen», sagt sie in sachlichem Ton. «Kann ich auch nicht. Oder denkst du, ich arbeite gerne mit Mr. Hamilton und lasse mich von ihm betatschen?»

Was zum Teufel …? Ich starre sie entgeistert an.

Sie zuckt mit den Achseln. «Er ist ein verdammter Busenstreifer. Bei jeder Übung streift er mich mit seinem Ellbogen und entschuldigt sich nur halbherzig. Das ist der mit Abstand älteste Scheißtrick, um einen anzugrabschen.»

Ist das ihr Ernst? Sie erwidert meinen schockierten Blick nur mit einem erneuten Achselzucken. Hölle, ja, sie meint das wirklich ernst. Ich versuche, das Entsetzen runterzuschlucken, das sich in meinem Hals anstaut, was mir nur halb gelingt. «Warum hast du nicht früher was gesagt? Ich kann Mr. Hamilton übernehmen. Dann werde ich ihn mal ganz aus Versehen streifen.» Dieses Arschloch. «Ich werde ihn das so was von bereuen lassen. Sag nur wann und wo.» Mein Blick findet den Mistkerl, der sich ein Stück weiter den Flur runter immer noch mit seinen Krücken abmüht, während irgendein Mädchen im Rollstuhl dabei ist, sich im Slalom an ihm vorbeizuschieben. Für einen Moment lasse ich meiner Phantasie freien Lauf und überlege, was ich mit ihm anstellen würde, wenn ich nicht auf diesen Job angewiesen wäre. Wenn mein Stipendium nicht ohnehin schon auf der Kippe stehen würde, weil ich eine wichtige Klausur plus den einzigen Nachholtermin verpasst habe. «Ich kann dir Hamilton abnehmen», biete ich ihr noch mal an.

«Mit dem werde ich fertig», winkt Kadence jedoch ab. «Aber nicht mit der Hayden. Ich will, dass du dich um dieses Mädchen kümmerst.» Sie nickt den Flur runter, und ich merke, wie das Pochen in meiner Schläfe noch einmal zulegt. Weil sie das sein muss. Das Mädchen in dem Rollstuhl, das gerade den Arm hebt, um unsere Aufmerksamkeit zu erlangen. Das Mädchen aus Zimmer zwölf.

Abigail Hayden.

Scheiße.

Sie sieht ganz anders aus, als ich sie mir vorgestellt habe. Unscheinbar fast. Mit einer Haarfarbe wie nasser Sand und erschreckend blass. Jedoch nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten wird ihr Gesicht jetzt ziemlich rot, weil sie Probleme mit ihrem Rollstuhl hat und ihn nicht von der Stelle bekommt. Was mir nicht leidtun sollte, definitiv nicht. Es sollte mir völlig egal sein. Aber wie Mrs. Browning schon festgestellt hat: Ich habe verdammt noch mal ein weiches Herz.

Hamilton schreit nach einer Schwester, und ich möchte ihm jetzt endgültig den Hals rumdrehen. Nun kann ich nicht mehr so tun, als hätte ich sie nicht gesehen, ohne grob unhöflich zu werden. Außerdem … Verdammt, ich kann auch nicht mitansehen, wie sie sich hilflos auf der Stelle dreht.

«Kadence», knurre ich, bekomme aber nur ein betont unschuldiges Lächeln zurück. Sie wird ihr nicht helfen.

«Sie braucht dich, David. Ich gehe noch ein paar Schritte mit Mrs. Browning.» Sie entzieht mir den Arm der alten Dame und stößt mich grob in die Rippen. Und nun weiß ich nicht, was mehr pocht. Der Presslufthammer hinter meiner Schläfe, meine Rippen, die sie gerade malträtiert hat, oder mein verdammtes Herz, das Angst hat, an einem uralten Schmerz zu zerbrechen, wenn ich zulasse, dass auch nur ein winziger Splitter dieser Familie in mein Leben dringt.

Ich atme einmal tief durch. Okay, ich kriege das hin. Ich muss einfach nur professionell sein. Ohne Rachegedanken, ohne Emotionen. Ich mache ein paar Übungen mit ihr, bringe sie dazu, sich zu entspannen, und danach übergebe ich sie wieder an Kadence. In spätestens zwei Wochen ist sie weg. Hoffentlich für immer.

Jetzt sehe ich auch, was passiert ist: Der Bademantelgürtel hat sich im Reifen ihres Rollstuhls verheddert. Abigail Hayden versucht verzweifelt, ihn herauszuziehen, und blickt dann in meine Richtung. Dieser Blick. Es ist kein hilfloser Blick, sondern eher ein «Bleib mir bloß vom Leib!»-Ausdruck. Als ich das begreife, fühle ich mich noch mieser. Sie hat überhaupt keine Ahnung. Sie ist einfach nur ein verletztes Mädchen. Frustriert hole ich Luft und gebe mir einen Ruck.

Professionell, ohne Emotionen, David.

Ich gehe auf sie zu und schlage einen freundlichen Ton an. «Warte, ich helfe dir.»

3. KapitelAbbi

«Warte, ich helfe dir.»

Im ersten Moment nehme ich nur die weißen Hosen wahr, als er an mir vorbeigeht, und dann erst die Hand, die meine Armlehne packt. Er geht neben mir in die Hocke, und plötzlich bin ich frei. «Danke», murmle ich, ohne aufzublicken, weil sein Reha-Shirt einen viel zu tiefen V-Ausschnitt hat und ich keinesfalls auf seine muskulöse Brust starren will. Wer trägt denn heute noch V-Ausschnitt? Ich hoffe, er kann sich das nicht aussuchen, wenn es seine Arbeitskleidung ist.

«Ich bin David», sagt er, und jetzt muss ich doch zu ihm hochgucken. «Kann ich dich irgendwo hinfahren?»

Er hat kurzes braunes Haar, nur vorne fällt es ihm bis in die Stirn. Und helle Augen, deren Farbe ich nicht identifizieren kann. Ich würde gerne etwas Scherzhaftes antworten. Einmal nach Prag bitte, ich war noch nie in Europa. Aber er macht auf mich nicht den Eindruck, als würde er so was witzig finden. Er hat sich nicht mal so angehört, als würde er mich das überhaupt aus freien Stücken fragen. Eher so, als drückte ihm jemand einen Revolver an die Schläfe.

«Abbi. Und ich möchte nach diesem peinlichen Rollstuhl-Zwischenfall eigentlich nur noch in mein Zimmer», murmle ich und weiche seinem Blick aus.

«Kein Problem. Also erst mal in dein Zimmer, danach kannst du dir ja immer noch überlegen, ob dir nichts Besseres einfällt. Die Glen Ellis Falls zum Beispiel», sagt er. «Kann ich sehr empfehlen, die Wasserfälle dort sind wirklich schön.»

Mein Kopf fährt hoch, und ich öffne den Mund, halte dann aber für einen Moment inne, weil er aussieht, als würde er erst ein negatives Gefühl abschütteln müssen, um dann zu lächeln. Es verunsichert mich genug, dass ich kurz angebunden antworte: «Mein Zimmer reicht, danke. Und ich schaff das eigentlich auch allein.» Was ich gerade eindrucksvoll bewiesen habe. Gescheitert an einem Bademantelgürtel, na großartig.

David tritt ohne ein weiteres Wort hinter mich, und eine Sekunde später bewegen wir uns in Richtung meines Zimmers. Ich drücke die Tür für uns auf, aber anstatt mich zum Bett zu schieben, bleibt er nach wenigen Metern mitten im Raum stehen. «Kurze Frage», sagt er. «Wer hat denn dein Bett so bescheuert hingestellt?»

Ich habe keine Ahnung, warum er das bescheuert findet. Und was daran so wichtig ist. «Das war meine Mutter. Sie dachte, es wäre schöner, wenn ich vom Bett aus auf den Mount Washington sehen kann.»

Er umrundet mich mit langen Schritten und deutet auf meinen Rollstuhl. «Das Problem ist doch dein rechtes Bein. So kommst du nur umständlich ins Bett rein und wieder raus. In deinem eigenen Interesse sollte es an der anderen Wand stehen. Was dagegen, wenn ich es umstelle?»

«Was? Nein. Wenn du meinst, dass es so besser ist?»

«Allerdings.» Er fackelt nicht lange, schiebt meinen Nachttisch zur Seite und zieht den Stecker meines elektrischen Betts aus der Wand, bevor er das schwere Teil einmal im Raum dreht und das Kabel an der anderen Wand wieder einsteckt. Mit ausgestreckter Hand lässt er mir den Vortritt, und ich rolle mich zum Bett. Und … Er hat recht. Wenn das Bett hier steht, muss ich beim Aus- und Einsteigen nicht erst umständlich umgreifen, weil ich mein rechtes Bein nicht belasten darf, und ich kann mich so viel besser am Bettgitter festhalten. Warum ist mir das eigentlich nicht selbst aufgefallen? «Danke. Den Rest schaffe ich allein.»

Er nickt nur.

Unschlüssig warte ich darauf, dass er geht, aber das tut er nicht. Stattdessen streckt er die Hand nach meinem Bademantel aus.

Ich keuche überrascht auf, aber er wartet nicht ab, sondern zieht den Bademantel einfach von meinem Schoß, um ihn aufzuhängen. Sofort schießt mir die Hitze ins Gesicht, weil ich an nichts anderes denken kann als an die Haare an meinen Beinen. Will er mir nun unbedingt dabei zusehen, wie ich umständlich in mein Bett steige? Langsam manövriere ich mich so dicht wie möglich an die Bettseite, weil ich ihn wohl so schnell nicht loswerde. Ich stelle die Bremsen fest und versuche, mich hochzustemmen.

«Hey, Moment.» Mit einem Satz ist David bei mir, und ich lasse mich im Sitz wieder zurückfallen, was meine Hüfte sofort mit einem fiesen Stechen beantwortet.

«Es wäre leichter für dich, wenn du erst einmal das Bett tiefer stellst.» Er betätigt einen Druckknopf am Bettgitter und lässt es damit runterfahren, dann dreht er sich zu mir um. Für eine Sekunde bilde ich mir wieder ein, dass er sich einen Ruck geben muss. Dann sagt er: «Nicht erschrecken.» Aber als er sich zu mir runterbeugt und mich ohne weitere Vorwarnung mit den Händen an den Hüften packt, ziehe ich dennoch überrascht die Luft ein. Ganz automatisch weiche ich mit dem Oberkörper zurück, weil Davids Gesicht mir so nah kommt, dass ich ein paar Sommersprossen auf seiner Nase sehen kann und dass seine Augen grau sind. Nicht so hell, wie ich im ersten Moment gedacht habe, sondern wie ein Gewitterhimmel. Ich rieche sogar das Waschpulver, mit dem er seine Klamotten gewaschen hat. Mein Blick bleibt nun doch an dem tiefen V-Ausschnitt hängen, und ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Bitte lass diese absolut peinliche Situation ganz schnell vorübergehen. Bitte gib mir Kadence zurück.

Kadence hat eine Vorliebe für Übungen, die sie Hands off nennt. Übungen, die ich selber machen kann, bei denen sie mich nicht anfassen muss. Leider hat dieser David da wohl ganz andere Vorstellungen. Und er hat auch kein Problem mit Körperkontakt. Seine Hände schieben sich ein Stück unter meinen Hintern, was mein Gesicht, nein, mein ganzer Körper mit einem deutlichen Temperaturanstieg beantwortet.

«Wenn du erst mal nach vorne rutschst, wird es ebenfalls leichter für dich, aufzustehen.» Abwechselnd zieht er erst die eine, dann die andere Seite meiner Hüfte nach vorn.

«Okay», stammle ich. «Danke. Aber das bekomme ich wirklich alleine hin.» Zum Beweis stelle ich den linken Fuß auf, und als er daraufhin endlich ein Stück zurückweicht, stemme ich mich an den Armlehnen des Rollstuhls hoch. Nur eine Vierteldrehung und ich sitze auf der Bettkante. Das war leicht. Ich hoffe, er hat gesehen, wie leicht, und geht endlich.

Aber stattdessen tritt er näher an mein Bett. «Ich nehme deine Beine, okay?» Im selben Atemzug streift er meinen linken Schuh ab und hievt meine Beine ins Bett. Ich gebe einen erschrockenen und viel zu lauten Quietschlaut von mir und robbe sofort auf der Matratze von ihm weg.

«Hey, hiergeblieben. Wir sind noch nicht fertig.» Er hält mich am rechten Unterschenkel fest. Sein Griff ist fest und seine Hände deutlich wärmer als die von Kadence. Trotzdem stellen sich die Haare an meinen Beinen auf.

«Du machst das alles sehr gut, Abbi. Wirklich. Aber wenn du dich das nächste Mal so laut beschwerst, wäre es super, wenn du in mein linkes Ohr quietschst.»

«Tut mir leid.»

«Ich meine das ernst», sagt er, aber als ich hochgucke, bin ich mir da nicht so sicher, weil er lächelt. Was ich verlegen erwidere. Zumindest so lang, bis er sagt: «Ich höre kaum etwas auf meinem linken Ohr.» Er deutet mit der Hand darauf. «Wenn du mich also mal anbrüllen willst, nimm einfach die Seite. Dort tut es nicht so weh.»

Meine Mundwinkel erschlaffen. «Du hörst nichts auf deinem linken Ohr», wiederhole ich, weil es etwas ist, was ich nicht mit diesem sportlichen Typ in Einklang bringe. «Wieso?»

Er zuckt mit den Schultern. «Mit neun habe ich einen Schlag drauf bekommen, und das Trommelfell ist geplatzt. Hat sich entzündet, und seitdem …» Er lässt den Satz unbeendet.

Er hat einen Schlag auf sein Ohr bekommen? Aber …? Meine Gedanken fangen an zu rotieren, weil seine Worte ein Dutzend Fragen durch meinen Kopf rasen lassen. Aus Versehen? Beim Spielen? Aber wie kann man aus Versehen einen so harten Schlag auf sein Ohr bekommen, dass einem das Trommelfell platzt? Hat ihn jemand mit Absicht geschlagen? Wer schlägt denn bitte ein kleines Kind aufs Ohr? Und dann auch noch so heftig, dass es hinterher taub ist? Also fast taub. Meine wilden Gedanken müssen mir anzusehen sein, denn David schüttelt den Kopf. «Es geht jetzt um dich», sagt er, und seine Finger fangen an, mein Bein vorsichtig abzutasten. «Erzähl mir von deinem Unfall.»

Ich bin immer noch so perplex, dass ich nicht zurückweiche, als seine Hände an meinem Unterschenkel über die Operationsnarben nach oben fahren. Hände, die kräftig sind und warm. Stammelnd antworte ich ihm. «Ich bin … mit dem Auto … gegen einen Baum gefahren. Kannst du das nicht einfach in meiner Akte nachlesen?»

«Ich habe deine Akte gelesen. Aber ich würde es gerne von dir hören. Wie ist es passiert?»

«Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß noch, wie ich zu einer Party gefahren bin, aber danach ist alles weg, bis ich im Krankenhaus aufgewacht bin.»

«Du hattest ein Schädel-Hirn-Trauma.»

«Ja.» Ich schlucke.

«Und drei gebrochene Rippen, aber deine Lunge war nicht verletzt.»

Er kennt meine Patientenakte offenbar auswendig.

«Tut es noch weh, wenn du atmest oder wenn du lachen musst?»

«Nein, eigentlich nicht. Also nicht meine Rippen. Aber mein Bein tut weh, wenn ich lachen muss. Oder niesen.»

«Okay, verstehe. Dann verspreche ich dir, ich werde versuchen, dich nicht zum Lachen zu bringen. Oder zum Niesen.» Dabei sieht er völlig ernst aus, und ich bin jetzt schon kurz davor zu lachen. Aber dann fängt er an, mein Bein zu massieren.

«Es tut mir leid, ich weiß, ich bin total verspannt. Ich kann nicht …»

Er lässt mich los, schnappt sich die Tube, die auf meinem Nachttisch liegt, und drückt etwas von der Creme in seine Handfläche. «Du kannst dich nicht auf Knopfdruck entspannen. Kein Mensch kann das. Also hey, mach dich nicht verrückt. Du machst das großartig. Erzähl mir einfach, was du weißt. Was genau ist mit deinem Bein?»

Mein Bein, ja. Wahrscheinlich hat er mir deshalb die Sache mit seinem Ohr erzählt. Vielleicht ist das seine Masche. Quid pro quo. Ich erzähle dir ein Problem von mir, dafür erzählst du mir etwas von dir. So stellen wir ein Vertrauensverhältnis her. Wer weiß, vielleicht ist das mit seinem Ohr sogar gelogen, und er will mir damit nur weismachen, dass bei ihm auch nicht alles perfekt ist. Dass er nicht einfach nur groß und durchtrainiert ist und einen makellosen Body hat. Mit fünf Sommersprossen auf der Nase.

Und lachenden Augen.

Weil … ich sehe genau, dass seine Augen lachen. Auch wenn er etwas müde wirkt. Das Gewitter darin hat sich verzogen. Jetzt sind sie nur noch grau, leuchtend grau.

«Am linken Bein hatte ich einen Kreuzbandriss, weil sich beim Stoß gegen das Armaturenbrett meine Kniescheibe verschoben hat.» Ich ziehe scharf die Luft ein, als sein Griff mit einem Mal fester wird und er die Muskelstränge an Wade und Schienbein bearbeitet. Wenn er gleich höher geht, wird es unfassbar weh tun, dann muss ich ihm ganz sicher in sein gesundes Ohr schreien.

«Hast du links noch Beschwerden?»

«Nein. Das ist wieder völlig in Ordnung. Ist ja auch schon eine ganze Weile her.»

«Aber deine Hüfte, damit hast du noch Probleme, oder?»

«Manchmal. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Meine Mutter denkt das zumindest. Ich … ich habe einfach unglaubliche Angst vor Schmerzen. Die Ärzte haben beim ersten Mal versucht, mir das Hüftgelenk ohne Narkose einzurenken.»

Stand das etwa nicht in meiner Akte? So entsetzt, wie David mich jetzt ansieht, muss diese Info neu für ihn sein.

«Das ist unfassbar schmerzhaft, würde ich meinen. Und ganz bestimmt bildest du dir das nicht ein.» David will noch etwas sagen, nickt mir dann aber doch nur aufmunternd zu. Seine Daumen berühren die Stelle an meinem Knie, wo die kleinen runden Narben noch zu sehen sind, an denen nach der Operation das Wundsekret abgelaufen ist. Er macht das so sanft, dass ich mich tatsächlich entspanne. Und einfach weiterrede. «Das Blöde ist mein Schienbein. Der Schienbeinkopf war gebrochen, deshalb haben sie mir eine Platte eingesetzt. Eine Metallplatte mit mehreren Schrauben.»

David nickt wieder, und dann lässt er mich auf einmal los und … hebt völlig unerwartet sein eigenes Knie zur mir aufs Bett, was die Matratze an der Stelle nach unten drückt. Ich bin so geschockt, dass ich diesmal nicht mal ein Quietschen von mir gebe, sondern erstarre. Mehrere Sekunden lang halte ich die Luft an. Und mein Herz – ganz bestimmt hat mein Herz kurz aufgehört zu schlagen.

Er macht das alles ganz anders als Kadence. Kadence hat mich immer vorgewarnt. Vor jeder Bewegung hat sie mir gesagt, was sie gleich tun wird, damit ich mich nicht erschrecke. Lernt man das nicht so im Studium? Ich schlucke meine Panik hinunter, aber dann schiebt David sein Knie einfach unter mein Bein, und jetzt gebe ich doch ein panisches Quietschen von mir.

«Es ist alles in Ordnung, Abbi. Du machst das ganz toll.»

Sein Bein unter meinem zu spüren, ist … seltsam. Und viel zu intim. Aber es tut nicht weh. Es tut kein bisschen weh. Er muss wissen, was er da tut, denn es fühlt sich gut an. Fest, aber gut.

«Die Platte in deinem Bein ist übrigens aus Titan. Wusstest du, dass Titan eine Zugfestigkeit hat wie Baustahl?»

«N…nein.»

«Es ist extrem stabil, dabei aber sehr leicht, und es gibt keine Allergien dagegen. Das heißt, dass es nicht vom Gewebe abgestoßen wird. Du musst also keine Angst haben, dass es nicht hält. Und du hattest echt Glück, dass deine Weichteile kaum verletzt wurden.»

«Okay.» Auch wenn ich das eigentlich weiß, ist Dankbarkeit nicht wirklich das vorherrschende Gefühl, wenn ich Schmerzen habe. So wie jetzt. Obwohl es, wenn ich ehrlich bin, gerade gar nicht schlimm ist. Ich weiß nicht, wie er das macht, aber die Art, wie er mich berührt, gleichzeitig unnachgiebig und vorsichtig, sorgt dafür, dass meine Angst nachlässt. Bis zu dem Moment, wo ich an mir runterblicke und kapiere, was er da genau macht. Wie er mit seinem Bein mein Knie immer weiter anhebt. Weil das kein bisschen sanft aussieht. Und es gleich ohne Ende weh tun wird, weil er damit mein Kniegelenk jeden Moment in Flammen setzt.

«Wie alt bist du, Abbi?»

«Ein…undzwanzig!» Mit jeder Silbe wird meine Stimme lauter, weil ich panisch auf den Schmerz warte. Der aber nicht kommt.

«Abbi?»

«Ja?»

«Sieh mich an.»

Ich gucke hoch und direkt in Davids Gesicht. Ein entschlossenes Gesicht, das mir sagt: Wir ziehen das jetzt durch.

«Ich werde dir nicht weh tun.»

Ich nicke.

«Nicht sehr», verbessert er sich. «Ich höre auf, bevor es zu schlimm wird.»

Ich nicke noch einmal. Schneller. Vermutlich zu schnell, denn er fängt an zu grinsen. «Nicht auf dein Bein gucken. Schau einfach mich an. Und dann erzähl mir, was du so machst. Hast du gearbeitet vor deinem Unfall? Studiert?»

«Ja.» Ich räuspere mich. «Ich wollte eigentlich nächstes Jahr meinen Bachelor an der UNH machen. In Soziologie.»

«Und was gefällt dir an deinem Studium am besten?»

Hört er mir überhaupt zu, oder lässt er mich nur reden, damit ich irgendwas zu tun habe? Seine Hände schieben sich unter meine Kniekehle und lockern den Muskelstrang, der sich von dort bis zu meinem Oberschenkel hochzieht.

«Dass es … das echte Leben betrifft. Wie wir als Gesellschaft im Ganzen funktionieren und auch im Kleinen. Familien. Wie Familien funktionieren. Und wie sich das a…alles verändert.» Was macht David da? Ich habe das Gefühl, er lockert nicht nur meine Muskeln, er lockert alles. Muskeln, Sehnen, Faszien, was auch immer. Meine rechte Hand greift nach dem Bettgitter, mit der anderen fasse ich unwillkürlich nach Davids Arm, um … ich weiß es auch nicht. Ihn festzuhalten? Aufzuhalten? An dem zu hindern, was er da gerade tut?

«Abbi?» Er löst meine Hand von seinem Unterarm.

«Ja?»

«Welche Augenfarbe habe ich?», fragt er.

«Was?» Ich versuche, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. «Ich weiß nicht. Grau.»

Er nickt. «Und wie viele Sommersprossen sind in meinem Gesicht?»

«Da … sind fünf.»

Er schüttelt langsam den Kopf. «Guck noch mal genau hin.»

Ich bin ziemlich atemlos, als meine Augen sein Gesicht abscannen. Da sind drei Sommersprossen direkt auf seiner Nase und zwei etwas seitlich. Er hat ein winziges Muttermal unter dem linken Auge und direkt daneben …

«Sieben.»

David nickt wieder und grinst. So breit, dass es von einem Ohr zum anderen reicht. Meine Freundin Willow hat irgendwann mal für die verschiedenen Arten zu lächeln Kategorien erstellt und ihnen Schauspieler zugeordnet. Sie reichen vom unentschlossenen, nachdenklichen Lächeln à la Chris Evans über ein stilles, seltenes Lächeln von Daniel Craig bis hin zu einem Lachen mit einem spöttischen, psychopathischen Zug wie bei Jack Nicholson. Aber an diesem Lächeln von David ist gerade gar nichts spöttisch oder schief – es ist einfach nur ein richtig breites Sam-Claflin-Grinsen. Ein ehrliches, eins, das über das ganze Gesicht geht. Und erst jetzt merke ich, dass eine Hand nun meinen Fuß umfasst. Nicht fest, ganz entspannt. Und dass es etwas kitzelt, weil er mit den Fingern leichten Druck auf meine Fußsohle ausübt.

«Das ist ein guter Anfang, Abbi. Darauf lässt sich aufbauen.»

«Auf deinen Sommersprossen?», frage ich.

«Auf dem, was du heute erreicht hast.»

Und als ich es endlich schaffe, meinen Blick von seinem Gesicht zu lösen, fällt mir auf, dass mein Bein in einem völlig ungewohnten Winkel über seinem liegt. Das sind keine hundertzwanzig Grad, keine hundert. Es sind sogar weniger als neunzig, was mich so überrascht, dass ich nur ein Keuchen ausstoßen kann. Er hat mein Bein so weit angewinkelt, wie ich es seit dem Unfall nicht geschafft habe. So weit, dass ich vielleicht wirklich bald nach Hause darf, was ich kaum begreifen kann. Weil es nicht schmerzt. Überhaupt nicht. Ich spüre nur ein leichtes Ziehen und die Wärme von Davids Bein an meiner Kniekehle.

«D…danke», stottere ich. «Das tut überhaupt nicht weh.» Ich kann es immer noch nicht fassen.

«Das ist großartig. Du hast das großartig gemacht.»

Ich habe überhaupt nichts gemacht, und dass er mich so lobt – für nichts –, ist mir irgendwie peinlich. Mein Blick heftet sich auf einen Punkt hinter seiner Schulter. Aber als plötzlich die Zimmertür ins Schloss fällt, zucke ich zusammen, weil ich gar nicht gemerkt habe, dass jemand reingekommen ist. David offenbar auch nicht, denn für einen Moment erstarrt er. Unter dem mehr als überraschten Blick meines Dads zieht er langsam sein Bein unter meinem weg. Er hält mich fest. Vorsichtig, damit es für mich nicht unangenehm ist, lässt er mein Bein zurück auf die Matratze gleiten.

«Hallo, Dad.» Ich bin verwundert, dass er heute doch gekommen ist. Noch vor seinem wichtigen Interview. Davon hat er eben am Telefon gar nichts gesagt.

David nickt ihm knapp zu. «Sie können gerne reinkommen, wir sind für heute fertig.»

Dabei ist mein Vater schon mitten im Zimmer. Dass David ihm nachträglich die Erlaubnis erteilt, klingt fast wie ein Vorwurf. Und mit einem Mal ist auch jeder Humor aus Davids Augen verschwunden. Er starrt meinen Dad an wie … ich weiß nicht. Einen Tsunami? Etwas Zerstörerisches und Unausweichliches?

«Wer sind Sie? Ein … Therapeut?» Mein Vater wirkt nicht einfach bloß überrascht, sondern beinahe sprachlos, was ich von ihm gar nicht kenne.

«Ja, Sir.» David reißt sich sichtbar zusammen und nickt. «Ich studiere an der Franklin Pierce. David Rivers.» Scheinbar widerwillig streckt er ihm die Hand hin, die mein Dad ergreift.

«Und so was steht in Ihrer Stellenbeschreibung? Dass Sie zu Patientinnen aufs Bett steigen müssen?» Er hält Davids Hand dabei immer noch fest, und ich werde schlagartig rot. Obwohl Dad plötzlich auflacht, ist die Situation seltsam feindselig, und ich suche erfolglos nach Worten, um diese absurde Frage abzumildern. Auch David öffnet den Mund, aber ihm fällt darauf wohl auch nichts Passendes ein.

«Wir sehen uns morgen wieder», sagt er schließlich in meine Richtung, bevor er meinem Vater seine Hand entzieht und steif aus dem Zimmer geht.

4. KapitelDavid

Selbst schlimme Dinge passieren aus gutem Grund, hat meine Mom immer gesagt, wenn etwas richtig beschissen lief. Als würde es hinter allem einen geheimen Sinn geben, der sich einem irgendwann später offenbart. Zum Beispiel, als ich das Stipendium für die UNH nicht bekommen habe, an der ich eigentlich Jura studieren wollte. Heute weiß ich, dass dieser Schreibtisch-Job mich umgebracht hätte.

Aber ich bin mir auch absolut sicher, dass nicht mal Mom zu dieser Begegnung eben ein Grund eingefallen wäre. Erst recht kein guter.

Drei Wochen, verdammt. Drei Wochen habe ich es geschafft, diese Begegnung zu umgehen. Drei Wochen habe ich dieses Zimmer gemieden, als wäre es verseucht. Drei Wochen, in denen ich mich verhalten habe, wie ein beschissenes Erdmännchen. Ich habe den Kopf eingezogen und bin untergetaucht. Jede noch so unangenehme Arbeit habe ich gemacht, um nicht zufällig auf dem Flur Mr. Hayden in die Arme zu laufen. Den ganzen Geräteraum habe ich geschrubbt, verdammt noch mal. Und dann brummt Kadence mir ausgerechnet Abigail Hayden als Patientin auf.

Es wäre okay gewesen, wenn ihr nicht diese Angst im Gesicht gestanden hätte. Wirklich. Ich hätte es einfach durchgezogen, hätte ihr nur ein paar Übungen gezeigt, die sie selbst machen kann. Ohne groß Mitleid mit ihr zu haben. Aber Abbi Hayden hatte blanke Panik im Blick, bevor ich sie auch nur angefasst habe. Als würde ich sie gleich mit einer Hand zerquetschen. Und deshalb konnte ich nicht anders. Ich habe mir Mühe gegeben, um ihr zu helfen. Sehr viel Mühe.

Ich kenne ihre Krankengeschichte. Weiß, welche Knochen sie sich gebrochen hat, welche OPs hinter ihr liegen, weiß wahrscheinlich mehr über sie und ihre Familie als sie selbst. Aber was nicht in ihrem Krankenblatt steht, ist die Sache mit dem Einrenken ihres Hüftgelenks ohne Narkose. Und dass sie solch unfassbare Angst hat. Aber trotz ihrer Furcht hat sie doch alles zugelassen, was ich mit ihr angestellt habe. Verdammt. Sie hat mir vertraut. Sie hat sich nur auf mein Gesicht konzentriert und mir vertraut. Einfach so.

Weil sie es nicht weiß. Weil sie keine Ahnung hat, dass es auf diesem Planeten wahrscheinlich niemanden gibt, der ihre Familie mehr hasst als ich. Sie ist eine Hayden. Die leibliche Tochter von Maree und William Hayden. Ihr Hintern ist quasi mit Goldstaub gepudert worden, als sie ein Baby war. Und wenn mir ein Mensch auf der Welt nicht leidtun muss, dann …

David, du hast doch ein weiches Herz.

Ich höre die Stimme von Mrs. Browning in meinem Ohr, obwohl sie jetzt wieder drei Zimmer weiter im Bett liegt. Sie hat recht, und das ist der Grund, warum ich am liebsten etwas zertrümmern würde. Weil Abbi Hayden mir jetzt vertraut, dabei möchte ich sie und ihren Vater einfach nur zum Teufel jagen. Ihm plötzlich gegenüberzustehen, hat sich angefühlt, als wäre ich an ein Bahngleis gekettet und könnte den Zug schon sehen.

Wie er mich betrachtet hat, während er meine Hand wie in einem Schraubstock zusammengedrückt hat – als hätte ich gerade seine Tochter entehrt. Dabei war ich einfach nur professionell. Während er ein gewissenloser Mistkerl ist.

Ich schnappe mir den Wagen auf dem Flur, auf dem das Lymphdrainagegerät steht und der dort schon eine ganze Weile im Weg ist, und schiebe ihn in Richtung Waschraum. Werde ich das verdammte Teil eben auch noch desinfizieren, was soll’s. Hauptsache, ich habe was zu tun und komme für einen Moment aus der Schusslinie und vor allem aus Kadence’ Blickfeld. Ganz sicher will sie gleich wissen, wie es gelaufen ist, und wenn ich die Wahrheit sage, werde ich das Hayden-Mädchen nie wieder los. Weil es gut gelaufen ist, wahrscheinlich noch besser, als Kadence es erwartet hat.

Du hast wirklich goldene Hände, mein Junge.

Danke, Madame Mustache. Das ist genau der Satz, den ich jetzt in meinem verdammten Kopf brauche. Ich schließe die Tür hinter mir, leise und vorsichtig, weil ich mir den Gefühlsausbruch, dem ich gern nachgeben würde, hier nicht erlauben kann. Dem Wagen gebe ich einen Schubs, und er landet auf der anderen Seite des Raums, wo er einige Rollstühle touchiert. Ich stelle einen Eimer in das tiefe Waschbecken und lasse ihn mit dem Desinfektionsmittel volllaufen, das hier direkt aus dem Hahn fließt. Dann werfe ich einen Einmallappen in die Lösung, obwohl es mir wahrscheinlich besser ginge, wenn ich meinen Kopf in diesen Eimer tunken würde. Mehrmals.