Everything We Lost - Jennifer Bright - E-Book
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Everything We Lost E-Book

Jennifer Bright

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Beschreibung

Du bist genug. Und mehr als du denkst. Selbstbewusst, stark, immer ein Lächeln auf den Lippen – so wirkt die Studentin Hope. Denn sie hat es perfektioniert, nach außen den Schein zu wahren. Um lästigen Fragen über ihr Familienleben aus dem Weg zu gehen, die sie mit Lügen beantworten müsste, hält sie andere Menschen auf Abstand. Während ihrer Arbeit im Café in London lernt Hope den lebensfrohen Yeonjun kennen, und die beiden freunden sich an. Mehr als das würde sie sich nie erlauben. Sie wagt es nicht, ihn näher an sich heranzulassen, obwohl sie starke Gefühle für ihn hegt und Yeonjun ihr Halt gibt. Zu groß ist die Angst, er könnte ihr Geheimnis aufdecken. Dabei ahnt Hope nicht, dass auch er mit einem Schicksal hadert, das sie beide für immer verändern könnte... Der lang ersehnte und hoch emotionale zweite Band der Love-and-Trust-Reihe nach Everything we had! 

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Seitenzahl: 529

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Everything We Lost

Die Autorin

JENNIFER BRIGHT ist das Pseudonym von Jennifer Fröhlich, geboren 1993 in Hannover. Sie lebt auch heute noch in der niedersächsischen Hauptstadt. Jennifer liebt das Unperfekte, trinkt mehr Kaffee, als gut für sie wäre, und kann sich ein Leben ohne Katzen nicht vorstellen. Unter dem Namen wort_getreu teilt sie ihre Leidenschaft zu Büchern als Bloggerin und Bookstagrammerin.

Jennifer Bright

Everything We Lost

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 1. Auflage April 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat E-Book powered by pepyrus.com ISBN 978-3-95818-616-3

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

Content Note (Achtung Spoiler!)

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Content Note:

Liebe Leser:innen,dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deswegen findet ihr am Ende des Buches auf Seite 411 eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte. Wir möchten, dass ihr das bestmögliche Leseerlebnis habt.

Eure Jennifer Bright und das Forever-Team

Prolog

Hope

»Stalkst du mich?« Mit verschränkten Armen und dem Blick, den ich meiner kleinen Schwester immer zuwerfe, wenn sie wieder mal etwas aus meinem Zimmer gestohlen hat, schiebe ich den freien Stuhl nach hinten und setze mich ihm gegenüber.

»Was?« Lees dunkle Augen werden groß, während er sein Tablet aus den Händen legt. Seine Lippen teilen sich für den Bruchteil einer Sekunde, nur um sich direkt wieder zu schließen, als müsste er meine Worte erst einmal in seinen Gedanken ordnen. Mein Blick bleibt an seinem Mund hängen, und ich frage mich, ob ich mich in einer Guinevere-Beck-Situation befinde und auf irgendeine kranke Art und Weise meinem Stalker ins Gesicht sehe.

»Hör zu. Ich habe You mindestens viermal gesehen. Staffel eins und zwei. Und du beobachtest mich in guter alter Joe-Goldberg-Manier.« Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Seit Silvester haben wir kein Wort mehr gewechselt, bis auf die Bestellungen, die ich für dich aufnehme. Trotzdem sitzt du hier jedes Mal und glaubst, dass ich nicht merke, wie du mich beobachtest.« Ich ziehe das Zopfgummi um meinen Pferdeschwanz enger. »Ich bin gerade auch nur so direkt, weil wir hier unter Menschen sind und ich mir sicher sein kann, dass du mir nicht vor allen den Schädel einschlägst und mich bewusstlos in irgendeinen Verschlag schleifst.«

Lee sieht erst mich und dann die Leute um uns herum entsetzt an. Dabei habe ich bewusst leise gesprochen, um nicht alle Blicke auf uns zu ziehen. Ich möchte ihn auch gar nicht vorführen, nur ein klein wenig ärgern. Seine langen Finger fahren durch sein rabenschwarzes Haar, das durch das hineinfallende Tageslicht dunkelbraun leuchtet.

Es ist April, und der Frühling zeigt sich von seiner besten Seite. Alles beginnt zu blühen, und London erstrahlt in einem Meer aus Sonnenstrahlen. Seit ich denken kann, ist dies meine liebste Jahreszeit. Jeder Frühling ist wie ein Neuanfang. Die Welt wird nach langen, dunklen Monaten endlich wieder bunt und hell. Der Frühling bringt Hoffnung. Immer und immer wieder.

»Ich …« Lee umklammert die Tasse Kaffee mit beiden Händen, als wäre sie sein Rettungsanker. Es braucht all meine Beherrschung, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Die Panik steht ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich stalke dich nicht.«

Dass er kein Joe Goldberg ist, ist mir natürlich bewusst. Wobei … Man weiß nie. Hinter dem freundlichsten Gesicht kann sich der tiefste und gruseligste Abgrund befinden. Doch irgendwas an Lee lässt mich glauben, dass er keinen Funken Boshaftigkeit in sich trägt.

»Wie nennst du es dann, wenn du jemanden monatelang beobachtest?«, frage ich ihn, ohne dabei auch nur eine Miene zu verziehen.

Ich weiß schon gar nicht mehr, wann es mir das erste Mal aufgefallen ist. Es müsste meine beste Freundin Mora gewesen sein, die mich auf ihn aufmerksam gemacht hat. Seither spüre ich seine Blicke auf mir, und eigentlich sollte es mich stören. Doch das tut es nicht. Im Gegenteil. In den Momenten, in denen er in sein Tablet vertieft ist und mit dem Stift darauf herumkritzelt, beobachte ich ihn auch. Seine konzentrierten Gesichtszüge, den fokussierten Blick, den leicht geneigten Kopf.

Lee beginnt zu lächeln. »Wenn ich dir diese Frage beantworte, hältst du mich vermutlich wirklich für einen verrückten Stalker.« Er trinkt einen großen Schluck der schwarzen Brühe, die ich ihm vor einer Stunde gebracht habe und die nun schon kalt sein muss. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie auch nur einen Schluck Kaffee probiert, auch nicht, seit ich im Cosy Corner arbeite.

»Ich bin ein ziemlich direkter Mensch und …«

»Ich weiß«, entgegnet er mir, bevor ich weitersprechen kann.

»Woher … Ach, vergiss es. Ich möchte es lieber nicht wissen.« Bei dem Gedanken daran, was für eine absurde Unterhaltung wir gerade führen, muss ich lachen. »Mora meinte, du seist vielleicht einfach nur zu schüchtern, um mich nach einem Date zu fragen. Deshalb übernehme ich dieses Gespräch jetzt für dich und sage dir, dass ich nicht interessiert bin.«

Ich umfasse den Anhänger meiner goldenen Kette, ein kleiner Notenschlüssel, und lasse ihn am Gliederband auf- und abfahren.

»Du bist wirklich … besonders.« Er lehnt sich zurück in den Stuhl und legt die Hände in den Nacken. Das schwarze T-Shirt spannt um seine Schultern. »Aber ich möchte gar kein Date mit dir.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Oh.« Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her. Mora und ich waren uns so sicher, dass dies der Grund ist, weshalb er mich kaum aus den Augen lässt, wenn er hier ist.

»Ich wäre gerne mit dir befreundet.«

Ich blinzle. Einmal. Zweimal. Dreimal.

Mit einem Grinsen im Gesicht beginne ich schließlich zu nicken. Seine Worte sind genauso überraschend wie meine. Auch wenn er zurückhaltend wirkt, erkenne ich die Abenteuerlust und die Aufgeschlossenheit, die in ihm zu schlummern scheinen.

»Um ehrlich zu sein, habe ich nicht viele Freunde«, gestehe ich und denke dabei an Mora, die immer wieder versucht, mich in ihre Clique miteinzubeziehen. Es ist nicht so, dass ich Menschen verabscheue und nichts mit ihnen zu tun haben will. Na gut, manche schon. Aber viel eher möchte ich niemanden zu nah an mich heranlassen. Ich weiß, wie das klingt, aber ich weiß auch, dass es mir damit besser geht. Meine kleine Welt ist so voll und bietet nicht viel Platz für neue Menschen, neue Gefühle, neue Erinnerungen.

»Könnte an deiner direkten Art liegen.« Lee legt die Ellenbogen auf den runden Tisch und beugt sich leicht zu mir he­rüber. »Ich mag das.«

Dass mir etwas die Sprache verschlägt, kommt nicht häufig vor. Doch Lee hat es geschafft. Ich weiß nicht, was ich erwidern soll. Aber er weckt eine Neugier in mir, die ich die meiste Zeit über an kurzen Zügeln halte.

»Also, was sagst du?«

»Wozu?« Auch ich lehne mich etwas vor. Eine Gänsehaut breitet sich über meinen Armen aus, als meine nackte Haut die kalte Tischplatte berührt. Im Café ist es so warm, dass ich nur ein T-Shirt mit bunten Streifen trage und darüber meine liebste Jeanslatzhose.

Von außen betrachtet müssen wir ziemlich gegensätzlich aussehen. Er gedeckt in dunklen Farben, ich auffällig in bunten. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass unser Innerstes gar nicht mal so unterschiedlich ist. Ich wünschte, ich könnte erklären, wieso oder woher diese Ahnung kommt. Doch ich weiß es selbst nicht. Sie ist einfach da.

»Möchtest du mit mir befreundet sein?«

»Seit dem Kindergarten hat mich das niemand mehr gefragt.« Ich denke zurück an Liz, der ich damals unmissverständlich mitgeteilt habe, dass ich an keiner Freundschaft mit ihr interessiert bin. Sie hat mir nach jedem Mittagessen den Nachtisch geklaut und mir beim Spielen immer Sand in die Augen geworfen. Meine Entscheidung damals war also definitiv kein Verlust.

»Eigentlich schade, dass so was heutzutage keiner mehr fragt. Es kommt bestimmt nicht selten vor, dass man Menschen sieht und auf Anhieb das Gefühl hat, dass man sich gut verstehen würde.«

Meine Augen wandern wie von selbst über Lees Gesicht. Seine Haut wirkt beinahe makellos. Ein kleines, dunkles Muttermal am markanten Kiefer. Seine Nase ist weder groß noch klein. Schwarze, volle Augenbrauen, dunkle Wimpern und tiefbraune Augen.

Kurzerhand schalte ich meinen Kopf aus. Höre nicht auf die Stimme, die mir zuflüstert, dass in meinem Leben kein Platz für jemand Fremdes ist. Es ist verrückt, aber Lee wirkt speziell, auf eine gute Art und Weise. Und speziell mag ich. Also folge ich meiner Intuition und halte ihm meine Hand entgegen.

»Hi. Ich bin Hope.«

Wir lächeln uns an, als er meine Hand ergreift und sie schüttelt.

»Hallo, Hope. Ich bin Lee.«

Kapitel 1

Hope

Meine Fingerspitzen brennen bereits. Als ich den Bogen ein letztes Mal über die Saiten streifen lasse, verstummt die Musik mit einem letzten Echo um mich herum und hinterlässt eine erschreckende Stille. Doch in meinem Kopf höre ich noch immer Caprice No.24 von Niccolò Paganini. Die Melodie, die mich beinahe schon mein gesamtes Leben begleitet, in der ich aufblühe und gleichzeitig untergehe. Die Melodie, aus der sowohl meine Träume als auch meine Albträume gemacht sind. Musik ist viel mehr als aneinandergereihte Noten. Sie ist der Motor, der mich am Laufen hält.

Das Spielen ist für mich wie Atmen. Ich tue einfach nur das, was mein Herz höherschlagen lässt. Mit sechs Jahren nahm ich das erste Mal eine von Dads Geigen in die Hand. Meinen ersten Unterricht bekam ich mit sieben. Wenn ich das Leuten in meinem Umfeld erzähle, sind sie felsenfest davon überzeugt, dass meine Eltern mich dazu gezwungen hätten. Welches kleine Kind wünscht sich, solch ein klassisches Instrument zu lernen? Haben deine Eltern Druck auf dich ausgeübt?Würdest du nicht viel lieber den ganzen Tag mit deinen Freundinnen spielen?

Dabei habe ich es geliebt. Von der ersten Sekunde an habe ich die Melodien gespürt und gelebt.

Ich atme tief ein und muss mich regelrecht zwingen, meine Geige, die ich liebevoll Poppy nenne, in ihrem schwarzen Geigenkoffer zu verstauen und mich der Realität zu stellen. Heute ist der zwanzigste April. Mein zwanzigster Geburtstag, und früher war das mein Lieblingstag. Ich habe all meine Freunde eingeladen, und gemeinsam haben wir mit meiner Familie in unserem riesigen Garten unter einem bunten Pavillon gefeiert. Heute wäre der Pavillon zu groß. Denn mittlerweile sind beide geschrumpft: mein Freundeskreis und meine Familie.

Da sind so viele schöne Erinnerungen, die niemals verblassen werden. Sie werden immer so farbenfroh bleiben, wie ich sie erlebt habe, und das gibt mir Hoffnung. Hoffnung, nicht in einem Meer aus Grau zu ertrinken. Vielleicht ist genau das der Grund, warum meine Kleidung nie schlicht ist, warum ich alle möglichen Farben miteinander kombiniere, um nicht matt zu wirken. Ausgeblichen. Um nicht so auszusehen, wie ich mich fühle.

»Hippie-Hope?« Daisy, meine kleine Schwester, stürmt zur Tür herein und hüpft auf den Schaukelsitz, der von der Zimmerdecke hängt. Den Spitznamen hat sie mir verpasst, als sie vor einem Jahr mit Dad auf der Couch saß und im Fernsehen irgendwas über Hippies lief. Sie meinte, ich sehe genauso aus wie die Leute in der Flimmerkiste.

»Papa sagt, ich soll dich holen kommen, dir aber nicht verraten, dass er stundenlang in der Küche stand, um dir einen Kuchen zu backen.« Ihre grünen Augen, die sie von Mum hat, werden mit einem Mal doppelt so groß. Sie presst ihre kleine Hand auf den Mund. »Upsi.«

Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus, während in meinem Kopf die Worte von Mora widerhallen, ob ich nicht langsam ausziehen wollen würde und dass ein Zimmer in ihrer WG frei wäre. Manchmal würde ich gerne aus diesem Stadthaus inmitten von South Kensington verschwinden, nur um mich direkt wieder daran zu erinnern, dass das nicht geht. Dass ich Daisy hier nicht allein lassen kann. Noch vor wenigen Jahren hätte ich das komplett anders gesehen. Mein Plan war es, nach meinem Jahr in Lima in Peru zurück nach London zu kommen und noch vor Beginn meines Studiums in eine WG zu ziehen. Doch seit unsere große Schwester Manon verstarb, ist in diesem Haus nichts mehr, wie es einst war. Ich würde es niemals übers Herz bringen, Daisy allein zu lassen.

Oft liege ich nachts wach und frage mich, wie ich Manons Tod verarbeitet habe, bis mir klar wird, dass ich es nie getan habe. Ich verdränge. Tag für Tag. Und darin bin ich verdammt gut. Ein Stück weit aus Egoismus und Selbstschutz. Ein viel größeres Stück aber, um für Daisy stark zu sein. Jetzt bin ich die Älteste. Die große Schwester. Die Schulter, an die sie sich immer anlehnen kann. Die Person, die immer auf sie aufpassen wird. Ich möchte für sie all das sein, was Manon für mich war. Der Mittelpunkt meines Universums und der Mensch, den ich immer am meisten bewundert habe.

»Bitte verrate Papa nichts.« Sie läuft auf mich zu, nimmt mir den Geigenkoffer aus der Hand, der neben ihr viel zu groß wirkt, und legt ihn behutsam auf den Boden. Dann schlingt sie ihre Arme um meinen Körper und drückt ihren Kopf gegen meinen Bauch.

»Schokolade?«, frage ich Daisy und wuschle ihr durch das hellbraune Haar. Mit Schokolade kann man mich immer glücklich machen. Ich kann mich an keinen Geburtstag erinnern, an dem es keine Schokotorte gab, bis auf den einen. Doch dieser Tag zählt nicht. Diesen einen Geburtstag vor zwei Jahren haben wir alle aus unserem Gedächtnis radiert. Zumindest reden wir uns das ein.

Sie nickt, nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich her. Wann ist sie so groß geworden? Ich erinnere mich an die Zeit, in der sie noch Windeln getragen hat, als wäre es gestern gewesen, und heute ist sie bereits acht. Mum sagt immer, dass ich das schwarze Schaf der Familie sei. Während Manon und Daisy ruhige Kinder waren, war ich laut und hatte schon damals einen Dickkopf. Sie hat es nie böse gemeint, aber der Ton ihrer Stimme verriet mir stets, dass es ihr in gewisser Weise doch ein Dorn im Auge war und noch immer ist.

Als Daisy und ich gerade Hand in Hand mein Zimmer verlassen wollen, werfe ich noch einen kurzen Blick in den Spiegel. Ich bin das Ebenbild von Mum. Braune, wilde Locken, die spitze Nase, das ovale Gesicht, die vollen Lippen. Das Einzige, das ich optisch von Dad geerbt habe, sind die blauen Augen. Manon und Daisy hingegen kommen ganz nach ihm, nur dass die zwei die grünen Augen von Mum haben.

Gerade als ich die Tür hinter uns schließen möchte, macht sich mein Handy durch ein lautes Vibrieren bemerkbar. Ich beuge mich zu meiner Schwester hinunter und gebe ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Gehst du schon einmal vor? Ich komme sofort und tue so, als wäre ich ganz überrascht von der Schokoladentorte. Versprochen.«

»Aber beeil dich, sonst hast du gleich keine Kerzen mehr zum Auspusten«, erwidert sie und rennt aus meinem Zimmer.

Barfuß laufe ich zu meinem Schreibtisch und erkenne auf dem Display eine eingehende WhatsApp-Nachricht von Lee. Die erste, seit wir Nummern ausgetauscht haben. Ich kann noch immer nicht glauben, dass ich sie ihm einfach so gegeben habe, als wäre es kein großes Ding. Normalerweise gebe ich nicht jedem x-Beliebigen meine Nummer.

Von: Lee

Happy Birthday. Hoffe, du hast einen schönen Geburtstag und genießt die Sonne. PS: Bin gerade im Cosy Corner, und Mora hat mir verraten, dass du heute Geburtstag hast. Bevor du wieder denkst, ich sei ein Stalker.

Erst als ich das Display wieder ausschalte, fällt mir in der schwarzen Spiegelung auf, dass ich ein breites Lächeln auf den Lippen trage. Mora glaubt vermutlich immer noch, dass Lee auf mich steht. Noch bin ich nicht dazu gekommen, ihr von unserem gestrigen Gespräch zu berichten. Sie wird Augen machen, wenn ich ihr sage, dass Lee mich gefragt hat, ob ich mit ihm befreundet sein möchte. In ihrer Vorstellung haben wir uns sicher zu einem Date verabredet.

Den ganzen gestrigen Abend über lag ich mit offenen Augen im Bett und habe den weißen mit Lichterketten beleuchteten Betthimmel über mir angestarrt. Unser Gespräch ging mir dabei unentwegt durch den Kopf. Auch wenn ich früher einen großen Freundeskreis hatte, so habe ich mich trotzdem stets schwergetan, neue Freundschaften zu schließen.

Obwohl es keine dreißig Sekunden dauern würde, mich bei ihm zu bedanken, beschließe ich trotzdem, mich später bei ihm zu melden. Ich möchte jetzt erst einmal den Tag hinter mich bringen, der mich vermutlich für den Rest meines Lebens an meine tote Schwester erinnern wird. Wieso? Wir haben am selben Tag Geburtstag. Heute wäre sie zweiundzwanzig geworden. Nur ist unser Geburtstag mittlerweile auch ihr Todestag.

Keiner in unserer Familie verbindet den zwanzigsten April noch mit etwas Positivem. Das Leben ist ein Arschloch und das Schicksal sein großer Bruder. Wieso sonst würde es einem Menschen an ein und demselben Datum das Leben schenken und dann wieder nehmen?

Noch immer barfuß laufe ich die Treppen hinunter. Unser gesamtes Haus ist sehr hell. Weiße Wände und Türen, helles Holz, helle Grautöne und sehr viel Beige. Im Bereich der Treppe und des Flures hängen unsere Familienfotos, und es wundert mich, dass wir es jeden Tag schaffen, an ihnen vorbeizulaufen, ohne in ein Meer aus Tränen auszubrechen.

Im Garten steht meine Familie, oder das, was noch davon übrig ist, mit dem Rücken zu mir. Dad hat seinen Arm um Mums Schultern gelegt, während ich Daisys rosafarbenes Kleid zwischen ihnen erkennen kann.

Ich schließe die Augen und sehe meine große Schwester vor mir. Wie sie tanzend auf mich zukommt. Ihre kurzen braunen Haare mit den blond gefärbten Spitzen hüpfen in der Luft auf und ab. Sie trägt das schönste Lächeln, das die Welt je gesehen hat. Sobald sie einen Raum betrat, war es, als würde alles leuchten.

Tief atme ich ein, stelle mir vor, ich könnte ihr blumiges Parfüm riechen, und beginne zu seufzen. Ein leichter Windzug streift mein Gesicht, und ich bin mir sicher, dass sie heute hier ist. Bei mir. Bei uns. Langsam öffne ich wieder die Augen, gewöhne mich blinzelnd an das helle Sonnenlicht, das durch die großen Fenster und die geöffnete Schiebetür von draußen in den geräumigen Wohnbereich fällt.

»Nichts von dir wird jemals verloren gehen. Nicht dein Mut. Nicht deine Kraft und auch nicht deine Unbeschwertheit. Ich halte alles ganz fest. Halte dich ganz fest. Du bleibst ewig«, flüstere ich und wische mir die Träne aus dem Gesicht, bevor sich noch jemand umdreht und mich sieht.

Ich setze das strahlende Lächeln auf, das ich in den letzten zwei Jahren perfektioniert habe, und verdränge mein schmerzendes Herz und die Dunkelheit, die sich über meine Gedanken legt und mich betäubt. Ich bin eine Meisterin darin, so zu tun, als ginge es mir gut. Darin, alle glauben zu lassen, dass ich glücklich bin und mich nicht in manchen Nächten weinend unter meiner Bettdecke verstecke und mir wünsche, aus diesem Albtraum aufzuwachen. Mir wünsche, endlich wieder richtig atmen zu können, ohne diesen Schmerz zu spüren, der mich beinahe zerreißt.

Gerade als ich mich in Bewegung setze, dreht Dad sich um und beginnt damit, mir ein Geburtstagslied zu singen, in das Mum und Daisy sofort mit einstimmen. Einer nach dem anderen nimmt mich in den Arm, bevor wir uns alle an den gedeckten Tisch im Garten setzen, der mit Blumen und Konfetti geschmückt wurde. Dads Schokoladentorte steht in der Mitte, und obwohl mir der reine Anblick bereits das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, ist meine Aufmerksamkeit auf den leeren und dennoch gedeckten Platz neben mir gerichtet.

Seit Manons Tod deckt Mum bei jedem Familienessen für sie mit, als würde sie jeden Augenblick durch die Tür spaziert kommen und sich zu uns setzen. Ich weiß, wie sehr Dad unter dem Anblick dieses leeren Platzes leidet, und doch würde es ihm niemals in den Sinn kommen, Mum darum zu bitten, dies nicht mehr zu tun. Wir wissen eben alle, dass wir unterschiedlich trauern. Der eine leise, die andere laut. Der eine ruhig, die andere wütend.

Kapitel 2

Hope

»Er wollte dich nicht auf ein Date einladen? Ich hätte meinen letzten Penny darauf verwettet, dass er an dir interessiert ist.« Mora greift sich in das volle schwarze Haar und bindet es im Gehen zu einem Dutt. Durch den gemauerten Torbogen betreten wir den Strand Campus des King’s College, der sich am Nordufer der Themse befindet und die Kunst- und Wissenschaftsfakultäten beherbergt.

Nachdem wir gestern meine Geburtstagstorte aufgegessen hatten, musste Mum zur Arbeit. Es war nicht anders zu erwarten. Für ein oder zwei Stunden wurde der Schein einer funktionierenden Familie gewahrt, bis sie sich wieder zurückgezogen und uns die kalte Schulter gezeigt hat. Doch davon möchte ich mir jetzt nicht die Laune verderben lassen und schiebe den Gedanken daran beiseite.

Die Sonne küsst meine nackte Haut an den Armen und hinterlässt eine angenehme Wärme. Ich danke der Wetterfee dafür, dass wir Ende April solche Temperaturen haben und ich endlich wieder meine farbenfrohen Shirts und lockeren Kleider aus dem Schrank holen kann. Der Winter war viel zu grau, kalt und stürmisch.

»Er möchte einfach mit mir befreundet sein.« Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, während ich an das Gespräch mit Lee denke. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass er so was sagt. Auf der Silvesterparty bei Aidans Tante haben wir uns alle wirklich blendend verstanden und viel Spaß gehabt. Aber wirklich kennengelernt haben Lee und ich uns dort nicht. Doch ab diesem Abend fiel mir auf, dass seine Blicke länger als gewöhnlich an mir klebten.

»Kenne ich. Diese Situation, in der man auf jemanden zugeht und fragt, ob die Person mit einem befreundet sein will. Ganz normal«, meint Mora, und ihr lautes Lachen, das immer alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, bringt mich dazu, mit einzustimmen. Zwischen ihr Gelächter mischen sich leise Grunztöne von ihr, was mich jedes Mal nur noch mehr zum Lachen bringt.

»Vor allem …« Sie hält kurz inne und stützt ihre Hand auf meiner Schulter ab, während sie versucht, nach Luft zu schnappen. »Dass ausgerechnet du darauf eingegangen bist. Das gleicht einem Wunder. Seit wann schließt du neue Freundschaften?«

»Das ist eine sehr gute Frage. Ich weiß auch nicht, welches Pferd mich geritten hat, als ich zugestimmt und ihm dann auch noch meine Handynummer gegeben habe.« Durch die dunkle Holztür betreten wir den Eingangsbereich unserer Fakultät, und ich nicke einigen Studierenden zu, mit denen ich gemeinsame Kurse habe. Mora weiß genauso gut wie ich, dass ich an der ganzen Universität nur eine Freundin habe. Und diese steht gerade neben mir.

»Vielleicht die dunklen Welpenaugen, umrahmt von diesen wirklich tollen Wimpern? Oder doch eher das perfekte Lächeln? Nein, warte. Es waren die schätzungsweise ein Meter neunzig Körpergröße, die dich dazu gebracht haben?« Sie zwinkert mir zu, als hätte sie ein Geheimnis gelüftet, von dem nur wir beide wissen. Dabei glaube ich, sie redet eher von sich selbst. Immerhin ist sie diejenige, die mir seit Silvester damit in den Ohren liegt, wie attraktiv Lee doch ist.

»Ich glaube, es war der Gedanke daran, euch zwei zu verkuppeln.« Ich gehe seitlich die Steintreppen nach oben und zwinkere Mora ebenfalls zu.

»Bloß nicht. Die Sache mit James ist noch immer nicht beendet, und selbst wenn es das wäre, habe ich keinen Nerv für einen neuen Typen.« Die Worte kommen nur sehr zaghaft über ihre Lippen, und ich weiß ganz genau, wieso. Sie wollte schon letzte Woche mit James Schluss machen, nachdem er sich mal wieder einen glorreichen Fehltritt erlaubt hatte. Zu sagen, dass ich ihre Beziehung nicht verstehe, wäre noch untertrieben.

»Wieso nicht? Mora!« Ich hasse es, wenn meine Stimme diesen belehrenden Ton annimmt. Er lässt mich jedes Mal kurz zusammenzucken, weil er mich so sehr an Mum erinnert. »Dieser Kerl verarscht dich nach Strich und Faden. Und das nicht zum ersten Mal. Wo soll das hinführen? So darfst du dich nicht behandeln lassen, und das weißt du auch.«

Obwohl Mora meine beste Freundin ist, steht es mir nicht zu, mich in ihre Beziehung einzumischen. Aber in diesem Fall geht es nicht anders. James und Mora führen eine On-off-Beziehung, und selbst in On-Phasen hält ihn dies nicht davon ab, sich auf Partys zu betrinken und mit anderen Frauen rumzumachen. Ich ertrage es nicht, wie er ihr jedes Mal aufs Neue das Herz bricht.

Oben angekommen lehnt sich Mora mit dem Rücken gegen die Wand und sieht mich aus ihren dunklen Augen an. Sie schiebt sich die große Brille, die ihrem Gesicht schmeichelt und es noch mehr zur Geltung bringt, hoch auf den Nasenrücken. Eine ihrer vielen Angewohnheiten, wenn sie nach den richtigen Worten sucht.

»Es ist so dämlich. Ich weiß das alles. Wirklich. Aber wenn ich vor ihm stehe und er sich bei mir zum hundertsten Mal entschuldigt, vergesse ich irgendwie all die Tränen und den ganzen Stress, den ich wegen ihm habe.« Sie zieht an dem Saum ihres eng anliegenden weißen Shirts und vergräbt die Hände in den Taschen ihrer Jeans.

Obwohl ich Mora keine Sekunde um ihre Beziehung mit James beneide, frage ich mich doch manchmal, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein. Es ist nicht so, dass ich noch nie jemanden gedatet hätte. Im Gegenteil, ich hatte auch bereits die ein oder andere Schwärmerei und Sex. Aber echte Gefühle kamen bei mir nie auf. Ich habe mich nie mit jemandem verbunden gefühlt. Hatte nie Schmetterlinge im Bauch oder Herzklopfen bei jeder noch so zarten Berührung.

»Wie hat sich unser Gesprächsthema jetzt nur von einem so tollen Kerl wie Lee zu einem solchen Arschloch wie James gewandelt?« Mora verdreht die Augen.

»Gute Frage.« Ich lasse meine Schulter sinken und spüre, wie der Gurt meines Geigenkoffers über meine Haut hinabgleitet, bis der Koffer in meinen Händen liegt und ich ihn an meine Brust drücke. »Aber mal ganz abgesehen davon, woher willst du wissen, dass Lee ein toller Kerl ist?«

»Hm …« Mora legt ihren Daumen unters Kinn und fährt sich mit dem Zeigefinger über die Lippen. »Das spüre ich einfach.«

»Wegen seines Dackelblicks, ja?«, ziehe ich sie auf.

Ich möchte mir selbst nicht eingestehen, dass ich dieses Gefühl auch habe. Dass ich glaube, Lee sei ein guter Mensch, ohne ihn überhaupt zu kennen. Vielleicht liegt es wirklich an diesen Augen, die zwar beinahe schwarz, aber gleichzeitig auch unglaublich warm wirken. Dabei ist es für mich eher die Aura, die ihn umgibt und mich neugierig gemacht hat. Sie ist dafür verantwortlich, dass ich mich tatsächlich mit ihm anfreunden möchte. Er strahlt dieselbe Offenheit aus, wie es meine Schwester Manon immer getan hat.

»Ach, hör doch auf.« Mora schüttelt den Kopf und geht an mir vorbei. Hier trennen sich unsere Wege. Während ich Musik studiere, hat sie sich damals für Digital Humanities entschieden, und ähnlich wie ich, weiß auch sie noch nicht, was sie später mal damit anfangen möchte oder in welche Richtung es sie verschlagen wird. »Bleibst du nach deinem Kurs noch?«

»Ja, ich wollte noch ein wenig proben«, antworte ich ihr und ziehe den Geigenkoffer dabei noch enger an meine Brust, als müsste ich meinen Worten Ausdruck verleihen.

»Wozu? Du kannst jedes erdenkliche Stück im Schlaf spielen.«

»Red keinen Unsinn«, entgegne ich. Okay, vielleicht brauche ich gerade nicht zu proben, weil ich schon seit Tagen an dem erforderlichen Stück arbeite, aber ich möchte proben. In jeder freien Minute will ich spielen.

Ich liebe es, andere im Geigespielen zu unterrichten und ihnen das Talent zu entlocken, das in ihnen schlummert. Aber mein Herz schlägt auch höher, wenn ich auf der Bühne stehe und für ein Publikum spiele. So stelle ich mir vor, wie es ist, verliebt zu sein. Dieses nervöse Kribbeln im Bauch, das klopfende Herz, das vor lauter Vorfreude beinahe aus der Brust springt, und das Glücksgefühl, das einen überkommt, sobald der erste Ton die Stille durchbricht.

Mora zieht mich in eine kurze Umarmung. »Dann sehen wir uns spätestens morgen im Cosy Corner. Spiel dir die Finger nicht blutig.« Ich höre ihr stummes schon wieder zwischen den Zeilen.

Wir verabschieden uns voneinander, und während sie links abbiegt, gehe ich den Gang weiter geradeaus und freue mich schon auf den Kurs, der in wenigen Minuten beginnt und bei dem ich wie die größte Streberin ganz vorn sitzen werde. Wie immer.

Während ich mich in meiner Schulzeit manchmal dabei erwischt habe, wie ich mich für den Streberstempel geschämt habe, trage ich ihn inzwischen mit Stolz. Es interessiert mich nicht, wenn mich jemand dumm anschaut, weil ich mal wieder die Antwort auf eine Frage weiß und nicht damit zögere, meinen Arm zu heben. Ich habe für all das hart gearbeitet. Ja, vielleicht wurde ich mit dem Segen geboren, die Musik nicht nur zu hören, sondern sie auch zu fühlen. Doch das bedeutet nicht, dass ich weniger übe als andere und nicht auch meine Kindheit und Jugend damit verbracht habe, immer besser und besser werden zu wollen.

»Hallo, Hopeless Hope.« Gabriel Dixton. Weit davon entfernt, mein fester Freund zu sein, aber auch weit davon entfernt, ein Niemand für mich zu sein. Irgendwas zwischen Kumpel und One-Two-Three-Night-Stand.

Die blonden Locken fallen ihm in die Stirn, während er dabei ist, sich die Ärmel des karierten Hemdes hochzuschieben.

Ich nicke ihm zu und setze wie immer ein Lächeln auf, das nicht einmal ansatzweise meine Augen erreicht. Was nicht daran liegt, dass ich Gabriel nicht leiden kann. Wäre dies der Fall, hätte ich nicht ein einziges Mal mit ihm geschlafen. Auch wenn das zwischen uns nie etwas Ernstes war oder sein wird, könnte ich trotzdem nicht über einen schlechten Charakter hinwegsehen, nur, weil er augenscheinlich verdammt heiß aussieht. Er hat diesen Surfer-Boy-Vibe, den man eher am Byron Bay in Australien vermuten würde als inmitten von London.

Von Mr Crawford werden wir immer das unschlagbare Duo genannt. Gabriel am Klavier, ich an der Geige. Nicht nur unsere Melodien harmonieren miteinander, was wohl auch der Grund dafür ist, weshalb ich mich mehrmals auf eine Nacht mit ihm eingelassen habe.

»Möchtest du hier noch weiter wie der größte Checker an der Wand gelehnt stehen, oder hast du vielleicht vor, mir den Weg frei zu machen, damit ich pünktlich zu Musikalische Analyse komme?« Ich mache einen Schritt zur Seite, um an ihm vorbeizugehen. Er reagiert so schnell, dass ich mit meiner Stirn volle Kanne gegen seine Brust renne. »Du bist so eine Nervensäge«, schnaube ich, hake mich bei ihm unter und ziehe ihn hinter mir her.

Leider, oder vielleicht auch zu meinem Glück, da er der Einzige in meinem Studienfach ist, mit dem ich mich super verstehe, haben wir alle Kurse gemeinsam.

Das dritte Trimester des zweiten Studienjahres ist gerade angebrochen, und ich muss zugeben, dass ich mir wünsche, das Studium würde länger gehen. Ich liebe es. Jeden Kurs, jeden Dozenten und jede Dozentin, jedes Musikinstrument und jede noch so trockene Theorie. Während wir im ersten Jahr noch Pflichtmodule hatten, konnten wir im zweiten frei wählen, solange wir unsere hundertzwanzig Credits erreichen. Ich habe mich für Kompositionsstudien, Musikalische Analyse, Ethnografische Methoden in der Musikwissenschaft und für Musikalische Darbietung entschieden.

»Sag mal. Sucht diese ultrareiche Familie in Kensington noch immer einen Klavierlehrer für ihre Tochter?«, möchte Gabriel wissen, während wir den langen Flur entlangeilen, um nicht zu spät zu kommen.

»Wieso? Hast du deine Meinung etwa geändert?« Es ist nicht einmal zwei Wochen her, seit ich ihm davon erzählt habe und er abgelehnt hat. Mittlerweile gebe ich dem kleinen Nicholas bereits seit einem Jahr Unterricht im Geigespielen. Die Johnsons sind eine freundliche und respektvolle Familie, und als ich gehört habe, dass Nicholas’ große Schwester Louise gerne Klavier lernen würde, habe ich sofort an Gabriel gedacht, der aber direkt verneinte.

»Deine Schwärmerei von der Familie hat mich eventuell umstimmen können.«

»Aber du meintest doch, du willst auf gar keinen Fall für irgendwelche reichen Schnösel arbeiten und hast sowieso mit dem Job im Diner genug zu tun?«, erinnere ich ihn an seine eigenen Worte. Innerlich freue ich mich jedoch darüber, weil Louise einen hervorragenden Klavierlehrer bekommen wird. Ich kann nur hoffen, dass die Johnsons nicht schon jemand anderes für ihre Tochter gefunden haben.

»Ich habe im Diner gekündigt. Und ohne die Kohle bin ich echt aufgeschmissen. Meine Eltern haben einfach nicht die Mittel, mich all-inclusive durch das Studium zu bringen.«

Auch wenn ich selbst mit diesem Thema nicht konfrontiert bin, trifft mich diese Ungerechtigkeit des Lebens immer wieder aufs Neue, wenn ich sie so knallhart vor Augen geführt bekomme. Wie kann es sein, dass Bildung so unfassbar viel kostet und für einige erst gar nicht zugänglich ist?

»Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen.« Meine Finger gleiten zu Gabriels Unterarm, und ich drücke sanft zu. »Louise wird dich lieben.«

»Wie alt war sie noch gleich?« Aus seinen grünen Augen sieht er mich schmunzelnd an, und ich kann nicht anders, als laut loszulachen.

»Zu jung für dich. Viel zu jung, du Casanova.«

Eine Traube Menschen versammelt sich vor der riesigen Tür zum Hörsaal und quetscht sich nach und nach hindurch. Ich presse meine Geige mit beiden Händen fest an mich, wodurch sie mir beinahe die Luft abschnürt. Nichts gegen Menschen, echt nicht, aber so viele auf einem Haufen müssen nun wirklich nicht sein.

Mit der Geige als Schutzschild lässt mir Gabriel den Vortritt, und alles, worauf ich mich jetzt noch konzentrieren werde, ist die Musik. Mit all ihren Facetten, wozu eben auch die eher trockene musikalische Analyse gehört.

Kapitel 3

Hope

Von: LeeTest. Test. Test.

Mit gerunzelter Stirn starre ich auf das Display meines Handys und frage mich, was genau er mir mit dieser Nachricht sagen möchte. Es ist jetzt drei Tage her, seit ich ihm meine Nummer gegeben habe und er mir seine. Im Grunde weiß ich gar nichts über ihn. Und doch habe ich seine Hand ergriffen und in dem Moment das Gefühl gehabt, genau das Richtige zu tun.

Von: LeeIch möchte nur sehen, ob du mir auch deine richtige Nummer gegeben hast. Nachdem du auf meine Geburtstagsgrüße nicht reagiert hast.

Von: HopeOh, Mist. Das tut mir leid, hatte ich am Abend echt noch vor. Aber hey, auf meinem Profilbild grinse ich in die Kamera, und auch mein Name bei WhatsApp ist Hope. Und du zweifelst trotzdem daran, dass dies meine Nummer ist?

An den Punkten unter seinem Namen sehe ich, dass er gerade schreibt, und ich nutze die Zeit, um es das erste Mal zu wagen, mir sein Profilbild anzusehen. Er sitzt auf einem Hügel, hinter ihm Bäume, an denen nur noch vereinzelt braune Blätter hängen. Er trägt eine blaue Jeans, helle Sneaker, ein weißes T-Shirt und eine leichte karamellfarbene Jacke darüber. Seine Beine sind angewinkelt und die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Mit geschlossenen Augen scheint er die Sonne zu genießen. Es ist ein schönes Foto. Nicht gestellt oder übertrieben. Es ist ehrlich und strahlt eine gewisse Ruhe aus.

Von: LeeWie geht’s dir?

Ist das sein Ernst? Ich habe sein Profilbild so lange betrachtet, dass ich mir sicher bin, dass es mich selbst in meinem Schlaf noch verfolgen wird, und er hat in dieser Zeit ganze drei Wörter geschrieben? Entweder wusste er nicht, was er schreiben soll, und hat alles immer wieder gelöscht, oder aber selbst Dad ist schneller im Tippen und er benutzt dabei nur seinen Zeigefinger.

Von: HopeGut und dir?

Von: LeeEin wenig gestresst, ansonsten auch gut. Was machst du gerade?

Von: HopeProben

Von: LeeProben wofür?

Von: HopeWeißt du was? Hast du Zeit? Kennst du das SOHO Coffee Co. am Strand 138?

Von: LeeBeim King’s College? Klar. Gib mir dreißig Minuten.

Von: HopeIch warte.

Langsam setze ich mich auf die breite Fensterbank und blicke auf die Häuserfassade gegenüber. Meine Geige lege ich zurück in den Koffer und verschließe ihn. Habe ich gerade wirklich ein Treffen mit Lee ausgemacht? Wofür? Um ihm zu erklären, was ich probe? Seit wann habe ich ein so großes Mitteilungsbedürfnis?

Ich binde den Knoten meines gelben T-Shirts auf Höhe meines Bauchnabels neu. Dazu trage ich eine Mom-Jeans und Sneaker, die eigentlich mal weiß waren. Mittlerweile haben sie eine eher gräuliche Farbe angenommen.

Mit dem Rucksack auf dem Rücken und dem Geigenkoffer über der Schulter verlasse ich den Proberaum und den Strand Campus. Auf der Straße tummeln sich die Menschen, und zwischen den riesigen roten Bussen gehen die vielen schwarzen Taxis beinahe unter. Der typische Londoner Trubel.

Im SOHO angekommen, gehe ich an die Theke, greife nach einer kalten Limonade und bezahle sie mit dem restlichen Bargeld, das ich aus meinem uralten Portemonnaie zusammenkratze. Das Ding ist sieben Jahre alt und war damals ein Geschenk von Manon. Ich war dreizehn und sie fünfzehn. Und obwohl es bereits am Auseinanderfallen ist, bedeutet es mir alles.

Ich steuere zwei freie Hocker direkt an der Fensterfront an und nehme dort Platz. Mit dem Gedanken daran, dass ich morgen sowohl eine Schicht im Cosy Corner habe als auch Geigenstunden bei den Johnsons gebe, beobachte ich die Leute auf der Straße.

London ist meine große Liebe. Ich liebe, dass hier immer etwas los ist, es nie langweilig wird und man in der Masse untergehen kann. Und trotzdem freue ich mich auf den Tag, an dem ich meine eigenen vier Wände habe und es mich aus dem Kern Londons rauszieht. Die Frage ist nur, wann der richtige Zeitpunkt für genau diesen Tag kommt.

Die kalte Limonadenflasche beginnt in meinen Händen zu schwitzen, und kleine Wasserperlen tropfen auf meine Finger, als ich Lee plötzlich unter all den Leuten erblicke. Als hätten meine Augen die ganze Zeit nur darauf gewartet, ihn zu finden. Er läuft gerade am Lyceum Theater vorbei, in dem ich schon dreimal mit Daisy war, weil sie nicht genug von König der Löwen bekommen kann.

Seine langen Beine stecken in einer blauen Jeans, die Füße in schwarzen Chucks. Er trägt ein schwarzes Shirt und darüber eine Art grauen Blazer. Nicht unbedingt das perfekte Outfit für einen warmen Tag in der Innenstadt.

Während er über die Straße geht und das SOHO ansteuert, fährt er sich durch das schwarze Haar und streckt sein Gesicht der Sonne entgegen. Fast so, wie auf seinem WhatsApp-Foto.

In diesem Moment, in dem ich mich vollkommen unbeobachtet fühle, sieht er mich direkt an. Als würde mir ein Blitz durch Mark und Bein jagen, zucke ich zurück und blicke auf meine Hände, die mittlerweile komplett nass sind, weil sie die Flasche fest umklammern. Hastig wische ich sie mir an meiner Jeans ab und hinterlasse dunkle Wasserflecken auf dem Stoff. Hervorragend.

Mit einem Mal bin ich nervös. Ich beiße mir auf die Unterlippe und kneife die Augen zusammen, in der Hoffnung, dass er mich vielleicht doch nicht beim Starren erwischt hat. Was ist nur in mich gefahren? Mich mit Lee zu verabreden, als wäre es vollkommen selbstverständlich.

»Hi.« Noch bevor ich aufsehe, setzt sich Lee auf den Hocker neben mir.

Ich tue überrascht und begrüße ihn. Wäre ich gerade nicht die Protagonistin dieser Szene, würde ich vermutlich darüber lachen. Glaube ich ernsthaft, dass er mich durch die Fensterscheibe nicht gesehen hat und er mir abkauft, wie überrascht ich von seinem Auftauchen bin? Wow, Hope. Reiß dich zusammen. Oder arbeite an deinen Schauspielkünsten.

»Das waren nicht einmal ansatzweise dreißig Minuten«, sage ich und komme auf seine Textnachricht von vorhin zurück.

Lees Lippen ziehen sich langsam nach oben, und kleine Lachfalten bilden sich um seine Augen.

Auf dieser Welt gibt es nichts Schöneres als den Klang einer Geige und ein aufrichtiges Lächeln. An dieser Stelle würde ich Dads Worte gerne unterstreichen.

»Als du mir geschrieben hast, war ich in der Gegend. Hatte ein Treffen mit einem zukünftigen Kunden und war gerade auf dem Sprung«, erklärt er mir und streift dabei den grauen Blazer über die Schultern, der beim näheren Betrachten ein feines Karomuster hat. »Jetzt kann ich das blöde Ding auch endlich ausziehen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie warm mir gerade ist.«

»Oh. Ich wollte dich nicht stören.«

»Das hast du nicht. Im Gegenteil, ich habe mich sehr über deine Nachrichten gefreut. Hätte ja nicht gedacht, dass du es mit der Freundschaft so eilig hast.«

Mein Herz hüpft im Takt seiner Worte. Als wäre jeder Buchstabe eine Note, die die Melodie meines Herzens schreibt. Shit. Bei meinen kitschigen Gedanken wird mir beinahe übel. Aber ich wusste es. Wusste, dass das keine gute Idee ist. Dass er mich fasziniert. Dass er mein Interesse weckt. Dass es sich anders anfühlt als sonst. Dabei ist das absoluter Schwachsinn. Liebe auf den ersten Blick gibt es nur in Filmen, und einen Seelenverwandten kann man lange suchen. Dieser ganze romantische Quatsch ist nichts, wonach ich mich sehne. Und trotzdem reagiert mein Körper, als stünde mein Traumprinz höchstpersönlich vor mir. Und dabei möchte dieser Traumprinz eigentlich nur mit mir befreundet sein. Ironie des Schicksals?

Ohne groß darüber nachzudenken, springe ich vom Hocker. »Du hast bestimmt Durst. Ich hole dir was.« Noch bevor er mir überhaupt sagen kann, was er trinken möchte, stehe ich schon vor dem offenen Kühlregal und starre auf die riesige Auswahl an Getränken. Atme, Hope.

Cola? Wasser? Oder irgendein hippes Teegetränk? Ich versuche, mir in Erinnerung zu rufen, was er sich immer im CosyCorner bestellt, nur um schnell zu der Erkenntnis zu kommen, dass es jedes Mal Kaffee ist.

Gerade als ich das Wasser nehmen möchte, schrecke ich auf. Im Blickwinkel erkenne ich einen Arm, der an meinem Gesicht vorbei nach der Flasche greift, die ich im Visier hatte. Ich drehe mich zu schnell um. So schnell, dass meine Wange Lees Unterarm streift.

»Du bist so blitzartig aufgebrochen, dass ich dir nicht einmal sagen konnte, was ich gerne trinken würde«, erklärt er mir grinsend.

Während Lee sein Wasser bezahlt, gehe ich kopfschüttelnd zurück zu unserem Platz am Fenster. Ich bin gerade nicht ernsthaft aufgesprungen, um aus der Situation zu flüchten? Ohne Geld. Ohne überhaupt zu wissen, was er möchte. Unser freundschaftliches Kennenlernen könnte ja kaum besser beginnen.

»Was studierst du?«, möchte Lee von mir wissen, als er wieder neben mir sitzt. »Du hast gesagt, du hast für irgendwas geprobt.« Er rückt mit dem Hocker näher an mich heran und lässt mich mit seinem neugierigen Blick nicht aus den Augen.

Ich weiß nicht, woran es liegt, doch mit einem Mal werde ich ruhiger. »Musik.« Die Wasserflecken auf meiner Jeans sind mittlerweile komplett getrocknet. »Seit ich sieben bin, spiele ich Geige, und als ich mich nach der Schule der Frage stellen musste, was ich später mal machen möchte, gab es nur eine Antwort für mich. Was genau ich allerdings am Ende mit dem Abschluss anfangen werde, steht noch in den Sternen.«

»Das habe ich mir gedacht.«

»Dass ich Musik studiere oder dass ich noch nicht weiß, welchen Job ich später machen möchte?«

Lee öffnet seine Glasflasche und trinkt einen großen Schluck, wobei sich sein Adamsapfel auf und ab bewegt. »Dass du Musik studierst. Du hast diesen Koffer oft bei dir, wenn du ins CosyCorner kommst.« Er deutet mit einem Kopfnicken in Richtung meiner Geige, die gegen die Wand gelehnt ist.

»Wenn ich könnte, würde ich Poppy überall mit hinnehmen«, gebe ich zu und beobachte jede Regung in Lees Gesicht. Wie sich leichte Grübchen beim Lächeln bilden. Wie sich sein Lippenbogen bei jeder Silbe bewegt und seine Augenbrauen bei manchen Wörtern in die Höhe schnellen.

»Poppy?« Sein Lachen bringt mich zum Grinsen. Es ist leise und gleicht eher einem Kichern. »Du hast deine Geige Poppy genannt?«

»Ja, so hieß auch mein erstes Haustier. Poppy war ein weißes Kaninchen mit Schlappohren. Als mir meine Geige irgendwann zu klein wurde, kauften meine Eltern mir eine neue. Kurz vorher ist Poppy leider verstorben.«

»Deine Geige ist also ein Tribut an dein verstorbenes Kaninchen?«

»Im Grunde ist meine Geige alles.«

Er nickt, als wüsste er ganz genau, was ich damit meine. Was ist wohl sein Alles? Spielt er ein Instrument? Macht er Sport? Kocht er vielleicht in seiner Freizeit? Ich weiß nichts von ihm, und aus irgendeinem dummen Grund stört mich das. Es stört mich sogar sehr. Ich möchte mehr wissen. Viel mehr.

»Erzähl mir etwas von dir«, fordere ich ihn auf, während ich meine Locken hinter die Ohren schiebe und ihn gebannt ansehe.

»Was möchtest du denn wissen?« Sein Gesicht strahlt, und man könnte glatt meinen, dass ihn meine Worte glücklicher machen als Kaffee. Und wenn ich wenigstens schon eine Sache von Lee weiß, dann, dass Kaffee ihn sehr glücklich macht.

»Alles«, platzt es zu schnell aus mir heraus, und ich lege reflexartig meine Finger über die Lippen, als könnte ich das Wort wieder zurück in meinen Mund schieben. Doch dafür ist es zu spät.

»Fangen wir mit meinem Namen an.«

»Den kenne ich doch schon«, entgegne ich ihm hörbar verwirrt.

»Ach, du wusstest, dass ich eigentlich Yeonjun heiße?«

Mit zusammengezogenen Augenbrauen neige ich meinen Kopf nach rechts. Er heißt nicht Lee? Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, beginnt er, es mir zu erklären.

»Lee ist mein Nachname. Ich bin in Südkorea geboren, aber als ich nach London kam und die meisten Leute meinen Namen nicht aussprechen konnten, habe ich irgendwann angefangen, mich nur noch mit Lee vorzustellen.« Er kratzt sich im Nacken und sieht für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Fenster.

Ich folge seinem Blick. »Traurig.«

»Hm?« Er sieht mich wieder an.

Es gibt so viele ignorante Menschen da draußen. Nicht, dass mir das neu wäre, nur wird es einem immer wieder vor Augen geführt.

»Es ist traurig, dass sich die Menschen keine Zeit nehmen, um dich zu fragen, wie man deinen Namen richtig ausspricht. Dann sagen sie es eben zweimal falsch, und beim dritten Mal können sie es.« Ich schaue ihm direkt in die dunklen Augen. »Du bist Lee. Aber viel mehr bist du Yeonjun.«

Es vergehen ein paar Sekunden, in denen niemand etwas sagt, wir uns einfach nur ansehen. Sein Name ist wunderschön. Er klingt wie eine zarte Melodie, die mich an das Geräusch sanfter Wellen erinnert. Und an die Sonne, die in einem azurblauen Ozean ertrinkt.

»Ich wollte dir damit nicht zu nahe treten«, durchbreche ich schließlich die Stille. Nachdem das Lächeln wie in Zeitlupe aus seinem Gesicht verschwunden ist.

»Nein. Das … Das ist es nicht. Es ist einfach nur so ungewohnt, meinen Namen zu hören.« Er lacht kurz auf und klingt beinahe verbittert. »Und du hast recht. Ich habe mich einfach damit abgefunden und den Leuten dann nicht mal mehr die Chance gegeben, meinen Namen auszusprechen. Irgendwann war ich einfach nur noch Lee.«

»Für mich bist du auf jeden Fall Yeonjun.« Ich bekomme eine Gänsehaut. Dabei ist mir warm. Viel zu warm. »Yeonjun. Yeonjun. Yeonjun«, wiederhole ich.

Seine Wangen erröten leicht, und es ist wahrscheinlich das Niedlichste, das ich seit Langem gesehen habe.

Ich ziehe kurz mein Handy aus der Hosentasche, öffne meine Notizen und speichere mir das Wort Südkorea ab. Sobald ich zu Hause bin, werde ich mein Wissen erweitern. Noch nie zuvor habe ich mich mit dem Land befasst, und mein Wissen darüber begrenzt sich darauf, dass es ein Nord- und ein Südkorea gibt. »Wann bist du oder seid ihr hergekommen?«, frage ich nach, um das Thema zu wechseln.

Yeonjun lehnt sich zurück und legt die Hände in den Nacken. »Ich bin allein gekommen. Meine Mutter und mein jüngerer Bruder leben noch immer in Busan.« In Gedanken speichere ich mir auch Busan ab, um danach googeln zu können, bevor er weitererzählt. »Mit neunzehn bin ich dann nach London.«

»Mit neunzehn? Also vor zwei Jahren. Drei Jahren?«

Da ist es wieder. Dieses melodische Lachen. »Tatsächlich ist das schon sieben Jahre her. Ich bin sechsundzwanzig. Werde bald siebenundzwanzig.«

Ich spüre, wie sich tiefe Falten in meine Stirn graben. Er ist fast sieben Jahre älter als ich? Das hätte ich niemals gedacht. Ich habe ihn höchstens auf dreiundzwanzig geschätzt. Die sieben Jahre erklären natürlich, wieso er so gut Englisch spricht. Das wäre nämlich meine nächste Frage gewesen. Hätte er mir nicht gesagt, dass er in Südkorea geboren sei, wäre ich felsenfest davon überzeugt gewesen, er hätte niemals woanders gelebt. Dabei ist er am anderen Ende der Welt aufgewachsen. Hat die meiste Zeit seines Lebens dort verbracht. Sosehr ich das Reisen auch liebe, ich würde es niemals länger als ein oder zwei Jahre woanders aushalten. Es würde mich immer zurück nach England ziehen. Zurück in meine Heimat.

»Hat es dir in …« So viel zum Thema, dass ich mir die Stadt in Gedanken abspeichere.

»Busan«, hilft er mir auf die Sprünge.

»Hat es dir in Busan nicht gefallen?«

Er schüttelt vehement den Kopf. »Ich liebe Busan. Die Stadt ist riesig und bunt. Gleichzeitig hat sie auch etwas Entspanntes an sich, da sie direkt an der Küste liegt.« Bei seinen Worten habe ich sofort ein Bild in meinem Kopf und wünsche mir, diesen Ort mal zu erleben. Yeonjun blickt verträumt in die Ferne, während er weiter von seiner Heimat spricht. »Ich bin wirklich froh da­rüber, dort aufgewachsen zu sein. Ich habe mich schon früh für digitales Zeichnen interessiert und Webtoons kreiert. Anfangs nur für mich, später habe ich auch welche veröffentlicht. Auch wenn der Markt in Südkorea dafür sehr groß ist, hat es mich schon immer nach England gezogen, wobei mein Interesse auch Amerika galt. Ich habe mit Serien und Büchern Englisch gelernt, und meine Familie hat mich stets bei meinem Wunsch, auszuwandern, unterstützt. Eigentlich wollte ich nur drei Jahre wegbleiben, um mich in Europa in Grafikdesign weiterzubilden.«

Das erklärt, weshalb er im CosyCorner ständig an seinem Tablet hängt und daran arbeitet. Am liebsten würde ich ihn nach seinen Arbeiten fragen und mir einen seiner Webtoons anschauen, auch wenn ich kein Koreanisch verstehe. Doch ich halte meine Neugier im Zaum. Ich möchte ihn nicht unterbrechen. In seinen Worten spüre ich dieselbe Leidenschaft für seinen Job, die ich bei der Musik empfinde, und da weiß ich plötzlich, was sein Alles ist. Seine Arbeit. Dieser Gedanke lässt den Wunsch in mir nur stärker werden, irgendwann einen Beruf auszuüben, der mich vollends erfüllt und meine Augen so zum Strahlen bringt wie die von Yeonjun.

»Als ich hier mit meinem Ersparten ankam, war ich erst einmal überfordert. Und wie«, betont er, und ein leises Lachen mischt sich zwischen seine Sätze. »Ich habe bei einer kleinen Firma angefangen und später bei einer größeren Werbeagentur. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit ergab sich eine Chance für mich, in New York bei einer renommierten Agentur anzufangen. Ich habe lange überlegt, da ich mich wirklich in London verliebt habe. Trotzdem war es schon immer ein großer Traum, mal nach New York zu gehen.«

»Wow. Du musst unglaublich viel bei alldem gelernt haben. Allein schon, dass du dich mit neunzehn allein auf einen anderen Kontinent gewagt hast. Hut ab.« Ich ziehe meinen imaginären Hut vor ihm und beuge mich vor.

»Definitiv. Ich möchte keine dieser Erfahrungen missen. Aber New York war so gar nicht meins. London ist voll und laut, aber New York war noch eine Nummer größer. Auch in der Firma habe ich mich nicht wohlgefühlt, weshalb ich nach fast einem Jahr wieder zurück nach London bin, und seitdem arbeite ich selbstständig.«

»Also gestaltest du Werbung?«, frage ich noch einmal nach, weil ich mich zuvor noch nie mit dem Job als Grafikdesigner auseinandergesetzt habe.

»Nicht nur. Ich biete Webdesign an, gestalte Logos und bastle noch immer ab und zu an dem ein oder anderen Webtoon. Gerade hatte ich zum Beispiel ein Meeting mit einem potenziellen Kunden, der jemanden sucht, um seine Unternehmenswebsite aufzubauen.«

»Lief es gut?«, möchte ich wissen.

Yeonjun nickt. »Sehr gut sogar. Ich werde nachher wohl auch direkt an die Arbeit gehen.«

Ich greife nach meiner Limonade, die mittlerweile warm geworden ist, und leere sie. »Also arbeitest du von zu Hause aus?«

Wieder nickt er.

»Wow. Ist das genial. Du kannst morgens aufstehen und dich in deinem Schlafanzug an die Arbeit machen. Bestimmt die Wunschvorstellung vieler Menschen.« Ich muss zugeben, dass das verlockend klingt. Den ganzen Tag im Pyjama rumzulaufen, mit zerzausten Haaren und der Möglichkeit, sich zu jeder Zeit einen Snack nach dem anderen reinzustopfen.

»Es ist anstrengender, als man es sich vorstellt. Wenn man keinen Arbeitgeber hat, bei dem man pünktlich erscheinen muss, kann es manchmal echt zum Fluch werden, wenn man sich keine eigene Routine verschafft«, erklärt er mir, während er mit seinem Arm versehentlich die Wasserflasche streift, die mir daraufhin in den Schoß fliegt.

Ich springe ruckartig auf und wünsche mir die wenigen Wasserflecken von vorhin zurück, denn jetzt ist meine komplette Jeans nass.

»Oh, Shit. Sorry.« Auch Yeonjun steht sofort auf, läuft zum Verkaufstresen, greift nach einer Handvoll Servietten, und noch ehe ich michs versehe, kniet er vor mir und versucht, meine Hose zu trocknen. Ich sollte ihm vielleicht sagen, dass das nicht viel bringen wird. Stattdessen klebt mein Blick jedoch an seinen dunklen Haaren, die so voll und glänzend sind, dass ich am liebsten meine Finger durch sie gleiten lassen würde.

Ich öffne meinen Mund, möchte ihm sagen, dass er das nicht tun muss, doch genau in diesem Moment sieht er zu mir auf. Seine Pupille umgibt ein dunkles Braun, das fast schon schwarz ist, gefolgt von einem bernsteinfarbenen Ring. Entweder habe ich noch niemals jemandem so tief in die Augen gesehen, oder mir ist einfach nur nicht aufgefallen, wie vielschichtig Iriden sind. Wie viele Töne sich in ihnen widerspiegeln und miteinander harmonieren. Irgendwo inmitten dieser dunklen Facetten verliere ich mich.

Keine Sekunde länger halte ich es aus, ihn so anzusehen. Also greife ich nach seinem Oberarm und ziehe ihn hoch. Mit einem Mal überragt er mich wieder um einige Köpfe und zeigt mir dieses Lächeln, in das man sich eigentlich nur verlieben kann.

Kapitel 4

Yeonjun

Die beste Investition, die ich in meinem Leben bisher getätigt habe, ist vermutlich der Kaffeevollautomat in meiner Küche, den ich über eine App am Smartphone steuern kann. Okay, vielleicht ist das ein wenig übertrieben, und ich habe schon für sinnvollere Dinge Geld ausgegeben, und dennoch ist es Gold wert, dass ich vom Bett aus meinen Kaffee machen kann und sich schon vor dem Aufstehen der köstliche Duft in der ganzen Wohnung verteilt.

Ich strecke meine Gliedmaßen in alle Richtungen aus, ehe ich mich aufrichte und meinen Nacken kreisen lasse. Nachdem ich gestern noch stundenlang mit Hope im Café saß, habe ich mich zu Hause direkt an die Arbeit gemacht und bis in die Nacht hinein an den ersten Entwürfen für meinen neuen Kunden getüftelt. Das ist auch der Grund, weshalb ich kein schlechtes Gewissen habe, wenn mein Tag erst nach zehn Uhr startet.

Die Efeutute, die auf einem Regal über dem Kopfende meines Bettes steht, kitzelt mich mit ihren Blättern. Mittlerweile ist sie so sehr gewachsen, dass ich mir langsam Gedanken darum machen sollte, sie woanders zu platzieren oder Ableger abzuschneiden. Ansonsten muss ich mir bald mein Bett mit ihr teilen.

Mein Schlafzimmer gleicht einem Gewächshaus und in meinem Wohnzimmer sieht es nicht viel anders aus. Den grünen Daumen muss ich von meiner Mutter haben. Ich war schon in meiner Kindheit immer von Grün umgeben. Als ich nach London kam und für eine lange Zeit nur in einem winzigen WG-Zimmer gewohnt habe, reichte der Platz gerade mal für ein Bett, einen Schrank und eine Monstera. Doch nach meinem Aufenthalt in New York habe ich meine erste eigene Wohnung bezogen und wusste sofort, welche Pflanze ich wo haben möchte, und das, noch bevor ich überhaupt ein Möbelstück gekauft hatte.

Der Kaffeeduft lockt mich aus den Federn. Nur mit schwarzen Boxershorts bekleidet, öffne ich die dunklen Vorhänge meines Schlafzimmerfensters und lasse Tageslicht hinein, ehe ich durch das geräumige Wohnzimmer in die kleine Küche gehe. Aus der Tasse, die ich gestern Nacht noch schnell unter der Maschine platziert habe, steigt Dampf auf, und allein der Geruch dieser Koffeinbombe lässt mich die Augen aufreißen und direkt um einiges wacher werden.

Mit der heißen Tasse in der Hand gehe ich weiter in mein Wohnzimmer. Eine schwarz gestrichene Wand erzeugt einen starken Kontrast zu dem weißen Dielenboden und der Zimmerdecke, die weiß vertäfelt ist. Mein dunkelgraues Ecksofa steht vor einem riesigen Regalsystem mit schwarzen Metallstäben und braunen Holzbrettern. Das Braun findet sich auch in meinem Couchtisch und den riesigen Holzbalken wieder, die den Arbeitsbereich optisch ein wenig vom Wohnbereich abtrennen. Einer der Punkte, weshalb ich mich auf Anhieb in diese siebzig Quadratmeter große Wohnung verliebt habe. Der einzige Farbakzent, der sich in diesem großen Raum befindet, ist das Grün meiner Pflanzen.

Ich fahre meinen iMac hoch und werfe einen Blick auf mein Tablet, das über Nacht an der Ladebuchse war. Manchmal verfluche ich diese Apple-Produkte, und gleichzeitig habe ich mich durch meinen damaligen Job in der Agentur so sehr daran gewöhnt, dass es echt eine Umgewöhnung sein würde, mich wieder mit einem anderen Betriebssystem vertraut zu machen. Deshalb habe ich auch für meine Selbstständigkeit auf den berühmt-berüchtigten Apfel zurückgegriffen.

Die Notizen, die ich mir während des Briefings mit dem Kunden gemacht habe, liegen verstreut über der riesigen Arbeitsplatte aus Massivholz. Websiteaufbau. Verlagswesen. Minimalistisch. Animationseffekte. Clippings für den Pressebereich. SEO-Check. Header mit sechs Unterseiten. Wiedererkennungswert. Corporate Identity. FAQ-Seite im Footer. Responsive Design. Und viele weitere Begriffe, die ich mir aufgeschrieben habe.

Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück, verschränke die Arme hinter dem Kopf und gehe in Gedanken meine ersten Entwürfe durch. Überlege mir, wie ich das Logo nach den Wünschen des Kunden gestalten könnte. Einen Wimpernschlag später ist mein Kaffee auch schon leer und ich hellwach und motiviert.

Langsam schlendere ich mit meinem Handy in der Hand ins Badezimmer, bringe auf dem Weg dahin meine leere Tasse in die Küche und freue mich schon insgeheim auf den zweiten Kaffee, der nicht mehr lange auf sich warten lässt. Keine zehn Sekunden, nachdem ich mir Musik zum Duschen angemacht habe, verstummt diese auch schon wieder, und mein Smartphone beginnt auf der Ablage zu vibrieren.

Auf dem Display strahlt mir meine Mutter entgegen. Das Bild ist ein Jahr alt. Bei jedem Besuch in der Heimat schieße ich ein Bild von ihr am Strand, und bis zum nächsten Besuch ziert es meinen Sperrbildschirm.

»Yeoboseyo1«, begrüße ich sie und schaue noch kurz auf die Uhr. In Busan ist es gerade kurz vor acht am Abend. In meiner Vorstellung steht sie gerade auf unserem Dach und blickt auf ihre Pflanzen und das kleine Gewächshaus.

Meine Mutter beginnt, in 9.175 Kilometer Entfernung durch den Hörer zu seufzen. »Du hast dich eine Woche lang nicht gemeldet. Ist alles okay? Bist du gesund? Hast du Probleme bei der Arbeit? Isst du genug?«

Sie löchert mich mit ihren Fragen und klingt dabei so streng, dass ein Außenstehender vermutlich glauben würde, sie schimpft mich aus. Dabei höre ich in jeder Silbe ihre Fürsorge und Liebe. Ich hatte schon immer eine enge Bindung zu ihr, doch seit dem Tod meines Vaters hat es sich noch mal intensiviert. Plötzlich war ich mit Ende sechzehn der Mann im Haus und musste in gewisser Weise eine Vaterfigur für meinen kleinen Bruder sein.

»Mir geht es gut, Eomma2«, beruhige ich sie. »Ich hatte die Tage über viel zu tun, aber es läuft super. Ich esse und schlafe genug und bin kerngesund.«

»Und dein Magen?«