Ewige Stille - Astrid Keim - E-Book

Ewige Stille E-Book

Astrid Keim

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Beschreibung

Im Bahnhofsviertel wird ein Toter gefunden. Schon der zweite innerhalb weniger Wochen. Kommissar Thomas Aumann und seine Kollegen tappen im Dunkeln. Und nach Feierabend erwartet ihn schon die nächste Überraschung: Bei einem befreundeten Sommelier wird die zerbrochene Flasche eines äußerst wertvollen Weines gefunden. Versuchter Diebstahl? Doch wer könnte sich Zutritt zum Spezialkeller verschafft haben? Seine Lebensgefährtin, die ehemalige Rechtsanwältin Laura, und deren Freundin Renate können es nicht lassen und ermitteln erneut auf eigene Faust. Währenddessen wird in Russland ein Mönch vermisst, der ein altes Manuskript nach Deutschland bringen sollte. Die Spuren führen nach Frankfurt – und in Lauras Umfeld.

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Astrid Keim

Ewige Stille

Ein Frankfurt-Krimi

Keim, Astrid: Ewige Stille. Frankfurt-Krimi. Hamburg, edition krimi 2020

1. Auflage 2020

Das Original ist 2019 im Größenwahn Verlag erschienen.

ePub-eBook: ISBN 978-3-948972-01-1

Print: ISBN: 978-3-948972-00-4

Lektorat: Nina Ziegler

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, Hamburg

Umschlagmotiv: © Martin O’Sigma

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© edition krimi, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

Contents

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Die Autorin

Landmarks

Cover

In aeternum amen

1

Komisches Wetter, denkt Thomas Aumann, als er aus seinem Bürofenster im Polizeipräsidium auf die Bäume mit einem Hauch von Grün schaut. Regen, sogar Gewitter mit Sturmböen, dazwischen immer wieder Aufheiterungen mit blauem Himmel, so geht es schon den ganzen Tag. Auch jetzt lässt sich wieder die Sonne blicken, es weht ein laues Lüftchen. Bis vor einigen Tagen gab es im Umland noch Nachtfröste und die Bauern fürchteten um ihre Obsternte. Einem ­milden Winter folgten kühle Monate ohne nennenswerte Nieder­schläge und einige Bäume stellten ihren zaghaften Austrieb ein. Erst vor wenigen Tagen kam Regen mit etwas höheren Temperaturen, hoffentlich nicht zu spät für einen zweiten Versuch.

»Alles durcheinander«, hatte seine Lebensgefährtin gesagt, als sie gestern nach dem Abendessen auf ihrem Balkon eine Zigarette rauchte, und auf die leeren Terrakotta­töpfe gedeutet. »Um diese Jahreszeit waren sie immer schon bepflanzt. Gott sei Dank steht laut Wetterbericht kein weiterer Kälteeinbruch bevor. Mal sehen, ob ich morgen zu Hornbach fahre und mich nach Blumen umsehe. Hörst du?« Sie hatte innegehalten, um zu lauschen. »Auch die Amseln haben angefangen richtig zu zwitschern, selbst zu dieser Uhrzeit hört man sie noch. Das ist ein gutes Zeichen, jetzt fängt der Frühling an.«

Den Einwand, dass sie sich vielleicht nur unterhielten, ließ sie nicht gelten. »Das klingt ganz anders. Das klingt viel verhaltener. Außer, wenn sie sich streiten. Dann geht die Post ab, ein regelrechtes Gekeife in den höchsten Tönen.«

Thomas muss in der Erinnerung an das Gespräch lächeln. Was diese Dinge betrifft, so ist ihm Laura in ihrer Wahrnehmung weit voraus. Sie registriert genau, wie Tiere sich verständigen, beson-ders Vögel, und kann ihre Laute gut imitieren. Schon mehrmals hatte er erlebt, dass eine Kommunikation zustande kam, dass sie Antwort auf ihre Rufe erhielt. Heilige Franziska hatte er sie einmal scherzhaft genannt, worauf sie bekannte, dass der Heilige Franziskus tatsächlich ihr Lieblingsheiliger sei, Vita und Spiritualität seien beeindruckend. Und natürlich, dass er die Sprache der Tiere beherrschte. Das würde sie auch gerne, da könne man mit Sicher­heit eine Menge lernen, viele Dinge ganz anders beurteilen.

Thomas schaut zur Uhr. Kurz vor vier. Nicht mehr allzu lang bis Feierabend. Heute wird er pünktlich Schluss machen können. Der Tag verlief ausgesprochen ruhig. Eine Schlägerei ausgerechnet im noblen Westend, ein paar Meldungen von Taschendiebstählen und Wohnungseinbrüchen. Nichts Aufregendes, und schon gar nichts, was sein Ressort betraf. Zeit genug also, den ganzen ungeliebten Schreibkram zu erledigen.

Er nimmt einen Apfel aus der Schublade seines Schreibtisches und beginnt ihn zu schälen. Auch wenn das Beste in der Schale sitzen soll, hat er damit keinen Vertrag. Die Fitzelchen bleiben immer in den Zähnen hängen. Auf die Kantine, deren Auswahl ihm ohnehin nicht so richtig zusagt, hat er heute im Hinblick auf das Abendessen verzichtet. Auch wenn sich die Küche um Abwechslung bemüht, so sind doch durch das beschränkte Budget enge Grenzen gesetzt. Lieber mittags lediglich ein belegtes Brot und etwas Obst am ­Nachmittag, um dann abends mit Laura etwas zu kochen oder essen zu gehen. Auch heute ist ein Restaurant­besuch geplant.

Diese Nähe erscheint ihm immer noch wie ein Wunder, auf das er nicht mehr zu hoffen wagte. Über zwanzig Jahre sind vergangen, seit sie sich bei der Arbeit kennen­gelernt haben, er als junger ­Kriminalkommissar, sie als mitten im Leben stehende, verheiratete Rechtsanwältin. Über gelegentliche Zusammenarbeit war eine Freundschaft entstanden, die schließlich auch ihren Mann miteinbezog. Leider nur Freundschaft, damit musste er sich abfinden, denn von seiner Seite aus war es Liebe auf den ersten Blick. Erst mit Christophs plötzlichem Tod bot sich ihm die Chance, mit der er nicht mehr gerechnet hatte.

Es war kein einfaches Unterfangen gewesen, Laura zu gewinnen. Für sie stellte der Altersunterschied von zehn Jahren zunächst ein unüberwindliches Hindernis dar. Es erforderte eine Menge Zeit und Überzeugungskraft, ihre Bedenken zu zerstreuen und den Versuch einer Beziehung zu wagen. Jetzt sind sie schon über ein Jahr zusammen, haben Gemeinsamkeiten und Differenzen entdeckt, sich gestritten und versöhnt, eine Basis des Zusammenseins gefunden. Nicht des Zusammen­lebens, denn Laura besteht darauf, in ihrer Wohnung zu bleiben, obwohl Thomas’ Haus in Eschersheim reichlich Platz böte, kaufte er es doch einst in Erwartung einer Familie. Bald schon hatte er den Vorschlag eines Umzugs gemacht und die Ablehnung zunächst als Ablehnung von Intimität und Miteinander verstanden. Es dauerte eine Weile, bis er Lauras Argumenten folgen konnte, dass beides nicht von einem Ort ­abhängig sei, sondern im Vertrauen gründet, das man sich entgegenbringt. Jetzt ist er mit diesem Arrangement durchaus einverstanden.

Das Läuten des Telefons reißt ihn aus seinen Gedanken. Schon beim ersten Ton aus dem Mund von Iris, seit zwei Jahren seine engste Mitarbeiterin, weiß er, dass die Hoffnung auf einen baldigen Feierabend beendet ist. Der Klang ihrer Stimme ist genauso alarmierend wie ihre Worte.

»Männliche Leiche in einem Altpapiercontainer im Bahnhofsviertel. Vermutlich Mord, schwere Kopfverletzung. Keine Papiere, kein Handy, nordeuropäischer Typus. Ich bin schon dort, war in der Gegend wegen der anderen Sache, als der Funkspruch kam, einem Anruf nachzugehen. Du wirst es kaum glauben, es ist die gleiche Straße, nur zwei Häuser weiter.«

»Die gleiche Straße?« Er ist sofort im Bild. Das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen. Vor drei Wochen hat man dort schon einmal eine Leiche gefunden und noch immer gibt es keine heiße Spur. Weder Name noch Nationalität des getöteten Mannes sind bekannt, obwohl ein Foto veröffentlicht wurde. Möglicherweise Osteuropäer. Möglicherweise. Das ist als Anhaltspunkt zu wenig. Als wäre er vom Himmel direkt in den Keller gefallen, wo man ihn mit eingeschlagenem Schädel gefunden hatte. Der Gerichtsmediziner gab ihm auf Grund seines Aussehens und körperlichen Zustandes den Namen ›der Asket‹ und unter diesem wurde auch die Akte angelegt. Die Untersuchung läuft noch immer auf Hochtouren, vor allem Iris hat sich in diesen Fall verbissen. Und jetzt so etwas. Das kann doch eigentlich kein Zufall sein. Vielleicht gibt es eine Verbindung. Thomas lässt sich die genaue Adresse durchgeben und hastet mit dem Mantel über dem Arm zum Aufzug.

Das war’s wohl mit dem gemeinsamen Essen, stellt er mit Bedauern fest, es wäre ein Wunder, wenn ich rechtzeitig fertig würde. Er zieht das Handy aus der Jackentasche und wählt Lauras Nummer. Da sie nicht abnimmt, bittet er dringend um Rückruf.

Als er ankommt, ist die relativ enge Einfahrt zum Hinterhof schon abgesperrt, sodass keine weiteren Zuschauer mehr nachdrängeln können. Die Ansammlung ist ohnehin schon groß genug. Vor wenigen Minuten traf die Spurensicherung ein, nun packt sie ihre Utensilien aus. Widerwillig lassen die Schaulustigen ihn passieren, als er seinen Ausweis zückt. Hälse werden gereckt, um nichts zu verpassen und Handys in der Hoffnung auf einen sensationellen Schnappschuss gezückt, obwohl im Moment überhaupt nichts zu sehen ist. Aber Ausharren wird sich lohnen, man weiß nämlich Bescheid. Eine stark übergewichtige Dame im besten Alter mit ebenholzschwarzer Haut und einer Unmenge eng geflochtener, goldfarbener Zöpfe hat geplaudert. Grade wendet sie sich mit kokettem Lächeln einem Riesen mit Bulldoggengesicht und Presseanhänger zu, dem es trotz heftiger Proteste mühelos gelungen ist, sich mit seiner Kamera durch die Menge zu quetschen. »Fotografiern se misch ruhisch, isch habben gefunne«, informiert sie ihn in bestem Frankfurterisch. »Un Sie, junger Mann mache e bissje Platz, dass des Bild aach was werd.«

Thomas, der mit erhobener Marke hinzugetreten ist, hält verblüfft inne und dreht sich um. »Ja Sie, isch mein Sie«, wird er barsch zurechtgewiesen. »Aus Glas sin auch die B … isch mein die Boliziste net.«

Thomas fehlen für einen Moment die Worte, als ihm bewusst wird, dass es um ihn geht und seine Dienstmarke nicht den geringsten Eindruck macht. Er fängt einen amüsierten Blick von Iris auf, die mit Mühe ein Grinsen unterdrückt. Jetzt heißt es Gesicht wahren, Autorität fordern, beweisen, dass man sich nicht abkanzeln lässt und zwar subito.

Er fixiert den Reporter mit gerunzelter Stirn und nimmt dann die Frau ins Visier. Eine scharfe Antwort liegt ihm auf der Zunge, aber im letzten Moment überlegt er es sich anders: »Kein Problem, es wäre doch schade, die Öffentlichkeit um den Genuss Ihres reizenden Lächelns zu bringen. Ich würde mich jedoch glücklich schätzen, wenn Sie mir danach ein paar Minuten Ihrer kostbaren Zeit für eine Aussage opfern könnten.«

Die Lacher sind auf seiner Seite. Ihr Gesicht verrät eine kleine Verunsicherung, aber als Thomas aufmunternd nickt, nimmt sie eine neue Pose ein, wirft die Haarmähne zurück und lässt sie durch die Finger gleiten. Der Pressemann allerdings hat verstanden. Er wird den Teufel tun, sich mit der Polizei anzulegen und erklärt die Fotosession für beendet.

Mit offensichtlichem Bedauern folgt die Zeugin Thomas zu einem Einsatzwagen. Ihr Name sei Rabea Müller-Schmitt. Geborene Müller.

Thomas hebt die Augenbrauen.

»Gell, des hädde se net gedacht«, kontert sie schnippisch, »aber isch komm ganz nach meine Mudder.« Der Ausweis sei aber zu Hause, wer hätte denn schließlich mit so was rechnen können?

Ist das ernst gemeint? Thomas ist im Zweifel, wird aber eines Besseren belehrt, als er die Daten im Computer überprüft. Die Angaben stimmen. 52 Jahre, Witwe, keine Kinder. Wohnhaft in der Weserstraße, gleich um die Ecke ihres Arbeitsplatzes, eines Bordells der gehobenen Kategorie. »Isch kümmer misch um die ­Mädscher, bin dene ihrn Kummerkaste, mach Besorgunge, butz die Zimmer, kehr de Hof. Guck aach immer, des genuch Gummis und Kleenex da sin. Seid üwer zehn Jahrn«, fügt sie hinzu, »seid mein Werner geschtorbe is. Wa noch ka fuffzisch, Hetzinfakt. Wa Klempner un Inschtalladör. Hat aach da, wo isch jetz bin, Aufträsch gehabt. Heizung, Wasser, Scheiße«, sie lacht. »Hat gud verdient, abber hat sich ze frieh fotgemacht. War schad, aach wesche der Rent, abber ich will net glaache, hab mei Auskomme, un isch mach die Abeit gern.«

Das war knapp, klar und präzise. Thomas ist über die Lebensumstände im Bilde und auch darüber, dass Frau Müller-Schmitt den ersten Vermutungen zum Trotz über ein intaktes Realitätsbewusstsein verfügt und mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen steht.

Der Container sei bis obenhin voll gewesen, erfährt er. Jedes Mal dasselbe. Ganze Kartons würden unzerkleinert hineingeworfen und dann wäre im Nu alles dicht. Deshalb sei dort eine alte Weinkiste deponiert, auf die sie steigen könne, um Platz zu schaffen. »Un dann«, sie wirft mit dramatischem Gesichtsausdruck die Hände in die Höhe, »hab isch ihn gesehe. Will maane, erst ma nur sei Hand. Aber isch hab gleisch gewusst: des isn Dote.«

»Wieso?«, unterbricht Thomas, »es hätte doch auch jemand sein können, der seinen Rausch dort ausschläft.«

»Des maane Se doch net im Enst!« Ein verächtlicher Blick streift ihren Gegenüber. »Lescht sich hie, deckt sisch mit Kattons zu und zieht sisch de Deckel iwern Kopp. Außerdem warn die Fingernäschel ganz blau.«

Sie habe dann nichts mehr angerührt und die Polizei gerufen. Man wisse ja schließlich aus dem Fernsehen, was so eine Situation erfordere. Nein, der Mann sei ihr völlig unbekannt, sie habe ein gutes Personengedächtnis und komme mit vielen Leuten zusammen, aber der sei ihr noch nicht über den Weg gelaufen. Ganz sicher. Ob sie jetzt endlich gehen könne, das Abendgeschäft finge nämlich bald an und da seien ihre Dienste gefragt.

Thomas lässt sie ziehen und gesellt sich zu den Kollegen, die mittlerweile zum Missvergnügen der Zuschauer einen Sichtschutz aufgebaut haben. An mehreren Stellen im Bereich des Containers sind kleine rote Pyramiden aufgestellt, um verdächtige Gegenstände zu markieren, die bereits fotografiert sind und gerade eingetütet werden. Er tritt vorsichtig näher. Laub, Zeitungs­papier, ein paar Zigarettenkippen, eine Bananen­schale, mehrere Kaugummis, darunter ein frischer, ein zerbrochenes Jägermeisterfläschchen, ein zerknülltes Papiertaschentuch. Nicht gerade viel. Frau Müller-Schmitt scheint ihre Aufgabe ernst zu nehmen. Und vielversprechend sehen die Fundstücke nicht aus, aber man weiß ja nie. Besser zu viel einsammeln, als etwas zu übersehen.

Wie vermutet ist der Fundort nicht identisch mit dem Tatort, es fehlt jede Blutspur. Von einer Leiter aus hat der Fotograf die Lage der Leiche dokumentiert, sodass sie jetzt aus dem Container gehoben werden kann. Da die Gliedmaßen beweglich sind, hat die Leichenstarre entweder noch nicht eingesetzt oder sich bereits wieder gelöst. Thomas streift sich Handschuhe über und berührt das Gesicht des Toten. Eiskalt. Er muss also schon länger hier liegen. Nein, korrigiert er sich sofort, er muss schon länger tot sein. Wie lange er hier liegt, ist ungewiss. Obwohl es mehr als unwahrscheinlich ist, dass jemand eine Leiche am helllichten Tag hier ablegt. Der Hinterhof ist zwar nicht sehr groß, aber es befinden sich dort noch andere Müllbehälter und auch eine Menge Fenster bieten Einblick. Die Gefahr, beobachtet zu werden ist also nicht unerheblich. Unter Berücksichtigung dieser Umstände wurde der Körper wohl nachts hierher gebracht, wahrscheinlich weit nach Mitternacht.

Iris kommt auf ihn zu, als sein Handy klingelt. »Mein Akku war leer«, entschuldigt sich Laura, »gibt es etwas Wichtiges?«

»Leider, ein Leichenfund im Bahnhofsviertel. Ich bin schon vor Ort und fürchte, dass es noch eine Weile dauert.«

»Dann wirst du wahrscheinlich heute Abend keine Zeit haben?«

»Bestimmt nicht so früh, dass ich an der Weinprobe teilnehmen kann. Die Spurensicherung ist zwar abgeschlossen, aber wir müssen im Präsidium die weitere Vorgehensweise absprechen. Vielleicht schaffe ich es noch zum Essen, aber mit dem Umziehen wird es ganz sicher nichts mehr.«

Laura lacht. »Das sollte deine geringste Sorge sein. Erstens reichen Jeans und Jackett, so genau nimmt man es längst nicht mehr mit dem Dresscode, zweitens wird jeder Verständnis dafür haben, dass ein Polizeikommissar auf Verbrecherjagd sich nicht auch noch um sein Outfit kümmern kann. Sag kurz Bescheid, wenn du absehen kannst, ob du dabei sein kannst oder nicht.«

Iris hat das Gespräch mitbekommen. »Du kannst ruhig zusagen, wir müssen ohnehin erst mal die Obduktion abwarten und die Identität klären. Es genügt, wenn du die Einteilung der Kollegen für die Befragung der Nachbarschaft übernimmst.«

Sie deutet auf die rückwärtigen Fenster des vierstöckigen Mietshauses. »Vielleicht hat ja jemand etwas bemerkt. Um alles, was sonst noch anfällt, kann ich mich kümmern.«

»Das würdest du tun?« Die Erleichterung ist Thomas anzusehen. Nur sehr ungern hätte er auf den Abend verzichtet, denn er bedeutet ihm viel. Obwohl Laura nicht mit ihm darüber gesprochen hat, weiß er doch um den Stellenwert der Weinprobe. Sie und ihr verstorbener Mann Christoph hatten regelmäßig daran teilgenommen. Dass er nun an dessen Stelle tritt, ist ein großer Beweis des Vertrauens und der Zuneigung.

2

Wenn alle Jahreszeiten an einem Tag zusammen kommen, gestaltet sich die Wahl der ­Garderobe schwierig. Laura steht vor dem geöffneten Kleiderschrank und mustert dessen Bestand mit kritischem Blick. Etwas Besonderes für den heutigen Abend soll es schon sein, aber nichts Auffallendes. Ohnehin hat sie nur wenige auffallende Kleidungsstücke, die ihr ans Herz gewachsen sind, behalten und schon lange nichts mehr hinzugekauft. Schließlich muss sie der Realität ins Auge schauen, und die besagt, dass die Siebziger nicht mehr weit entfernt sind. Kaum zu glauben, sind ihr doch die Siebziger des vergangenen Jahrhunderts noch allzu gegenwärtig. Des vergangenen Jahrhunderts – wie das klingt! So, als wäre das alles schon gar nicht mehr wahr, als läge es unendlich weit zurück. Dabei kann sie sich noch allzu gut an die Miniröcke und Hotpants erinnern, die unter der Brust geknoteten Oberteile, die den Bauch freiließen – natürlich ohne BH darunter, der als Relikt spießiger Lustfeindlichkeit der sexuellen Revolution zum Opfer fiel. Hierin war sich die progressive Damenwelt völlig einig, nicht jedoch im sonstigen Erscheinungsbild. Da spalteten sich die Lager: Lila Latzhosen und sackartige Gewänder in jenem, das die Ernsthaftigkeit politischen Engagements an der Unattraktivität des Äußeren maß, und im anderen die bunten Schmetterlinge, deren Libertinage misstrauisch beäugt und deren intellektuelles Vermögen angezweifelt wurde. Laura sympathisierte mit den ­Schmetterlingen, trug aber als sichtbaren Ausdruck ihrer bitte nicht zu unterschätzenden Geistesgaben eine runde ­Nickelbrille, die etwas eulenhaftes hatte, aber auch den Eindruck eines kritischen, geschärften Blickes vermittelte.

Was also eignet sich für eine Bordeauxprobe mit anschließendem 6-Gänge-Menü im Sternerestaurant? Jedes Jahr hatte sie mit Christoph an der Veranstaltung teilgenommen und immer war es ein Höhepunkt, auf den sie sich lange im Vorfeld freuten. Jetzt, nach seinem Tod, erhält sie weiterhin die Einladung dazu. Vergangenes Jahr hatte sie es nicht geschafft hinzugehen, alles war noch viel zu frisch und von Erinnerungen überschattet. Dieses Mal will sie die Tradition mit einem anderen Begleiter fortsetzen. Keine einfache Entscheidung und es bedurfte auch eine ganze Zeit der Zwiesprache, bis sie sicher war, dass es für ihren verstorbenen Mann kein Problem darstellt.

Sie entscheidet sich für ein dunkelrotes Top – passend zum Wein – und eine schwarze Hose. Natürlich wäre ein Kleid eleganter, aber die Probe findet in einem eigens dafür hergerichteten Teil des Kellers statt, dessen Gewölbe noch aus dem Mittelalter stammen. Hier lagern Tausende von Flaschen aus der ganzen Welt, sorgfältig in eingepasste Regale geordnet, mit Jahrgangs- und Herkunftsbezeichnungen, jederzeit digital abrufbar. Beim letzten Besuch im Restaurant hatte der Sommelier außerdem versprochen, ihr im Vorfeld die ›Schatzkammer‹ mit den ganz besonderen Bouteillen zu zeigen, die eigentlich der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Zwei bis drei Stunden Aufenthalt sind also einzukalkulieren und auch, dass ihre Kälteempfindlichkeit in den letzten Jahren leider gestiegen ist. Nylons und Pumps würden unweigerlich zu kalten Füßen führen und Stiefeletten oder Stiefel zum Kleid widersprechen ihrem Stilbewusstsein.

Ein letztes Mal betrachtet sie sich im großen Ankleide­spiegel und ist zufrieden. Zufrieden, nicht begeistert. Die Zeit kann man eben nicht zurückdrehen, daran hatte sie sich gewöhnen müssen. Kein leichtes Unterfangen, wenn man immer noch das Bild der jungen Frau im Kopf hat. Aber sie hat ihr Bestes getan: Die Haare frisch gefärbt, dunkelblond, eine Nuance heller als die ursprüngliche Farbe, dezentes Makeup, die Augen mit Lidschatten und Wimperntusche betont, Kontaktlinsen natürlich. Die Brille ist für den äußersten Notfall in der Handtasche verstaut, falls die Augen anfangen zu tränen. Zu Hause ist ihr die Brille lieber, aber zum Ausgehen will sie schön sein und bisher gab es noch keine Brille, mit der sie sich schön fand. Die modischen Gestelle mit dicker schwarzer Fassung machen ihr Gesicht hart und streng, selbst die randlose mit der ­Titanfassung – vom Optiker empfohlen als Brille, die eigentlich unsichtbar sei – empfindet sie als Fremdkörper.

Das Oberteil, weder zu eng, noch zu weit, umspielt fließend ihre Hüften, sodass auch von der Seite weder Bauch noch Speckröllchen sichtbar sind. Beides hat sie nämlich zu ihrem Missvergnügen im Laufe der Jahre bekommen, in denen die grazile 36iger Figur zu einer fraulichen 40iger mutierte. Fraulich, dieser Begriff gefällt ihr ausgesprochen gut, seit sie ihn von einer Verkäuferin gehört hat, die fachlich perfekt auf das Klientel fortgeschrittenen Alters geschult war. Damit verbindet man die Dame in den besten Jahren, die zu ihrer femininen Reife gefunden hat.

Um keine Schmierspuren auf den Glasrändern zu hinterlassen, hat sie auf Lippenstift verzichtet, ebenso auf Parfüm. Darauf hatte Christoph immer bestanden, in dieser Hinsicht kannte er kein Pardon. Die Erinnerung an einen vehementen Krach am Anfang ihrer Beziehung wegen eines Hauchs Chanel ist noch lebendig. Dabei war es noch nicht einmal die intensive Nummer 5, sondern die leichte, blumige 19. Auf Weinproben, so argumentierte er, sei das ein Unding. Eine Belästigung der Teilnehmenden, eine gravierende Beeinträchtigung der Geruchswahrnehmung. Damals wusste sie noch nicht, dass ihr späterer Gatte nicht nur ­Weinkenner, sondern Weinenthusiast war, der mit beeindruckender Treffsicherheit Rebsorten und Anbaugebiete, sowie Jahrgänge und Winzer zuordnen konnte. Mit einer Runde Gleichgesinnter traf er sich regelmäßig zu Blindverkostungen, um dieser Leidenschaft zu frönen. Am Anfang eine fremde Welt, erschlossen sich ihr nach und nach viele Nuancen, die einen Wein unverwechselbar machen. Er lehrte sie, dass allein schon das Bukett eine Menge über Kellertechnik und Rebsorte verrät und brachte ihr bei, spontan vergorene Weine von jenen mit zugesetzter Hefe zu unterscheiden, heraus­zufinden, ob der Ausbau im Stahltank, Holzfass oder Barrique erfolgte. Zu Beginn war ihr Interesse eher oberflächlich. Entweder ein Wein schmeckte oder nicht, weiter war sie bis dahin nicht in die Materie vorgedrungen. Aber Christoph ließ nicht locker, machte sie immer wieder auf sortentypische oder gebietsspezifische Merkmale aufmerksam, bis sich ihr nach und nach ein ganzes Spektrum erschloss. Nie brachte sie es auch nur annähernd zu seiner Meisterschaft, aber immerhin gelang es ihr im Laufe der Jahre, hin und wieder Treffer zu landen. Ihr erster war die Identifikation einer Scheurebe. Wein aus diesen Trauben ist der Duft von schwarzen Johannisbeeren eigen, das hatte sie sich gemerkt. Sie war mächtig stolz auf ihren Erfolg, der die Motivation erhöhte, sich weiteres Wissen anzueignen.

So ist es für Laura seit Langem undenkbar, auf passende Weinbegleitung beim Essen zu verzichten, denn bei sorgfältiger Auswahl geht beides eine harmonische Verbindung ein, die den Genuss vervollkommnet. Wenn sie auch respektiert, dass nicht jeder Alkohol zu sich nehmen möchte, ist es ihr doch ein Graus, wenn am Nebentisch Apfelsaftschorle zur Dorade, Bier zur Fischterrine oder Cola zum Hirschrücken bestellt wird. Diese Affinität zum Wein erhöht allerdings die ­Ausgaben beträchtlich und schränkt die Auswahl eines Restaurants stark ein. Denn bei vielen steht nur ein sehr begrenztes Sortiment zur Verfügung, nämlich das, was »im Allgemeinen sehr gern genommen wird« – eine immer wiederkehrende Aussage des Servicepersonals, bei der sofort ihre Alarmglocken schrillen. Nun, heute Abend ist so etwas nicht zu befürchten, heute Abend werden edle Tropfen die einzelnen Gänge begleiten und die Köche ihr Bestes geben.

3

Jetzt werden sie bald kommen und alle ausquetschen, die etwas gesehen haben könnten, denkt der Mann am Bildschirm. Samuel Gordon, ein groß gewachsener, hagerer Mann, dem man das fortgeschrittene Alter zwar ansieht, jedoch nicht, dass er die achtzig bereits hinter sich gelassen hat, beobachtet das Treiben im Hof über eine Kamera, die er zur Überwachung seiner Eingangs­tür installieren ließ. Die Leiche ist abtransportiert, die Scheinwerfer gelöscht, Spurensicherung und Polizei sind abgezogen. Von den Zuschauern ist nur noch eine kleine Gruppe von Männern übrig geblieben, deren Lachen bis in den fünften Stock dringt. Er steht auf, lässt über eine Fernbedienung die Jalousien herunter und schaltet die Deckenbeleuchtung ein. Ein Dimmer hat die Helligkeit auf ein Minimum reduziert, gerade genug, um alles erkennen zu können, aber zu wenig, um auch die Ecken zu erleuchten.

Die Wohnung erstreckt sich auf zwei Stockwerken über die gesamte Fläche des Hauses, welches ihm gehört. Er ließ das Dach anheben, die ehemaligen Dienstbotenunterkünfte und den Speicher zu einer leicht rückversetzten Maisonette ausbauen, um sie selbst zu bewohnen. Von unten ist die Aufstockung nicht zu bemerken, was genau seinen Wünschen entspricht.

Seine Wohnung ist geschmackvoll und teuer eingerichtet. Solchen Luxus würde man nicht in diesem Haus erwarten, dessen Glanzzeiten schon lange ­vorbei sind. Bei seiner Fertigstellung war es gewiss ein Schmuckstück mit der reich verzierten Gründerzeitfassade, den hohen, von Giebeln gekrönten Fenstern. Der Zahn der Zeit hat jedoch deutliche Spuren hinterlassen. Schmutzablagerungen vieler Jahre lassen kaum noch Rückschlüsse auf die ursprüngliche Farbgebung zu, die schmiedeeisernen Gitter der Balkone sind an einigen Stellen verrostet, die steinernen Ornamente ­tragen deutliche Spuren von Verwitterung, sodass man die Kunstfertigkeit der Steinmetze nur noch ­erahnen kann. Die Stelle der reich geschnitzten, schweren Eichen­tür nimmt nun eine Metall-Glaskonstruktion aus den Siebzigern ein. In die Fassungen der Schilder über den Klingelknöpfen sind kleine Zettel mit den Namen der Bewohner geschoben, einige kaum leserlich, andere in Blockbuchstaben, die sich in verschiedene ­Richtungen neigen, eines in ungelenker Schreibschrift, zwei Computer­ausdrucke. Alles deutet darauf hin, dass das Haus von einfachen Leuten teilweise ausländischer Herkunft bewohnt wird. Keines weist auf den Mann ganz oben hin.

Im großzügigen Treppenhaus relativiert sich der etwas heruntergekommene Eindruck des Hauses. Es wurde vor nicht allzu langer Zeit renoviert, die Stufen sind mit Teppich belegt. Zudem wurde ein Aufzug eingebaut, gerade ausreichend für zwei Personen und kaum bemerkbar, da er in einem geschlossenen Schacht verläuft und sich lediglich im fünften Stock öffnet. Der Zugang erfolgt über eine gesicherte Tür zum Hinterhof. Für die übrigen Bewohner ist Gordon so fast ein Unbekannter. Wenn sich ihre Wege doch einmal kreuzen, wird er mit Respekt gegrüßt, aber mit Ausnahme seiner kleinen Freundin im Erdgeschoss finden keine Gespräche statt. Der Hausverwalter Jens Rosenzweig, der ein paar Häuser weiter wohnt, kümmert sich um alle Anliegen der Bewohner. Er ist ein enger Freund und entfernter Verwandter Gordons, ihre Verbunden­heit rührt noch aus der Kindheit. Das Naziregime überlebte Rosenzweig in Frankfurt, während ein ­großer Teil der Familie in letzter Sekunde nach Amerika übersetzte. So auch Gordons Mutter mit dem kleinen Samuel, nachdem sein Vater verhaftet und unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen war. Sie heiratete später einen Börsenmakler, der den Jungen ­adoptierte, und kehrte nach dem Krieg mit der kleinen Familie nach Frankfurt zurück, da ihr Gatte einem lukrativen Angebot folgte.

Im Nachlass seiner Eltern befand sich auch das Haus, in dem Gordon nun lebt. Er erhöhte den Mietzins im Laufe der Jahre nur gering, Kündigungen werden nicht ausgesprochen, solange es keinen triftigen Grund dafür gibt. Dies geschieht allerdings nicht aus schierer Menschenfreundlichkeit, wie es die Mieter mutmaßen, sondern aus einfachem Kalkül. Je unauffälliger, desto besser. Nichts an die große Glocke hängen, niemandem Anlass zu Neid oder Misstrauen geben. Keineswegs liegt es in seiner Absicht, jemanden von der Polizei hereinzubitten, um Fragen zu beantworten. Sollten sie herausbekommen, dass hier jemand lebt, würde er selbstverständlich aufs Präsidium kommen, seine Aussage machen und ihnen mitteilen, dass ihm leider nichts Ungewöhnliches aufgefallen sei.

In seine Wohnung jedoch würde er sie nicht lassen. Denn Zutritt zu dieser erlangt nur ein ganz spezielles Klientel, welches eine gemeinsame Leidenschaft eint, das Sammeln alter Handschriften. Weniger ganze Bücher, da diese kaum noch zu bekommen sind, sondern hauptsächlich einzelne Seiten, manches Mal sogar nur Fragmente von Seiten, die doch den ganzen Zauber des Gewesenen im Sein vereinigen. Gordon ist einer der Großen dieser Branche, Sammler, ­Sachverständiger und Händler zugleich. Einige schöne Blätter schmücken unter entspiegeltem Glas die Wände. Es sind nicht die wertvollsten, aber sie geben einen Vorgeschmack auf das Sortiment. Damit dem Betrachter keine noch so kleine Nuance entgehen kann, liegen Lupen mit starker Vergrößerung bereit.

Die übrigen Stücke befinden sich in einem Safe. Gordon hat ihn exakt einpassen lassen, fast unsichtbar für das ungeübte Auge, denn das schmale Streifenmuster der Tapete verläuft in einer Linie mit der Fuge. Zusätzlichen Schutz vor unerwünschten Blicken bietet ein Wandteppich aus dem 17. Jahrhundert. Dargestellt ist eine Venus im Bade, ausgeführt in feinster Stickerei. Er erwarb ihn aufgrund der passenden Größe und dem moderaten Preis für ein solch typisches Werk seiner Epoche. Inzwischen jedoch denkt Gordon immer öfter darüber nach, es gegen ein anderes auszutauschen, denn jedes Mal wenn sein Blick darauf fällt, stört er sich an den Proportionen. Die Formen der nackten Schönheit sind üppig, die Brüste dagegen fast winzig. Kleine feste Halbkugeln mit kaum angedeuteten rosigen Spitzen, dem Schönheitsideal des Barock folgend, welches jedoch durchaus nicht seinem eigenen entspricht.

Gordon hat ausgesprochen wertvolle Stücke im Angebot, auch solche, die nicht auf dem Kunstmarkt registriert sind, was sie umso begehrenswerter für Menschen macht, die sie weniger als Geldanlage, sondern vielmehr als eine Herzensangelegenheit betrachten. Genau wie Gordon. Für ihn ist es die größte Freude, nein nicht nur Freude, sondern tiefstes Glück, Schriftzüge, Symbole oder exquisite Malereien zu betrachten, die menschliche Hände vor Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden auf Papyrus, Pergament oder Holz­tafeln hinterließen. Welch Privileg, sie ansehen zu können und mit ihnen in die Vergangenheit zu reisen, sich vorzustellen, wie ein ägyptischer Schreiber im ­Schatten einer Sykomore oder in einer lichtdurchfluteten Säulen­halle der Nachwelt Kunde von wichtigen Ereignissen hinterließ, ein Mönch des Mittelalters am Fenster oder im Garten des Klosters seine ganze Kunstfertigkeit darauf verwendete, Gott zu preisen.

Es ist nicht einfach, immer wieder Nachschub zu erhalten. Natürlich bieten zuweilen Auktionen gute Gelegenheiten dazu, aber interessant ist vor allem das private Klientel. In dessen Hand befinden sich Artefakte, die nicht auf dem offiziellen Markt kursieren, sondern hin und wieder aufgrund von Geldmangel verkauft werden oder aus Nachlässen stammen. Bereits als ­junger Student der Kunstgeschichte hatte er sich selbst auf die Suche nach solchen Stücken gemacht. Sicherer Instinkt sowie Verhandlungsgeschick brachten ihm bald erste Erfolge ein.

Da ihm klar wurde, dass er sich eine Menge ­Wissen würde aneignen müssen, um sicher urteilen zu ­können, belegte er Latein und Griechisch als weitere Studien­fächer. Nach der Promotion wurde das Hobby zum Beruf. Auf der Suche nach verborgenen Schätzen bereiste er ganz Europa und knüpfte ein weit gespanntes Netz von Kontakten. Nachdem er das Reisen vor einigen Jahren der Gesundheit zuliebe aufgegeben hat, erledigen das nun Scouts für ihn, die auf Dachböden, in privaten Archiven oder abgelegenen Klöstern unterwegs sind. Die Quellen dieser Schätze bleiben im Verborgenen und dies ist der Grund, weshalb auch Gordon im Verborgenen zu bleiben trachtet. Ansonsten könnte man ihm den Vorwurf der Hehlerei machen – absurd aus seiner Sicht, aber so liegen die Dinge nach geltendem Recht nun einmal.

Es ist nur eine kleine Gemeinde, die sich für alte Handschriften interessiert. Alle sind bestens ­untereinander und mit dem Geflecht der Informanten vernetzt, die im grauen Kunstmarkt ihr Auskommen finden. Selbstverständlich sind sämtliche Stücke mit Expertisen versehen, die deren Echtheit verbürgen. Unter der kleinen Zahl von Experten ist Gordon einer der angesehensten und hat nicht Schriften selbst zertifiziert. Lange Jahre des Lernens waren nötig, um die Sicher­heit zu erwerben, eine Fälschung vom Original zu unterscheiden, und immer wieder gab und gibt es bei dem einen oder anderen Objekt Zweifel. Nur wenn alle Bedenken ausgeräumt sind, stellt er die Beglaubigung aus. Diese Vorgehens­weise hat ihm große Autorität und Anerkennung eingebracht, dazu ein nicht unbeträchtliches Vermögen, das er keineswegs beabsichtigt, einer Gefährdung auszusetzen, denn offiziell verdient er seinen Lebensunterhalt mit Gutachten, Schätzungen und gelegentlichen Verkäufen aus Auktionen. Ansonsten ein gesetzestreuer Bürger, hat er nur ungern mit der Polizei zu tun, um kein Risiko einzugehen. Außerdem kann er zur Aufklärung des Mordes ohnehin nichts beitragen, denn die Kamera läuft nur in seiner Anwesenheit zur Überprüfung von Besuchern.

Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass noch genügend Zeit bleibt, um sich ein Vergnügen zu gönnen, das, so oft er es auch wiederholt, immer etwas Besonderes ist. Um sich darauf einzustimmen, nimmt er einen großen Schwenker und geht zu einem schön gearbeiteten Tisch an der Wand. Es ist ein exquisites, handgefertigtes Stück, die Beine aus Ebenholz, die Platte aus hochglanzpoliertem Vogelaugenahorn. Darauf liegt ein schmaler schwarzer Samtläufer, auf dem mehrere aufwendig geschliffene Karaffen stehen. Aus einer von ihnen gießt er sich eine kleine Menge Cognac ein, lässt das Glas kreisen, führt es dann an die Nase, um den Duft einzusaugen. Man braucht nicht viel von diesem Cognac, der in den Dreißigerjahren in einige wenige kleine Fässer gefüllt wurde und nur sporadisch, der Nachfrage entsprechend, auf Flaschen gezogen und verkauft wird. Lange wird dieser Zaubertrank nicht mehr auf dem Markt sein, umso mehr schätzen ihn seine Liebhaber, zu denen auch Gordon gehört. Er führt in eine vergangene Zeit, lässt Geschehnisse wieder auferstehen und den Herbst, in dem die Trauben geerntet wurden. Es ist dasselbe wie bei den großen, langlebigen Weinen, die zuweilen erst nach Jahrzehnten ihren Höhepunkt erreichen und von denen eine stattliche Anzahl in seinem Klimaschrank bei optimaler Temperatur und Luftfeuchtigkeit lagert.

Vorsichtig setzt er das Glas auf den Tisch, um keine Schramme zu hinterlassen und schiebt ein kleines, als Dekoration getarntes Paneel zur Seite. Nach dem Eintippen eines Zahlencodes in die dahinter erscheinende Tastatur gleitet eine Schublade wie von Geisterhand gezogen hervor. In ihr bewahrt er jene Exponate auf, für die sich bereits feste Interessenten gefunden haben. Die Trennung von einigen Stücken fällt ihm äußerst schwer, so auch bei diesem. Gordon atmet tief ein, schließt die Augen, um sich für den bevorstehenden Anblick sammeln, und öffnet sie nach einem kurzen Moment wieder. Vor ihm liegt ein leicht gewelltes Pergament, mit vollendeten Minuskeln beschriftet. Der Großbuchstabe zu Beginn jedes Absatzes ist herrlich illuminiert mit verschlungenen Pflanzen, Blüten und Arabesken in leuchtenden Farben, vorherrschend rot, blau, grün und gold. Den größten Teil des Blattes nimmt das Miniatur­gemälde einer Jagdgesellschaft ein, die von Hunden und Dienern begleitet wird. Zwei Pferde tragen Herren in höfischer Tracht mit Falken auf ihren behandschuhten Fäusten. Sie sind nach der neuesten Mode gekleidet, mit eng anliegenden, verschiedenfarbigen Beinkleidern und knappen Wämsern, deren geschlitzte Ärmel weit herabfallen. Hinter dem Reiter des vorderen Pferdes hat eine vornehme Schönheit im Damensitz Platz genommen, deren elegantes Kleid in strahlendem Blau fast den ganzen Leib des Pferdes bedeckt. Im Hintergrund befindet sich ein herrschaftliches Gebäude, eines der Schlösser des Jean de Valois, Duc de Berry.

Das Blatt, schon lange als verschollen geltend, stammt zwar nicht vom berühmtesten Stundenbuch, das der Herzog von den Gebrüdern Limburg erwarb, dem Très Riches Heures, sondern einem anderen, fast ebenso kostbarem Werk, dem Très Belles Heures de Notre Dame. Die hochbegabten Brüder Paul, Jean und Herman, unangefochtene Protagonisten ihrer Zunft um die Wende zum 15. Jahrhundert, illuminierten um die 300 Handschriften und wurden von dem Duc, einem jüngeren Sohn des Königs Jean II, so geschätzt, dass er sie zu Mitgliedern des Hofes machte und als begeisterter Sammler mit immer neuen Aufträgen versah.

Nicht ohne Grund, denkt Gordon, denn weder vor noch nach ihnen wurde eine derartige Meisterschaft erreicht. Vor allem in den Stundenbüchern ist ihr überragendes Können bis heute zu bewundern. Allzu schade, dass diese große Epoche ein solch abruptes Ende fand. 1416 starben die Gebrüder Limburg und Jean de France, vermutlich an der Pest, und ein anderer Stil setzte sich durch.