Schöner Tod - Astrid Keim - E-Book

Schöner Tod E-Book

Astrid Keim

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Beschreibung

Ausgerechnet auf dem Frankfurter Hauptfriedhof stößt die pensionierte und seit einem Jahr verwitwete Anwältin Laura Mahler auf eine Leiche. Mit ihrem geflochtenen Haar und der blutroten Rose darin sieht das tote Mädchen aus wie die Grabfigur, hinter der Laura es findet. Die konservierte Schönheit weckt ihr Interesse und so beginnt Laura, auf eigene Faust zu ermitteln. Zugleich ist der Leichenfund Anlass, wieder Kontakt zu ihrem alten Freund, Krimimalkommissar Thomas Aumann, aufzunehmen. Dabei zeigt sich schnell, dass bei der Zusammenarbeit nicht allein kriminalistische Interessen im Spiel sind. Die beiden kommen sich näher – da wird eine zweite Mädchenleiche gefunden. Inspiriert von einem echten Grabmal auf dem Frankfurter Hauptfriedhof spinnt Astrid Keim eine spannende Geschichte um die Anwältin Laura Mahler. Dabei geht es nicht nur um die Frage nach dem Täter, sondern auch um das Altern, die Schönheit, den Genuss und die Liebe.

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Astrid Keim

Schöner Tod

Ein Frankfurt-Krimi

Keim, Astrid: Schöner Tod. Frankfurt-Krimi. Hamburg, edition krimi 2020

1. Auflage 2020

Das Original ist 2019 im Größenwahn Verlag erschienen.

ISBN: 978-3-946734-98-7

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ePub-eBook: ISBN 978-3-946734-99-4

Lektorat: Klaus Sellge, Nina Ziegler

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, Hamburg

Umschlagmotiv: © Martin O’Sigma

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© edition krimi, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

Gedruckt in Deutschland

Contents

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Die Autorin

Landmarks

Cover

1

Laura steht auf dem Balkon und atmet tief ein. Es riecht nach Frühling. Zum ersten Mal in diesem Jahr ist eine Ahnung von aufspringenden Knospen und zwitschernden Vögeln zu spüren. Vor wenigen Tagen erst hat der strenge Frost nachgelassen, der den ­Februar fest im Griff hatte und selbst den ­Schneeglöckchen ihre Lust am Blühen verdarb. Dann sind mit dem Regen mildere Temperaturen gekommen, und heute ist der Himmel fast klar. Sie hatte überlegt, wärmere ­Regionen aufzusuchen, doch das wäre ihre erste Reise ohne Christoph gewesen, und dem fühlt sie sich noch nicht gewachsen. Christoph ist nun etwas über ein Jahr tot und die Verzweiflung der Trauer gewichen. Aber ohne ihn, mit dem sie so viele Reisen, so viele sonnige Tage erlebt hat, wäre sie nicht glücklich gewesen, denn zum Glück braucht man jemanden, mit dem man es teilen kann.

Die Kälte hat sie bisher abgehalten, sein Grab auf dem Hauptfriedhof zu besuchen, aber heute wird das Versäumte nachgeholt, dieser Entschluss stand schon beim Aufstehen fest. Heute wird das Fahrrad aus dem Keller getragen, in dem es fast vier Monate stand, es ist an der Zeit, das zwar ziemlich verrostete, aber heiß geliebte Vehikel ans Tageslicht zu bringen. Sie wirft einen Blick auf das Thermometer: 10 Grad. Da könnte man vielleicht schon zur Übergangsjacke greifen? Nein, besser nicht auf Daunenjacke und gefütterte Stiefel verzichten. In ihrem Alter ist warme Kleidung angesagt, sonst droht womöglich eine Blasenentzündung, wenn nicht Schlimmeres.

Wie war das in ihrer Jugend? Lief sie da nicht auch bei strengster Kälte mit knapper Lederjacke durch die Gegend, die bei jeder Bewegung bloße Haut enthüllte? Auszuschließen ist das nicht, denn die Lederjacke war Pflicht in den frühen Siebzigern, schon um die Eltern zu ärgern, die solch ein Ding mit den schlimmsten Befürchtungen für den Werdegang ihrer Brut verknüpften. Genauso wenig Beifall fand der Minirock, dessen Länge der Breite des Gürtels entsprach. Für so etwas jobbte Laura seit ihrem sechzehnten Lebensjahr wochen­lang in den großen Ferien, da ihre Erzeuger absolut nicht willens waren, Geld für derartigen Firlefanz herauszurücken, der so gar nicht ins konservative Weltbild passen wollte. Auch die Freude über den Fleiß der Tochter hielt sich in Grenzen, da er zu solchen Resultaten führte.

Mit Mühe gelingt es ihr, das Fahrrad die steilen Stufen hochzutragen. Letztes Jahr ging das noch besser, die Gelenke sind auch nicht mehr das, was sie früher mal waren. Es wird Zeit, sich mehr zu bewegen. Vor allem, dass es warm wird, dann geht es hoffentlich wieder bergauf.

Bergauf geht es aber zunächst am Holzhausenpark vorbei zur Eckenheimer. Keine große Steigung, aber sie zieht sich. Das Tor des Alten Portals ist ins Schloss gefallen, darum muss sie absteigen. Das ist Absicht, vermutet sie, um den Radfahrern das Hineinkommen zu erschweren, denn der große Hinweis »Radfahren verboten« wird von vielen ignoriert. Auch von ihr. Sie hat für sich beschlossen, dass damit nur die Mountainbiker gemeint sein können, die sonst querfeldein durch die Gräberreihen pflügen würden. Schritttempo dagegen gefährdet niemand und macht kaum einen Unterschied zum Laufen, erleichtert aber das Vorwärtskommen ungemein. Schließlich sind 65 Jahre kein Pappenstiel. Natürlich ist man noch nicht wirklich alt, Gott bewahre, aber kleine Einschränkungen sind nicht wegzuleugnen.

Sie bleibt vor Christophs Urnengrab stehen, einer Doppelnische in der Mauer, die einst auch ihre Asche aufnehmen wird, und betrachtet sein Foto. Er lächelt sie an, braungebrannt, mit Wind im Haar. Vorletztes Jahr ist das gewesen, aufgenommen von seiner Schwester Maren, als sie zu viert in Südfrankreich waren. Glory Days. Einige von vielen vorangegangenen. Sie ­lernte ihn zehn Jahre nach einer katastrophal ­gescheiterten, früh geschlossenen Ehe kennen. Bei ihrem ersten Mann, einem intellektuellen Überflieger, lagen Genie und Wahnsinn eng beisammen. Lange hatte sie seine Stimmungsschwankungen verharmlost. Als er jedoch eines Morgens erklärte, dass Hegel und Kant ihm im Schlaf offenbart hätten, wie die Welt zu retten sei und er sich fortan ganz dieser Aufgabe widmen wolle, gab es kein Verdrängen mehr. An diese Zeit denkt sie nicht gern. Sie war Referendarin, stand kurz vor dem zweiten juristischen Staatsexamen. Sie konnte nicht mehr schlafen, sie konnte sich nicht mehr konzentrieren, die Prüfung musste um ein Jahr verschoben werden. Erst nach der Trennung fasste sie wieder Tritt.

Mit Christoph dagegen verband sie nicht nur tiefe Zuneigung, sondern eine gemeinsame Verständigungsebene, die Worte und Erklärungen oft unnötig machte. Gleichaltrig und mit ähnlicher Sozialisation, harmonierten sie von Anfang an. Sogar ihre Nach­namen ergänzten sich zum Stabreim: Martens-Mahler. Er war Pädagoge durch und durch, ging seiner Arbeit am ­humanistischen Gymnasium mit Freude und Engagement nach. Die Verabschiedung in den Ruhestand wurde mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegengenommen. Aber der Ausblick auf ein Leben ohne Pflichten überwog, zumal sich auch Laura entschloss, aus dem Berufsleben auszuscheiden; sie war Partnerin in einer großen Kanzlei. Nun wollten sie das Leben genießen, Ausstellungen besuchen, sich ihrem Hobby, dem Kochen, intensiver widmen und natürlich reisen. Hatten sie bis jetzt die meisten ­Ferien in Frankreich verbracht, auch der Sprache wegen, stand jetzt Italien auf dem Programm. Den Spuren der Renaissance wollten sie folgen, Florenz, Venedig, Rom, Padua besuchen, wo diese Epoche in unzähligen Meister­werken präsent ist.

Es hätte so schön werden können, aber das Schicksal machte einen Strich durch die Rechnung. Drei Monate später war er tot. An dem Tag, als Laura offiziell verabschiedet wurde. Als sie abends gegen zehn nach Hause kam, fand sie ihn auf dem Sofa, zur Seite gesunken, das Gesicht friedlich. Der Fernseher lief, ein halb leeres Weinglas stand auf dem Tisch.

Der Boden wankte unter ihren Füßen. Die Ambulanz konnte nichts mehr tun, der Tod war bereits vor einigen Stunden eingetreten. Es wurde eine Obduktion angeordnet, um Fremdverschulden oder Suizid auszuschließen. Ein geplatztes Aneurysma im Gehirn mit massiven Einblutungen war die Ursache gewesen.

Mit diesem Befund konnte Laura nur schwer umgehen. Sie machte sich Vorwürfe, nicht bei ihm gewesen zu sein. Kurz, nachdem sie das Haus verlassen hatte, war der Tod gekommen. Unfassbar, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nie hatte Christoph über ­Beschwerden geklagt. Erleichterung brachte ein ­Gespräch mit dem ­gemeinsamen Hausarzt, der erklärte, dass ein ­Aneurysma keine Symptome verursache und eine Rettung in diesem Fall an ein Wunder gegrenzt hätte. Rückblickend half ihr das zwar, trotzdem ­dauerte es noch Wochen, in denen sie mit dem Schicksal haderte, und ein weiteres halbes Jahr, bis sie wieder nach vorne schauen konnte. Alles ist wieder da beim Anblick von Christophs Bild. Als wäre es gestern geschehen.

Nach seinem unerwarteten Tod hat sie ein Ehrenamt angenommen, um die Leere zu füllen. Als ­Vorleserin in Altenheimen. Damit ist sie ziemlich ausgelastet, denn was zunächst nach nur wenigen Stunden in der Woche ausgesehen hat, nimmt mittlerweile viel Zeit in Anspruch. Schnell ging es nicht mehr nur um das Vorlesen, längst ist sie auch in die persönlichen Situationen der alten Menschen eingebunden, die sich nach Ansprache und Zuwendung sehnen. Laura hat sich dieser Aufgabe gerne angenommen, denn so trifft sie mit Leuten zusammen, die sie sonst niemals kennengelernt hätte, und erfährt Dankbarkeit und Vertrauen.

In Gedanken versunken, setzt sie sich auf eine Bank und legt den Kopf in den Nacken. Die Sonne hat schon etwas Kraft. Ein Eichhörnchen huscht nah vorbei, und im Baum unterhalten sich zwei Amseln. An diesem Ort ist das Sein genauso präsent wie die Vergänglichkeit. Ein inniges Gefühl von Dankbarkeit durchströmt sie und löst die traurigen Erinnerungen ab. Dankbarkeit, dass mit dem Frühling das Leben wiederkehrt und sie dabei sein darf. Sonne auf der Haut und das Zwitschern von Vögeln – das genügt, um glücklich zu sein. Was früher als Selbstverständlichkeit kaum ­wahrgenommen wurde, hat einen anderen Stellenwert erhalten. Das zunehmende Alter trägt dazu bei, und vor allem ­Christophs plötzlicher Tod. In jungen Jahren mochte sie den Herbst mit seinen schönen Farben am liebsten. Das hat sich gründlich geändert. Herbst hat nun mit Abschied zu tun, Frühling dagegen mit Neuanfang. Mittlerweile scheint ihr der Neuanfang nicht mehr so gewiss und wird deshalb umso wertvoller.

Sie beschließt, noch einen kleinen Spaziergang durch den schönen alten Teil des Friedhofs zu machen, in dem die großen Frankfurter Namen versammelt sind. Sie lässt das Fahrrad stehen und schlendert durch die Lebensbaumallee, nimmt dann kleinere Wege und bewegt sich kreuz und quer gemächlich auf den Ausgang zu, immer wieder stehenbleibend, um eine Inschrift zu entziffern oder eine Skulptur zu bewundern. Die wenigen milderen Tage haben den Schneeglöckchen gereicht, um Knospen anzusetzen. Das Leben fängt neu an – und zum ersten Mal seit Christophs Tod kann sie es wieder genießen.

Sie hat nicht auf den Weg geachtet und steht plötzlich vor einem Grabmal, das ihr während ihrer Spazier­gänge bis jetzt entgangen ist. Auf einem Sockel aus Kalkstein liegt die lebensgroße Skulptur einer jungen Frau. Sie ist in ein leichtes Gewand gekleidet, das den Körperformen folgt und auch ihre Füße bedeckt. Der linke Arm liegt angewinkelt auf der Brust. Der Kopf mit dem kunstvoll geflochtenen Haar, in dem drei kleine Blüten stecken, wendet sich dem Betrachter zu. Das schöne Gesicht mit den geschlossenen Augen wirkt lebendig und entrückt zugleich, es könnte auch das Porträt einer Schlafenden sein. Obwohl die Verwitterung deutliche Spuren hinterlassen hat, wirkt das Grab gepflegt. Weder der üppig wachsende Efeu noch Flechten oder Moose überziehen die Liegende.

Der Sockel trägt eine Inschrift. Laura geht in die Knie, um sie zu entziffern, was sich sofort mit einem bohrenden Schmerz und deutlichem Knirschen rächt. Das Todes­jahr 1923 fällt ihr als Erstes ins Auge. Es ­dauert eine Weile, bis der Text Gestalt annimmt, denn die eingemeißelten Buchstaben haben ihre Schärfe verloren. Als die Zusammenhänge klar werden, ist sie zutiefst berührt:

Warum muss sich die Anmut neigen

und gar so rasch im Tod vergehn?

Wird sie in einem höhern Reigen

zum Himmelsglanze neu erstehn,

da sie in diesen Erdenbahnen

das Glück, das ihr bemessen war,

erschöpft in einem seligen Ahnen?

Uns blieb ein Duft von ihrem Haar.

Langsam richtet sich Laura auf. Trotz wärmender Sonnen­strahlen und dicker Jacke überzieht sie eine Gänse­haut. Wieder betrachtet sie das ebenmäßige, ­ruhige Gesicht, dessen Konturen sich bereits zu verwischen beginnen. Nicht mehr lange, und die Züge werden unkenntlich sein. Wie die Tote in ihrem Grab. Fast hundert Jahre sind eine lange Zeit. Der Versuch, die Schönheit zu bewahren, ist zum Scheitern verurteilt.

Vielleicht findet sich auch auf der Rückseite noch eine Inschrift. Nur drei, vier Schritte ist sie gegangen, als sie wie angewurzelt stehen bleibt: Hinter der Tumba liegt im dichten Efeu eine Gestalt, eingehüllt in dünne Plastikfolie, auf der kleine Wasserperlen blitzen. Eine Puppe, versucht sie ihr pochendes Herz zu beruhigen, bereits ahnend, dass es genau das ist, wonach es aussieht: ein toter Körper. Panik steigt in ihr auf, sie schaut sich suchend um, horcht, aber nicht das ­kleinste Geräusch deutet auf die Anwesenheit eines Dritten hin. Ich muss die Polizei alarmieren, meldet sich die Vernunft, aber wie von unsichtbaren Fäden gezogen, nähert sie sich um zwei weitere Schritte. Jetzt ist die Gestalt deutlich zu erkennen, und ihr stockt der Atem. Die Folie bedeckt eine junge Frau, deren weißes Gewand bis zu den Füßen reicht. Das aschblonde Haar ist zum Zopf geflochten und um den Kopf gewunden, die linke Hand ruht auf der Brust. Eine leuchtend rote Rose steckt im Haar, ein aufreizender Kontrast zur Farblosig­keit der übrigen Erscheinung. Um keine Spuren zu zerstören, beugt sie sich so weit wie möglich vor, um die Züge der Toten zu studieren. Das Gesicht ist von verblüffendem Ebenmaß. Lichtbraune Wimpern säumen in perfektem Halbkreis die geschlossenen Augen. Der Mund ist rosig, und ein Hauch von Rosa liegt auch auf den Wangenknochen. Ohne die Blässe des übrigen Gesichts, von Hals und Hand, der wächsernen, unverkennbaren Blässe des Todes, und ohne die beperlte Folie, könnte auch eine Schlafende im Efeu liegen. Eine ganz junge Frau, fast noch ein Mädchen, in der Makellosigkeit ihrer Jugend. Was ist das für ein Mensch, der es übers Herz bringt, diese Vollkommenheit zu zerstören? Nein, nicht zu zerstören, die Zerstörung wird noch kommen – dieses Leben auszulöschen, wie man eine Kerze auslöscht?

Stechende Rückenschmerzen machen ihr bewusst, dass sie wohl mehrere Minuten in der halbgebeugten Stellung verharrt hat. Wieder mahnt die Vernunft, die Polizei zu informieren, aber genau diese Vernunft lässt sie auch zögern. Nur allzu gut weiß sie, was jetzt ­kommen wird. Spurensicherung, Absperrung des Fundorts, Eintreffen des Gerichtsmediziners, des Fotografen. Bestandsaufnahme in aller Routine und Nüchtern­heit. Es erscheint ihr wie ein Sakrileg, die Ruhe dieses Körpers zu stören.

Sie könnte Thomas anrufen, dann müsste sie das Unvermeidliche nicht allein durchstehen. Mit Thomas Aumann verbindet sie eine langjährige Freundschaft. Zuerst war es der Beruf, der sie zusammenführte. Neunzehn Jahre ist es her, als sie ihn im Rahmen eines Prozesses um die Entführung und Ermordung eines Kindes kennenlernte. Er war ein junger Kriminal­kommissar, zumindest kam er ihr so vor, mit gut zehn Jahren Altersunterschied, aber sein akribisches Vorgehen, seine soziale Kompetenz, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, Mitgefühl zu zeigen, nötigten ihr von Beginn an Achtung ab und führten schließlich zu einer Freundschaft, die auch seine wechselnden Partnerinnen und Christoph einbezog. Ausgerechnet er, der sich eine Familie wünschte, hat in Liebesdingen wenig Glück gehabt. Die längste Beziehung dauerte zwei Jahre, es wollte sich einfach nichts Festeres ergeben, und heute, mit über fünfzig, hat er wohl aufgegeben, darauf zu hoffen.

Ja, es wäre gut, Thomas direkt anzurufen, dann hat sie wenigstens einen Freund an ihrer Seite, wenn der ganze Tross eintrifft. Sie erwischt ihn sofort, als hätte er den Anruf erwartet. Er sei auf dem Weg nach Hause und wollte gerade Jenny Bescheid sagen, dass er früher komme. Heute sei eine der seltenen Gelegenheiten, ein paar Überstunden abzufeiern. Jenny, wer ist Jenny?, fährt ihr durch den Sinn, sie schiebt aber die Neugier beiseite, es gibt jetzt Wichtigeres. Mit etwas schlechtem Gewissen, da sie seine Freizeitplanung zunichte machen wird, berichtet sie von ihrem Fund.

»Ich bin sofort da, alarmiere nur noch die Truppe.«

»Halt«, stoppt sie ihn, bevor er auflegen kann, »die Portale sind zu. Man kann sie natürlich öffnen lassen, aber das dauert eine Weile. Am besten fahrt ihr ein Stück weiter. Kurz vor dem Eingang des Jüdischen Friedhofs ist eine Schranke. Wenn ihr Sprechkontakt aufnehmt, wird sie gehoben.«

»Ist der Fundort weit vom Eingang entfernt?«

»Nein, nur ein paar Schritte vom Alten Portal aus.«

»Dann parken wir dort und kommen zu Fuß rein, so können keine Spuren zerstört werden. Es wäre allerdings gut, wenn du uns hinführen würdest. Warte am Parkplatz auf uns.«

Sie macht sich sofort auf den Weg, denn die Anfahrt wird nicht lange dauern. Das Polizeipräsidium liegt ganz in der Nähe. Thomas ist als Erster da, er war bereits am Auto, als ihn der Anruf erreichte. Als die Kollegen eintreffen, hat sie ihm den Sachverhalt bereits hastig erklärt, und er gibt die Informationen knapp und präzise weiter. Sie lotst die kleine Kolonne in Richtung Neues Portal. Nach ungefähr 100 Metern wendet sie sich nach rechts. Jetzt sind es nur noch ein paar Schritte, und das Grabmal liegt vor ihnen.

Nachdem sich Thomas mit aller Vorsicht einen ersten Überblick verschafft hat, kehrt er zu ihr zurück. Sie steht etwas abseits, um die Spurensicherung nicht zu behindern. Seine Lippen sind ­zusammengekniffen, und die Querfurchen auf der Stirn treten deutlicher als sonst hervor. Er fährt sich mit der Hand über sein immer noch dichtes Haar, in dem das Grau begonnen hat, das dunkle Braun zu verdrängen. »Es ist ­unfassbar, was Menschen bereit sind, anderen Menschen anzutun. Selbsttötung halte ich wegen der Folie für unwahrscheinlich, obwohl man auch diese Möglichkeit genau prüfen wird. Es sieht eher so aus, als sei das Mädchen sorgfältig gebettet und die Kleidung arrangiert worden.« Auch er scheut sich offenbar, von einer Toten oder schlicht der Leiche zu reden, empfindet die Lebendig­keit im Angesicht des Todes.

Thomas legt den Arm um ihre Schultern: »Geh nach Hause, im Moment kannst du nichts tun. Ich informiere die Kollegen über deine Personalien. Sobald die Spurensicherung abgeschlossen ist, wirst du Besuch bekommen, um deine Aussage zu protokollieren.«

»Kannst du das nicht machen?« Laura schaut ihn bittend an.

»Wo bleibt deine Professionalität? Schon vergessen, dass eine neutrale Person wesentlich besser dafür geeignet ist? Natürlich bezweifele ich nicht, dass du auch mir den Sachverhalt genau schildern würdest, aber du weißt, welche Wichtigkeit selbst das kleinste Detail hat. Um das herauszulocken, hat jemand Unbefangenes nun mal wesentlich bessere Chancen als ein langjähriger Freund.«

Laura kommt nicht umhin, zuzustimmen. Doch bevor sie sich auf den Nachhauseweg macht, braucht sie noch eine dringende Auskunft.

»Wann gebt ihr eigentlich die Sache an die Presse?«

»Sobald wir hier fertig sind. Zwecklos, es aufzuschieben. Ich bin ohnehin überrascht, dass offenbar noch niemand von der Sache Wind bekommen hat. Normalerweise ist die Meute schon da, bevor die Spuren­sicherung fertig ist. Du brauchst keine Angst zu haben«, nimmt er ihre Befürchtungen vorweg, »dein Name wird nicht erwähnt. Eine Spaziergängerin hat die Leiche gefunden. Punkt.«

Mit der Bitte, sie auf dem Laufenden zu halten, wendet sie sich zum Gehen. Thomas schaut ihr nach. Er freut sich über das Treffen, auch wenn ihm ein anderer Anlass lieber wäre. Seit Christophs Tod haben sie sich nicht mehr gesehen, auch nicht telefoniert, obwohl er seine Unterstützung angeboten hatte. Als sie sich nicht meldete, nahm er an, dass sie Zeit brauche, um sich zu fangen, und wollte sich nicht aufdrängen. Mehrmals hatte er den Telefonhörer in der Hand, war dann aber doch nicht mutig genug, ihre Nummer zu wählen. Aber in seinen Gedanken war sie oft präsent. Natürlich gab es keinen Grund für sie, sich ausgerechnet an ihn zu wenden, um sich trösten zu lassen. Da gibt es andere, die ihr näher stehen, das muss er zugeben. Aber gewünscht, sie trösten zu dürfen, das hatte er schon.

2

Die Uhr bei der Friedhofsgärtnerei zeigt kurz vor drei, als Laura dort vorbeiradelt. Der angekündigte Besuch wird sicher nicht vor fünf erfolgen, Zeit genug also, um einen Abstecher ins Café Wacker im Mittelweg zu machen, eine heimelige Oase, nur einen Steinwurf entfernt von der hektischen Betriebsamkeit des Oederwegs. Genau das, was sie braucht, um ihre Gedanken zu sortieren.

Eine Tasse Kaffee mit aufgeschäumter Milch und ein Stück Himbeertorte ohne Sahne sollten helfen, den Ablauf der Geschehnisse stichpunktartig zu ­rekapitulieren. Sie leiht sich einen kleinen Bestellblock samt Kugelschreiber und versucht, sich zu konzentrieren.

Die Aussicht auf den Kuchen jedoch bringt eine Ablenkung, denn als Erstes fällt ihr ein, was für ein Privileg es ist, Anfang März in den Genuss von Himbeeren zu kommen. Besonders während der kalten Jahreszeit sehnt sie sich nach diesen Früchten. Das war schon in der Kindheit so. Für sie als Novembergeborene stand die Himbeertorte ganz oben auf der Wunschliste. Früher gab es nur eingemachte oder tiefgefrorene, beide zwar etwas matschig, aber doch mit den Aromen des Sommers. Als dann die ersten frischen im Winter kamen, war das eine Sensation. Um nichts in der Welt möchte sie jetzt darauf verzichten. Eigentlich ist sie Gegnerin des Imports von Lebensmitteln aus weit entfernten Regionen, erstens wegen der katastrophalen Energiebilanz, zweitens aus Bedenken vor zugesetzten Pestiziden. In Bezug auf Himbeeren macht sie allerdings eine Ausnahme. Der Geschmack von frischen schlägt die anderen um Längen, und so fallen sie unter die Amnestie. Genauso wie der Kuchen, welcher den Früchten erst zur Vollkommenheit verhilft.

Als sie bemerkt, wie ihre Gedanken abschweifen, ruft sie sich zur Ordnung. Sie muss sich konzentrieren und den Ablauf rekapitulieren, solange er noch frisch im Gedächtnis ist. Dieses Vorgehen war mit das Erste, was sie bei Zeugenbefragungen lernte. Wenn kein Mikrofon zur Hand war und keine Möglichkeit bestand, Notizen zu machen, war das Gedächtnisprotokoll direkt im Anschluss die einzige Chance, Ergebnisse fehlerfrei zu sichern.

Wie also war der Ablauf? Nachdenklich malt sie kleine Spiralen auf das Blöckchen. Gibt es etwas, das ich vergessen habe? Schritt für Schritt geht sie die Situation durch, vom Entziffern der Inschrift bis zur Entdeckung des leblosen Körpers, und notiert die einzelnen Punkte. Das Gesicht. Sie hat den vagen Eindruck, es irgend­wann schon einmal gesehen zu haben. Es will sich jedoch keine Erinnerung einstellen, und der Eindruck verschwindet genauso schnell, wie er gekommen ist. Nein, es gab nichts Auffälliges, nicht den geringsten Hinweis, der weiterhelfen könnte. Doch, drängt es sich ihr plötzlich auf, da gab es etwas: die Rose im Haar. Eine leuchtend rote Rose, voll erblüht, ohne das geringste Anzeichen des Verwelkens. Das korrespondiert mit dem Zustand der Toten. Auch hier keine Spuren von Verwesung, soweit sie es feststellen konnte. Ist das ein Hinweis darauf, dass der Körper erst kürzlich abgelegt wurde, oder hat der strenge Frost beides konserviert? Unwahrscheinlich, zumindest was die Rose betrifft, die wäre nach kurzer Zeit erfroren und braun geworden. Also wird der Körper noch nicht lange dort gelegen haben. Oder sollte es sich um eine künstliche Blume handeln? Sie konzentriert sich auf das Aussehen. Nein, ausgeschlossen, das wäre ihr aufgefallen. Die Rose ist echt. Aber irgendetwas stimmt da nicht. Sie hat das sichere Gefühl, etwas bemerkt zu haben, ohne es in Worte fassen zu können. Aus Erfahrung weiß sie, dass es keinen Sinn macht, darüber nachzugrübeln, es wird ihr wieder einfallen, wenn die Zeit dafür reif ist. Als Gedächtnisstütze schreibt sie in Blockbuchstaben »ROSE« auf den Zettel, macht ein Ausrufezeichen dahinter und unterstreicht das Wort zweimal mit energischen Strichen. Sorgfältig faltet sie das Papier zusammen und verstaut es im Portemonnaie, um sich dem Kuchen zu widmen, der gerade gebracht wird.

Sie ist noch nicht ganz fertig, als Renate eintrifft und sich ohne Umstände am Tisch niederlässt. Renate ist ihre beste Freundin. Sie kennen sich noch aus Studenten­zeiten. Auch sie ist eine Liebhaberin der angenehmen Dinge des Lebens, die sich mit zunehmendem Alter zunehmend in Caféhäusern abspielen. Ohne sich verabreden zu müssen, treffen sich die beiden häufig am Nachmittag im Wacker, um ihrer Vorliebe zu frönen und ein Schwätzchen zu halten.

Renate kann sich ihre Zeit frei einteilen. Zwar absolvierte sie ihr Soziologiestudium mit Bravour und setzte noch eine Promotion mit summa cum laude darauf, hat aber nie in diesem Beruf gearbeitet. Ihr Interesse galt zunehmend den Wirtschaftswissenschaften, und auf diesem Gebiet finden ihre kritischen Analysen und Artikel in Fachzeitschriften seit Jahren öffentliche Anerkennung.

Aus einem sehr vermögenden Elternhaus stammend, wurde sie als spät geborenes, sehnlichst erwartetes einziges Kind klaglos und großzügig alimentiert. Außerdem verfügte sie seit dem 21. Lebensjahr durch ein Vermächtnis der Großeltern über eigenes Geld. Unabhängig von pekuniären Zwängen, konnte sie ihr Leben selbst gestalten. Nach dem Tod der Erzeuger bestand die einzige Veränderung darin, sich nun selbst um die Verwaltung des Vermögens kümmern zu müssen, was ihr mit beachtlichem Erfolg gelang. Und es gelang ihr, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben und sich dem Einfluss der Mutter entziehen, die als Charity Lady im Rampenlicht ihre wohltätigen Auftritte ­gefeiert hatte. Renates Charity-Aktionen bestehen seit Jahren darin, mittellosen Freunden über die Runden zu helfen und sich ehrenamtlich in einer Menge wohl­tätiger Organisationen zu engagieren. Alf, Künstler und Privatphilosoph, den sie von ihrer Mutter erbte, wird von ihr genauso gesponsert wie eine alte Freundin der Familie, der sie den Verbleib in der vertrauten großen Altbauwohnung ermöglicht, nachdem Anlageberater am Neuen Markt ihr Vermögen verspielten.

Laura war nicht die Einzige, die Renate darum beneidete, dass ihr der harte Konkurrenzkampf um einen Job erspart blieb. Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger war Soziologie das Lieblingsfach der intellektuellen Avantgarde und der Andrang auf die wenigen Stellen entsprechend groß. Die Professoren Adorno, Marcuse und Horkheimer, leitendes Dreigestirn der Fakultät und Begründer der Kritischen Theorie, genossen hohe Achtung und Verehrung in der progressiven Studentenschaft. Viele wollten in ihre Fußstapfen treten, ohne die beruflichen Aussichten ins Kalkül zu ziehen. So kam es, dass nicht wenige nach dem Examen Taxi fuhren. Was als Übergang gedacht war, wurde manchmal aus Mangel an Alternativen zum festen Job, und so saßen damals einige hoch qualifizierte Akademiker hinter dem Steuer.

Auch Laura liebäugelte zunächst mit dieser Fachrichtung, aber in realistischer Abschätzung der Perspektiven entschied sie sich für die ­Rechtswissenschaften, sehr zur Befriedigung ihrer Eltern, die meinten, eine Juristin in der Familie könne nicht schaden. Es dauerte eine Weile, bis die Familie begriff, dass auch für sie ein Prozess mit Kosten verbunden sein würde.

Renate heiratete mit 26 ihre Teenagerliebe. Stefan war erst kurz zuvor durch einen Zufall wieder in ihr Leben getreten, und die Hochzeit fand nur zwei Monate danach statt. Laura hatte nie verstanden, was ihr an diesem Mann so gefiel, denn außer gutem Aussehen konnte sie nichts Bemerkenswertes an ihm finden. Ein knappes Jahr später war Renate Witwe. Bei einer gemeinsamen Wanderung mit Freunden durch den herbstlichen Wald glitt ihr Mann auf nassen Blättern aus, rutschte einen Abhang hinunter, fiel auf eine kleine, selten befahrene Straße und wurde von einem Auto überrollt. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus, und seine Eltern gaben ihr die Schuld an dem Unfall. Wegen der Lebensversicherung, die sie ausgezahlt bekam. »Heimtückischer Mord aus Geldgier«, so lautete die Anschuldigung, ein Verfahren jedoch wurde gar nicht erst eröffnet, da mehrere Zeugen das Geschehen beobachtet hatten. Ausgerechnet Geldgier als Mordmotiv, das machte Renate nun wirklich fassungslos. Die Lebensversicherung war bereits lange vor der Heirat abgeschlossen worden und hatte der Altersversorgung dienen sollen. Wie sie Laura einmal anvertraute, wollte sie eigentlich das Geld der Familie überlassen, überlegte es sich aber anders, als sich das Blatt so wendete. Seit damals hat Renate keinen ernsthaften Versuch mehr unternommen, eine neue Partnerschaft einzugehen, obwohl es an Verkupplungsversuchen des Freundeskreises nicht mangelte. Soweit es Laura einschätzen kann, ist Renate mit ihrem Los durchaus zufrieden und empfindet keine Defizite.

»Ich muss dir was erzählen«, fangen beide gleichzeitig an.

»Du zuerst!« Großzügig überlässt Laura ihrer Freundin den Vortritt, die darauf zu brennen scheint, ihre Geschichte loszuwerden. Und tatsächlich handelt es sich um Brennendes, nämlich um einen Klecks Löwensenf. In diesen ist ihr gieriger und nicht ohne Grund ziemlich dicker roter Kater Adorno getreten, als er auf den Tisch sprang und mit einer Pfote im Teller landete. Der Duft des übrig gebliebenen Wurstzipfels verlockte ihn wohl zu diesem Fehltritt, der sich bitter rächte beim Versuch, die Pfote sauber zu lecken. Der scharfe Senf stieg ihm in Nase und Augen, sodass er wie ein geölter Blitz durch die Wohnung raste, heftig niesend, mit tränenden Augen, bis es seiner Herrin gelang, ihn einzufangen und in der Badewanne zu reinigen.

Laura kann sich das genau vorstellen, und beide schütten sich aus vor Lachen.

»Jetzt du«, auffordernd nickt Renate ihr zu, aber Laura schaut auf die Uhr und schüttelt den Kopf.

»Nächstes Mal. Ich bekomme noch Besuch, weiß aber nicht genau, wann. Es ist besser, wenn ich mich aufmache. Wahrscheinlich kann ich dir später auch mehr erzählen.«

Sie hat es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen. Ein Gedanke ist wie aus dem Nichts aufgetaucht, und der hat mit der Rose zu tun. Auf dem Fahrrad sind es nur zwei Minuten bis zu ihrer Wohnung in einem ruhig gelegenen Altbau, die sie mit Christoph vor 15 Jahren gekauft hat. Zum Glück, wie ihr immer wieder bewusst wird, wenn sie hört, welche horrenden Mieten mittlerweile in der Frankfurter Innenstadt verlangt werden. So etwas wäre heute für einen Normalverdiener nicht mehr finanzierbar. Hastig schließt sie auf und deaktiviert die Alarmanlage, die rot blinkend durch das milchige Sicherheitsglas mögliche ­Einbrecher warnt. Als die Wohnung vor zwei Jahren renoviert wurde, entschlossen sie sich zu dieser Lösung, um das Fenster der alten Tür nicht weiterhin mit Gittern zu verschandeln.

Sie wirft den Mantel über einen Stuhl, streift ungeduldig die Schuhe von den Füßen, um in die bereitstehenden Pantoffeln zu schlüpfen, und geht zu dem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa. Eine Lampe steht dort und außerdem ein kleiner Silberkelch mit weißer Kamelie, umgeben von einem Arrangement aus immergrünen Blättern. Sie hat es von Maren bekommen als Mitbringsel, bald nach Christophs Tod. »Das ist unsterblich und trotzdem echt«, sagte Maren, »ich habe es in München gesehen und dachte, es würde dir gefallen. Die Blumen und das Grün werden gefriergetrocknet und halten dann ewig. Fühl mal, es gibt keinen Unterschied zu lebenden Pflanzen!« Vorsichtig betastete Laura die zarten Blütenblätter und musste ihr recht geben.

Aufmerksam betrachtet Laura nun das Gesteck. Es ist tatsächlich so. Nicht die geringste Spur des ­Verwelkens nach elf Monaten. Sollte es sich bei der Rose im Haar des Mädchens vielleicht um ein solches Artefakt handeln? Das wäre eine Erklärung für den Erhaltungs­zustand. Wenn man solche Blumen in München kaufen kann, gibt es sie auch in Frankfurt. Bestimmt aber nicht in vielen Geschäften, das wäre ihr sonst sicher schon aufgefallen. Vielleicht bietet sich hier eine Möglichkeit, auf die Spur des Täters zu stoßen.

Ihr kriminalistischer Eifer ist geweckt. Sie schaltet den Computer ein und tippt »haltbare Rosen« in die Suchmaschine. Sofort werden mehrere Seiten aufgerufen, in denen verschiedene Online-Firmen ihre Produkte anbieten. Ernüchtert muss sie feststellen, dass es so einfach wohl doch nicht geht. Alle haben gefrier­getrocknete Blumen in großer Auswahl im Angebot, vor allem rote Rosen scheinen der große Renner zu sein.

Das Klingeln an der Haustür unterbricht ihre Nachforschungen. Über die Sprechanlage erfährt sie, dass der erwartete Besuch eingetroffen ist. Eine nette Stimme, denkt sie und ist erleichtert. Ein bärbeißiger, altgedienter Polizist würde ihr jetzt überhaupt nicht passen. Sie drückt den Summer und nimmt die zierliche kleine Frau in Augenschein, die kurz darauf vor der Tür steht. Laut Ausweis handelt es sich um Iris Kirchner. Der Name passt. Alles an ihr ist filigran. Schwarze, zum klassischen Bob geschnittene Haare umranden ein blasses Gesicht und stehen verblüffend im Gegensatz zu ihren leicht schräg geschnittenen Augen in einem so tiefen Blau, dass es fast ins Violette spielt. ­Irisaugen. Lauras Großmutter hatte solche Augen; seit ihrem Tod vor 28 Jahren hat sie diesen Farbton nie mehr gesehen. Diese Farbe gefiel ihr als Kind viel besser als das dunkle Braun ihrer eigenen, Erbteil des Vaters, dessen Gene dominierten. Kuhaugen, dachte sie immer, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, und konnte ihnen nie etwas abgewinnen. Bis der erste Freund ihre »wunderschönen, sanften Rehaugen« bewunderte. Das half, sich damit abzufinden.

Vielleicht ist ihr die Polizistin wegen dieser Augen auf Anhieb sympathisch, vielleicht ist es aber auch ihr freundliches, dabei energisches Auftreten. Sie kommt jedenfalls ohne Umschweife zur Sache und bittet um detaillierte Schilderung des Auffindens, während sie ein kleines Aufnahmegerät einschaltet. Da Laura den genauen Ablauf bereits rekapituliert hat, kann sie präzise berichten und wird auch nur von wenigen Zwischen­fragen unterbrochen.

Iris Kirchner nickt, als der Bericht zu Ende ist. »Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?«

»Doch.« Jetzt kann Laura den Trumpf aus dem Ärmel ziehen und informiert über ihre Vermutung, die Rose sei vermutlich gefriergetrocknet. Zum Beweis stellt sie das kleine Gesteck auf dem Tisch und registriert zufrieden die Überraschung.

»Das ist vielleicht ein Hinweis«, ihr Gegenüber tippt auf die Blüte, »da könnte man ansetzen, wenn sich das bewahrheitet.«

Allerdings muss Laura den aufkommenden Optimismus dämpfen und weist auf ihre eigene Recherche hin.

»Trotzdem, besser als gar nichts ...« Sie fixiert Laura mit ihren erstaunlichen Augen. »Ist Ihnen vielleicht noch mehr aufgefallen?«

Hätte ich doch schon gesagt, denkt Laura leicht eingeschnappt, doch ihr fällt tatsächlich noch etwas ein. »Die Rose passt nicht.«

»Inwiefern?«

»Im Haar der Skulptur ist keine Rose, sondern drei ziemlich unscheinbare Blüten, da bin ich mir ziemlich sicher. Das ist doch merkwürdig. Ansonsten war der Körper nämlich absolut identisch abgelegt und bekleidet. Das kann doch kein Zufall sein, sieht eher nach Kalkül aus. Als wollte der Täter damit einen Hinweis geben.«

»Sollte es sich tatsächlich so verhalten, werden wir der Sache natürlich nachgehen«, verspricht die Polizistin und stoppt den Recorder.»Für heute ist es genug, aber richten Sie sich darauf ein, dass wir Sie möglicherweise noch einmal brauchen.«

Laura nickt. »Jederzeit. Ich bin sehr neugierig, was hinter dieser furchtbaren Sache steckt. Meiner Ansicht nach ist es die Tat eines Psychopathen.«

»Alle Mörder, die aus Kalkül töten, sind Psychopathen, das ist meine Ansicht«, entgegnet die Polizistin entschieden, während Laura sie zur Tür begleitet. »Selbst diejenigen, denen volle Zurechnungsfähigkeit bestätigt wird, haben eine psychische Deformation, sonst könnten sie sich nicht über die Hemmschwelle des Tötens hinwegsetzen.«

Wieder alleine, denkt Laura über die Worte nach. Irgendwie hat Iris Kirchner recht, irgendwie aber auch nicht. Eine Hemmschwelle gibt es gewiss, da braucht man nur ins Tierreich zu schauen. Angehörige derselben Art vermeiden es, sich untereinander zu töten. Selbst bei vehementesten Rangordnungskämpfen ist der Tod des Kontrahenten eher ein unglücklicher Zufall. Sonst würden Hirsche nicht ihre Geweihe verhaken, um ihre Kraft zu messen, sondern versuchen, die scharfen Spitzen dem Gegner in die Flanke zu stoßen. Instinktverhalten nennt man so etwas wohl, das dem Schutz der eigenen Art dient. Da sind offenbar der Menschheit einige Instinkte abhandengekommen. Andererseits können außergewöhnliche Situationen ein anderes Verhalten hervorrufen. Sie erinnert sich an einen Artikel, in dem beschrieben wurde, dass Ratten bei Überbevölkerung und Nahrungsknappheit den eigenen Nachwuchs fressen. Im Gegensatz zu den Tieren ist dem Menschen jedoch Verstand genug gegeben, die Folgen seines Tuns einschätzen zu können. Es muss sich also tatsächlich um einen psychischen Defekt handeln, wenn dieser Mechanismus außer Kraft gesetzt wird. Was wiederum zum Anfang führt: Was bringt jemanden dazu, erst einen Mord zu begehen und dann alles daran zu setzen, um den Anschein zu erwecken, es sei eigentlich nichts passiert? Vielleicht ein Mord aus Eifersucht, nach dem Motto: »Wenn ich dich nicht haben kann, soll es auch kein anderer«, der dann Reue nach sich zog? Das kommt ihr nicht unwahrscheinlich vor, und sie beschließt, mit Thomas darüber zu reden und außerdem spätestens übermorgen nach dem Resultat der Autopsie zu fragen, sollte er sich nicht vorher melden.

Kurz überlegt sie, Renate noch anzurufen, um sie über das Geschehen zu informieren. Doch für heute ist es genug. Lieber ein gemütlicher Fernsehabend, um abzuschalten. Sie zappt durch die Kanäle und bleibt bei einem Komiker, pardon: Comedian hängen, wie man diese Gattung auf Neudeutsch bezeichnet. Leider verplätschert dessen Darbietung seicht im Sande, sodass sie sich mit einem Glas Wein und dem satirischen Wochenrückblick ins Bett zurückzieht, um zu erfahren, was wieder einmal schief gelaufen sei.

3

Als sie am nächsten Morgen aufwacht, fühlt sie sich wie gerädert. Das Nachthemd ist völlig verschwitzt und das Bettzeug so zerwühlt, als hätte ein Nahkampf stattgefunden. Dunkel erinnert sie sich, in einem verwahrlosten Haus nach dem Ausgang gesucht und sich in einem Labyrinth wiedergefunden zu haben. Es war ein Endlostraum, aus dem sie mehrmals hochschreckte, aber sofort wieder einschlief und weiter­träumte. Sie geht ins Bad, beugt sich über das Waschbecken und schüttet sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht. Als sie in den Spiegel schaut, fühlt sie sich keineswegs besser. Eine blasse ältere Frau mit wirren Haaren und dunklen Ringen unter den Augen blickt ihr entgegen. Auch die Falten kommen ihr tiefer vor als sonst. Nun gut, da lässt sich etwas tun. Eine Feuchtigkeitsmaske kann einiges bewirken. Christoph hatte sich immer amüsiert, wenn sie ihre Schönheitstour machte, wie er es nannte, und versichert, das habe sie gar nicht nötig. Ihr schienen jedoch Zweifel angebracht, denn allzu deutlich machten sich langsam, aber sicher die Spuren des Alters bemerkbar.

Damit hatte sie in ihrer Jugend überhaupt nicht gerechnet, mit 17 empfand sie bereits 30jährige als ziemlich betagt. Altern war etwas, das andere betraf. Alte Menschen brauchten sich ohnehin nicht mehr ums Aussehen zu kümmern, da war sowieso alles zu spät. Welche Fehleinschätzung! Jetzt gehört sie dazu und kümmert sich sehr ums Aussehen. Aber das teilt sie mit der Mehrheit ihrer Altersgenossinnen, denn kaum eine findet sich so ohne Weiteres mit den unangenehmen Begleit­erscheinungen der zunehmenden Jahre ab. Außer Renate. Die hat als Einzige offenbar keine Probleme mit Äußerlichkeiten. Damit ist sie das genaue Gegen­teil ihrer glamourösen Mutter, die Schönheit, Charisma und Charme bis zu ihrem Lebensende bewahrte. Und selbst dieses war spektakulär: Bei der Gala zu ihrem 75. Geburtstag stolperte sie über ein Kabel und stürzte von der Bühne. Beim Aufprall erlitt sie einen Schädelbasisbruch, der nach einwöchigem Koma zum Tode führte.

Abgesehen von ihrem scharfen Intellekt ist dagegen an Renate so gar nichts Spektakuläres. Mittelgroß, mittel­braunes Haar, mittlerweile graumeliert, mittelmäßiges Aussehen. Dabei hätte sie Potential, so kommt es zumindest Laura immer vor, aber sie ist eine der Frauen, »die nichts aus ihrem Typ machen«, wie es die einschlägigen Magazine formulieren. In alten Filmen gibt es eine wiederkehrende Szene: Irgendein Schönling nimmt der blaustrümpfigen Sekretärin die überdimensionale Hornbrille ab, die Klammer aus dem Haar und schon verwandelt sich die Raupe in einen Schmetterling. Renate hat an solche Metamorphosen offenbar nie den geringsten Gedanken verschwendet, vielleicht um der Mutter keine Chance auf die Hoffnung zu geben, sie könne einst in ihre Fußstapfen treten. Laura nimmt sich vor, dieses Thema bald einmal anzusprechen, denn sie wüsste doch zu gerne, weshalb ihre Freundin in dieser Angelegenheit so ein Desinteresse an den Tag legt.

Kritisch betrachtet sie sich im Spiegel. Die braunen Augen, ein voller Mund, leicht gewelltes, halblanges Haar, dessen Dunkelblond langsam vom Grau überdeckt wird. Christoph hat vom Färben überhaupt nichts gehalten. »Steh zu deinem Alter«, versuchte er sie zu überzeugen. »Graue Haare und Falten sind schön. Gelebtes Leben. Schau dir doch nur die operierten Gesichter an, mit aufgespritzten Lippen, zentimeterdickem Make-up und wallendem Blondhaar. Möchtest du so aussehen?« Und als er hinzufügte, dass er sie genau so liebe, wie sie sei, war sie sehr gerührt und nahm sich vor, das Unausweichliche tapfer hinzunehmen.

Leider sagt ihr das heute niemand mehr, und trotz aller Anstrengungen will es ihr nicht so richtig gelingen, Falten schön zu finden. Daran ist unerfreulicherweise nur wenig zu ändern, aber ändern lässt sich etwas anderes. Heute, entscheidet sie, heute werde ich wenigstens meine alte Haarfarbe zurückbekommen. Die Frisur bleibt so, wie sie ist, ab und zu etwas kürzen, fertig. Das kann sie zur Not auch selber. Färben ist etwas anderes, da gibt sie sich lieber in die Hände eines Fachmanns. Es wimmelt hier von Friseurläden. Einer wird sie bestimmt drannehmen, ohne lange Wartezeiten.