Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit - Bernardo Gut - E-Book

Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit E-Book

Bernardo Gut

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Beschreibung

Die in diesem Buch vereinigten Aufsätze verdanken ihre Entstehung dem lebenslangen Auftrag, jeden Menschen als sich entwickelnde freie Persönlichkeit zu verstehen, die auf einem potenziell beständigen Ich-Kern fußt. Stets geht es Bernardo Gut darum, den involvierten Einzelnen kritisch zu begleiten, ihn zu fördern - und dessen Ringen nach Unabhängigkeit wohlwollend anzuerkennen. Bernardo Gut widmet sich den ihn immer wieder intensiv beschäftigenden individualitätsrelevanten Fragen und Anliegen: Welche Grundphänomene treten auf, wenn zwei Individuen etwas vereinbaren? - Was heißt »Existenz« bei rein gedanklichen Inhalten? - Welche logisch einsehbaren Erwägungen haben bestimmte Denker zur Auffassung geführt, es gebe immer-währende Wesen? - Wie kann ein Intellektueller nach einem ihn erschütternden Zusammenbruch seiner vertrauten Alltagswelt innere Selbstgewissheit erringen? - Was vermag ein Einzelner angesichts der ihn bedrängenden, mächtigen Wir-Gruppen und welches sind seine Pflichten gegenüber seinesgleichen? - Wann entspringt im Einzelnen eine wahrhaft freie Selbstbewegung und führt zur Selbstgestaltung? - Welche Erfahrungen und Reflexionen können naturwissenschaftlich Geschulte veranlassen, die Realität rein ideeller Inhalte anzuerkennen?

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BERNARDO GUT

Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit

Urphänomene sich entwickelnder freier Persönlichkeiten

VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

Für Regula, in Liebe und Dankbarkeit.

INHALT

Cover

Titel

Vorwort

Urphänomene der Rechtssphäre I

Grundlagen, relative und absolute Rechte

Abstract

Einleitung

1.Rechtliche Gebilde – Gegenstand positiver Rechtsprechung

2.Ein Versprechen – und was es impliziert

3.Soziale Akte – ihre Bedeutung für die Erwahrung eines Versprechens

4.Relatives und absolutes Erlöschen des Anspruches

5.Antonio und Shylock – Einbindung des Versprechens in die gesamte Rechtssphäre

6.Bestimmungen positiven Rechts – im Widerspruch zu rechtlichen Urphänomenen?

7.Verzichten – Ausüben eines absoluten Rechtes

8.Zusammenfassung und Ausblick

Anmerkungen

Urphänomene der Rechtssphäre II

Korrelative Rechtsrelationen und fundamentale Menschenrechte

Abstract

Einleitung

1.Kennzeichen der Rechtssphäre

2.Negieren als Ursprung des Rechtsbewusstseins

3.Fremdwahrnehmung als Grundlage von Rechtsbeziehungen

4.Fundamentale Menschenrechte

Anmerkungen

Urphänomene der Rechtssphäre III

Die Idee einer Gesamtheit freier, selbständiger Einzelner

Abstract

1.Vom inneren Abstand und dem Kampf um individuelle Menschenrechte

2.Erklärung über Menschenrechte im Islam

3.Der selbständige, unabhängige Einzelne – bedrängt, ausgestoßen, verfolgt

Anmerkungen

Widerspruchsfreiheit und Existenz

Anselms Argument zur Existenz Gottes und Finslers Mengenlehre

Summary: Consistency and Existence

Einleitung

1.Existenznachweis und konkretes Aufzeigen in der Zahlenlehre

2.Anselm von Canterburys Argument zur Existenz Gottes

2.1. Anselms drei Schritte.

2.2. Anselms drei Voraussetzungen

3.Einwände Gaunilos und Anselms Replik

4.Einwände Kants, Freges und Brentanos

4.1. Kant

4.2. Frege

4.3. Brentano

5.Finslers Entdeckung seltsamer Mengen

5.1 Finslers Ausgangspunkt

5.2 Die größte Ordnungszahl

5.3 Die Menge aller Mengen

6.Anselms Argument und Finslers Existenzbegriff

7.Vorstellen, Urteilen, Behaupten – und aktives Vernehmen

Zusammenfassung

Anmerkungen

Logische Klarheit und existenzielle Gewissheit

Abstract

Einleitung

I.Vom Selbstverlust zur werdenden Gewissheit

1.Alltägliches – Scheinbar Belangloses

2.Stufen des Vertrauens – Tiefe der Erschütterung

3.Rettender Abstand – Wissen um Gebrechlichkeit

4.Logische Sicherheit – Werdende Gewissheit

II.Stufen reflektierter Selbstgewissheit

5.Von der Ahnung zur Behauptung

6.Implizit Gefordertes – Explizit Behauptetes

7.Primat impliziter Aussagen

8.Vier immanente Prinzipien einer Behauptung

9.Erfüllbare – Nicht erfüllbare Zirkel

10.Gesetzte Intention – Erkanntes Gesetz

III.Gewissheit intellektueller Zukunftsaussagen?

11.Postulate – Axiome – Folgesätze

11.1. Logik als beweisende Wissenschaft

11.2. Mathematische Erkenntnisse als Folge frei gesetzter Postulate

11.2.1 Euklids Elemente

11.2.2 Finslers Mengenlehre

IV.Stufen individueller Persönlichkeitsentwicklung

12.Fünftes immanentes Prinzip – Nichts bleibt folgenlos

13.Ich-Stärke als Quelle der Selbstlosigkeit

Anmerkungen

Analysing Leibniz’s Approach to Space, Time, and the Origin of Self-Motion

Abstract

Kurzfassung

Introduction

1.Leibniz’s first concepts of place and time

2.Co-existence, the relation of difference, and the ‹inner nature› of things

3.Degrees of difference – Steiner’s qualitative dimensions of space

4.Leibniz and Steiner on time – and Leibniz’s idea of a true movement

5.The origin of self-motion according to Plato, Aristotle, and Plotinus

5.1 Plato: the soul – immortal origin of self-motion

5.2 Aristotle: the prime mover – unmovable inducer of motion and time measurement

5.3 Plotinus: the activity within rest – unfolding in time an image of eternity

6.Divine priority of nature – up-welling of time, and human priority of time

Conclusion

Footnotes

Zwingende Plausibilität?

Analyse ausgewählter Argumente Steiners zur Anerkennung geistiger Sphären

Abstract

Einleitung

1.Immanent-logisches Überprüfen standortbedingter Auffassungen

1.1 Von standortbedingten Ansichten zur übergeordneten Anschauung

1.2 Drei charakteristische Erkenntnisintentionen

2.Psychische und physische Phänomene, Sinnesmodalitäten, Sinnesenergien

2.1 Psychische Phänomene, Stimmungen, physische Phänomene

2.2. Sinnesmodalitäten, Sinnesorgane, spezifische «Sinnesenergien»

2.3. Zusammenfassung der eingeführten Differenzierungen

3.Relevanz verschiedener Formen von in obliquo Wahrnehmungen

4.Gibt es einen gemeinsamen Ursprung von Sinnesgegenstand und Sinnesorgan?

5.Analogisches Extrapolieren

6.Beurteilung der referierten, teilweise erweiterten Gedankengänge Steiners

Zusammenfassung

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Namenregister

Impressum

VORWORT

Die in diesem Buch vereinigten Aufsätze verdanken ihre Entstehung meinem lebenslangen Auftrag, jeden Menschen als sich entwickelnde freie Persönlichkeit zu verstehen, welche auf einem potenziell beständigen Ich-Kern fußt. Jeder der Beiträge widmet sich bestimmten individualitätsrelevanten Fragen und Anliegen selbstgesetzter Erkenntnisziele, eigenständiger Lebensgestaltung, wechselseitiger Vereinbarungen unabhängiger Persönlichkeiten.

Die ersten drei Aufsätze handeln von Urphänomenen und Gesetzmäßigkeiten der allein uns Menschen zugänglichen Rechtssphäre. So geht es u.a. um die Fragen: Welche Grundphänomene treten auf, wenn zwei Individuen etwas vereinbaren? Und was vermag ein Einzelner angesichts der ihn eingrenzenden Behörden und mächtigen Wir-Gruppen – und welches sind seine Pflichten gegenüber Seinesgleichen?

Im vierten Beitrag geht es um Erkenntnisinhalte rein gedanklicher Natur. Inwiefern können wir bei mathematischen Inhalten und logischen Einsichten von ‹Existenz› sprechen? Und welche logischen Erwägungen haben bestimmte Denker veranlasst zu behaupten, es gebe immerwährende Wesen?

Der fünfte Aufsatz befasst sich mit der Frage, wie ein Intellektueller in einer tiefen, existenziellen Krise von Grund aus innere Selbstgewissheit erringen könne. Welche Bedeutung kommt dabei der abstrakten, puren Denktätigkeit zu und welche Rolle spielt die logische Sicherheit seiner einsamen Gedankengänge?

In den zwei letzten Aufsätzen geht es wiederum um grundlegende gedankliche Inhalte. Im sechsten Beitrag untersuche ich Leibniz’ Zugang zum Verständnis der Ideen des Raumes und der Zeit sowie zur Frage, wie eine wahre, freie Selbstbewegung zu denken und realiter zu vollziehen bzw. zu erfahren sei. Und im abschließenden, siebten Aufsatz gehe ich anhand von Überlegungen Steiners der Frage nach, welche Erfahrungen und Reflexionen naturwissenschaftlich Geschulte veranlassen können, die aktive Präsenz rein ideeller Sphären anzuerkennen.

Stets geht es mir darum, den involvierten Einzelnen kritisch zu begleiten, dessen Ringen nach Unabhängigkeit zu fördern. –

Mein Dank gilt vor allem Herrn Jean-Claude Lin, der es gewagt hat, dieses Buch in das Programm des Verlags Freies Geistesleben, Stuttgart, aufzunehmen. Herrn Thomas Neuerer danke ich herzlich für die freundliche Zusammenarbeit und die geduldige, verständnisvolle Gesamtgestaltung des Buches. Ferner danke ich Frau Susanne Störmer und dem Franz Steiner Verlag, Stuttgart, die mir gestattet haben, den Aufsatz «Analysing Leibniz’s Approach to Space, Time, and the Origin of Self-Motion», Studia Leibnitiana, Bd. 49, H. 1 (2017), pp. 75–95, in diesem Buch als sechsten Beitrag abzudrucken.

Basel, den 8. Mai 2021

Bernardo Gut

URPHÄNOMENE DER RECHTSSPHÄRE I

Grundlagen, relative und absolute Rechte

Verissimum illud, omnia incerta esse,

simul a iure recessum est. –

Wahr in höchstem Maße ist dies,

dass alles unsicher ist,

sobald vom Recht abgewichen wird.

Hugo Grotius1

Abstract

Are there any a priori laws in the Legal Sphere, in other words: fundamental phenomena solely inherent to the Realm of Rights and Justice which are completely independent of the prevailing external power relations? Taking up the ground-breaking investigations of Adolf Reinach (23.12.1883 – 16.11.1917), the following applies with respect to relative rights:

1. There exist, indeed, legal structures complying to essentially intrinsic laws which remain independent of external influences, and, above all, are unaffected by any kind of arbitrariness.

2. In the case of a relative legal structure beginning with a promise and leading to a contract, the latter’s validity rests on a social act encompassing the following steps:

a) The person who has decided to promise something to another individual must express either verbally or in writing, what he is willing to promise;

b) The addressee must learn, i.e. become aware of the expressed promise, and understand it.

3. The addressee’s claim – or rather, the liability assumed by him who promised, can be discharged in two ways:

a) If he who made the promise, has kept it;

b) If the addressee renounces to the fulfilment of his claim.

4. When the addressee renounces his claim, he asserts an absolute right – there being nothing equivalent to it on the side of him who bound himself with his promise. From a psychological viewpoint, he who renounces dissolves the relation he had tied on behalf of the promise, whereas he who meets the claim lifts, i.e. cancels with the fulfilment the relation.

5. The actual legal validity of a promise or a contract does also depend on its real content: it can be reduced in scope or completely abolished on two grounds:

a) If the content of the promise or contract stands in overt contradiction to the acknowledged fundamental principles of law and – or rather – does not respect the ethical conventions the community in question unanimously holds to be basic.

b) If the positive, established law of a community of rights contains determinative regulations, which prevent that certain formal a priori or material implications be derived from a promise or a contract that has come about.

6. Looking at what has been referred to in points 4. and 5., we are consequently led to a further fundamental legal phenomenon – that it is neither feasible to adequately consider a concrete promise nor to judge correctly a definite contract without taking into account the entire Realm of Rights and Justice they are embedded in.

7. The fundamental phenomena I have dealt with are of a strictly a priori nature, but they concern only relative legal structures – insofar as they entail a content of positive social character. In stark contrast to this quality, I have also hinted at the absolute right to renounce a claim, which offers a remarkable example of a fundamental legal phenomenon the content of which comprehends a clearly negative social character. This finding raises two questions:

(i) Can we conceive absolute rights having a content with a definitely positive social character?

We have furthermore seen that if promises and contracts are to be accepted and be valid in a given legal community, their real content has to be in accordance with certain legal principles and ethical views the community considers to be essential. This carries us to a second question:

(ii) Providing that we conceive the human individual as a putative personality rooted in a potentially perennial individuality, wherefrom it emerges, develops, and progresses – can we then establish absolute legal structures, essential for an individual person, which are completely independent of the various, mutually differing legal communities?

These questions open a vast field of investigations I’m partly outlining in the following two essays.

Einleitung

«Alle Begründungen von bestimmten Rechten, wie sie z.B. die Naturrechtlehrer versuchten, sind Sophistereien. Alles Recht hat seinen Ursprung in der Macht. Der Stärkere überwindet den Schwächeren und drängt ihm seinen Willen auf. Dieser richtet sich nach jenem; was der erstere will, gilt als Recht. Nachdenken darüber, ob jemand ein Recht wirklich zustehe, beruht auf einem Verkennen dieses Charakters des Rechtes. Wie lange ein Recht gilt, kann nur davon abhängen, wie lange derjenige, der sich das Recht erobert hat, es zu verteidigen im Stande ist.» Diese Sätze schrieb R. Steiner (1861–1925) als erläuternde Fußnote zu J. W. v. Goethes (1749–1832) Aphorismus: «Welches Recht wir zum Regiment haben, danach fragen wir nicht – wir regieren. Ob das Volk ein Recht habe, uns abzusetzen, darum bekümmern wir uns nicht – wir hüten uns nur, dass es nicht [sic!] in Versuchung komme, es zu tun»2.

Gehen wir von diesen Behauptungen bzw. Maximen aus, so müssen wir annehmen, dass weder der gefeierte Entdecker der Existenz von Urphänomenen sinnlicher Modalität, der auch den Ausdruck ‹Urphänomene› geprägt hat3, noch sein namhafter Interpret, dessen erklärtes Ziel es war, die dem phänomenologischen Ansatz Goethes entsprechende Erkenntnistheorie zu formulieren, in Hinblick auf die Rechtssphäre das Bestehen – geschweige die Relevanz – eines Sachverhaltes anzuerkennen bereit gewesen wäre, der dem Einen wie dem Anderen im Bereich des Physikalisch-Chemischen als das Wertvollste gegolten hat: das Vorhandensein sachbezogener, objektiver Urphänomene oder Grundgesetze. Es sei denn, wir fassten als rechtliches Urphänomen eben dies auf, dass jegliche effektive Rechtssatzung die aktuellen Machtverhältnisse widerspiegle, eine Lesart, die freilich dazu führte, dass wir dem Terminus ‹Urphänomen› in rechtlicher Hinsicht einen bloß übergeordnet-formalen Sinn, nicht jedoch eine inhaltlich-konkrete Bedeutung zuerkennen würden.

Hervorheben möchte ich, dass die zitierte Aussage Steiners nicht episodischer Natur ist. So bemerkt er an anderer Stelle: «Es gibt keine allgemeinen Gesetze darüber, was man tun soll und was nicht. Man sehe nur ja nicht die einzelnen Rechtssatzungen verschiedener Völker als solche an. Sie sind auch nichts weiter als der Ausfluss individueller Intentionen. Was diese oder jene Persönlichkeit als sittliches Motiv empfunden hat, hat sich einem ganzen Volke mitgeteilt, ist zum Recht dieses Volkes geworden»4. Damit zusammenhängend, geht Steiner so weit, dass er der Rechtskunde jeglichen Wissenschaftscharakter abspricht: «Die Jurisprudenz ist keine Wissenschaft, sondern nur eine Notizensammlung jener Rechtsgewohnheiten, die einer Volksindividualität eigen sind»5.

Die angeführten Überlegungen Steiners gehören dem Frühwerk an, stammen aus seinem Wirken vor der Jahrhundertwende. In seinen späteren Jahren hat er bei seinem Entwurf einer Dreigliederung des sozialen Organismus eine Sphäre – Steiner spricht von ‹System› – öffentlichen Rechts definiert, «wo man es zu tun hat mit dem rein menschlichen Verhältnis von Person zu Person», und in diesem Kontext habe man «zu erstreben die Verwirklichung der Idee der Gleichheit»6. Aber auch dieser Idee kommt nur eine allgemeine regulative Bedeutung zu; sie ist ein Leitgedanke, kein inhaltlich konkretes Urphänomen.

Nicht nur lehnte es Steiner ab, anzuerkennen, dass es der Rechtssphäre eigentümliche, allgemein gültige Grundgesetze gibt, er verwarf auch jegliche Ethik als Normwissenschaft7. Diesbezüglich war Goethe weniger explizit; irritierend wirkt allerdings, dass er beispielsweise nichts von den Vorstößen hielt, die Kapitalstrafe nicht mehr zu verhängen. So notierte er: «Wenn man den Tod abschaffen könnte, dagegen hätten wir nichts; die Todesstrafen abzuschaffen, wird schwer halten. Geschieht es, so rufen wir sie gelegentlich wieder»8. Und: «Wenn sich die Sozietät des Rechtes begibt, die Todesstrafe zu verfügen, so tritt die Selbsthilfe unmittelbar wieder hervor, die Blutrache klopft an die Tür»9. Steiner, der ansonsten sehr beflissen war, Goethes Sprüche in Prosa ausführlich zu kommentieren, hat sich über diese von kühler Skepsis oder bloßem Regierungskalkül diktierten Zynismus hinweggeschwiegen; was um so auffallender ist, als er die den zitierten Sprüchen unmittelbar vorangehenden und die auf sie folgenden Aphorismen Goethes mit teilweise langatmigen Fußnoten versehen hat.

Die im Voraufgegangenen angeführten Äußerungen Steiners und Goethes zeigen mit ernüchternder, je erschreckender Deutlichkeit, dass wir bei der Suche nach inhaltlich verbindlichen Urphänomenen der Rechtssphäre und nach einer ethischen, wesensgemäßen Grundlegung der Menschenrechte uns weder direkt auf die denkerischen Ansätze Steiners berufen können, noch eine explizite moralische Stütze in Aussagen Goethes finden werden. Wer, enttäuscht, daraufhin das Schrifttum vieler anderer, zeitgenössischer und insbesondere «klassischer», Denker konsultiert, dürfte über ähnliche unbehagliche Erfahrungen zu berichten haben. Sehen wir uns kurz bei vier Philosophen um:

Wie könnten wir uns bezüglich der genannten Fragen auf Platon berufen, der die Sklavenhaltung als selbstverständlich hinnahm?10. Was müssen wir von Thomas von Aquin halten, der die rücksichtlose Ausrottung der Häretiker propagierte?11 Mit welcher Skepsis müssen wir Hegels Werk begegnen, der die damalige, autoritäre Gestalt des preußischen Staates zu rechtfertigen suchte?12 Und was dürfen wir von Heidegger übernehmen, ohne Gefahr zu laufen, unbemerkt nationalsozialistische Gedankenkeime mitzuverwenden?13

Damit stehen wir vor der Frage, ob wir tatsächlich nur zwischen einem willkürlich gesetzten kategorischen Imperativ, der, pointiert gesagt, den Einzelnen festnagelt14 – und einem simplifizierten ethischen Individualismus15, der jegliche allgemeine Verbindlichkeit vermissen lässt, wählen können. Oder gibt es ein Drittes, nämlich objektive Rechtsgesetze, die dem ethisch Unfreien zwar vorgeschrieben werden müssen, die sich jedoch auch der Freie zu eigen macht, weil er deren grundlegende Bedeutung einsieht?

Sollte Letzteres zutreffen, so bestünde unsere Aufgabe darin, in freier Erkenntnisarbeit jene Rechtsgesetze aufzudecken, die einerseits an sich bestehen, anderseits auch äußerlich gelten müssen, soll sich jedes einzelne menschliche Individuum grundsätzlich zu einer freien Persönlichkeit entwickeln können. Sofern die gesuchten Gesetze einen derartigen Prozess fördern bzw. erst ermöglichen, hätten sich zwar die oben angeführten Ansichten Steiners über das Rechtswesen hinsichtlich der apriorischen, rein gedanklichen Ebene als unhaltbar herausgestellt, dieser Mangel hieße jedoch nicht zwingend, dass die erkenntnistheoretischen und freiheitsphilosophischen Ansätze Steiners und Solov’evs16 mit den – vorerst noch hypothetischen – Urphänomenen der Rechtssphäre unvereinbar seien. Wie es sich diesbezüglich verhält, wird sich erst im Laufe der Untersuchung erweisen.

Da die Probleme, um die es in diesem ganzen Kontext geht, außerordentlich vielschichtig sind, will ich mich in diesem Aufsatz auf eine einzige Frage konzentrieren: Gibt es objektive, apriorische Rechtsgesetze, d.h. rechtliche Urphänomene?

Gäbe es keine rechtlichen Urphänomene, könnte in der Rechtssphäre nie prinzipiell argumentiert werden; wir wären stets an willkürlich gesetzte Ausgangssätze gebunden, die sich je nach den Ortsgegebenheiten und den Zeitumständen ändern würden, das heißt: sich nach den herrschenden Machtverhältnissen richteten. Ließen sich jedoch echte rechtliche Urphänomene aufweisen, dann würde ein auf verbindlichen Prinzipien fundiertes Rechtsdenken etabliert. Dies müsste sich – wenngleich langsam und durch Rückfälle immer wieder bedroht und behindert – sowohl auf die positiv rechtliche Gesetzgebung als auch auf die bürgerliche Rechtsprechung fördernd und korrigierend auswirken.

Solange die angeführte, grundlegende Frage nicht geklärt ist, vermögen wir auch nichts Verbindliches darüber auszusagen, ob es, beispielsweise, ein objektives, apriorisches Recht auf Eigentum gibt, oder, allgemeiner gefasst, ob es überhaupt Sinn macht, von Menschenrechten zu sprechen – diese verstanden als apriorische, wesensgesetzlich verankerte Urphänomene. Und wenn wir einsehen müssten, dass es aus gegenstandsimmanenten Gründen weder formale noch inhaltliche Rechtsprinzipien geben könne, hieße dies, dass das gesamte Rechtsdenken eines echten theoretischen Fundaments entbehrt und sämtliche Rechtssatzungen – paradoxerweise: notwendig – entweder einem Diktat entspringen oder auf letztlich unverbindlichen Konventionen beruhen. Wie auch immer die Antwort ausfallen mag: erkenntnistheoretisch steht viel auf dem Spiel, und die Konsequenzen in handlungspraktischer Hinsicht sind beträchtlich.

1. Rechtliche Gebilde – Gegenstand positiver Rechtssprechung17

In seiner Abhandlung «Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes» (1913) geht Adolf Reinach davon aus, dass die in einem bestimmten Gemeinwesen als verbindlich anerkannten Rechtssatzungen sich in ständigem Fluss und fortlaufender Veränderung befinden. Maßgebend für die Rechtsentwicklung seien die unentwegt wechselnden wirtschaftlichen Verhältnisse und Bedürfnisse sowie die in der Gemeinschaft vorherrschenden sittlichen Anschauungen. So unterscheiden sich die positiv-rechtlichen Bestimmungen, die in dem bürgerlichen Gesetzbuch eines bestimmten Staates enthalten sind, ganz wesentlich von naturwissenschaftlichen und namentlich von mathematischen Sätzen. Dass – um ein Beispiel zu nennen – innerhalb des Rahmens der euklidischen Geometrie beim rechtwinkligen Dreieck die Fläche des Hypotenusen Quadrates gleich der Summe der Flächen der beiden Kathetenquadrate ist, «das ist ein Zusammenhang, der von manchen Subjekten vielleicht nicht eingesehen wird, der aber unabhängig von allem Einsehen besteht, unabhängig von der Setzung der Menschen und unabhängig von dem Wechsel der Zeit»18.

Sehen wir uns demgegenüber folgende Bestimmung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches über «Verwaltung, Nutzung und Verfügung von Errungenschaft und Eigengut im ordentlichen Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung» innerhalb des Familienrechts an. Art. 201 lautet: «Innerhalb der gesetzlichen Schranken verwaltet und nutzt jeder Ehegatte seine Errungenschaft und sein Eigengut und verfügt darüber»19. Dies ist der seit dem 1.1.1988 gültige Gesetzestext. Nach dem alten Eherecht lauteten die entsprechenden Bestimmungen folgendermaßen: Art. 200: «Der Ehemann verwaltet das eheliche Vermögen. Er trägt die Kosten der Verwaltung …»20 Und Art. 201: «Der Ehemann hat die Nutzung am eingebrachten Frauengut und ist hieraus gleich einem Nutznießer verantwortlich»21.

Deutlich ist erkennbar, dass früher etwas als rechtlich «richtig» galt, das, von der heute vorherrschenden sittlichen Auffassung aus betrachtet, als befremdliches Unrecht erscheint. Aber so wenig die frühere Bestimmung sich als immanent wahr und als unabhängig vom Wechsel der Zeit erwies, so wenig dürfen wir den gegenwärtig geltenden Gesetzeswortlaut als unabänderlich ansehen; und selbst wenn er es wäre – seine aus Inhalt und Form sich zusammensetzende Gesamtgestalt verdankt er der Einsicht der Gesetzgeber und deren Willen, das für richtig Befundene als verbindlich zu erklären.

Sofern wir nur bei derartigen Fallbeispielen der Rechtssetzung bleiben, können wir die Jurisprudenz in der Tat als eine bloße «Notizensammlung von Rechtsgewohnheiten» auffassen. Anders sieht es jedoch aus, wenn wir Reinach folgen und die rechtlichen Gebilde als solche untersuchen, welche den Gegenstand der jeweiligen positiven Rechtsprechung bilden. Hierzu gehören Abmachungen; Verträge aller Art; Verbindlichkeiten, die jemandem aufgedrängt worden sind oder die eine Person freiwillig übernommen hat; Ansprüche, die jemandem erwachsen sind oder die ein Subjekt einem anderen gegenüber erhoben hat; oder – anders formuliert – es zählen dazu sowohl Pflichten und Rechte, denen manche Autoren absoluten Charakter beimessen, als auch solche, die allgemein als von relativer Natur seiend anerkannt werden.

2. Ein Versprechen – und was es impliziert

Als Einstieg in die Analyse relativer Pflichten und Rechte wendet sich Reinach dem Phänomen des Versprechens22 zu. Sehen wir uns hierzu folgendes Beispiel an:

Vor einigen Tagen teilte mir C in einem Gespräch mit, er sei daran, einen Aufsatz über Stefan Zweigs Novelle «Angst» zu schreiben; worauf mir einfiel, dass ich ein Buch besitze, welches einen Essay über diese Novelle enthält. Das erwähnte ich C gegenüber, der sofort sein Interesse bekundete, die betreffende Abhandlung kennenzulernen. Darauf sagte ich ihm: (a) «Ich werde morgen Nachmittag das Buch mitbringen und es Ihnen ausleihen.» Als ich jedoch am folgenden Tag in die Schule ging und den auf mich wartenden C erblickte, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich vergessen hatte, das Buch mitzunehmen. Verlegen, konnte ich nur sagen: (b) «Es tut mir leid, ich habe das Buch zu Hause liegen lassen.» C, der eigens gekommen war, um das Buch in Empfang zu nehmen, monierte leicht ungehalten: (c) «Das darf aber nicht wahr sein!»

Ohne von C dazu gedrängt worden zu sein, hatte ich den Satz (a) ausgesprochen und mich dadurch verpflichtet, das in Aussicht Gestellte zu erfüllen. C nahm meine Worte als ernst gemeintes Versprechen auf, und hat daraus den Anspruch hergeleitet, am darauf folgenden Tag das Buch entleihen zu können.

Wie das Beispiel illustriert, entstehen bei einem Versprechen Anspruch und Verbindlichkeit. Daher war es mir selbst peinlich, dass ich das Versprochene vergessen hatte, ein Versehen, welches ich mit dem diffusen: «Es tut mir leid …» zugab. Und deswegen ist es auch verständlich, dass C verärgert reagierte, hatte er doch zu Recht erwarten dürfen, das Buch in Empfang nehmen zu können.

3. Soziale Akte – ihre Bedeutung für die Erwahrung eines Versprechens

Nachdem unser Einstiegsbeispiel gezeigt hat, was ein Versprechen impliziert, wollen wir im Folgenden unsere kleine Geschichte variieren, um der Frage nachzugehen, wie Versprechen zustande kommen und wirksam werden.

Variation Nr. 1: Hätte ich (a) nicht ausgesprochen, sondern mir den betreffenden Satz nur innerlich gesagt, so hätte ich mir zwar etwas vorgenommen, doch C gegenüber in keiner Weise explizit versprochen, und er hätte nichts von meinem stillen Entschluss erfahren. So wäre C weder veranlasst noch befugt gewesen, anzunehmen, er habe einen Anspruch darauf, dass ich ihm ein Buch brächte. Aller Voraussicht nach wäre C am folgenden Tag gar nicht in die Schule gegangen; das tat er – gemäß dem Ausgangsbeispiel – ja nur, weil er das von mir in Aussicht gestellte Buch abholen wollte.

Variation Nr. 2: Angenommen, ich hätte (a) ausgesprochen, doch C habe meine Worte zwar akustisch vernommen, aber deren Sinn nicht erfasst, und er sei zu verlegen gewesen, um mich zu ersuchen, das Gesagte zu wiederholen; darüber hinaus hätte ich selber nicht gemerkt, dass C meine Worten (d.h. den Satz (a)) nicht verstanden habe: Meinem eigenen Verständnis nach wäre ich dann C gegenüber eine Verpflichtung eingegangen; wohingegen C selbst von einem ihm zustehenden Anspruch, den ich zu erfüllen gehabt hätte, nichts gewusst hätte. Der nichts ahnende C wäre daher – aller Wahrscheinlichkeit nach – weder am folgenden Tag in der Schule erschienen, noch hätte er sich später bei mir nach dem Buch erkundigt. Da er sich meines Versprechens nicht bewusst gewesen wäre, hätte C sich auch nicht veranlasst gesehen, einen Anspruch auf die Verwirklichung der von mir geäußerten, aber nicht eingelösten Intention geltend zu machen. Damit wäre in mir das Bewusstsein allmählich erloschen, der – bzw. schon bald nur noch: einer – Verpflichtung nicht nachgekommen zu sein; und nach einer gewissen Zeitspanne hätte sich schließlich in mir die diffuse Erinnerung an ein eingegangenes Versprechen aufgelöst.

Variante Nr. 3: Diese ergibt sich, wenn wir annehmen, C habe meine Worte (a) nicht verstanden, ich aber sei im Glauben gewesen, er habe sie bewusst vernommen und deren Sinn erfasst; worauf ich ihm, einige Tage danach, das Buch ausgehändigt und dabei bemerkt hätte: (d) «Hier das versprochene Buch; zuerst hatte ich ja vergessen, es mitzunehmen, doch nun kann ich es Ihnen endlich aushändigen.» Hierauf könnte C erstaunt erwidern: (e) «Ich bin ganz überrascht; es war mir gar nicht bewusst, dass Sie mir gesagt hatten, Sie würden mir ein Buch über Stefan Zweig mitbringen und ausleihen …» – In diesem Falle würde mir wahrscheinlich blitzartig klarwerden, dass ich irrtümlicherweise geglaubt hatte, gegenüber C eine Verpflichtung eingegangen zu sein; wusste er doch offensichtlich gar nichts davon, dass ich ihm etwas versprochen hatte.

Überblicken wir das Ausgangsbeispiel und die drei skizzierten Abweichungen, so wird deutlich, dass ein Versprechen nur dann zustande kommt und wirksam wird, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind23:

1. Der Versprechende muss das, was er verspricht, klar und deutlich äußern (mündlich oder/und schriftlich);

2. Der Adressat des Versprechens muss das, wozu sich der Versprechende verpflichtet, inhaltlich erfassen.

Nur wenn diesen Forderungen zweifelsfrei Genüge getan wird, entsteht ein Versprechen sensu stricto, und erst daraus ergibt sich eine Verbindlichkeit des Versprechenden in Bezug auf den Adressaten bzw. erwächst diesem ein Anspruch gegenüber jenem. Somit ist das Zustandekommen eines Versprechens an einen sozialen Akt gebunden, an dem sowohl der Versprechende als auch der Adressat (der nicht notwendigerweise mit dem Begünstigten identisch zu sein braucht) beteiligt sein müssen.

Beide bisher besprochenen Komponenten eines Versprechens – nämlich, was es für die involvierten Rechtssubjekte grundsätzlich impliziert und wie es entsteht – gehören zu den wesentlichen Merkmalen des Rechtsbegriffes Versprechen und hängen nicht von irgendwelchen Bestimmungen positiven Rechtes ab.

4. Relatives und absolutes Erlöschen des Anspruches

Verpflichtung und Anspruch, die beide in dem vollständigen sozialen Akt eines rechtskräftig gewordenen Versprechens begründet werden, stellen Rechtsgebilde relativer Natur dar: der Versprechende hat sich in Bezug auf den Adressaten (und nur relativ zu ihm) verpflichtet; worauf Letzterem gegenüber Ersterem (aber keinem Weiteren) ein Anspruch erwachsen ist. Gleichwie das Entstehen dieses Rechtsgebildes sich aus dem Begriff Versprechen wesensgesetzlich, das heißt: von selbst, ergibt, ebenso gelten auch für das Erlöschen des dem Adressaten zugestandenen Anspruches strenge, begriffsimmanente Zusammenhänge. Auseinanderzuhalten haben wir dabei zwei grundsätzlich verschiedene Fälle:

(i) Der Versprochenhabende erfüllt die von ihm eingegangene Verpflichtung: dadurch wird das zwischen ihm und dem Adressaten geknüpfte Rechtsgebilde definitiv aufgehoben.

(ii) Der Versprechensadressat verzichtet auf den ihm zustehenden Anspruch. Indem er seinen Verzicht dem Versprochenhabenden bekanntgibt, entbindet er ihn von dessen Verpflichtung.

Während der Anspruch als solcher ein Recht darstellt, welches dem Adressaten nur erwächst, wenn der Andere ein Versprechen äußert, das der Adressat vernimmt und versteht, kommt diesem das Recht zu, auf die Erfüllung oder Einlösung des Anspruches zu verzichten, unabhängig von irgendwelchen Taten des Versprechenden. Daran zeigt sich, dass das Recht auf Verzicht von absoluter Natur ist24.

Auf der Seite des Versprechenden gibt es dazu – nach vollendetem Versprechensakt – nichts Äquivalentes. Versprach ich leichtsinnig einem Freund, ihm 1.000 CHF zu geben, wenn er schwimmend den Zürichsee von Horgen nach Meilen und wieder zurück in einem Zug und ohne Hilfsmittel überquere, und hat er das Versprechen vernommen, so kann ich mich selbst nicht davon entbinden. Eine Chance, mich von der eingegangenen Verpflichtung zu befreien, hätte ich allenfalls noch, wenn der Freund – nur zu nachsichtig – vor dem «Abgemacht!» noch ein «Im Ernst?» fallen ließe.

Bereits an diesem halb scherzhaften Beispiel zeigt sich, dass die bisher herausgearbeiteten Gesetzmäßigkeiten, die zum Gesamtphänomen eines Versprechens gehören, völlig unabhängig vom speziellen Inhalt des betreffenden Versprechens sind; wir haben sie vielmehr als unabdingbare Merkmale oder Inhaltsformen des Begriffes Versprechen anzusehen. Sie gelten für jedes Versprechen, sei nun dessen Inhalt ernst oder lächerlich, von hoher moralischer Qualität oder ethisch neutral oder tief verwerflich.

Aus diesem Grunde wird deutlich, dass wir ein konkretes Versprechen nicht für sich allein betrachten dürfen, sondern dessen Beziehungen zu anderen Aspekten der Rechtssphäre ermitteln und berücksichtigen sollten; dies auf die Gefahr hin, dass dadurch sowohl für den Versprochenhabenden die eingegangene Verbindlichkeit – als auch der dem Adressaten erwachsene Anspruch im faktischen sozialen Kontext ganz anders beurteilt werden muss, als wenn man das Versprechen (wie im Vorangegangenen geschehen) als isoliertes Phänomen analysiert. Dies soll an einem klassischen Beispiel veranschaulicht werden.

5. Antonio und Shylock – Einbindung des Versprechens in die gesamte Rechtssphäre

Bei dem berüchtigten Vertrag zwischen Antonio und Shylock in Shakespeares Kaufmann von Venedig hat sich Antonio, für den Fall, dass er die entliehenen 3000 Golddukaten nicht termingerecht zurückzuerstatten vermag, Shylock gegenüber verpflichtet, ihm zu gestatten, ein Pfund Fleisch aus seinem (Antonios) Körper heraus zu schneiden25. Shakespeare lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sowohl die grausige Verpflichtung als auch der mörderische Anspruch formal zu Recht bestehen. Ob beabsichtigt oder nicht, es offenbart sich daran die Stärke der einem beliebigen Versprechen inhärierenden formgebundenen Verpflichtung in ihrer ganzen Radikalität.

Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob der widerliche Vertrag überhaupt rechtsgültig hätte geschlossen werden können. Im Theaterstück wird das Vertragsansinnen nicht expressis verbis verneint, sondern die «Rechtsgelehrte» Portia hebt hervor, dass (a) im Vertragstext nur von einem Pfund Fleisch ohne Blut die Rede ist26 [als ob das möglich wäre!] und (b) Shylock einen Prozess wegen Mordes, oder weil er dem Leben Antonios nachstellt, riskiere oder bereits auf sich gezogen habe27. Abgesehen von allen anderen gravierenden rechtlichen Unzulänglichkeiten der betreffenden Gerichtsfarce im Kaufmann von Venedig (man denke nur an die falsche Identität der «Rechtsgelehrten» Portia, an die faktische Ausschaltung des Richters sowie daran, dass die Einheit der Materie verletzt wird: denn zur Debatte steht die Erfüllung des Vertragsinhaltes, nicht die allfällige Verurteilung von Shylock), ist es ethisch und formaljuristisch stoßend, dass der Vertrag mit dem Pfund Fleisch an sich zwar als rechtsgültig angesehen wird, Shylock jedoch im Nachhinein wegen des Vertragsinhaltes verurteilt wird.

Sobald wir nämlich anerkennen, dass den Prinzipien der Unverletzlichkeit der Person und der Wahrung der Menschenwürde unbedingter Vorrang gebührt, derart, dass jedes Versprechen und jeder Vertrag ihnen unterzuordnen ist und ihnen zu genügen hat, wird einsichtig, dass der Vertrag zwischen Antonio und Shylock gegen die genannten Prinzipien sowie, ganz allgemein, gegen die guten Sitten verstoßen hätte – und somit im Vorhinein als nichtig hätte erkannt werden müssen28. Hieraus ersehen wir, von welch zentraler Bedeutung die Aufgabe ist, die genannten Prinzipien zu begründen, mithin zu klären und zu rechtfertigen – ein Thema, das Gegenstand des zweiten und des dritten Teiles der Urphänomene der Rechtssphäre sein wird.

Überblickt man das bis hierher Entwickelte, so veranschaulicht es uns zweierlei:

(i) Jedem Versprechen als solchem inhärieren begriffsimmanente Gesetzmäßigkeiten, sowohl was die Inhaltsform anbelangt als auch was das Zustandekommen und das Erlöschen des im Versprechen gründenden Anspruchs und der dazu gehörenden Verbindlichkeit betrifft. Wie die oben unter 3. gegebene Charakterisierung dessen, was mit dem Ausdruck ‹Versprechen› gemeint ist, gezeigt hat, sind die dem Gesamtphänomen des Versprechens wesenseigenen Zusammenhänge nicht abhängig von irgendwelchen externen Kategorien, seien es solche des positiven Rechtes oder allgemeiner Rechtsprinzipien, sittlicher Anschauungen bzw. anderweitig erlassener Gebote und Verbote – dies deshalb, weil wir dasjenige, was ein Versprechen ausmacht, erläutern können, ohne dass wir auf eine der genannten Kategorien zurückgreifen müssten.

(ii) Anders sieht jedoch die Situation aus, wenn wir vom reinen Begriff Versprechen zu einem beliebigen konkreten Versprechen übergehen. Hier gilt, dass es nicht ein einziges, von einem Versprechenden einwandfrei formuliertes und von dem jeweiligen Adressaten klar und deutlich vernommenes Versprechen gibt, für dessen Erwahrung in Rechtskraft nicht gezeigt werden müsste, dass Form und Inhalt des Versprechens den grundlegenden Rechtsprinzipien und sittlichen Anschauungen nicht widersprechen.

6. Bestimmungen positiven Rechts – im Widerspruch zu rechtlichen Urphänomenen?

Die faktische Rechtsgültigkeit eines Versprechens oder Vertrages wird nicht nur davon abhängen, ob der Inhalt, um den es geht, mit den in einer Rechtsgemeinschaft anerkannten grundlegenden Rechtsprinzipien vereinbar ist, sondern wird auch maßgeblich von den Bestimmungen tangiert, die in dem Corpus der Bestimmungssätze des positiven Rechts der betreffenden Gemeinschaft festgehalten worden sind. Reinach schreibt: «Wir haben gesagt, dass, wer Versprechen vollziehen kann, eben damit Verbindlichkeiten auf sich lädt. Wer ein Alter von 20 Jahren hat, kann gewiss Versprechungen aller Art vollziehen, und doch erwächst ihm aus ihnen nicht ohne Weiteres eine vollgültige positivrechtliche Verbindlichkeit; sie erwachsen, wenn der Adressat, in dessen Person der Anspruch allein entstehen kann, das Versprechen vernommen hat. In jedem Punkte scheint dem das positive Recht zu widersprechen. Ein vernommenes Versprechen, ein Darlehensversprechen z.B., begründet in der Regel keinen Anspruch, wenn es nicht in einem besonderen sozialen Akt angenommen ist; andere Versprechungen, z.B. das mündliche Versprechen, ein Haus zu verschenken, begründen, auch wenn sie angenommen sind, keinen Anspruch …»29. Wie also «kann man», fragt Reinach, «apriorische Gesetze mit dem Anspruch auf absolute Gültigkeit aufstellen wollen, wenn jedes positive Recht sich in den flagrantesten Widerspruch zu ihnen setzen kann?»30

Die Erklärung für die zahlreichen Diskrepanzen zwischen den Urphänomenen des Rechts und den Bestimmungssätzen des jeweiligen bürgerlichen Gesetzbuches einer gegebenen Rechtsgemeinschaft sieht Reinach darin, dass die Gesetzbücher nicht Behauptungen enthalten, deren Wahrheitsgehalt bei jedem konkreten Rechtsfall mit zu überprüfen ist, sondern schlicht bestimmen, was in einem gegebenen Fall rechtlich gelten soll31. Wenn, um wiederum ein Beispiel aus dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) heranzuziehen, zur Mündigkeit natürlicher Personen, unter Ziffer 14 des ZGB steht: «Mündig ist, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat»32 – so handelt es sich hierbei nicht um eine Behauptung wissenschaftlicher Observanz, die dem Kriterium der Falsifizierbarkeit standzuhalten hätte, sondern es ist ein Bestimmungssatz, der festlegt, wie es sein soll. Dies fällt besonders auf, wenn man den zitierten Wortlaut mit der früheren Fassung vergleicht, wo es unter der gleichen Ziffer 14 hieß: «Mündig ist, wer das 20. Lebensjahr vollendet hat. Heirat macht mündig»33. (Der zweite Satz wurde in der Fassung vom 7. Oktober 1994 aufgehoben.) Aus alldem werden auch die üblichen Redewendungen verständlich, mit denen man auf «Soll-Sätze» in den Gesetzbüchern verweist, so zum Beispiel: «Artikel 14 des ZGB hält fest, dass …»

Darüber, was ein rechtliches Urphänomen ist, kann und muss eine wissenschaftliche Debatte geführt werden. Sind jedoch die Wesensgesetze eines bestimmten Teilbereiches der Rechtssphäre erkannt worden und zeigt sich, dass die Bestimmungssätze eines gegebenen Gesetzbuches den aufgefundenen rein begrifflichen Zusammenhängen zuwiderlaufen, dann heißt dies nicht, dass es nun doch keine rechtlichen Urphänomene gebe, sondern, dass die betreffenden Gesetzgeber bei dem, was sie als sein-sollend festlegten, sich nach anderen Gesichtspunkten gerichtet haben. Da die Gesetzbücher ständig verändert werden, die rechtlichen Urphänomene hingegen von unabänderlicher Natur sind und ihnen der Charakter von Prinzipien zukommt, dürfen wir hoffen, dass eine klare, umsichtige Erkenntnis und Darstellung dieser Urphänomene sich allmählich auf das Rechtsempfinden einer namhaften Anzahl von Menschen auswirken. Damit einhergehend gäbe es eine Aussicht darauf, dass künftige Reformen der Gesetzbücher, der Rechtsprechung und des Rechtsvollzuges eine Richtung einschlagen, die das positive Recht – Schritt um Schritt – in ein harmonischeres Verhältnis zu den apriorischen Grundlagen der Rechtssphäre brächten. Dass eine derartige Entwicklung nur möglich ist, wenn unerschrockene, kämpferische Persönlichkeiten sich unablässig dafür einsetzen, versteht sich von selbst.

7. Verzichten – Ausüben eines absoluten Rechtes

Verzichtet der Adressat darauf, das zu beanspruchen, was ihm vom Versprochenhabenden zugestanden worden ist, so betritt er – wie ich ausführte – eine nur ihm zugängliche, übergeordnete Rechtsebene. Da sein Kontrahent von dieser Ebene völlig ausgeschlossen ist und auf seinen Entscheid keinen Einfluss nehmen kann, zerfällt dadurch die mit dem Versprechensakt entstandene Beziehung. In anderen Worten: Der auf die Realisierung seines Anspruches verzichtende Adressat entbindet seinen «Gegner» von dessen Verpflichtung, weil er die Ebene, in der das Versprechen und die darin gründende Beziehung spielen, verlassen hat.

Vergleichen wir:

(a) Wer als Versprochenhabender die Verpflichtung, die er eingegangen ist, erfüllt, befreit sich von der Beziehung zum Adressaten, indem er den Inhalt des Versprechens aufhebt.

(b) Wer als Versprechensadressat auf die Erfüllung seines Anspruches verzichtet, entbindet den Versprochenhabenden von dessen Verpflichtung, indem er das Versprechen formell auflöst.

Im ersten Fall [(a)] bleibt der Adressat wegen der erfahrenen Genugtuung inhaltlich (jedoch nicht rechtlich) an den Kontrahenten gebunden; dieser, hingegen, hat sich vollumfänglich befreit. Im zweiten Fall [(b)] verweigert der Adressat die Beziehung, und der Versprochenhabende, der noch formell (wenn auch nicht rechtlich) auf den Adressaten bezogen bleibt, muss sich damit abfinden und sich neu orientieren.

Wir ersehen hieraus, dass in jedem der beiden Fälle jeweils einer der beiden Kontrahenten sich von der entstandenen Beziehung ganz löst, während sich für den anderen die Beziehung zwar rechtlich aufhebt, er aber zunächst darin in einem gewissermaßen ein-sinnigen Bezug verharrt. Dabei bleibt im Fall (a) der Versprechende für den Anderen in psychologischer Hinsicht prinzipiell erreichbar, denn er befreite sich zwar von seiner Verpflichtung, hat aber dadurch nicht unbedingt eine höhere Ebene betreten. Im Fall (b) jedoch hat der Adressat genau dies getan: sich in eine höhere Ebene entzogen, die für seinen Kontrahenten nicht mehr erreichbar ist.

Darin manifestieren sich einerseits Härte und Überlegenheit des absoluten Rechts gegenüber dem relativen. Anderseits bekundet der auf die Erfüllung des Anspruches Verzichtende, dass er sich selbst genügt und die durch den Verzicht markierte Unabhängigkeit jeder inhaltlichen Bindung vorzieht, welche durch das, was sein Kontrahent vollzieht, nolens volens vermittelt wird. Der Verzichtende optiert für die Einsamkeit; faktisch zwingt er damit aber auch den Versprochenhabenden dazu, sich auf sich selbst zu besinnen.

Mit jedem formulierten und durchgezogenen Verzicht bekräftigt der Einzelne grundsätzlich, dass er in sich selbst eine Instanz gefunden hat, die weder von dem je gerade erreichten Zustand abhängt, noch sich von irgendwelchen äußeren Zuwendungen und Verhältnissen fesseln lässt.

8. Zusammenfassung und Ausblick

Ausgegangen bin ich von der Frage, ob es in der Rechtssphäre apriorische Gesetzmäßigkeiten, das heißt: Urphänomene, gibt, die unabhängig von den jeweils herrschenden äußeren Machtverhältnissen sind. In Übereinstimmung mit den bahnbrechenden Untersuchungen Adolf Reinachs gilt hinsichtlich der relativen Rechte:

1. Es gibt durchaus Rechtsgebilde, denen wesenseigene, formale Gesetzmäßigkeiten innewohnen, die unabhängig sind von äußeren Einflüssen, insbesondere von jeglicher Willkür.

2. Bei einem relativen Rechtsgebilde vom Typus eines Versprechens und eines Vertrages bildet jeweils ein sozialer Akt folgender Geartetheit die unentbehrliche Voraussetzung dafür, dass das betreffende Rechtsgebilde in Rechtskraft erwächst:

a) Der Versprechende muss das, was er zu versprechen gewillt ist, mündlich oder schriftlich äußern;

b) Der Adressat muss die Äußerung vernehmen und deren Sinn erfassen.

3. Der Anspruch des Adressaten bzw. die Verbindlichkeit, welche der Versprechende eingegangen ist, können auf zwei Weisen erlöschen:

a) Indem der Versprochenhabende die eingegangene Verpflichtung einlöst;

b) Indem der Adressat auf die Erfüllung seines Anspruches verzichtet.

4. Wenn der Adressat verzichtet, macht er ein absolutes Recht geltend, dem auf Seiten des Versprochenhabenden nichts Gleichwertiges bzw. Ebenbürtiges entspricht. Psychologisch gesehen, löst der Verzichtende die mit dem Versprochenhabenden eingegangene Beziehung auf, während dieser, sofern er das Versprochene erfüllt, die Beziehung aufhebt.

5.Inhaltlich kann die faktische Rechtsgültigkeit eines Versprechens oder eines Vertrages aus zweierlei Gründen eingeschränkt oder aufgehoben werden:

a) Wenn der Inhalt des Versprechens oder Vertrages Rechtsprinzipien und / oder sittlichen Normen widerspricht, die von der jeweiligen Rechtsgemeinschaft als grundlegend angesehen werden.

b) Wenn die positiv-rechtliche Gesetzgebung einer Rechtsgemeinschaft Bestimmungssätze enthält, die verhindern, dass bestimmte formal-apriorische und / oder inhaltliche Implikationen aus einem zustande gekommenen Versprechen oder Vertrag gezogen werden dürfen.

6. Aus dem unter 4. und 5. Referierten ergibt sich ein weiteres – übergeordnetes – rechtliches Urphänomen, nämlich, dass es in letzter Instanz nicht möglich ist, ein konkretes Versprechen oder einen konkreten Vertrag losgelöst von der übrigen Rechtssphäre zu beurteilen.

7. Die Urphänomene, die wir besprochen haben, sind streng apriorischer Natur, aber sie betreffen – insofern ihnen ein positiver inhaltlicher Sozialcharakter zukommt – nur Rechtsgebilde relativer Natur. Das ebenfalls aufgewiesene absolute Recht auf Verzicht ist demgegenüber von negativem inhaltlichem Sozialcharakter. Damit stellt sich zunächst die Frage,

(i) ob es auch absolute Rechte positiven inhaltlichen Sozialcharakters gibt.

Da wir, darüber hinaus, gesehen haben, dass der Inhalt von Versprechen und Verträgen mit bestimmten Rechtsprinzipien und sittlichen Anschauungen einer Rechtsgemeinschaft in Einklang zu stehen hat, sollen sie innerhalb der betreffenden Gemeinschaft gelten, stellt sich die weitere Frage;

(ii) ob es möglich ist – ausgehend vom Begriff des menschlichen Individuums bzw. der sich auf Individualität gründenden Persönlichkeit –, absolute Rechtsprinzipien auszuweisen, die den Besonderheiten der einzelnen Rechtsgemeinschaften vorausgehen.

Einigen Aspekten dieser Fragen, die sich – meiner Überzeugung nach – erst auf der hier entworfenen Basis, gemäß welcher es Sinn macht, nach objektiven rechtlichen Urphänomenen zu suchen, angehen lassen, sind die folgenden zwei Aufsätze gewidmet.

Anmerkungen

1 Grotius, H., De iure belli ac pacis. Libri tres, in quibus jus Naturae & Gentium, item juris publici præcipua explicantur. Editio Nova. – Amsterdami: Apud Iohannem Blaev, 1646, Prolegomena, S. 5 (§ 22).

2 Goethe, J. W. v., Naturwissenschaftliche Schriften. Bd. I–IV (1./2. Abteilung), herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von R. Steiner. - Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft, o. J. [1921]; Neudruck Dornach: R. Steiner Verlag, 1975. Bd. IV, 2. Abteilung, S. 481).

3 Vgl. Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. III: «Farbenlehre, Physische Farben», § 153 (Grundphänomen), § 174 (Definition des Ausdruckes ‹Urphänomen›).

4 Steiner, in Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. II, S. XLIX.

5 Steiner, in Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. II, S. I.

6 Steiner, R., Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft (1919). – Stuttgart: Der Kommende Tag, 1920, S. 62.

7 Vgl. Steiner, R., Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung (1894/1918). – Dornach: R. Steiner Verlag, 1973, 13. Aufl., z.B.: «Wenn wir das Gesetzmäßige (Begriffliche in dem Handeln der Individuen, Völker und Zeitalter) aufsuchen, so erhalten wir eine Ethik, aber nicht als Wissenschaft von sittlichen Normen, sondern als Naturlehre der Sittlichkeit» (S. 161). Ferner: «Die moralische Phantasie und das moralische Ideenvermögen können erst Gegenstand des Wissens werden, nachdem sie vom Individuum produziert sind. Dann aber regeln sie nicht mehr das Leben, sondern haben es bereits geregelt. Sie sind als wirkende Ursachen wie alle anderen aufzufassen (Zwecke sind sie bloß für das Subjekt). Wir beschäftigen uns mit ihnen als mit einer Naturlehre der moralischen Vorstellungen. – Eine Ethik als Normwissenschaft kann es daneben nicht geben» (S. 194 f.).

8Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. IV, 2. Abteilung, S. 481.

9Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. IV, 2. Abteilung, S. 481.

10 Platon, Sämtliche Werke, herausgegeben von O. Gigon, übertragen von R. Rufener. – Zürich [u.a.]: Artemis, 1974. – Vgl. Der Staat, 469BC, wo Platon dazu auffordert, dass im Kriege [wenigstens] Griechen nicht durch Griechen zu Sklaven gemacht werden sollen; anders steht es mit den Barbaren. In den Nomoi (Gesetze) ist mit Selbstverständlichkeit von Vorschriften, Regeln, Kompetenzen, die sich auf Sklaven beziehen, die Rede; vgl. z.B. 776B bis 778A, 816E, 817E. Im Menon führt Sokrates an einem jungen Sklaven den Vorgang der Wiedererinnerung vor.

11 Aquin, T., S. Thomae Aquinatis Opera Omnia. Ut sint in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis mediiaevi auctoribus; curante R. Busa S. I. Bd. I–VII. – Stuttgart-Bad Cannstatt: F. Fromann Verlag G. Holzboog KG, 1980. – Vgl. Summa Theologiae: «Respondeo dicendum quod circa haereticos duo sunt consideranda, unum quidem ex parte ipsorum; aliud ex parte ecclesiae. ex parte quidem ipsorum est peccatum per quod meruerunt non solum ab ecclesia per excommunicationem separari, sed etiam per mortem a mundo excludi. multo enim gravius est corrumpere fidem, per quam est animae vita, quam falsare pecuniam, per quam temporali vitae subvenitur, unde si falsarii pecuniae, vel alii malefactores, statim per saeculares principes iuste morti traduntur; multo magis haeretici, statim cum de haeresi convincuntur, possent non solum excommunicari, sed et iuste occidi.» (Summa Theologiae,3, qu 11, ar 3). («Ich antworte, indem ich sage, dass hinsichtlich der Ketzer zweierlei zu überlegen ist: gewiss zum Einen, was deren Seite betrifft; zum Anderen, was die Kirche angeht. Sicher liegt auf der Seite jener ein Vergehen [eine Sünde] vor, wonach sie es nicht nur verschuldet haben, von der Kirche durch Verbannung getrennt, sondern auch von der Welt durch den Tod ausgeschlossen zu werden. Es ist nämlich viel schwerwiegender, den Glauben, durch den die Seele das Leben hat, zu untergraben, als das Geld, durch welches dem vergänglichen Dasein abgeholfen wird, zu fälschen; wenn daher Falschmünzer oder andere Übeltäter von den weltlichen Fürsten auf der Stelle zu Recht dem Tode übergeben werden, dann könnten umso mehr die Ketzer, sobald sie der Ketzerei überführt worden sind, nicht nur verbannt, sondern zu Recht umgebracht werden.»)

12 Vgl. Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, herausgegeben von E. Moldenhauer und K. M. Michel; Bd. 7. der Werke. – Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986. – Mitte Oktober 1820 entwarf Hegel einen Brief an K. A. Fürst von Hardenberg (1750–1822), preußischer Minister und Staatskanzler, worin u.a. steht: «Ich wusste, dass in meiner Darstellung eines Gegenstandes [nämlich der Philosophie des Rechts], auf den zu kommen mir meine amtliche Verbindlichkeit auflegt, die wissenschaftliche Behandlung und die theoretische Form der Hauptzweck ist, – dass meine wissenschaftliche Bestrebung dahin geht, von der Philosophie dasjenige auszuscheiden, was diesen Namen fälschlich usurpiert, und vielmehr den Einklang der Philosophie mit denjenigen Grundsätzen zu beweisen, welche die Natur des Staates überhaupt braucht, am unmittelbarsten aber den Einklang mit demjenigen, was unter seiner [Majestät des Königs] erleuchteten Regierung und unter der weisen Leitung E.D. der Preußische Staat, dem ebendarum anzugehören mir selbst zu besonderer Befriedigung gereichen muss, teils erhalten, teils noch zu erhalten das Glück hat». (S. 516 f.). – Man vgl. ferner Hegel, G. W. F., Philosophie der Geschichte, mit einer Einleitung von T. Litt. – Stuttgart: Reclam, 1961. Im Kap. «Die Aufklärung und die Revolution» findet sich ein Lob auf Friedrich II.: «Friedrich II. kann als der Regent genannt werden, mit welchem die neue Epoche in die Wirklichkeit tritt, worin das wirkliche Staatsinteresse seine Allgemeinheit und seine höchste Berechtigung erhält. Friedrich II. muss besonders deshalb hervorgehoben werden,dass er den allgemeinen Zweck des Staates denkend gefasst hat, und dass er der erste unter den Regenten war, der das Allgemeine im Staate festhielt und das Besondere, wenn es dem Staatszwecke entgegen war, nicht weiter gelten ließ. Sein unsterbliches Werk ist ein einheimisches Gesetzbuch, das Landrecht. Wie ein Hausvater für das Wohl seines Haushalts und der ihm Untergebenen mit Energie sorgt und regiert, davon hat er ein einziges Beispiel aufgestellt.» (S. 586 f.)

13 Vgl. Marten, R., Heidegger lesen. – München: Fink, 1991. Siehe besonders S. 85 ff.

14 Vgl. Kant, I., Werke in zehn Bänden, herausgegeben von W. Weischedel. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1956. Bd. 6: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten heißt es zum Beispiel: «Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt; die nicht damit stimmt, ist unerlaubt». (S. 74.)

15 ‹Ethischer Individualismus› ist eine Wendung, die Steiner folgendermaßen geprägt hat: «Die Summe der in uns wirksamen Ideen, den [sic!] realen [sic!] Inhalt unserer Intuitionen, macht das aus, was bei aller Allgemeinheit der Ideenwelt in jedem Menschen individuell geartet ist. Insofern dieser intuitive Inhalt auf das Handeln geht, ist er der Sittlichkeitsgehalt des Individuums. Das Auslebenlassen dieses Gehaltes ist die höchste moralische Triebfeder und zugleich das höchste Motiv dessen, der einsieht, dass alle anderen Moralprinzipien sich letzten Endes in diesem Gehalte vereinigen. Man kann diesen Standpunkt den ethischen Individualismus nennen» (Philosophie der Freiheit, S. 160).

16 Zu den erkenntnistheoretischen Ansätzen Steiners siehe besonders: Steiner, R., Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit (1892). – Dornach: R. Steiner Verlag, 1980, 3. Aufl. – Solov’evs Darstellung in dem Fragment Theoretische Philosophie ist kongenial zu Steiners Auffassung. Siehe dazu: Solov’ev, V., Theoretische Philosophie, in: Deutsche Gesamtausgabe der Werke von W. Solowjew, Bd. VII, übersetzt von W. Szylkarski. – Freiburg i. Br.: Wewel, 1953.

17 Für die folgenden Betrachtungen beziehe ich mich in freier Weise auf den Ansatz, den Adolf Reinach (1883–1917) in seiner epochalen Schrift Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes (1913) entworfen hat. Bestimmte Gesichtspunkte werde ich dabei immanent-kritisch analysieren und um einige Aspekte erweitern. Siehe dazu: Reinach, A., Sämtliche Werke;