Existenzielle Themen in der Psychotherapie - Ralf T. Vogel - E-Book

Existenzielle Themen in der Psychotherapie E-Book

Ralf T. Vogel

0,0

Beschreibung

Achtet man im psychotherapeutischen Prozess sorgfältig auf die Themen, die die Patienten mitbringen, bemerkt man, dass sie um einige wenige Schwerpunkte kreisen, die auch den Therapeuten selbst nicht fremd sind. Es geht um den Tod, die Einsamkeit, um Freiheit und um die Frage nach dem Sinn des Lebens. In philosophischen und psychologischen Kreisen werden sie oft als "existenzielle Themen" bezeichnet. Das vorliegende Buch befasst sich mit diesen vier Themenstellungen in ihrer psychotherapiepraktischen Relevanz, behandelt die Kompetenzen der großen Therapieschulen im Umgang mit den grundlegenden Menschheitsfragen und bietet praxisnahe Vorschläge zur Umsetzung in therapeutische Handlungen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 163

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Autor

Prof. Dr. phil. Ralf T. Vogel ist Psychologischer Psychotherapeut, Verhaltenstherapeut und Psychoanalytiker, Lehranalytiker und Supervisor an Ausbildungsinstituten unterschiedlicher therapeutischer Schulrichtungen und Honorarprofessor für Psychotherapie und Psychoanalyse an der HfBK in Dresden. Er ist Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Gremien, Herausgeber der Schriftenreihe »Analytische Psychologie C. G. Jungs in der Psychotherapie« bei Kohlhammer und Redaktionsmitglied der Zeitschrift »Analytische Psychologie«. Von ihm liegen zahlreiche Fachbücher vor. Dabei liegt sein wissenschaftlicher Schwerpunkt neben der Analytischen Psychologie vorwiegend auf der therapeutischen Arbeit im Umfeld von Tod und Sterben sowie dem Verhältnis der therapeutischen Schulrichtungen. In Ingolstadt ist er in privater Praxis für Psychotherapie und Supervision tätig.

Ralf T. Vogel

Existenzielle Themen in der Psychotherapie

2., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

2., aktualisierte Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036547-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-036548-3

epub:    ISBN 978-3-17-036549-0

mobi:    ISBN 978-3-17-036550-6

Inhalt

 

 

 

Vorbemerkungen

1. Vorlesung Begriffsbestimmungen

Die Existenz als Grundlage

Psychotherapie als existenzielle Praxis?

2. Vorlesung Die Therapieschulen und ihre Berücksichtigung des Existenziellen

Verhaltenstherapie und das Existenzielle

Klassische Psychoanalyse und das Existenzielle

Die Spezialisten

3. Vorlesung Existenzielle Themen … und was die Therapieschulen uns dazu zu sagen haben

Freiheit – Die Voraussetzung von Therapie und authentischem Leben

Sinn – Die Frage nach dem Warum und Wozu

Einsamkeit – Das letztendliche Getrennt-Sein

Tod – Das alles Existenzielle enthaltende Menschheitsthema

4. Vorlesung Generelle Konsequenzen für die Therapie

Allgemeine Überlegungen zum Existenziellen in der Psychotherapie

Unlösbarkeit und Aporetik

Die »existenzialisierende Einstellung«

Die Wertschätzung der Krise

Die Sicherheit

Die »existenzielle Anamnese«

Das existenzielle Lebensalter – Psychotherapie im höheren Alter

Das existenzielle Paar – Aspekte der Paartherapie

5. Vorlesung Therapeutische Methoden

Vorbemerkungen

Die drei grundlegenden Haltungen

»Die Vor-Therapie«

Die Konsequenz aus der Wertschätzung des Existenziellen – Finalität (als therapeutische) Prozesstheorie

Spezifische Methoden

Schlusswort

Anhang

Anglo-amerikanische Ansätze

Existenzielles im Netz

Literatur

Stichwortverzeichnis

Personenverzeichnis

Vorbemerkungen

 

 

 

Psychotherapie wird im modernen akademischen Diskurs bestimmt von quantitativ-statistischen Forschungsdesigns und neuropsychologischen Überlegungen. Aus dem Auge gerät hierbei nicht selten der reiche Wissensfundus kultur- und geisteswissenschaftlicher, vor allem aber auch philosophischer Disziplinen, die sich oft seit Jahrtausenden mit genau den Themen auseinandersetzen, denen auch die Psychotherapeuten in ihrer Praxis begegnen. Der »Gegenstand« psychotherapeutischer Bemühungen ist unter dieser Perspektive eben nicht eine umgrenzte Symptomkonstellation und ihr Niederschlag im Gehirn, sondern Psychotherapie befasst sich mit einem leidenden menschlichen Individuum, das als Ganzes in seiner Not gesehen werden will und sich der Reduktion seines Leidens auf operationalisierbare Symptome immer wieder widersetzt.1 Gleichzeitig beeinflusst »eine erhöhte Sensibilität für existenzielle Fragen (…) das Wesen der Beziehung zwischen Therapeut und Patient enorm und wirkt sich auf jede einzelne therapeutische Sitzung aus«2, ist also hochrelevant für die in der modernen Psychotherapieforschung (wieder) an prominente Stelle gerückte Reflexion der therapeutischen Beziehungsanalyse. Auch innerhalb der Psychiatrie gibt es inzwischen Bestrebungen, die prinzipiell in helfenden Berufen nicht mehr zu ignorierende Omnipräsenz existenzieller Fragestellungen anzuerkennen. So meint etwa der Züricher Psychiatrieprofessor Daniel Hell, er habe erkannt, »dass es zwar gelingt mit Medikamenten und psychotherapeutischen Techniken bestimmte Krankheitssymptome wie Depression oder Panik zu lindern. Mit diesen Verfahren allein sehe ich mich aber außerstande, existenziellen Nöten meiner Patienten zu begegnen.«3

In einer eigenen Studie aus dem Jahr 2011 geben nur 25 % der befragten Psychotherapeuten auf Palliativstationen an, sich durch ihre Ausbildung sehr gut oder gut auf die dort anstehenden Aufgaben vorbereitet zu fühlen. Hier wird ein auch durch die überblickshafte Sichtung der Curricula anerkannter psychotherapeutischer Ausbildungsinstitute eindrücklicher »Neglect« existenzieller Themen, hier vor allem des Todesthemas, deutlich. Diesem Trend möchte das vorliegende Buch entgegenwirken.

Im Rahmen der zur Debatte stehenden existenziellen Themen sind es im modernen Denken nicht nur, aber hauptsächlich die Existenzialisten, die sich diese, den Menschen konstituierenden Seinsbereiche zum Thema machten. Dieser Denkschule gilt daher die besondere Aufmerksamkeit, ohne dass die »Lösungen«, die der Existenzialismus für die Grundthemen des Menschseins vorschlägt, damit propagiert werden sollen. Trotzdem werden diese immer wieder aufgezeigt, um sie dem vorherrschenden Denkduktus der modernen Psychotherapie entgegenzusetzen oder auch kompensierend hinzuzufügen. Die Grundthesen des Existenzialismus widersetzten sich schon immer dem vorherrschenden Zeitgeist, wurden von den Kommunisten verfemt und von der katholischen Kirche auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. So eignen sie sich in der Psychotherapie ebenfalls zur Infragestellung überlieferter und aktuell nunmehr wenig reflektierter Ansichten. Vor allem der französische Existenzialismus entwickelte nicht nur abstrakte philosophische Ideen, sondern bemühte sich beständig auch um deren Umsetzung in Theorien der konkreten Handlung. Eben diese Eigenschaft macht ihn zu einer wertvollen Fundgrube nützlicher Einsichten auch für Psychotherapeuten.

Dieses Buch ist aus dem inzwischen bereits seit mehreren Jahren anlässlich der Lindauer Psychotherapiewochen gehaltenen Seminar zum gleichen Thema hervorgegangen4. Der Inhalt des Seminars wurde nur unwesentlich an einigen Stellen erweitert, und die Literaturangaben wurden ergänzt. Die durchgehend männliche Schreibweise ist der leichteren Lesbarkeit geschuldet und wird hoffentlich verziehen. Das Schreiben und Sprechen über philosophische Themen wird, auch im Bereich der Psychotherapie, leicht zu abstrakt und entfernt sich dann vom direkten Erleben hinein in rein kognitiv-intellektuelle Betrachtungen. Den vier hier in den Vordergrund gestellten grundlegenden existenziellen Themenbereichen wird, um dem vorzubeugen, jeweils eine kleine Übung zur Selbstexploration hinzugefügt.

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Bandes hat sich in Bezug auf die Beachtung existenzieller Themen in Psychiatrie und Psychotherapie einiges getan. Die Themen finden glücklicherweise zunehmend Eingang in Aus- und Weiterbildungspläne und auch einige beachtenswerte Veröffentlichungen sind hinzugekommen, Letzteres übrigens therapieschulübergreifend und interessanterweise oft in Verbindung mit Arbeiten über die Rolle von Spiritualitäten im therapeutischen Handeln.5

Im Aufbau folgt das Buch weitgehend der fünftätigen Lindauer Seminarreihe, wobei die jeweiligen Vorlesungen sich ergänzen, durchaus aber auch einzeln herausgegriffen werden können. Am Ende des entsprechenden Kapitels finden sich einige Literaturvorschläge, wenn eines der gerade angerissenen Themen und das damit verbundene »… existenzielle Schwindelgefühl durch die unabweisbare Einsicht in die Ungewissheit des Lebens …« (Woody Allen) einer weiteren persönlichen Vertiefung bedarf.

Literatur zum Weiterlesen

Wallace DF (2012) Das hier ist Wasser. Anstiftung zum Denken

1  Vogel, 2009, S. 593

2  Yalom, 2002, S. 11

3  Hell, 2013, S. 130

4  Dieses Buch stellt eine grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung der Vorlesungen dar, die der Autor zum gleichen Thema im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen 2012 gehalten hat (www.auditorium-netzwerk.de).

5  Utsch u. a., 2018

1. Vorlesung Begriffsbestimmungen

 

 

 

In diesem Eingangskapitel sollen abrissartig die im Titel des Buches angeführten Kerntermini, Existenz und Psychotherapie, nacheinander in ihren zentralen Bestimmungsbereichen dargestellt werden, um einen ersten vereinigenden Zugang vorzubereiten.

 

 

Die Existenz als Grundlage

Schon die Begriffsbestimmung der zentralen und in der Alltagssprache so unbedarft benutzten Termini »Existenz« bzw. »existenziell« gestaltet sich bei genauer Betrachtung als nicht gerade einfach. Alltagssprachlich meint existenziell etwas wie finanzielle Not, Obdachlosigkeit etc. Die Krankenschwester und »Mutter der Pflegewissenschaften«, Monika Krohwinkel, formulierte 1984 die »Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens (ABDEL) und fasste darunter Bereiche wie »Sich bewegen können, »Sich pflegen können«, »Sich beschäftigen können« oder Soziale Bereiche des Lebens sichern können«6. Philosophisch, und hier betreten wir dann auch den engeren Bereich der Psychotherapie, ist an dieser Stelle vor allem die Abgrenzung des lateinischen »existe« vom Komplementärbegriff »esse«anzuführen. Im 4. Jahrhundert unterschied der Philosoph Marius Victorinus das Wesen der Dinge, das er »Essentia« nannte, vom Vorhandensein der Dinge, das er mit »Existentia« bezeichnete. Seitdem bestimmt diese Dichotomie die abendländische Philosophie maßgeblich mit, nicht ohne dass es auch zu Vermischungen der beiden Begriffe gekommen wäre. Vor diese Zeitperiode fällt bereits das Leben des bisweilen als »proto-existenziellen Psychotherapeuten«7 bezeichneten Philosophen Epikur (341–270 v. Chr.), der wichtige Grundlagen der späteren existenzialistischen Philosophie vorwegnahm.

Die der deutschen Sprache zugehörigen schwierigen Begriffe wie das »Seiende« (als das zeitlich und räumlich bestimmbare) oder das (auf sich selbst bezügliche) Sein oder »Dasein« tragen nicht unbedingt zu einer Begriffsklärung bei, werden sie doch von den einzelnen Philosophen höchst unterschiedlich gefasst und z. T. komplex verklausuliert. Wir können also zusammenfassen, dass es notwendig ist, zunächst den vom jeweiligen Autor mit dem Begriff Existenz gemeinten Bedeutungsraum zu erfassen, um seine Gedanken nachvollziehen zu können, und wir auf keine allgemeingültige und von allen philosophischen und wissenschaftlichen Denkrichtungen akzeptierte Definition zurückgreifen können. Am breitesten und für den Anfang ausreichend, meint der jüdisch-katholisch-existenzialistische Philosoph Landsberg, sei »… die existenzielle Philosophie, … die Philosophie, in der der Mensch sein eigenes Menschsein zu begreifen sucht«8.

Überhaupt bedeutet die Orientierung am Existenziellen auch eine erkenntnistheoretische Vorentscheidung: Martin Heidegger hat vor allem in seinen in den 20er Jahren gehaltenen Vorlesungen die Hermeneutik als grundlegend für den Zugang zum Menschlichen, ja als ein »Existenzial« gesehen. Das Dasein ist per se hermeneutisch, ist ein eigentliches Verstehen-Wollen und gehört unauflösbar zur »sorgenden« Grundverfasstheit des Menschen. Deutung sieht er als der Erntearbeit analoge »Auslese«-Arbeit. Diese sehr spezielle und differenzierte Betrachtung von Hermeneutik, aber auch die anderen im philosophischen Diskurs entstandenen Hermeneutiken bilden sowohl das erkenntnistheoretische als auch das methodologische Grundgerüst einer wirklichen Zugangsweise zum Individuum. Ihnen wird die Nomothetik bzw. Numerik (die manchmal wie eine Numerologie anmutet), also der Versuch des Vermessens und mathematischen Zugangs zum Wesen des Menschen, maximal als Hilfswissenschaft zugeordnet.

Die folgende Auflistung nennt die wichtigsten Denker der existenzialistischen philosophischen Schulrichtung:

•  Sören Kierkegaard (1813–1855),

•  Karl Jaspers (1883–1969),

•  Martin Heidegger (1889–1976),

•  Jean-Paul Sartre (1905–1980),

•  Simone de Beauvoir (1908–1986),

•  Albert Camus (1913–1969).

Dabei ist der Erstgenannte, der dänische Philosoph Sören Kierkegaard, zum einen als »Urvater« der zentralen existenzialistischen Ideen – er führte den Begriff der »Existenz« in die neuere Philosophie über –, zum anderen aber gleichzeitig als Sonderfall zu betrachten, sieht er doch viele christliche Glaubensinhalte keinesfalls im Widerspruch zu seinen Gedanken. In dieser Nachfolge steht für die katholische Seite vor allem der französische Philosoph und Theaterautor Gabriel Marcel (1889–1973) und als evangelischer Theologe der deutsche, 1933 nach Amerika emigrierte Paul Tillich (1886–1965).

Vergleichen wir die Lebensdaten der Existenzphilosophen mit denen der ersten großen Psychoanalytiker, Sigmund Freud (1856–1939) und Carl Gustav Jung (1875–1961), so sehen wir, dass Psychoanalyse und Existenzialismus durchaus der gleichen abendländischen Denkepoche entspringen und schon allein deshalb aufeinander bezogen werden müssen.

Es gibt eine lange Geschichte der »Ikonographie des Leidens«12 im künstlerischen Schaffen. Existenzialistische Ideen finden sich in allen möglichen Kulturbereichen, etwa in der Literatur oder den Bildenden Künsten. Sartre selbst nutzte die Darstellung des Kunstschaffens, um sein zentrales Prinzip der freien Wahl zu erläutern13 und weist auf den existenziellen »Appellcharakter« des Kunstwerks hin14. Hier sind z. B. der bayrische Maler und Bildhauer Franz von Stuck (1863–1928) (Abb. 1) oder der Leipziger »Universalkünstler« Max Beckmann (1884–1950) oder auch Edward Munch zu nennen (eine gewisse Verbindung zwischen Expressionismus und Existenzialismus ist nicht zu leugnen), in deren Werken Grundthemen einer existenzialistischen Weltbetrachtung deutlich werden. Überhaupt eignet sich eine »rezeptive Kunsttherapie«, also das Betrachten von Bildern, sehr, um die oft schwierig versprachlichbaren existenziellen Themen und erst recht die mit ihnen verbundenen Gefühlsschattierungen kommunikabel zu machen. Dazu gehört auch das Finden gemeinsamer Kommunikationsmittel, etwa in der Kommunikation über das Kunstwerk.

Abb. 1: »Sisyphus«, 1920, Gemälde von Franz von Stuck (1863–1928), Privatsammlung.

Viele existenzialistische Philosophen, vor allem Sartre und Heidegger (Letzterer wird zwar allgemein der Existenzialphilosophie zugerechnet, setzte sich selbst allerdings davon immer wieder ab), in einiger Weise aber auch Jaspers, beziehen sich auf die Phänomenologie (griech. phainómenon »Sichtbares, Erscheinung«; lógos »Rede, Lehre«) als Grundlage und Ausgangspunkt ihres eigenen Denkens. Dies meint einen Ansatz, der »in den Kategorien der Weltlichkeit, der Räumlichkeit, der Intersubjektivität und des In-der-Welt-Seins die grundlegenden Weisen der Existenz«15 erkennt. Er steht bekanntlich auch Pate für psychologische und vor allem psychoanalytische Erkenntnisgrundlagen und soll daher hier kurz genannt werden. Die Phänomenologie wurde von Edmund Husserl (1859–1938) begründet, und sie postuliert, echte Erkenntnisse könnten nur aus den unmittelbaren Erscheinungen entwickelt werden. Eine interessante Weiterentwicklung finden wir u. a. bei dem jüdischen Philosophen V. Flusser und seiner »existenziellen Phänomenologie« (2011).

Der Psychiater, Philosoph und Psychoanalysekritiker Karl Jaspers beschreibt eine »Psychopathologische Phänomenologie«, in der er die Phänomenologie sowohl als grundlegende Erkenntnistheorie in der forscherischen Betrachtung des Psychischen, aber auch als konkrete Methodik darstellt, die nah am sichtbaren Phänomen selbst bleibt und Interpretationen und Theorien vorsichtig einsetzt. Viele der philosophischen Erkenntnisse von Jaspers können unmittelbar auf psychotherapeutische Belange »heruntergebrochen« werden, wie etwa der Psychologe und Logotherapeut F. A. Gebler in seinem einschlägigen Buch zur »existenziellen Perspektive in der Psychotherapie« eindrücklich aufzeigt.16

»Der Analytiker muss sich dem Patienten auf phänomenologische Weise nähern; d. h. er oder sie muss in die Erfahrungswelt des Patienten eintreten und auf die Phänomene in dieser Welt, ohne die Vorannahmen, die das Verständnis verzerren, achten«, meint folgerichtig der »existenzielle Psychotherapeut« Irvin Yalom17, auf den später noch zurückzukommen sein wird, und auch C. G. Jung ist in dieser Hinsicht eindeutig, wenn er meint, »Theorien gehören im Gebiete der Psychologie zum Allerverheerendsten. Wir bedürfen zwar gewisser theoretischer Gesichtspunkte um deren orientierenden und heuristischen Wertes willen. Aber sie sollen stets als bloße Hilfsvorstellungen gelten, die man jederzeit zur Seite legen kann«18. Ähnliche phänomenologisch-behandlungstechnische Grundideen finden wir z. B. auch bei Sigmund Freuds »Gleichschwebender Aufmerksamkeit« oder Winfried Bions »No memory no desire«-Forderung. Auch die erwähnte Betonung des Hermeneutischen, etwa bei Heidegger zu einer ganzen Theorie der Auslegung avanciert, stellt eine wichtige theoretische Grundlage für die psychotherapeutische Forschung und Praxis dar.19 Wir sehen bei diesen einzelnen Themen bereits eine große erkenntnistheoretische Nähe zwischen weiten Teilen existenzialistischer Philosophie und wichtigen Ansätzen der Psychotherapie. Überhaupt ist von einer Reihe sehr psychotherapierelevanter Einsichten der existenzialistischen Denkweise auszugehen (Kasten 1), die, wie wir sehen werden, von den verschiedenen therapeutischen Schulrichtungen in unterschiedlichem Maße und in verschiedener Art und Weise aufgegriffen und umgesetzt werden. Die dazu in Beziehung stehenden psychologischen Begriffe wären vor allem Ich, Ichkomplex, Ichfunktion, Identität, aber auch Selbst oder gar »Ganzheit«.

Zentrale Bestandteile psychischen Leids, wie etwa das Grübeln über den, wie die Existenzialisten meinen, eigentlich nicht auffindbaren Sinn des Lebens, oder diverse spezifische und unspezifische Ängste werden hier als Konsequenz der schonungslosen Betrachtung der eigenen Existenz aufgefasst und so quasi »philosophiert«. Auf die konstituierende Bedeutung der menschlichen Wahlfreiheit weisen Jean Paul Sartre und seinen Denkduktus weiterentwickelnd dann vor allem seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir (1908–1986) (Abb. 2) hin. Diese schreibt sein Werk u. a. in Richtung auf die freie oder eben unfreie Wahl der (weiblichen) Geschlechterrolle innerhalb der vorherrschenden Gesellschaftsordnung fort. In ihrem Monumentalwerk, der oft als »Bibel des Feminismus« bezeichneten Schrift »Das andere Geschlecht«20, nimmt sie gleichsam die Geschlechtsrollenwahl der Frau zum Prototyp freier Entscheidung.

Kasten 1: Psychotherapierelevante Einsichten des Existenzialismus

•  Das menschliche Dasein ist ein Seiendes (Seiendes: Tatsachen, Gegenstände, zeitlich und räumlich bestimmbar), das sich immer auch zu sich selbst verhält (Heidegger).

•  Existenzielle Themen können nicht gelöst, sondern müssen getragen werden.

•  Der Mensch ist stets in Sorge um sein Sein und dessen Zeitlichkeit bzw. Endlichkeit (Sartre).

•  Der Mensch beherrscht das »Sich-Vorausdenken-Können«, das »sorgende« Fertigen eines Zukunftsentwurfes von sich mit Einbeziehung der Endlichkeit (Heidegger).

•  Durch die vorweggenommene Endlichkeit drohen Angst (Existenzangst) und Sinnlosigkeit

•  Nichts ist vorbestimmt, alles ist Folge meiner eigenen Wahl. Aber wähle ich eine Alternative (Sartres »Seinsentwurf«), vernichte ich die anderen.

•  Meine Identität ist unbestimmt und frei flottierend wählbar.

•  Der Mensch ist einerseits »zur Freiheit verurteilt« (Sartre), andererseits in sein konkretes Dasein »geworfen« (Heidegger).

•  Wir sind nur oder zumindest vor allem durch den Blick des anderen existent (Sartre), dieser lenkt unseren Seinsentwurf und führt u. U. zur Neurose.

Diese radikale Freiheitsidee (s. u.), aber auch andere zentrale existenzialistische Einsichten wie etwa die Tatsache eines mit dem Lebensende unaufhaltsam näher rückenden Nichts erzeugen notwendigerweise Angst und Verzweiflung, aus der heraus Entwicklung geschieht. »Das ewige Nichts ist o. k., wenn man entsprechend gekleidet ist«, bekundet dann auch der wichtigste existenzialistisch inspirierte zeitgenössische Künstler Woody Allen21 und meint damit, die Erkenntnis des Nichts kann bewältigt und eventuell sogar positiviert werden. Diese Wendung der oft

Abb. 2: Simone de Beauvoir (1908–1986); Porträtaufnahme 1945 von Denise Bellon, © akg-images/Denise Bellon.

düsteren Grundannahmen des Existenzialismus in positive »Werte« ist quasi die Spezialität von Albert Camus (Abb. 3) (sich selbst bezeichnete Camus nie als Existenzialisten), der mit Blick auf seinen zentralen Gegenstand, die durch die existenziellen Parameter unseres Daseins erzeugte Absurdität, meint: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem. Den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten.«22 Und wir könnten hinzufügen: auch der Psychotherapie! Das Absurde entsteht durch die Diskrepanz dessen, was wir vom Leben erwarten und dessen »tatsächlicher Indifferenz und Vernunftlosigkeit«23. Auch das sinnlose Leben muss und kann allerdings in Verantwortung geführt werden. Das Absurde muss anerkannt werden, und es darf revoltiert/sich aufgelehnt werden, so Camus in seinem zentralen, 1942 verfassten Werk, dem »Mythos des Sisyphos«24. »Ich empöre mich, also bin ich« ist sein Wahlspruch,