Psychodynamische Psychotherapie am Lebensende - Ralf T. Vogel - E-Book

Psychodynamische Psychotherapie am Lebensende E-Book

Ralf T. Vogel

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Beschreibung

Die demografischen Veränderungen und die medizinischen Fortschritte hinsichtlich einer Verlängerung der Lebenserwartung wirken sich zunehmend auf die psychotherapeutische Praxis aus. Immer häufiger werden psychotherapeutisch Tätige von Patientinnen und Patienten an deren Lebensende und mit schwersten Erkrankungen aufgesucht und auch in Kliniken und Hospizen wächst die Nachfrage nach psychodynamischer Kompetenz im Kontext von Tod und Sterben. Das vorliegende Buch ermöglicht eine psychodynamisch ausgerichtete Reflexion des eigenen Handelns, eine fundierte Erweiterung der therapeutischen Verstehens- und Handlungskompetenzen sowie eine Verknüpfung von psychodynamischer Theorie und therapeutischer Praxis im Umgang mit dem Lebensende. Unter Einbeziehung soziologischer und philosophischer Grundlagen werden thanatopsychologisch relevante wissenschaftliche Studien dargestellt ebenso wie klassische und moderne psychodynamische Theorien zum Todesthema. Weitere Kapitel thematisieren typische Inhalte einer Psychotherapie am Lebensende, wie Affekte, existenzielle Themen und Suizidalität. Abschließend gibt der Band einen anwendungsbezogenen Überblick über das Vorgehen und die Methoden in der psychotherapeutischen Arbeit. Das Buch bietet somit eine wertvolle Übersicht und Hilfestellung für praktisch Tätige im Bereich der Psychotherapie, Psychoonkologie und Palliativmedizin sowie für andere Berufsgruppen, die Menschen am Lebensende betreuen und begleiten.

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Ralf T. Vogel

Psychodynamische Psychotherapie am Lebensende

Praxis der psychodynamischen Psychotherapie – analytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

Band 14

Psychodynamische Psychotherapie am Lebensende

Prof. Dr. Ralf T. Vogel

Die Reihe wird herausgegeben von:

Prof. Dr. Manfred E. Beutel, Prof. Dr. Stephan Doering, Prof. Dr. Falk Leichsenring, Prof. Dr. Günter Reich

Prof. Dr. Ralf T. Vogel, geb. 1962. 1984–1989 Studium der Psychologie und Sinologie in Mannheim und Erlangen-Nürnberg. 1995 Promotion. 2021 Habilitation im Fachbereich Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien. Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeut, Lehranalytiker am Institut für Psychodynamische Psychotherapie Nürnberg und am C. G. Jung Institut Zürich. Seit 2002 eigene Praxis für Psychotherapie und Supervision in Ingolstadt. Seit 2012 Honorarprofessor für Psychotherapie und Psychoanalyse an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Arbeitsschwerpunkte: existenzielle Themen in der Psychotherapie, Grundlagen der Psychotherapiewissenschaft, Analytische Psychologie.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor:innen bzw. den Herausgeber:innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor:innen bzw. Herausgeber:innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Beate Hautsch, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2023

© 2023 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3085-0; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3085-1)

ISBN 978-3-8017-3085-7

https://doi.org/10.1026/03085-000

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Für meinen Vater, in dessen Sterbezeit die Entstehung dieses Buches fiel

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort der Herausgeber

Vorwort

1  Einführung

2  Aspekte des Sterbens

2.1  Der Tod als Abschied

2.2  Sterben heute

2.3  Sterben aus psychologischer Sicht

2.4  Die Phänomenologie des Sterbens

3  Der Tod in Psychoanalyse und Analytischer Psychologie

3.1  Klassische Psychoanalyse

3.2  Der Todeskomplex in der Analytischen Psychologie

3.3  Die Individuation am Lebensende

4  Psychotherapie als Klinische Philosophie in Beziehung

5  Aspekte der psychotherapeutischen Arbeit am Lebensende

5.1  Die Totalität des Sterbens

5.2  Affekte am Lebensende

5.2.1  Die Verunsicherung der Sterbenden

5.2.2  Sterbetrauer

5.2.3  Sterbeschuld

5.2.4  Sterbescham

5.2.5  Sterbeängste

5.2.6  Sterbefreude

5.3  Existenzielle Themen am Lebensende

5.3.1  Die Einsamkeit im Sterben

5.3.2  Die Sinnfrage

5.3.3  Freiheit und Sterben

5.3.4  Konsequenzen

5.4  Subjektive Lebensqualität und Psychische Belastungen

5.5  Suizidalität und Sterbewünsche

5.6  Psychodynamische Psychotherapie im Kontext der Versorgung Sterbender

6  Therapiepraktische Überlegungen

6.1  Sprechen über Sterben und Tod

6.2  Weltanschauliche Wachsamkeit

6.3  Psychodynamische Konzepte von Tod und Lebensende

6.3.1  Regression am Lebensende

6.3.2  Bindungstheorie

6.4  Die therapeutische Beziehung: Intersubjektivität im Umfeld des Sterbens

6.4.1  Übertragung, Gegenübertragung und die unbewusste Szene

6.4.2  Containing

6.5  Spezielle Themen

6.5.1  Das getrübte Bewusstsein

6.5.2  Der Narzissmus der Sterbenden

6.5.3  Spiritualität und Spiritual Care

6.5.4  Vertrauen am Lebensende

7  Psychotherapeutische Methoden

7.1  Der Umgang mit der Abwehr und die Stärkung des Ich

7.2  Präsenz und Zeugenschaft

7.3  Bindungsorientierung

7.4  Die Arbeit mit dem inneren Bild

7.5  Traumarbeit

7.6  Amplifikation

7.7  Der Blick zurück und der Blick nach vorne

7.8  Trost und Ermutigung

7.9  Umgang mit Sexualität

7.10  Berührungen

7.11  Versöhnung und Dankbarkeit

7.12  Kreativität und die therapeutische Nutzung von (bildender) Kunst, Lyrik, Prosa und Musik

7.13  Aufsuchend Arbeiten – Hausbesuche

7.14  Arbeit mit Angehörigen und Freunden

8  Krankheit und Lebensende des Therapeuten

9  Schlussbemerkungen

Literatur

|1|Geleitwort der Herausgeber

Als Herausgeber der Reihe Praxis der psychodynamischen Psychotherapie – analytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie freuen wir uns, mit Ralf T. Vogel einen mit existenziellen Themen der psychodynamischen Psychotherapie intensiv befassten Autor gewonnen zu haben. Der hier vorliegende Band Psychodynamische Psychotherapie am Lebensende widmet sich einem psychotherapeutisch sehr wichtigen Thema, dem Umgang mit Sterben, Tod und der Begrenztheit des Lebens. Wegen der Besonderheit der Thematik weicht er von den bisherigen Bänden – und wohl auch den folgenden – ab. Sterben und Tod sind sehr individuelle Vorgänge und Ereignisse. Zudem gibt es hier kein eindeutiges Therapieergebnis, an dem gute oder schlechte Psychotherapie zu messen wäre, außer bei den Angehörigen, die sich in ihrem Leiden und Kummer mehr oder weniger verstanden und aufgefangen fühlen können. Hier werden Themen wichtig, die sonst in der Psychotherapie oft vernachlässigt werden: Sinnfragen, Spiritualität, Transzendentalität. Die „klassische“ Psychoanalyse hat sich dieser Themen „kritisch-aufklärerisch“ angenommen, aber nicht immer hilfreiche Antworten gefunden. In jüngerer Zeit allerdings haben sich so namhafte und in ihrer Art unterschiedliche Psychoanalytiker wie Otto F. Kernberg (2014, S. 313–350) und Léon Wurmser (2010) mit den Themen Religion, Spiritualität, Sterben, Tod, Erinnern und Verzeihen differenziert auseinandergesetzt. Als jungianischer Psychoanalytiker hat Ralf T. Vogel aufgrund der in Bezug auf diese Themen breiten und vertieften Tradition dieser Richtung der Psychoanalyse einen gegenüber anderen Ansätzen der psychodynamischen Psychotherapie erweiterten Zugang zu diesen Themen, der auch in dieser Hinsicht unsere Manualreihe erweitert.

|2|Literatur

Kernberg, O. F. (2014). Liebe und Aggression. Eine unzertrennliche Beziehung. Stuttgart: Schattauer.

Wurmser, L. (2010). Trauer, Vergessen und die Kultur des Erinnerns und Verzeihens (Vortrag, Lindauer Psychotherapiewochen 2010, 18.–30. April 2010, „Identitäten“/„Erinnern und Vergessen“) [DVD]. Müllheim-Baden: Auditorium Netzwerk.

Mainz, Wien, Gießen und Göttingen im September 2022

Manfred Beutel

Stephan Doering

Falk Leichsenring

Günter Reich

|3|Vorwort

O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod.

Rainer Maria Rilke (2013)

Das vorliegende Buch unterscheidet sich insofern von der Zielsetzung der Reihe, als, wie deutlich werden wird, eine irgendwie geartete Normierung oder gar eine strikte Form der Manualisierung eines therapeutischen Vorgehens am Lebensende nicht beabsichtigt, ja sogar als unangemessen betrachtet wird. Lediglich im Sinne einer psychodynamisch ausgerichteten Selbstreflexion des eigenen Handelns, einer etwaigen Erweiterung von Verstehens- und Handlungskompetenzen oder einer Verknüpfung von (psychodynamischer) Theorie und therapeutischer Praxis können dem vorliegenden Text Manualeigenschaften zugesprochen werden, nicht aber mit Blick auf die Einzigartigkeit in der therapeutischen Begegnung. Das Lebensende, das Sterben und der Tod eines Menschen sind in einem solchen Ausmaß singulär, dass sich die Überlegungen von Gruppenbildungen, wie sie Handbüchern und Manualen bisweilen zugrunde liegen, von vorneherein verbieten. In der Terminologie der Palliativ Care wird hier gesprochen von „der dominanten Ausrichtung auf die Bedürfnisse und Bedürftigkeiten des Sterbenden“ (Heller & Schwartz, 2000, S. 38), in der Thanatopsychologie nennt man diesen Umstand die „radikale subjektive Bedürfnisorientierung“. In moderner psychotherapiewissenschaftlicher Sprache geht es um personalisierte Therapie, um personenzentriertes Vorgehen und um Idiosynkrasie (griech. idiosynkrāsía: Selbst-Eigenheit, Eigentümlichkeit). Der Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung etwa stellte in einem Vortrag schon 1924 generell fest: „Wenn ich Herrn X behandle, so bin ich genötigt, die Methode X anzuwenden, und bei Frau Z die Methode Z“ und es „muss die sture Verwendung einer bestimmten Theorie oder Methode als von Grund auf verfehlt bezeichnet werden“ (Jung, 1924a/1995, § 203).

Gleichzeitig zur Einzigartigkeit des eigenen Sterbens ist aber der Tod auch ein allgemein biologischer Vorgang und v. a. ein grundlegend existenzielles, d. h. alle Menschen gleichermaßen angehendes, Thema. Genau aber auch wegen ihrer existenziellen Eigenschaften bleiben Sterben und Tod |4|als solche letztendlich unfassbar und in gewisser Weise immer fremd.„Das Wissen zögert angesichts des Todes“ (Han, 1998, S. 11), und es wird deutlich, dass „die Konfrontation mit dem Tod im Leben an die Grenzen der Sagbarkeit führt“ (Schöpf, 2014, S. 184). Sterben ist nicht wirklich denk- und vorstellbar, es bleibt, wie Karl Jaspers (1971) betonte, nur in der Fremderfahrung des Sterbens anderer ansatzweise erfassbar, nie jedoch, was den eigenen Tod betrifft. Dies meint einen bedeutsamen und während der gesamten Lektüre des Buches (und der therapeutischen Arbeit im Umfeld des Todes) ständig mitzuberücksichtigenden, erkenntnistheoretischen Faktor, nämlich die Aporie und die Opazität (zu diesen Begriffen vgl. Vogel, 2021) des Todesthemas und damit auch des Sterbens. Sie führen zu der im therapeutischen Prozess unmittelbar beobachtbaren Tatsache, dass die psychodynamische Theorie und Praxis zu einer Arbeit an und mit dem Negativen wird, die den Charakter des Fehlens, der „Abwesenheit“ (ebd., S. 254) in sich trägt.

Während die Idiosynkrasie von Tod und Sterben das therapiepraktische Hauptargument für eine Relativierung der Manualisierungsidee darstellt, sind Opazität und Aporie also das wissenschaftstheoretische Pendant. Die Machart des vorliegenden Buches, nämlich auf vereindeutigende und nomothetische Aussagen zu verzichten und stattdessen theoretische und praktische Instrumente anzubieten und den „Gegenstand“ dieser Arbeit, das Sterben nämlich, behutsam zu umkreisen, versucht, dem Rechnung zu tragen, ebenso wie die ausführliche Nutzung philosophischer und literarischer Blickwinkel. Dass dies nicht auf Kosten der Wissenschaftlichkeit geht, wird hoffentlich u. a. dadurch deutlich, dass der Großteil der für den vorliegenden Behandlungsansatz herangezogenen Konzepte und Interventionen klassisch empirische Studien „im Rücken“ hat und dadurch eine gewisse kumulative empirische Evidenz besteht. Die zahlreichen Verweise auf die Literatur zur entsprechenden Forschung dienen diesem Zweck. Zudem ist dieser schmale Band auch als eine Art Kompendium zu sehen, der, auch wenn er nicht umfassend gestaltet werden konnte, als praktische Handlungsvorlage dienlich sein kann. Immer wieder stößt man daher auf Themenbereiche, die für sich genommen eine Monografie verdient hätten. Alle am weiteren Studium des einen oder anderen nur umrissenen Aspekts Interessierten seien auf die entsprechend angeführten Literaturquellen verwiesen.

Aus der grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Sterbenmüssens in sprachlicher, emotionaler und materieller Hinsicht erwächst eine tiefgreifende existenzielle Verunsicherung, auf die später genauer einzugehen sein wird. Es genügt an dieser Stelle anzumerken, dass die psychodynamische Denk- und Sprechweise im Hinblick auf die Aporie des Todes als nur eine, wenn auch – wie sich zeigen wird – sehr brauchbare Art der Annäherung betrach|5|tet wird, die in keiner Weise den Anspruch auf eine Aneignung oder Verfügbarmachung erheben will. Deutlich wird hier aber bereits, dass die Befassung mit Tod und Sterben wohl alle „großen Themen“ der Psychotherapie, die heute z. T. als transdiagnostische Faktorendiskutiert werden, tangiert. Während in der Nachfolge der ersten Konzeption eines transdiagnostischen Ansatzes, ausgehend von der Forschungsgruppe um die Berkeley-Professorin Allison Harvey, pathologische bewusstseinsnahe Prozesse um Faktoren wie Gedächtnis, schlussfolgerndes Denken oder Verhalten in den Blick genommen werden (Harvey et al., 2004), verzichtet ein existenziell motivierter Ansatz auf einen defizitorientierten Blick und hinterfragt die Problemschilderungen und Symptome der Patienten1 im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden existenziellen Thematiken. Im Gegensatz zur Existenziellen Psychotherapie, die die Grundlagen der Existenz prägnant und bedeutsam herausarbeitet und psychotherapeutisch aufbereitet (vgl. Abschnitt 5.3.4), sind die psychotherapiepraktisch direkteren Grundelemente zwar mit den existenziellen Themen durchaus verschwistert, enthalten aber eine mehr unmittelbare, weil affektiv anschaulichere, Komponente. Es sind dies:

Verunsicherung,

Vergänglichkeit,

Verfügbarkeit,

Vertrauen.

Im Fortgang der Lektüre wird hoffentlich deutlich werden, dass diese vier Grundelemente beständig die therapeutische Arbeit mit Sterbenden, immer natürlich in unterschiedlicher Zusammensetzung und Ausprägung, unterlegen.

Das vorliegende Buch fokussiert in der theoretischen Betrachtung und den daraus abgeleiteten Methoden auf die psychoanalytischen Theorien. Es unterscheidet sich damit von den bereits vorliegenden therapeutischen Überblickswerken (vgl. Berthold, Gramm, Gaspar & Sibelius, 2017) und integrativen Handbüchern (vgl. Vogel, 2022). Unter dem Begriff „psychodynamisch“ sollen hier in üblicher Weise alle von der Psychoanalyse abgeleiteten und weiterentwickelten psychotherapeutischen Denk- und Praxismodelle gelten (vgl. Beutel, Doering, Leichsenring & Reich, 2020; Ermann & Waldvogel, 2008), aus denen die zum Zweck der psychotherapeutischen Arbeit am Lebensende bedeutsamen Aspekte auszuwählen waren. Da Alfred Adler augenscheinlich in seinem Werk den Themenbereichen Sterben und Tod wenig Beachtung geschenkt hat, werden neben den |6|Freud’schen Richtungen und deren modernen Konzeptionen v. a. die Gedanken der Analytischen Psychologie C. G. Jungs eine Rolle spielen, da dessen philosophisch-psychologisches Gebäude durchaus als eine Form von Thanato-Tiefenpsychologie zu bezeichnen ist (Vogel, 2018; vgl. auch Kap. 3.3).

„Wir können nicht über den letzten Lebensabschnitt schreiben, als betrieben wir eine objektive Studie, die den Schreibenden nichts angeht“, meinte einmal der einflussreiche amerikanische Analytiker James Hillman (2001, S. 23). Dies gilt natürlich auch für den vorliegenden Text. Trotz allem Bemühen um wissenschaftliche Grundlegung durch Heranziehung empirischer Studien und theoretische Fundierung: Die Auswahlen, die getroffen werden mussten, die Schwerpunktsetzungen und Auslassungen bestimmter Themenbereiche, sie alle entspringen auch der Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen von Todesnähe, der Begleitung von Sterbenden und Trauernden, von Angehörigen, Freunden und professionellen Helfern. Hillman ergänzend könnte man also auch sagen: Wir können nicht über den letzten Lebensabschnitt lesen, als würde das Thema den Lesenden selbst nichts angehen. Ein Buch über das Sterben – auch ein wissenschaftliches – ist immer auch ein Stück Selbsterfahrung und, in diesem Falle, ein Stück persönlicher therapeutischer Entwicklung. So ist der vorliegende Text neben einem Vorschlag für eine psychodynamische Denk- und Arbeitsweise am Lebensende auch eine Anregung für die Leserinnen und Leser selbst, wieder ganz indiosynkratisch eine solche therapeutische Haltung und Arbeitsweise zu entwickeln.

Ingolstadt, im September 2022

Ralf T. Vogel

1

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit ist dieses Buch im generischen Maskulinum formuliert. Es soll aber hiermit ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass damit alle Gendervarianten immer mitgemeint sind.

|7|1  Einführung

Das Sterbenmüssen, das Wissen darum und der Sterbeprozess selbst sind keine in erster Linie psychologischen oder psychotherapiewissenschaftlichen Begriffe, sie gehören vielmehr zu den „anthropologischen Grundphänomenen“ (Bormann & Borasio, 2012, S. I) und sind assoziiert mit Grenzerfahrungen, Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, die wiederum, quasi in zweiter Ordnung, eine hohe psychologische, psychoanalytische und auch psychotherapeutische Bedeutung innehaben. Media vita in morte sumus: Im Jahr 2020 starben in Deutschland über 980 000 Menschen, durchschnittlich also mehr als 2 500 pro Tag. Circa 850 000 Menschen sehen – aus sehr unterschiedlichen Gründen – ihrem Sterben gerade unmittelbar entgegen. Etwa 760 Millionen Tiere starben im gleichen Jahr in deutschen Schlachthöfen, was zusätzlich das Sterben als bedeutsamen Kontext des Alltagslebens veranschaulicht. Diese existenzielle Tatsache des Eingebettetsein unseres Lebens ins Sterben um uns herum ist erst und gerade seit den kollektiven Verunsicherungsszenarien der beginnenden 20er Jahre dieses Jahrhunderts (Corona-Pandemie, Umweltzerstörungen etc.), in denen die Zahl der „an und mit“ diesen Gegebenheiten Verstorbenen uns täglich vor Augen geführt wurde (allerdings allermeistens ohne sie in Bezug auf die gesamte „Sterbesituation“ in unserem Land zu bringen), wenigstens ansatzweise ins Bewusstsein der Bevölkerung und damit oft auch der psychotherapeutisch Tätigen gerückt (Vogel, 2020a).

Das Lebensende „prolongiert“: Die Menschen erreichen ein höheres Lebensalter, die durchschnittliche Überlebenszeit nach Stellung auch einer infausten Prognose verlängert sich beständig und auch der terminale Sterbeprozess selbst nimmt immer mehr Zeit in Anspruch und wird mehr und mehr zu einer eigenständigen Lebenszeit. Demgegenüber steht die Beobachtung, dass die traditionellen Internalisationen zum Todesthema (wie etwa religiöse Jenseitserwartungen, Erlösungs- oder Bestrafungsvorstellungen) nicht mehr bestehen, die althergebrachten (Sterbe-)Strukturen weitgehend nur mehr bruchstückhaft zur Verfügung stehen und Zug um Zug durch Professionalität ersetzt werden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der Bedarf an Psychotherapie am Lebensende und auch die Psychotherapie mit Sterbenden kontinuierlich zunimmt. Die |8|Palliativmedizin unterscheidet zwischen der Rehabilitationsphase (in der durch palliativmedizinische Interventionen eine vorübergehende Besserung erreicht werden kann), der einige Wochen bis Monate dauernden Terminalphase (Prä-final-Phase) und schließlich der zeitlich etwa auf die letzten drei Lebenstage begrenzten Finalphase. Ein Großteil der durchschnittlich aufgrund des medizinischen Fortschritts gewonnenen Lebensverlängerung fällt in eine prolongierte Sterbephase zwischen rehabilitativer und terminaler Zeit. Mehr als 60 % der Menschen in Deutschland werden älter als 80 Jahre, mit steigender Tendenz. Von einer kontinuierlich steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen ist auszugehen und auch hier kündigt sich ein voraussichtlich stark erhöhter Bedarf an psychotherapeutischer Arbeit an.

Wann genau die Lebensphase des „Sterbens“ einsetzt, wird von den Menschen höchst subjektiv definiert. Wir wollen den Sterbebegriff deshalb in diesem Buch nicht anhand von medizinischen Parametern wie der wahrscheinlichen Lebenserwartung oder Schwere der Erkrankung festmachen, sondern definieren Sterben hier psychologisch als diejenige Lebenszeit, ab der jemand sich (oft ausgelöst durch körperliche Symptome oder eine mitgeteilte Diagnose, aber auch aufgrund eines hohen Alters) direkt auf den Prozess in Richtung des biologischen Todeszeitpunkts ausrichtet (sich seiner deutlich lebenszeitbegrenzten Situation also bewusst ist), und dieser Zeitpunkt subjektiv auch ungefähr gefasst ist. Ohne damit der ohnehin vorherrschenden Überbiologisierung des Sterbens Vorschub leisten zu wollen, scheint diese Einbeziehung des biologischen Sterbezeitpunkts in eine psychologische Definition des Sterbens angebracht, bildet sie doch auch das subjektive Erleben der meisten Menschen ab. Im Vergleich dazu und durchaus ähnlich formuliert

wird von Lebensende gesprochen, wenn die verbleibende Lebenszeit von Menschen jeden Alters aller Voraussicht nach nur noch kurz ist. Aufgrund bestimmter Umstände wie hohem Alter oder schwerer Erkrankung wird der Eintritt des Todes wahrscheinlicher. Zeitlich lässt sich die Phase des Lebensendes jedoch nicht genauer bestimmen. Sie kann von einer kurzen Zeitspanne bis zu einigen Jahren reichen. (Trachsel & Maerker, 2016, S. 1)

Grundsätzlich ist das Sterben allerdings prozesshaft zu verstehen. Es ist dabei durchaus nicht linear, und wie dessen Anfang und Ende bestimmt werden kann, ist nicht wirklich definierbar. Lebensende und Sterben werden in dieser Sicht also nicht nur passiv als Leidens- oder Erduldenszeit, sondern explizit als eigenständiger Lebensabschnitt betrachtet, als, wie Rilke es in einem Brief formuliert, „die uns abgekehrte, von uns unbeschienene Seite des Lebens“ (Rilke, 1950, S. 896), die ihm aber doch unablösbar zugehört.

|9|Im Gesundheitssystem der deutschsprachigen Länder, das primär durch eine feindliche Kampfeshaltung dem Tod gegenüber bestimmt ist und dem zumindest in institutionellem Rahmen die Psychotherapie zugeordnet wird, hat sich dies lange nicht durchgesetzt. 1967 gründete sich in London das erste Hospiz. Im Gegensatz zu Palliativstationen, die explizit Teil von Krankenhäusern sind und mit einer typischen medizinischen Versorgungsstruktur für Menschen im Sterbeprozess konzipiert sind, wollen Hospize Wohneinrichtungen für Menschen am Lebensende sein, in denen die Organmedizin nur einen notwendigen Seitenaspekt einnimmt. Nach einer eventuell mit der deutschen Nazivergangenheit in Verbindung stehenden zögerlichen Annäherung an die Hospizidee in Deutschland (Wittrahm, 2018) folgte 1983 eine Gründung an den Universitätskliniken in Köln. Heute gibt es ca. 270 stationäre Hospize und ca. 330 Palliativstationen. In der Last Year of Life Study um den Kölner Palliativmediziner Raymond Voltz (vgl. z. B. Strupp, Hanke, Schippel, Pfaff, Karbach & Rietz, 2018) wünschten sich zwar fast 70 % der Befragten ein Sterben zu Hause, in der Realität aber versterben mehr als 40 % im Krankenhaus und etwa 20 % im Hospiz. Es gibt also so etwas wie institutionalisierte Sterbeeinrichtungen: Hospize, Krankenhäuser – dort v. a. die Palliativstationen (obwohl diese sich nicht so sehen) – und auch Alten- und Pflegeheime, in denen in Deutschland ca. 70 % der Menschen ihre letzte Lebenszeit verbringen. Zumindest in den ersten beiden ist psychotherapeutische und v. a. psychodynamische Kompetenz direkt nachgefragt, entweder in der unmittelbaren Arbeit mit Patienten und Angehörigen oder in der Teamarbeit und schließlich auch in der Supervision von ärztlichen oder pflegerischen Teams.

|10|2  Aspekte des Sterbens

2.1  Der Tod als Abschied

So leben wir und nehmen immer Abschied.

Rainer Maria Rilke (2013)

„Unser Leben“, so interpretiert Hierdeis (2014) die Sichtweise Sigmund Freuds, „ist vom Tod her in ein gedämpftes Licht getaucht. … Alles, was wir lieben ist mit Sterblichkeit kontaminiert“ (S. 19). Der Tod ist die ultimative Form des Vergänglichen, die radikalste Aufforderung zum Abschied. Eigentlich ist das menschliche Leben von seinem Beginn an von mehr oder weniger dramatischen Abschieden durchzogen und Entwicklungen und Innovationen sind neben der Einführung in etwas Neues stets auch Abschiede vom Altem.

Mit Bezug auf den Philosophen Weischedel formuliert Verena Kast (z. B. 2017) eine „abschiedliche Existenz“, die uns für die alltäglichen Abschiede wieder sensibilisieren soll. Der Tod als kumulierte Abschiedsform, „als letzte Trennung, baut auf unzählig vielen Trennungsschritten im Verlauf des Lebens auf“ (Küchenhoff, 2017, S. 91) und kann so durch viele kleine und große Abschiede im Leben „geübt“ werden – eine Haltung, die an die buddhistische Einübung des Loslassens und die daoistische Kontemplation des Wandels und der Vergänglichkeit erinnert (vgl. auch Kap. 7.2). Umgekehrt ist die Ausformung einer eigenen Haltung zum „ultimativen Abschied“ eine gute Vorbereitung auf die alltäglichen Abschiedsszenarien, indem diese in ihrer wahren Bedeutung relativiert werden, aber auch generell ein passender Modus des Abschiednehmens entwickelt wird. Abschiede generieren eine komplexe Mischung aus Gefühlen. Trauer, Kummer, Schmerz (auch körperlich erlebter), Zorn, Schuld und Angst, eventuell aber auch Erleichterung, Neugier oder gar Glücksgefühle sind heillos ineinander verwoben und stiften psychische Verwirrung.

Die äußere Komponente des Abschieds fordert zu konkreter Handlung auf. Gestalten wir den Abschied punktuell oder fließend, radikal oder scheib|11|chenweise, ritualisiert oder profan? Ertragen wir ihn ganz und total oder versuchen wir, ihn zu einem lediglich teilweisen Abschied herunterzubrechen? In diesen heterogenen möglichen Umgangsweisen spiegelt sich nicht selten die innere Komponente: Können wir anstehende oder vollzogene Abschiede bedenken oder versuchen wir, sie aus unserem Bewusstsein fernzuhalten? Realisieren wir die alltäglichen Abschiede oder nehmen wir sie gar nicht wahr? Bei all dem macht es einen Unterschied: Ist es ein Abschied durch Entschluss oder ein von außen gemachter, uns in die Trennung hineinzwingender Abschied? Retrospektiv steht bei jedem Abschied auch der Gedanke „Wo komme ich her und was lasse ich zurück?“ im Vordergrund. Es gibt aber auch eine prospektive Sicht, aus der gefragt wird: „Wo gehe ich hin und was gewinne ich?“. Diese beiden Fragestellungen fordern höchst individuelle Antworten und machen damit deutlich: Abschied vom Leben ist einzigartig! Es gibt kein Richtig und Falsch. Das Sterben wird zum „Spezialfall“ der Abschiede des Lebens, das memento mori wird zu einem memento quod vale!

2.2  Sterben heute

In heutiger Zeit wird allgemein der Sterbeprozess als biologisches, der Obhut der Medizin unterliegendes Geschehen betrachtet, das Sterben wird aus biotechnologischer Sicht zum „Abstöpseln“ (Gronemeyer, 2007). Psychische und spirituelle Bedürftigkeiten Sterbender werden oft gar nicht erkannt oder verschämt ignoriert. Grundsätzlich gilt der Tod als größtes Übel, das kriegerisch bekämpft und unter allen Umständen so lange wie möglich hinausgezögert werden muss. Das Sterben wird als Krankheit, der Tod als Niederlage gesehen. Seit der Aufklärung und der damit verbundenen Zurückdrängung des Religiösen ist das Sterben aus dem Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit verschwunden. Der Sterbeprozess erfolgt hinter verschlossenen Türen und auf jeden Fall „erst in ferner Zukunft“ (Wasner & Mayer, 2019, S. 21). Das Lebensende „prolongiert“ (höheres Alter, Zeit nach der Diagnose, Sterbeprozess selbst), die traditionellen (Sterbe-)Strukturen sind weitgehend zerbrochen und durch Professionalität ersetzt und die traditionellen Internalisationen zum Todesthema bestehen nicht mehr.

Die moderne westliche Kultur zeigt nicht mehr, wie vielleicht noch vor 30 Jahren, eine wirkliche Verdrängung des Todes, jedoch aber eine Alienation, eine Entfremdung, stark bedingt durch die mediale (Über-)Präsenz des Sterbens, was zwar eine oberflächliche Habituation, gleichzeitig aber auch eine tiefe Entfremdung bewirkt. Wie genau der Ablauf des biologischen Sterbeprozesses aussieht, dass wissen viele Menschen nur aus oft|12|mals verfälschten filmischen Inszenierungen. Gleichzeitig herrscht gesellschaftlich und politisch ein deutlicher „Gesundheitsimperativ“ und ein fast moralischer Zwang zu Fitness und Wellness, verbunden mit dem genannten feindlichen Verhältnis zu Sterben und Tod. Die mit dieser Grundhaltung verbundene Medikalisierung des Todes weist ihm den Charakter einer Krankheit zu und steht damit in der christlichen Tradition des „nicht Naturgemäßen“ des Sterbens, das ja erst als Folge der Erbsünde über den Menschen gekommen sei.

2.3  Sterben aus psychologischer Sicht

Für etwas Opakes, in seinem letzten Grund Undurchschaubares, wie es Tod und Sterben sind, Begriffe zu finden, muss letztendlich ungenügend und immer vorläufig bleiben, will man nicht in unergiebige Vereinfachungen verfallen. Der Begriff des Sterbens, wann das Sterben beginnt und was es auszeichnet, ist daher auch in der Wissenschaft durchaus umstritten und uneinheitlich definiert. Biologische, theologische, philosophische, soziologische und auch psychologische Auffassungen von Tod und Sterben sind auffindbar.

Wir wollen für unseren psychotherapeutischen Zusammenhang den Sterbeprozess als einen „Modus des Lebens“ (Caruso, 2001, S. 41) primär psychologisch definieren als den menschlichen (Entwicklungs-)Zeitraum ab dem Zeitpunkt, an dem, ausgelöst durch eine meist medizinisch erfolgte Mitteilung einer Erkrankung, eine eindeutige Ausrichtung auf einen erwartbaren Todeszeitpunkt, eine Gestimmtheit in Richtung Tod, erfolgt. Alltagspraktische, somatische, psychische, soziale und spirituelle Aspekte greifen in diesem Prozess eng ineinander (z. B. Wittkowski & Dingerkus, 2005). Der Tod selbst wird als das Ende aller biologischen Körperfunktionen definiert, allerdings ohne, das sei ausdrücklich bemerkt, damit einer materialistisch-monistischen Todesphilosophie das Wort reden zu wollen.

Sterben dauert, wie bereits angemerkt, in den hochentwickelten Industrienationen meist lange, das Lebensende wird zu einer eigenen und hochbedeutenden Lebensphase. So urteilte der krebskranke Jurist Peter Noll in seinen berühmten Diktaten über Sterben und Tod:

Es ist wirklich eine Chance, den Tod auf sich zukommen zu sehen. Erstens muss man keine Rücksichten mehr nehmen; zweitens kann man alles vorbereiten und abschließen. Der Tod tritt weder als scharfe Zäsur mitten ins Leben, noch kommt er auf seinen bösen, leisen Sohlen. (Noll, 2005, S. 26)

Im Rahmen psychologischer Modelle wurde immer wieder auf sog. Sterbephasen rekurriert, beginnend mit der Phasenlehre von Elisabeth Kübler-Ross |13|bis hin etwa zu moderneren Modellen, die den Sterbeverlauf z. B. nach den biologischen Ausgangbedingungen (plötzlicher Tod, fortschreitende Erkrankung oder fortgeschrittene Erkrankung mit plötzlichem Tod) unterteilen (z. B. Mayer & Wasner, 2019). Der Seelsorger und Sterbebegleiter Heinrich Pera beschreibt alternativ den „Weg ins Sterben“ aus seiner Erfahrung heraus (vgl. Kasten).

Phasen des Sterbens nach Pera (1995, S. 162 ff.)

Phase des Schocks

Phase der Klage

Phase des tastenden Suchens

Phase tiefer Trauer

Vergessen wird hier wie bei der Betrachtung des Sterbegeschehens häufig, auch eine Gender-Perspektive anzusetzen. „Die vom Geschlecht bestimmten Strukturen um den Tod“ (Cline, 1997) werden nicht berücksichtigt. Frauen scheinen am Lebensende eher auf soziale Beziehungen und Sorge um die Liebsten zu fokussieren. Auch Spiritualität spielt wohl eine stärkere Rolle als bei den Männern, ebenso die Bedeutung von Körperpflege. Die Bedürfnisse von Männern in der Sterbezeit sind hingegen noch weitgehend unbekannt, es gibt Hinweise auf den Wert der Bewahrung von Autonomie und gleichzeitige Wünsche nach guter Versorgung. Von Bedeutung ist für Männer sicher auch die Frauendomäne in der Pflege, sodass Männer nicht selten am Lebensende fast ausschließlich von Frauen umgeben sind (Lehner & Reitinger, 2013; Cline, 1997; Linnemann, 2005). Hier ist auch zu bemerken, dass viele Institutionen der Versorgung am Lebensende auf die Situation von homosexuellen und Trans-Menschen nicht vorbereitetet sind.