Exploit - Ralph Mayr - E-Book

Exploit E-Book

Ralph Mayr

0,0

Beschreibung

Alles hat seinen Preis Wenn Staaten im Kampf gegen Kriminalität zunehmend auf allgegenwärtige Überwachung setzen, wird die Grenze zwischen Politik und Technologie immer unschärfer. Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen eröffnen heute schon ungeahnte Möglichkeiten, aber wer entschiedet schlussendlich über den legitimen Einsatz dessen was technisch machbar ist? Welchen Preis sind wir als Gesellschaft bereit zu bezahlen, wenn die Prinzipien des Rechtsstaates auf dem Spiel stehen? Kein Softwaresystem ist ohne Fehler, auch wenn es noch so ausgeklügelt erscheint. Wo Fahrlässigkeit, Sabotage, Macht und Missbrauch fließend ineinander übergehen, entscheiden diese Fragen letztendlich über Leben und Tod. Nathan Long ahnt noch nicht, dass ihn diese Geschäftsreise durch Südostasien für immer verändern wird. Der CEO von Veridical, einem ebenso erfolgreichen wie geheimnisumwobenen Softwarekonzern, sieht sich plötzlich mit wirren Anschuldigungen eines dubiosen Hacker-Kollektivs konfrontiert: Seine Produkte, weltweit im Einsatz um Straftäter aufzuspüren, sollen lückenhaft sein und werden missbraucht, um Dissidenten mundtot zu machen. Als sich die vagen Vorwürfe unvermittelt in eine handfeste Erpressung verwandeln, gerät Nathan zwischen die Fronten zweier bedrohlicher Mächte. Keine von ihnen ist bereit aufzugeben und keiner schreckt vor radikalen Maßnahmen zurück. Welchen Preis ist er bereit zu zahlen, um sich selbst und seine Firma zu retten?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 256

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



RALPH MAYR

EXPLOIT

INFORMATION IST NICHT UMSONST

© 2021 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2021

Autor: Ralph Mayr

Lektorat: Dr. Benjamin Ziech

Copy-Editing: Irina Sehling

Satz: Veronika Schnabel

Illustration Cover: Weberson Santiago

ISBN (Buch) 978-3-947619-81-8

ISBN (PDF) 978-3-947619-82-5

ISBN (ePub) 978-3-947619-83-2

ISBN (mobi) 978-3-947619-84-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Ralph Mayr, geboren 1987 im niederösterreichischen Scheibbs, hat zwei große Leidenschaften: IT und Literatur. Die erstere hat er zum Brotberuf gemacht, indem er nach dem Studium Software Engineering eine Karriere als Software-Entwickler, ScrumMaster und Product Owner eingeschlagen hat. Heute kümmert er sich als Produktmanager vorrangig um die ökonomische Seite digitaler Technologien, während er seine Liebe zum Schreiben dadurch pflegt, dass er deren politischen, sozialen und ethischen Aspekten in Fachartikeln und Kurzgeschichten auf den Grund geht.

Zeitgenössische Fragen rund um künstliche Intelligenz, allgegenwärtige Überwachung und das heikle Tandem zwischen Nationalstaaten und Hightech-Konzernen prägen auch seinen Debütroman »Exploit«.

Inhalt

/* Zhōngnánhăi */

Kapitel 1

Scam

Kapitel 2

Unsupervised

Kapitel 3

Haystack

Kapitel 4

Fake News

Kapitel 5

Crash

Kapitel 6

/* Hútong */

Kapitel 7

/* Frühling */

Kapitel 8

/* Nationaler Volkskongress */

Kapitel 9

/* Skelett */

Kapitel 10

Impact

Kapitel 11

/* Drache */

Kapitel 12

Fog

Kapitel 13

/* Regen */

Kapitel 14

/* Fènghuáng */

Kapitel 15

/* Zukunft */

Kapitel 16

Legacy

/* Zhōngnánhăi */

Der Mann, der aus dem gesichtslosen Gebäude hinaus in die Kälte trat, sah nicht auffälliger aus als jeder andere der tausenden Beamten, die im Regierungsviertel Zhōngnánhăi ihren Dienst versahen. Sein dunkelgrauer Anzug und der schwarze Wollmantel waren von der Stange, die Schuhe zwar aus Leder, allerdings billige Fabrikware und seine braune Aktentasche alt und abgenutzt.

Zwar hatte sich die Luftqualität in der Hauptstadt von Jahr zu Jahr verbessert, in den Wintermonaten war sie aber immer noch dürftig. Schuld daran trugen nicht zuletzt die Kohleöfen, mit denen, allen Verboten der Regierung zum Trotz, nach wie vor hunderttausende Wohnungen beheizt wurden. Bei ungünstigen Windverhältnissen stauten sich deren giftige Abgase oft tagelang über der Metropole und schlugen sich nicht nur in der Feinstaubbelastung nieder, sondern auch in der Gefühlslage des Mannes.

Heute war seine Stimmung ausgesprochen düster.

Zügig ging er durch die mit schmutzigem Schneematsch bedeckten Straßen zur U-Bahn-Station Xidan, nur einen Steinwurf vom Tian’anmen-Platz entfernt. Die feuchte, warme Luft, die ihm dort aus der Tiefe entgegenschlug, kondensierte auf den Gläsern seiner Brille. Viel zu sehen gab es aber ohnehin nicht und diesen Weg hätte er auch blind gefunden.

Am Ende der Rolltreppe wartete bereits die vertraute Sicherheitsschleuse auf ihn. Er legte die Aktentasche auf das Förderband und schritt durch die graue Pforte des Metalldetektors. Kein Pfeifton erklang. Auch der uniformierte Beamte, der lustlos das Röntgenbild seiner Habseligkeiten musterte, hatte keinen Grund, den Mann anzuhalten. In der Tasche befanden sich keine Flüssigkeiten, keine Waffen, kein Sprengstoff – nur ein Bündel Papiere.

An seiner üblichen Haltestelle, nahe dem Block, in dem er allein in einem großzügigen Appartement wohnte, stieg er dieses Mal nicht aus. Stattdessen betrachtete er die quietschbunte Werbung, die neben dem Zug durch die Dunkelheit herflog. Auf endlos langen Displays, die an der Tunnelwand montiert waren, buhlte ein Hersteller von Smart-phones um Kundschaft. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Gab es doch in China bereits weit mehr Mobiltelefone als Einwohner. Sein eigenes hatte er heute wie zufällig im Büro vergessen.

Er stieg einige Male um. Erst kurz vor der Endstation einer Linie, die er bis zu diesem Tag noch nie benutzt hatte, war es an der Zeit, die dunstigen Eingeweide der Stadt zu verlassen. Eine Welle anonymer Passanten trug ihn durch den weitläufigen unterirdischen Bau, an dessen Ausgang er einen flüchtigen Blick zu einer der allgegenwärtigen Überwachungskameras warf. Zweifellos hatten diese Notiz von ihm genommen. Das wäre jedoch kein Grund zur Sorge, hatte man ihm versichert.

Zurück im Freien klang das dumpfe Grollen unzähliger im Stand laufender Verbrennungsmotoren unheilvoll, nahezu bedrohlich, in seinen Ohren. Wie das hungrige Knurren eines überdimensionalen Raubtieres. Mit gesenktem Kopf folgte er der von der Haltestelle wegführenden sechsspurigen Hauptstraße. Er hustete oft. Vereinzelt hupte jemand. Der Mann erschrak dennoch nur selten.

Nach ein paar hundert Metern bog er schließlich in ein Gewirr aus engen, von elektrischen Fahrrädern, Rollern und Rikschas gesäumten Gassen ein. Er war zwar noch nie zuvor in diesem Viertel gewesen, aber er hatte seine umständliche Route genau studiert. Ohne auffälliges Zögern ließ er sich von der Landkarte in seinem Kopf immer tiefer in das suburbane Dickicht leiten.

Bei den meisten Gebäuden in dieser heruntergekommenen Gegend handelte es sich um Hutongs. Die traditionellen Wohnhöfe hatten einst das Aussehen vieler Städte in Chinas Norden geprägt, wurden aber mehr und mehr zur Seltenheit. Hauptsächlich alte Menschen bewohnten sie noch, so wie Touristen auf der Suche nach einer authentischen Unterkunft. Jedenfalls niemand, der ihm heute viel Beachtung geschenkt hätte.

Die niedrigen Häuser waren aus kleinen grauen Ziegelsteinen aufgemauert und ihre kahlen Außenwände unverputzt. Sie standen dicht aneinandergedrängt entlang schmaler, schmutziger Straßen, über denen Stromkabel und Wäscheleinen hingen wie Spinnweben. Vereinzelt baumelte da und dort noch ein vom Neujahrsfest übrig gebliebener roter Lampion. Für Autos waren die Wege hier nicht breit genug, daher war es gespenstisch ruhig. Der Mann sah kaum auf, in tiefer Konzentration zählte er aber jede Abzweigung und jede Tür, die er passierte.

Als er endlich vor dem schmucklosen Portal stand, das er gesucht hatte, hielt er einen Augenblick lang inne. Noch könnte er umkehren.

1

Glücklicherweise war die Business Class auf dem Red-Eye-Flug nach Osaka an diesem Abend nur spärlich besetzt. Ein japanischer Geschäftsmann, zwei Reihen vor ihm, war schweigend in das Studium seiner Nikkei vertieft, die blonde Frau daneben mühte sich noch damit ab, einen unhandlichen Trolley in das Gepäckfach über ihr zu bugsieren. Das ergraute Ehepaar ganz vorn hatte ihre Trennwand heruntergelassen und unterhielt sich zwar angeregt in einer melodischen Sprache, die ihm nicht geläufig war, aber immerhin in gedämpfter Lautstärke. Mit einem Anflug von Erleichterung registrierte er, dass der Fensterplatz zu seiner Linken leer geblieben war, als die Boarding-completed-Ansage ertönte. Nathan ließ sich in das weiche Leder seines Sitzes fallen und versuchte sich einigermaßen zu entspannen. Allem Anschein nach hätte er wenigstens für die kommenden sieben Stunden hier seine Ruhe.

Nach den Anstrengungen der letzten Tage hatte der Chief Executive Officer von Veridical ein wenig Erholung auch dringend nötig. Von früh bis spät war er durch die tropische Hitze Singapurs von einem Termin zum nächsten gehetzt und die weitere Agenda seiner Geschäftsreise war nicht weniger straff getaktet: Japan würde er von Süden nach Norden durchqueren, mit Zwischenstopps in Osaka, Tokio und Sapporo. Danach folgten Meetings in Südkorea. Dann stand Taiwan auf dem Programm.

Als er aufsah, war die zierliche Stewardess schon an seinen Platz getreten und lächelte ihn an. »Konbanwa«, sagte sie und verneigte sich höflich. »Herzlich willkommen an Bord, Herr Long. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns. Darf ich Ihnen zur Begrüßung ein Glas Champagner anbieten?«

Nathan zupfte sein Sakko über dem Gurt zurecht. »Gerne«, murmelte er geistesabwesend. Leicht verzögert setzte er nach: »Haben Sie Dom Pérignon?«

Verlegen senkte die junge Dame in der blaugrauen Uniform den Blick auf das Klemmbrett in ihrer Hand, so als suchte sie dort nach einer Antwort auf die unerwartete Gegenfrage. »Da muss ich erst nachsehen«, sagte sie schließlich. »Normalerweise servieren wir Ayala.«

»Auch gut«, entgegnete er schulterzuckend. Nathan war viel zu erschöpft, um auch noch wählerisch zu sein. Die Stewardess nickte entschuldigend und zog sich in Richtung der Bar zurück. Er kramte indes sein Smartphone aus dem kleinen Rucksack, den er mit in die Kabine genommen hatte, und schauderte beim Anblick der neuen Benachrichtigungen. Zwölf E-Mails, von denen jede einzelne seiner ungeteilten Aufmerksamkeit bedurfte, waren ihm in die Inbox gespült worden, seit er zuletzt nachgesehen hatte. Momentan konnte er aber weder die nötige Energie noch die erforderliche Konzentration aufbringen, sich darum zu kümmern. Morgen früh, vor der Landung, wäre hoffentlich noch Zeit dafür.

Über das große Display am Fußende seiner Koje taumelten derweil grellbunte Comicfiguren durch eine einfachere Welt. Ihre Sorgen beschränkten sich zunächst auf Sauerstoffmasken und Schwimmwesten, schon bald wurden sie aber von Druckabfällen, Notwasserungen und flammenden Infernos heimgesucht. Beim Hinweis »photography is prohibited during evacuation« stolperte ein immer noch breit grinsendes Männchen, während es ansetzte, ein Selfie vor einem qualmenden Triebwerk anzufertigen. Desinteressiert schloss Nathan die Augen – diesen Film kannte er bereits.

In Gedanken ließ er die vergangenen Tage Revue passieren, während die letzten Sicherheitshinweise verklangen. Alles in allem konnte er zufrieden sein: Das nötige Kapital für den bevorstehenden Expansionsschritt von Veridical wäre jetzt jedenfalls gesichert. Hatten sich doch die Hedgefonds-Manager, die er in der Finanzmetropole getroffen hatte, außerordentlich interessiert daran gezeigt, das Geld ihrer Anleger in sein Unternehmen zu investieren. Abgesehen von den Bankern hatte er außerdem noch einige seiner treuesten Kunden wiedergesehen. Singapurs Ministerin für Recht und der Minister für Inneres, die ihn bereitwillig empfangen hatten, repräsentierten gemeinsam immerhin den gesamten Polizei- und Justizapparat des wohlhabenden Stadtstaates. Ihre Geschäftsbeziehung zu Veridical reichte weit in der Unternehmenshistorie zurück, und doch hatte sich die Natur dieser Beziehung nie fundamental geändert: Nach wie vor lieferte Veridical die komplexe Software, die es den lokalen Sicherheitskräften ermöglichte, auf äußerst effiziente Art und Weise für Recht und Ordnung zu sorgen. Zurzeit sahen sich diese Kräfte vermehrt mit Drogen- und Beschaffungskriminalität konfrontiert, aber auch Wirtschaftsdelikte und Crypto-Currency-Betrug bereiteten den Behörden zusehends Kopfzerbrechen. Wie passend, dass Nathans R&D-Teams bereits auf Hochtouren daran arbeiteten, ihre ursprünglich auf Bild- und Videoanalyse ausgelegten KI-Verfahren auch auf abstraktere Einsatzgebiete auszuweiten. Die Politiker hatten jedenfalls, ohne zu zögern, eingewilligt, an einem Pilotprojekt teilzunehmen, bei dem eine ganz neue Generation von Machine-Learning-Algorithmen in der Praxis erprobt werden sollte. Insgesamt hätte der Trip bisher nicht besser verlaufen können, doch wühlte eine eigenartige Unruhe in Nathan, die sich einfach nicht legen wollte. Wahrscheinlich der Stress.

»Herr Long?« Eine schüchterne Frauenstimme zerrte seinen Verstand zurück ins Innere des Flugzeugs. »Ich habe nachgesehen, wir haben tatsächlich noch eine Flasche Dom Pérignon an Bord. Hier, bitte!« Sie wirkte erleichtert, als sie ihm das kelchförmige Glas präsentierte, fast wie eine kleine Trophäe. Nathan nahm es entgegen, schenkte aber weder den Bemühungen der Stewardess noch dem Perlen des Champagners an seinem Gaumen viel Beachtung.

Die 777 hatte die dünne Wolkendecke über dem Ostchinesischen Meer bereits durchbrochen und glitt zielstrebig der Bucht von Osaka entgegen. Ebenso beharrlich näherte sich Chopins Klaviersonate Nr. 2, die er nach dem Frühstück als Hintergrundmusik aufgelegt hatte, ihrem berühmten dritten Satz, dem Marche funèbre. Das Telefon in seiner Innentasche hatte kurz vibriert, aber Nathan gestattete sich noch für einen langen Augenblick, dem schaurig-schönen Klavierspiel von Martha Argerich zu lauschen, bevor er dem Gerät seine Aufmerksamkeit zuwandte. »In-Flight-WiFi sei Dank«, dachte er leicht verstört.

Nach einer verhältnismäßig angenehmen Nacht war Nathan einigermaßen gut gelaunt. Seine missmutige Stimmung vom Vorabend war verklungen und er sah den kommenden Tagen in Japan mit Optimismus und Tatendrang entgegen. Noch vor dem Frühstück hatte er den Großteil der E-Mails abgearbeitet, in denen die potentiellen Investoren aus Singapur um weitere Informationen über Veridical gebeten hatten, und somit hatte er sich sogar noch eine kurze Ruhepause vor der Landung freigeschaufelt. Nun war es aber Kassandra Chike, Veridicals Marketing- und PR-Chefin, die diese Pause mit einer eigenartigen Nachricht vereinnahmte.

Hi Nathan! Heads-up: Da kommt etwas Unangenehmes auf uns zu. Könnte groß werden. Sieh dir das bitte an, sobald du kannst, und lass mich wissen, wie wir vorgehen sollen. kc.

An sich war die erfahrene Kommunikationsmanagerin nicht gerade dafür bekannt, rasch in Hysterie zu verfallen, also musste wohl etwas Gravierendes vorgefallen sein. Ihre knappe Mitteilung enthielt einen Link zu einem Artikel auf der Enthüllungsplattform WikiLeaks, der allem Anschein nach von Veridical handelte. Nathan erinnerte sich dunkel, dass in diesem dubiosen Medium einst verstörende Dokumente publiziert worden waren, wie diese angeblichen Beweise für Kriegsverbrechen der US-Armee. Dass sein Unternehmen dort jetzt auch zu zweifelhaftem Ruhm gelangen könnte, amüsierte ihn aber im ersten Moment mehr, als es ihn beunruhigte.

Er überflog den Beitrag, während die Überreste seiner Mahlzeit abserviert wurden. Als er ans Ende des kurzen Artikels kam, hatte sich seine Stimmung jedoch schon ein wenig eingetrübt. Der schlampig verfasste Text behauptete doch allen Ernstes, die Software von Veridical enthalte Sicherheitslücken, die dazu ausgenutzt werden könnten, um Beweismittel zu manipulieren. Missbrauch sei damit Tür und Tor geöffnet. Unschuldige würden verleumdet, gefährliche Verbrecher liefen dafür frei herum und so weiter und so weiter.

Das Wort autokratisch kam in den fünf Absätzen dreimal vor und war kein einziges Mal richtig geschrieben.

»Bullshit«, dachte Nathan.

Die letzte Note des Klavierkonzerts in seinen Kopfhörern war bereits verklungen, als er sich das Video ansehen wollte, das ebenfalls Teil der Veröffentlichung war. Bevor er jedoch Gelegenheit dazu hatte, bat ihn die Flugbegleiterin schon höflich, seine elektronischen Geräte abzuschalten und zu verstauen. Die Landung in Osaka stand kurz bevor.

Unmittelbar nachdem die Maschine am Boden aufgesetzt hatte, deaktivierte er den Flugmodus seines Smartphones, aber das Gerät weigerte sich standhaft, sich ins japanische Funknetz einzubuchen. So wie es aussah, wäre er für die kommenden Tage gezwungenermaßen auf die unzuverlässigen WiFi-Hotspots in Hotels und Restaurants angewiesen. Andererseits war das halb so schlimm, sah sein ambitionierter Terminplan doch ohnehin nicht vor, dass er viel Zeit abseits von Meetings mit seinen Geschäftspartnern verbringen würde. Erst in der Gangway zum Terminal verband sich das Telefon endlich mit dem drahtlosen Netzwerk des Flughafens und gab Nathan Gelegenheit, ein Auge auf das Video zu werfen.

Was da über den Bildschirm in seiner Hand flimmerte, sah auf den ersten Blick nach einer Montage aus Aufnahmen verschiedener Überwachungskameras aus. Teils zeigten sie öffentliche Orte, teils das Innere von Gefängnissen oder Straflagern. Wenn es eine Tonspur gab, entzog sich ihm diese aufgrund des vorherrschenden Lärms. Als jedoch plötzlich das Veridical-Logo aufblitzte, blieb er so unvermittelt stehen, dass die anderen Passagiere Mühe hatten, nicht mit ihm zusammenzustoßen. Der Mann mit der gefalteten Nikkei unter dem Arm schimpfte leise, als er gezwungen war, Nathan abrupt auszuweichen.

Irritiert trat dieser einen halben Schritt zur Seite und spulte das Video zurück. Ohne Ton konnte er dessen Inhalt nicht vollständig erfassen, aber ganz offensichtlich versuchten die Urheber seine Firma mit staatlicher Repression und Gewalt zu assoziieren. Die schauerlichen Szenen von Polizeibrutalität und Exekutionen waren zweifellos fesselnd. Dass diese mit einem Imagevideo aus den frühen Tagen von Veridical gegengeschnitten waren, verstärkte ihre ohnehin verstörende Wirkung auf Nathan. Sein eigenes Konterfei tauchte mehr als einmal auf. Hatte er den schludrigen Artikel noch als unbedeutende Kleinigkeit abgetan, so hegte er jetzt langsam Zweifel, ob pure Ignoranz die beste Strategie wäre, um dieser eigenartigen Situation zu begegnen.

Ein dumpfer Schmerz machte ihm plötzlich bewusst, dass er nach wie vor inmitten des Stroms von Passagieren stand, die aus dem Flugzeug drängten. Ohne sich zu entschuldigen, hatte die blonde Dame aus der Business Class ihren kantigen Trolley gegen sein Schienbein gerammt und Nathan aufschrecken lassen. Er pausierte das Video, das ohnehin beinahe zu Ende war, und wollte sich gerade Richtung Passkontrolle aufmachen, als er noch einmal kurz zögerte. Bevor er sich in die Parade der vorbeiziehenden Fluggäste einordnete, tippte er rasch eine Nachricht, die an Jacob Dragos adressiert war. Jacob hatte Veridical gemeinsam mit Nathan gegründet und verantwortete jetzt als Chief Technical Officer die technischen Geschicke des Unternehmens. Wenn es um Sicherheitslücken ging, war er zweifellos der Erste, der ein Interesse daran hatte, diese zu schließen.

Hi Jacob, Kassandra hat mich gerade darauf aufmerksam gemacht. Sieh dir das mal an und finde heraus, was du kannst. Ich rufe dich später dazu an. N.

Die Schlange, die sich vor den wenigen geöffneten Schaltern unter dem Immigration-Schild gebildet hatte, wirkte auf den ungeduldigen Nathan endlos lang. Er hasste es, während der anstehenden Wartezeit zur Untätigkeit verdammt zu sein – zumindest hätte er sich gerne das Video samt Tonspur angesehen, aber das Sicherheitspersonal hier war unerbittlich. Sobald jemand auch nur die leisesten Anstalten machte, ein elektronisches Gerät hervorzuholen, wurde mit Nachdruck auf das strikte Foto- und Videoverbot hingewiesen. Kameras, abgesehen natürlich von denen der Behörden selbst, waren ein absolutes Tabu im Niemandsland des internationalen Personenverkehrs.

Erst eine Stunde später hatte er endlich den quadratischen Einreiseaufkleber in seinem Pass und trat in die weitläufige Empfangshalle. Auf dem Weg dorthin waren ihm die gläsernen Augen der dezenten Überwachungskameras, gut versteckt in Decken und Wände integriert, nicht entgangen. Einem flüchtigen Betrachter wären diese wohl weder aufgefallen, noch hätte er auch nur geahnt, was sie und ihre Abermillionen Artgenossen tagtäglich leisteten. Nathan jedoch gehörte zu den wenigen, die genau wussten, dass die schwarzglänzenden Objektive sämtliche Bewegungen der vorbeiziehenden Passanten aus unterschiedlichsten Blickwinkeln einfingen und so unbezahlbare Rohdaten lieferten, die den ausgeklügelten Algorithmen von Veridical erst Leben einhauchten. Diese wiederum verdichteten, rekombinierten und analysierten die endlosen Informationsströme unaufhörlich und zogen letztendlich ganz automatisch Schlüsse daraus, die für die öffentliche Sicherheit von unschätzbarer Bedeutung waren.

Die Behörden hier in Japan zählten, ebenso wie die in Singapur, schon lange zu Nathans Kundschaft. Sie hatten das Unternehmen jedoch immer wieder vor interessante Herausforderungen gestellt, die die Entwicklung seiner Lösungen maßgeblich geprägt hatten. So waren die Japaner etwa die Ersten gewesen, die darauf bestanden hatten, dass sämtliche Informationen, die durch das Nervensystem der Software gepumpt wurden, von einfachen Videoaufnahmen bis hin zu den komplexesten mathematischen Modellen, stets im alleinigen Besitz und unter ausschließlichem Zugriff der Behörden blieben. In anderen Staaten, und anfangs sogar bei Veridical selbst, hatte man diese Forderung nach exklusiver Datenhoheit als paranoid belächelt. Nathan und Jacob hatten die Vorteile dieses Vorgehens jedoch rasch erkannt. Nicht nur kam die strikte Trennung zwischen der Software, ihrerseits Eigentum und Verantwortlichkeit des Herstellers, und den Daten, alleiniges Hoheitsgebiet der Kunden, bei Juristen und Datenschützern ausgezeichnet an. Darüber hinaus versetzte es Veridical auch in die angenehme Lage, nie ganz genau zu wissen – eigentlich gar nicht wissen zu können –, zu welchen Zwecken die Behörden seine hochkomplexen Produkte im Detail einsetzten. Verkauft wurde die Software ausschließlich, um Straftäter zu identifizieren, zu lokalisieren, ihre Bewegungen systematisch nachzuvollziehen und sie schließlich dingfest zu machen. Sollte ein Kunde jedoch davon abweichende Ziele verfolgen, war Veridical weder juristisch noch moralisch in der Position, dagegen vorzugehen.

Auf der Suche nach dem Fahrer, der ihn abholen sollte, ließ Nathan seinen Blick über das Heer der wartenden Chauffeure schweifen. Den Mann anhand einer Personenbeschreibung zu identifizieren, wäre aber nahezu unmöglich gewesen: mittelgroß, mittelalt, dunkles Haar, schwarzer Anzug. Das traf auf fast jeden hier zu. Ein unauffälliger Japaner, der etwas abseits einer größeren, sich lebhaft unterhaltenden Gruppe stand, hielt jedoch ein Tablet vor der Brust, auf dessen Display klar und deutlich das Veridical-Logo zu sehen war. Zielstrebig steuerte Nathan auf ihn zu.

Kurz überlegte er, ob er den Mann dafür rügen sollte, dass dieser den Firmennamen so auffällig in aller Öffentlichkeit präsentierte. Diskretion war immerhin ein wesentlicher Pfeiler der Unternehmenskultur – und selbst eine so kleine Unachtsamkeit konnte langfristig nachteilige Konsequenzen haben. Die mangelnden Englischkenntnisse des Fahrers ersparten ihm diesen Tadel jedoch und so blieb das Repertoire der folgenden Konversation auf »Veridical«, »Yes«, »Osaka« und »Hilton« beschränkt. Der bemühten, fast übertriebenen Höflichkeit von Nathans Gegenüber tat die Sprachbarriere jedoch keinen Abbruch. Selbst während der unbeholfenen Unterhaltung verbeugte sich der Fahrer mehrmals, und kaum war sie vorüber, hatte er Nathan schon dessen schweren Koffer abgenommen. Während des umständlichen Fußmarschs zum Parkhaus schnaufte der ältere Herr angestrengt unter der hellblauen OP-Maske, die er vor Mund und Nase trug. Als die beiden endlich die schwarze Limousine erreichten, war ihm die Mühe ebenfalls deutlich anzumerken, die er aufwandte, um Nathans wuchtiges Gepäck schadlos in den Kofferraum zu hieven.

Der jüngere, kräftigere Passagier nahm derweil im Fond des Wagens Platz. Er war gerade im Begriff, sich seinem Smartphone zuzuwenden; als er dieses aus der Innentasche seines Sakkos zog, wurde Nathan jedoch abermals daran erinnert, dass er in Japan gezwungenermaßen offline wäre. Mit dem WikiLeaks-Video und den unzähligen E-Mails, die zweifellos in der Zwischenzeit eingetrudelt waren, würde er sich frühestens im Hotel wieder beschäftigen können, aber immerhin hatte er in weiser Voraussicht einen Großteil seiner umfangreichen Musiksammlung lokal auf dem Gerät abgespeichert. Er kramte seine Kopfhörer aus dem Rucksack und suchte nach etwas Aufmunterndem als Unterhaltung für die etwa eine Stunde dauernde Fahrt ins Stadtzentrum, wenn er die Zeit schon nicht produktiv nutzen konnte. Schließlich entschied er sich für eine historische Aufnahme der neunte Sinfonie von Anton Bruckner, gespielt von den Wiener Philharmonikern, dirigiert von Carlo Maria Giulini.

Während die Limousine die imposante Brücke überquerte, die die eigens für den Kansai-Flughafen künstlich angelegte Insel mit dem Festland verband, betrachtete Nathan gedankenverloren das Gesicht des Fahrers im Rückspiegel. Dessen Mund und Nase waren von der Stoffmaske vollständig verdeckt und die kleinen, dunklen Augen hatten nichts Markantes an sich. Dennoch wäre die Polizei selbstverständlich in der Lage gewesen, die Identität des Mannes innerhalb von Sekunden festzustellen und eine nahezu lückenlose Historie seiner Aufenthaltsorte der letzten Wochen und Monate zu rekonstruieren. Mehr als ein flüchtiges Handyvideo oder ein kurzer Mitschnitt von einer der vielen Kameras am Flughafen wäre dazu nicht vonnöten gewesen. Gepaart mit den Informationen, die in den Datenbanken der Behörden schlummerten, war Veridicals künstliche Intelligenz nahezu unschlagbar.

Scam

»Wo bin ich da bloß reingeraten?«, dachte Ashlee, während sie im Aufzug in die 38. Etage des gläsernen Büroturms fuhr, in dem das Headquarter angeblich untergebracht war. Weder unten im Foyer noch im Lift hatte sie auch nur den geringsten Hinweis auf die Firma entdeckt, bei der sie heute ihren ersten Arbeitstag als Junior AI Engineer antreten sollte. Unschlüssig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Zum x-ten Mal überflog sie die E-Mail mit der Einladung auf ihrem Smartphone. War das also am Ende doch nur ein gefinkelter Scam?

Schon der Bewerbungsprozess war ja so strange gewesen, dachte sie. Fast wie in einem dieser Grisham-Romane, die ihre Mitbewohnerin Rachel ab und zu las.

Erst ein paar Wochen zuvor war dieser eigenartige Brief von einer Softwarefirma, von der sie noch nie etwas gehört hatte, in ihrem Postkasten gelandet. Man sei auf ihr außergewöhnliches Qualifikationsprofil aufmerksam geworden, hatte es da geheißen. Und man lade sie gern zu einem unverbindlichen Vorstellungsgespräch ein. Selbstverständlich wäre das Arbeitsumfeld modern und flexibel, die Bezahlung überdurchschnittlich und die Möglichkeiten, die sich böten, die Entwicklung von Cutting-Edge-Technologien im Bereich künstlicher Intelligenz aktiv mitzugestalten, unvergleichlich. Es ginge unter anderem um Themen wie Deep Learning, Convolutional Neural Networks, Bayesian Logic, Genetic Programming, Unsupervised Learning, yada yada yada …

Physischer Spam, hatte sie amüsiert gedacht. Mal was Neues. Immerhin würde kein Hightech-Unternehmen, das sich selbst auch nur halbwegs ernst nahm, potentiellen Kandidaten Briefe schreiben. Auf Papier! Aber trotzdem hatte die eigenartige Masche ihre Neugierde geweckt. Zu gern hatte sie herausfinden wollen, wer oder was sich dahinter verbarg, und so hatte sie schließlich doch dort angerufen.

Ehe sie sich’s versehen hatte, war ihr von der freundlichen Dame am Telefon auch schon ein Termin für ein virtuelles Job-Interview aufs Auge gedrückt worden. Nein sagen war noch nie Ashlees Stärke gewesen, und immerhin war sie wirklich auf der Suche nach einem Job.

Josh, der Team Lead, der ihr bei diesem Onlinemeeting schließlich gegenübergesessen hatte, konnte nicht viel älter gewesen sein als sie selbst. Mit seinen schulterlangen blonden Locken und der Hipster-Hornbrille hatte er eher wie ein kalifornischer Surflehrer als wie ein lichtscheuer IT-Nerd gewirkt. Sein breites Lächeln hatte ihn auf Anhieb sympathisch gemacht. Jedenfalls sympathischer als die glatzköpfigen Anzugträger von der Versicherung, bei der sie erst ein paar Tage vorher zu einem Vorstellungsgespräch gewesen war.

Nach dem knapp zweistündigen Call wusste sie zwar immer noch nicht, was die bei Veridical eigentlich genau machten, aber dass sie dort arbeiten wollte, stand außer Frage. Josh schien genau gewusst zu haben, welche Knöpfe er bei ihr drücken musste: Die Technologien, von denen er erzählte, trafen exakt Ashlees Interessen, die Work-Life Policies hörten sich durchdacht und modern an. Die Benefits klangen vielversprechend und die Kollegen in ihrem Team wären alle ungefähr in ihrem Alter. Schließlich endete das Gespräch sogar mit einem Offer, das noch dazu deutlich über dem der Versicherung lag.

Sie musste sich ernsthaft dazu zwingen, um etwas Bedenkzeit zu bitten – immerhin hatte sie mal gehört, dass das zum guten Ton gehöre. Zwei Tage später nahm sie allerdings das Angebot schon an. Josh war ganz begeistert gewesen, dass sie sich so schnell für Veridical entschieden hatte. In Rekordzeit erledigten die beiden den digitalen Papierkram und schon in zwei Wochen wäre ihr erster Tag im HQ, der so genannte Orientation Day.

Im 38. Stock angekommen, wollte sie gerade die einzige, unbeschriftete Klingel betätigen. Aber noch bevor sie die Hand ausstrecken konnte, schwang die hohe Tür aus gefrostetem Glas vor ihr auf. Plötzlich fand sie sich in einer ausladenden, von Tageslicht geradezu durchfluteten Rezeption, in der alles um sie herum in einem unschuldigen Weiß zu strahlen schien. Hinter dem auf Hochglanz polierten Tresen saß ein adrett gekleideter junger Mann, der sich bei ihrem Anblick freundlich lächelnd erhob. An der Wand hinter ihm prangte das unaufdringliche Logo, das sie schon von dem seltsamen Brief her kannte. In einer dezenten, kursiv gesetzten Schrift mit kurzen Serifen stand da, dunkelblau auf weißem Grund: Veridical.

Wenn das schon ein Hoax war, dann hatten sich die Betrüger wenigstens ordentlich ins Zeug gelegt, dachte sie mit einer gewissen Anerkennung.

»Du musst Ashlee sein, herzlich willkommen an Bord!« Der junge Mann reichte ihr über den Tresen hinweg die Hand. »Josh, dein Line Manager, wird gleich hier sein, um dich abzuholen und dir alles zu zeigen. Bitte, mach’s dir in der Zwischenzeit gemütlich.« Er deutete auf eine teuer wirkende Ledersitzgruppe zu ihrer Linken, die, wie konnte es anders sein, schneeweiß war und fabrikneu aussah. »Kaffee gibt’s da hinten, wenn du magst, und der Kühlschrank dort ist sowieso free for all.«

Sie dankte ihm und setzte sich auf die Couch. Im Hintergrund dudelte klassische Musik vor sich hin. »Weird«, dachte sie. Aber nobel geht die Welt zugrunde.

Josh tauchte tatsächlich schon wenige Minuten später auf, und gemeinsam fuhren sie ein Stockwerk tiefer, wo er sie in einen riesigen, ebenfalls ganz in Weiß eingerichteten Meetingraum dirigierte. Auf dessen Türschild aus gebürstetem Aluminium erspähte sie das Wort Chaconne. Die beiden nahmen an einem glänzenden Konferenztisch Platz, an dem locker dreißig Leute hätten tafeln können. Kurz fühlte sich Ashlee übermannt von dem sterilen, klinischen Eindruck, den diese strahlend helle, penibel gesäuberte Umgebung auf sie ausübte. Sie fürchtete, mit jeder ihrer Bewegungen irgendwo einen schmutzigen Abdruck auf einer frisch polierten Oberfläche zu hinterlassen. Josh schien diese Anspannung zu spüren und bemühte sich merklich darum, eine ungezwungene Atmosphäre herzustellen. Er betonte abermals, wie froh er darüber sei, Ashlee ab jetzt in seinem Team zu haben. Selbstverständlich könne er es kaum erwarten, ihr die Kollegen vorzustellen, ihr das ganze Office zu zeigen und ihr die Veridical-Produkte endlich auch live zu demonstrieren. Zuvor wären allerdings noch ein paar Formalitäten zu erledigen.

»First things first«, sagte er und setzte dabei ein gewinnendes Lächeln auf. »Unser C-Level-Management ist sehr auf Vertraulichkeit bedacht. Das ist dir sicherlich nicht entgangen. Daher muss jeder Mitarbeiter eine Datenschutzerklärung unterschreiben, in der er sich zu strengster Geheimhaltung verpflichtet. Hier, bitte«, fügte er an, während er ihr einen dicken Stapel Papier über die Tischplatte hinweg zuschob.

Ashlee konnte das Konvolut nur kurz überfliegen; alles im Detail zu lesen, hätte sie zweifellos Tage ihres Lebens gekostet. Wobei sie noch immer nicht alles verstanden hätte. Wahrscheinlich hätte nicht mal Rachel auf Anhieb die vielen verschnörkelten Formulierungen in juristischem Fachchinesisch entschlüsseln können – sie war immerhin Juristin. Einige der Phrasen, die ihr auf Anhieb ins Auge sprangen, machten sie jedoch stutzig. Erstaunt sah sie Josh an. »Ich … ich darf niemandem erzählen, dass ich hier arbeite?«

»Na ja«, antwortete der junge Manager schmunzelnd, »das ist eher so eine Art … Vorsichtsmaßnahme, wenn du verstehst? Aber natürlich dürfen deine Freunde den Namen der Firma wissen. Das geht schon in Ordnung. Du solltest ihnen aber zum Beispiel nicht erzählen, was du gerade entwickelst. Oder wer unsere Auftraggeber sind. Und was unsere Produkte für sie leisten.«

»Wirklich? Klingt irgendwie nach einem bescheuerten Marketing-Konzept«, sagte sie und meinte es nur halb zum Spaß.

Josh nickte ihre Bemerkung mit einem freundlichen Lächeln weg. »Da hast du recht«, entgegnete er. »Aber Nathan, unser CEO, will vermeiden, dass in den Medien oder sonst wo groß über uns spekuliert wird. Das könnte unsere Kunden verunsichern und wäre laut ihm daher schlecht fürs Geschäft. Wenn du unser Portfolio erstmal kennst, hast du sicher mehr Verständnis dafür. Außerdem arbeiten wir hier an weit fortgeschrittenen Technologien, von denen andere noch nicht mal ahnen, dass es sie überhaupt gibt. Und das soll natürlich so lange wie möglich so bleiben, verstehst du?«

»Alles klar«, murmelte Ashlee. »Herr Grisham lässt grüßen«, dachte sie.

Zögerlich unterschrieb sie dennoch auf der letzten Seite des dicken Papierstapels. Sogar der Kugelschreiber, den ihr Josh in die Hand gedrückt hatte, war aus glänzendem weißem Plastik – fast wie Elfenbein.

Die Sache war irgendwie schon ganz schön spooky, ging es ihr durch den Kopf, als sie den Stift beiseitelegte. Aber wenn das alles hier doch zu verrückt werden würde, könnte sie ja immer noch hinschmeißen und bei der Versicherung anheuern. Die Glatzköpfe waren zwar schon etwas verärgert darüber gewesen, dass sie ihr Angebot abgelehnt hatte, aber so bullish, wie der Jobmarkt für KI-Experten derzeit war, würden die sie garantiert mit Handkuss zurücknehmen.

Die nächsten eineinhalb Stunden folgte sie Josh auf Schritt und Tritt durch ein Labyrinth aus Milchglas, gebürstetem Aluminium und weißem Kunststoff. Einige Etagen hoch, dann wieder runter, entlang endloser Gänge zwischen großen und kleinen Workspaces, Besprechungsräumen und Chill-out-Areas führte er sie in einem so halsbrecherischen Tempo, dass ihr fast schwindelig dabei wurde.

Zwar saßen bei weitem nicht alle Angestellten hier in diesem Gebäude, die Core Teams, die sich mit der Entwicklung der KI-Technologien beschäftigten, waren jedoch ganz gut vertreten. Die Mehrzahl der anderen Kollegen arbeitete quer über den Globus verstreut in kleineren Offices, Co-Working-Spaces oder gleich ganz von zu Hause aus. Aus historischen Gründen waren viele von ihnen in Japan angesiedelt, erklärte ihr Josh. Außerdem, weshalb die Firma ein gewisses Maß an zeitlicher und sprachlicher Flexibilität erwarte, was die Meetingkultur betreffe. Dafür könne Ashlee damit rechnen, auch ab und zu auf Firmenkosten nach Tokio fliegen zu dürfen, wenn sie das wolle. »Kein schlechter Deal«, dachte sie.

In Erinnerung würde ihr darüber hinaus vor allem das Fehlen von Cubicles bleiben, wie sie diese von ihren Ferienjobs her kannte und wie sie zweifellos auch die Bürolandschaft der Versicherung prägten. Stattdessen waren die offenen, hellen Räume hier von einladenden Sitzgruppen, bequemen Lesesesseln und gemütlichen Couchen gesäumt. Der Großteil der Einrichtung war blütenweiß oder in dezenten Pastellfarben gehalten.