Extrem begabt (Leben Lernen, Bd. 311) - Andrea Brackmann - E-Book

Extrem begabt (Leben Lernen, Bd. 311) E-Book

Andrea Brackmann

0,0
29,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit spannenden Kurzbiographien von Genies und Höchstbegabten: Frida Kahlo, Marie Curie, Pablo Picasso, Leo Tolstoi, Stephen Hawking, Albert Einstein, Steve Jobs und viele mehr. Sensibilität und Spitzenleistung, Rebellion und Anpassung, Selbstzweifel und große Visionen – es scheinen gerade die Widersprüche zu sein, welche die Persönlichkeitsstruktur extrem begabter Menschen ausmachen. Das zeigen die hier versammelten Genie-Porträts sowie die internationalen Forschungsergebnisse. Statistisch trifft es höchstens eine Person von Tausend: Sie oder er ist höchstbegabt und weist einen Intelligenzquotienten jenseits von 145 auf. Was zeichnet extrem begabte Menschen aus? Was unterscheidet sie von »normal« Hochbegabten? Gibt es übereinstimmende Persönlichkeitsstrukturen? Was bedeutet es für den Einzelnen, mit einem »überstimulierten Nervensystem« zu leben? Andrea Brackmann nähert sich dem Thema »Genie und Persönlichkeitsstruktur« über die internationale Forschung und über zahlreiche biographische Skizzen quer durch die Jahrhunderte und diverse Tätigkeitsbereiche. Sie kommt zu Schlussfolgerungen, die auch normal Begabte interessieren werden. Dieses Buch richtet sich an: - PsychotherapeutInnen und PsychologInnen, die sich mit dem Thema »Hochbegabung« befassen - PädagogInnen, SonderpädagogInnen, Studierende der Psychologie und Pädagogik - Hochbegabte Menschen - Deren Angehörige 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 410

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Andrea Brackmann

EXTREM BEGABT

Die Persönlichkeitsstruktur von Höchstbegabten und Genies

Klett-Cotta

Zu diesem Buch

Statistisch trifft es etwa eine Person von Tausend: Sie oder er ist höchstbegabt und weist einen Intelligenzquotienten jenseits von 145 auf. Was zeichnet extrem begabte Menschen aus? Was unterscheidet sie von »normal Hochbegabten«? Gibt es übereinstimmende Persönlichkeitsstrukturen unter den verschiedenen Begabungsformen? Was bedeutet es für den Einzelnen, mit einem »überstimulierten Nervensystem« zu leben? Andrea Brackmann nähert sich dem Thema »Genie und Persönlichkeitsstruktur« über die internationale Forschung und zahlreiche biographische Skizzen Höchstbegabter – quer durch die Jahrhunderte und diverse Tätigkeitsbereiche. Sie kommt zu Schlussfolgerungen, die auch normal Begabte interessieren werden.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter:

www.klett-cotta.de/lebenlernen

Impressum

Leben Lernen 311

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Jutta Herden, Stuttgart, unter Verwendung einer Abbildung von © pixabay/Skitterphoto

Gesetzt aus der Documenta von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-89258-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11622-9

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20464-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Kapitel I

Stufen der Hochbegabung

1 IQ 130 »oder mehr«

2 Außerordentlich hochbegabt?

3 Hochbegabungsstufen

4 Höchstbegabung: Mögliche Anzeichen

5 Merkmale Höchstbegabter

6 Förderansätze

Kapitel II

Formen der Hochbegabung

1 Hochbegabungstypen: Überflieger, Nerds und Rebellen

2 Hochintelligent, hoch kreativ – oder beides

3 Hochbegabungsformen: Intellekt, Psychomotorik, Imagination und Emotion

Kapitel III

Die geniale Persönlichkeit

1 Was ist ein Genie?

2 Persönlichkeitsmerkmale

3 Familienmerkmale

4 Geniale Frauen

Kapitel IV

Genies und Höchstbegabte: Widersprüchliche Persönlichkeiten

1 Sensibilität und Risikobereitschaft

2 Einsamkeit und Geselligkeit

2.1 Introversion und Extraversion

2.2 Reden und Schweigen

3 Große Visionen und Selbstzweifel

3.1 Aufgeben und Durchhalten

4 Rebellion und Anpassung

4.1 Chaos und System

5 Hohe Energie und Erschöpfung

6 Genügsamkeit und hohe Ansprüche

7 Krankheit und Produktivität

7.1 Anfälligkeit und Zähigkeit

7.2 Schwere Erkrankungen und Hochleistung

8 Naivität und Reife

9 Leidenschaft und Zurückhaltung

10 Liebesbeziehungen und Freiheitsdrang

11 Idealismus und Pessimismus

Schlussfolgerungen

Kapitel V

Genie und seelische Störung

1 Genie und Wahnsinn?

2 Andere seelische Störungen

3 Sucht und suchtartige Strukturen

4 Existenzielle Depression

5 Verrückt oder für verrückt erklärt? Vincent van Gogh, Pablo Picasso, Albert Einstein, Marguerite Duras, Martin Luther, Steve Jobs und Camille Claudel

6 Höchstbegabung und Autismus

6.1 Autistische Genies

6.2 Geniale Autisten

Kapitel VI

Genies und körperliche Gesundheit

Schlussfolgerungen

Kapitel VII

Produktives Unbehagen

Kapitel VIII

Resilienz: Bewältigungsfähigkeiten bei Genies

Kapitel IX

Genies und Höchstbegabte im Alter

Schlusswort und Dank

Literatur

Personenregister

Wann werde ich aufhören zu staunen und beginnen zu begreifen?

Galileo Galilei

Für Dorrit

Einleitung

Das Konzept Hochbegabung scheint weitaus vielschichtiger zu sein als bislang angenommen. Zum einen rücken in jüngerer Zeit unterschiedliche Ausprägungsgrade in die nähere Betrachtung, etwa moderate und extreme Hochbegabung. Zum anderen gibt es verschiedene Formen wie intellektuelle, künstlerische, sozial-emotionale oder psychomotorische Hochbegabung.

Was sind mögliche Anzeichen einer Höchstbegabung? Welche Unterschiede gibt es zwischen moderat Hochbegabten und extrem Hochbegabten? Findet man Gemeinsamkeiten zwischen naturwissenschaftlich, künstlerisch oder sportlich Höchstbegabten? Die internationale Forschung ist hierzu noch spärlich und fehlt im deutschsprachigen Raum fast völlig. Es bietet sich daher an, die vielfältige biografische und wissenschaftshistorische Literatur zu bekannten genialen Persönlichkeiten zu untersuchen. Nicht alle Höchstbegabten sind im engeren Sinne Genies, aber die meisten Genies sind offenbar intellektuell höchstbegabt. Dies kann bei historischen Persönlichkeiten in der Regel nicht an Intelligenztest-Ergebnissen belegt werden, lässt sich jedoch aus zahlreichen Fakten schließen. Dazu gehören etwa die extrem frühe Manifestation außergewöhnlicher Begabung, eine stark beschleunigte schulische und akademische Laufbahn, extrem breit gefächerte Bildung, besondere Begabungen auf mehreren Gebieten, herausragende Produktivität sowie die Zuerkennung bedeutender Auszeichnungen.

Welche Merkmale sind kennzeichnend für Höchstbegabte? Woher rühren ihr enormer Antrieb und ihre Schaffenskraft? Wie gelingt es ihnen, ihre Potenziale voll auszuschöpfen? Und wie deutlich sind Übereinstimmungen mit Ergebnissen psychologischer Forschung? An Extremformen lassen sich Grundmechanismen menschlicher Begabung besonders gut beobachten. Diese finden sich in vieler Hinsicht natürlich auch bei ganz normalen Hochbegabten wieder. Es können sich daher wichtige neue Impulse sowohl für den Einzelnen als auch für Fördermaßnahmen und Forschungsvorhaben ergeben.

Die Begriffe »Genie und Wahnsinn« werden noch immer oft in einem Atemzug genannt, obwohl ein systematischer Zusammenhang von Hochbegabung und psychischer Störung längst als widerlegt gilt. Andererseits kommen neuere internationale Studien zu dem Schluss, Hochbegabte seien oftmals sensibler, instabiler und gesundheitlich anfälliger als die Mehrheit, insbesondere wenn es sich um extrem hochbegabte Individuen handele. Wie passen diese widersprüchlichen Befunde zusammen?

(1)Albert Einstein ist ein extrem schüchterner und wortkarger Junge, entwickelt sich jedoch später zu einem glänzenden Redner und verfasst zahllose sprachgewaltige Schriften. (1)Vincent van Gogh gilt als psychisch labil und extrem feinfühlig, andererseits arbeitet er längere Zeit tatkräftig im Bergbau mit. (1)Marie Curie wird als scheu und introvertiert beschrieben, fährt jedoch im Ersten Weltkrieg mit selbstgebauten Röntgenwagen an die Front, um Verwundeten zu helfen. (1)Alexander von Humboldt ist als Kind kränklich und sensibel, fühlt sich aber später »wie von tausend Säuen getrieben«, seine abenteuerlichen Forschungsreisen um die halbe Welt durchzuführen. (1)Lise Meitner kennt man als rational denkende und erfolgreiche Naturwissenschaftlerin, zugleich leidet sie unter Stimmungsschwankungen, sie braucht Musik und lange Aufenthalte in freier Natur wie Medizin.

Sensibilität und Risikobereitschaft, große Visionen und Selbstzweifel, Schüchternheit und Rebellion: Tatsächlich scheinen es gerade die Widersprüche zu sein, welche die Persönlichkeit von Höchstbegabten und Genies ausmachen. Dem möchte ich in diesem Buch näher auf den Grund gehen.

Kapitel I

Stufen der Hochbegabung

1 IQ 130 »oder mehr«

Ab einem Intelligenzquotienten von 130 Punkten gilt man als hochbegabt. Dies betrifft zwei bis drei Prozent der Bevölkerung. Bislang scheint es, besonders im deutschsprachigen Raum, weitgehend unerheblich, ob das Ergebnis einer Person leicht, weit oder extrem weit über diesem Wert liegt. Vereinzelt findet man in neuerer Zeit in Fachportalen den Begriff »Höchstbegabung«. Damit sind Werte gemeint, die jenseits eines IQ von 145 Punkten liegen. Webb (2015) spricht von »außerordentlich hochbegabten Individuen«, die zu den obersten 0,1–0,2 % gehören. Weitere Differenzierungen erfolgen meist nicht, geschweige denn Erläuterungen, ob Höchstbegabte sich von Hochbegabten unterscheiden, und wenn ja, in welcher Weise.

Lange war es unter Psychologen üblich, Eltern lediglich mitzuteilen, ihr Kind habe einen IQ von »über 130« Punkten und zähle damit zu den Hochbegabten. Erwachsene erhalten von der Hochbegabtenvereinigung Mensa e.V. ebenfalls in der Regel kein detailliertes Ergebnis ihres Intelligenztests, sondern nur die Angabe, dass sie das Aufnahmekriterium, nämlich einen IQ von mindestens 130, erfüllen. In Forschung und psychologischer Literatur findet man bis heute oft nur die Formulierung »130 oder mehr«.

Eine Vielzahl gängiger Intelligenztests misst überhaupt nur bis 145 Punkten (z. B. IST-R, APM, MHBT, AID), manche nur bis 130 (z. B. PSB-Horn). Die Neufassung der Wechsler-Adult-Intelligence-Scale WAIS-V (früher: Hamburg-Wechsler-Intelligenztests für Erwachsene) ist der einzige Test für Erwachsene, der bis 160 misst, jedoch erst seit dem Jahr 2013. Der Berliner Intelligenzstrukturtest (BIS-HB) und der Münchener Hochbegabungsbatterietest (MHBT-P) für hochbegabte Kinder und Jugendliche differenzieren zwar genauer im oberen Bereich, finden aber in der Praxis selten Anwendung. Auch der WISC-V für Kinder und der K-ABC gehören zu den wenigen Verfahren, die Werte über 145 IQ-Punkten erfassen, was allerdings bei jüngeren Kindern bis ca. zwölf Jahren sehr viel häufiger erfolgt als bei älteren Kindern oder Jugendlichen. Für sie sind die Obergrenzen der Skalen nicht hoch genug; hier spricht man vom sogenannten ›Deckeneffekt‹.

Intelligenzwerte gelten in der Bevölkerung statistisch gesehen als normal verteilt, das heißt, die Mehrheit hat einen mittleren IQ zwischen 90 und 110 Punkten, eine Minderheit hat extrem niedrige (unter 80) oder extrem hohe Werte (über 130). Die Verteilung wird demnach als Glockenkurve abgebildet (Gauss’sche Normalverteilung). Auf dieser Abbildung werden IQ-Werte über 145 grundsätzlich nicht angezeigt, beinahe so, als würden sie gar nicht existieren. Wenn jemand schon derart schlau ist, so die landläufige, aber auch in Fachkreisen verbreitete Meinung, kommt es nicht darauf an, ob er ein paar Punkte mehr oder weniger hat.

2 Außerordentlich hochbegabt?

In den USA und Großbritannien spricht man hingegen schon länger von ›außerordentlich‹ oder ›extrem‹ hochbegabten Individuen. Die Rede ist von IQ-Bereichen zwischen 145 und 160 Punkten oder sogar darüber. Laut Statistik hat eine von tausend Personen einen IQ von 145 und eine von rund dreißigtausend einen IQ von 160. Bei Jacobsen (1999) ist von außergewöhnlicher Hochbegabung bei 145 bis 180 Punkten die Rede. Während man die Besonderheiten Hochbegabter mittlerweile mehr oder weniger wohlwollend toleriert, werden jene von Höchstbegabten hierzulande weitgehend ausgeblendet. Das Konzept außerordentlicher Hochbegabung ist zwar seit Jahrzehnten bekannt, wird aber kaum näher untersucht.

Einer der möglichen Gründe könnten gewisse Denkverbote sein, denen vermutlich gewisse Berührungsängste zugrunde liegen. Der Reflex, auf Andersartige mit Misstrauen und Ausgrenzung zu reagieren, ist tief verankert und zunächst schlicht menschlich. Oft bewirken aber genaueres Nachdenken und Mitgefühl eine Modulation dieses Reflexes, besonders wenn es sich um schwächere und hilfsbedürftige Individuen handelt. Sind die Andersartigen jedoch extrem intelligent, schlägt das Mitgefühl schnell in Spott und Häme um. »Ihr Kind hat Probleme in der Schule? Na, dann ist es bestimmt hochbegabt!« Extrem begabte Charaktere, die in populären Serien auftauchen, etwa Sheldon Cooper in The Big Bang Theory oder die moderne Variante von Sherlock Holmes in Sherlock, befeuern das Bild vom faszinierenden, aber sozial gestörten Sonderling. Meine Vermutung ist, dass man sich durch die Anwesenheit extrem intelligenter Personen oft verunsichert, vielleicht auch schneller von ihnen durchschaut oder an eigene brachliegende Potenziale erinnert fühlt. Genies werden bewundert und gefeiert, solange sie hoch oben auf einem Podest stehen, sei es in Geschichtsbüchern, bei Nobelpreisverleihungen oder bei Wettbewerben. Wenn sie einem hingegen am Arbeitsplatz begegnen, neben einem auf der Schulbank sitzen oder gar mit am Familientisch, sieht die Sache etwas anders aus. Allerdings werden selbst berühmte Genies oft mit großer Ambivalenz betrachtet: (2)Marie Curie wird als Jahrhundertwissenschaftlerin gefeiert, aber auch als überehrgeizige, kühle Emanze geschmäht. (2)Albert Einstein wird zugleich als Weltgewissen, Kommunist und Kriegstreiber bezeichnet. Bei (2)Vincent van Gogh reichen die Etikettierungen vom überspannten Wahnsinnigen bis zum rationalen Genie. Jacobsen (1999) schlussfolgert: »Die heutige Welt ist auf Effizienz, schnelle Labels, schnelle Ergebnisse, klare Zuordnungen und demokratisches Gleichsein ausgerichtet (…). Die Gesellschaft hegt eine gewisse Hassliebe zu Genies, nach dem Motto: Wir lieben deine einzigartigen Fähigkeiten und deine Werke, aber bitte hör auf, so anders zu sein (…). Genies gehen immer krumme, steinige Wege, ihr Leben ist immer paradox.« Weiter schreibt sie: »Exzellenz hat immer auch mit Authentizität zu tun, und authentisch zu leben ist immer ein Prozess, der mit Risiken, Rückschlägen und Selbstzweifeln einhergeht (…). Es ist schwer, stark zu bleiben und Widerstand zu leisten, wenn die Gesellschaft versucht zu löschen oder zu heilen, was eigentlich kultiviert und honoriert werden sollte.« (S. 33, Übers. v. d. Verf.)

Es gibt jedoch auch ganz pragmatische Gründe, welche gegen die Erforschung extremer Begabungen sprechen: Wollte man im Intelligenzbereich über 130 Punkten verlässliche Ergebnisse erzielen, müsste man die Normierung von Tests mit zehn- oder gar hunderttausenden Personen durchführen. Dies würde einen erheblichen Aufwand an Zeit und Kosten verursachen. Üblich für Testnormierungen sind jedoch Stichprobengrößen von zwei- bis dreitausend Personen. Daher liegen die Obergrenzen messbarer Werte in der Regel bei 145 Punkten. Hier spricht die Psychologie vom bereits erwähnten ›Deckeneffekt‹: Intelligenzmessungen werden im oberen Bereich immer unzuverlässiger und undifferenzierter. Wenn eine Person alle Aufgaben eines Tests lösen kann, erfährt man nicht, ob und wie viele weitere sie noch hätte lösen können. Für Höchstbegabte sind die Decken der gängigen Tests schlichtweg nicht hoch genug. Wer zudem in einem mehrteiligen Test in einem Bereich einen Fehler macht, im anderen Teil aber unterfordert ist und auch noch schwierigere Fragen beantworten könnte, erhält zwar Abzug für den Fehler, profitiert aber nicht von der Stärke im anderen Bereich. »Moderne Intelligenztests, wie der Stanford-Binet oder die Tests der Wechsler-Reihe, tun sich schwer damit, die Fähigkeiten von außerordentlich hochbegabten Kindern differenziert zu erfassen, was dazu führt, dass die Bandbreite der oberen IQ-Werte stark eingeschränkt ist. Bei älteren Testversionen, wie zum Beispiel dem Stanford-Binet Form L-M, konnten sogar IQ-Werte von über 200 erreicht werden. Bei modernen Tests wurden solche ›Ausreißer‹ statistisch in eine Normalverteilungskurve gezwungen, wodurch IQ-Werte über 140 nur noch selten gemessen werden, obwohl das gemessene Leistungsniveau bei früheren Tests Werte von 160 oder mehr ergeben hätte. Aus diesem Grund verwenden manche erfahrenen Fachpersonen nach wie vor die älteren Testversionen, um eine genauere und differenziertere Darstellung der intellektuellen Leistungen zu erhalten und festzustellen, wie stark sie sich von denen der Allgemeinbevölkerung unterscheiden.« (Webb 2015, S. 315)

Die Werte der Wechsler-Skalen sind mit den deutschsprachigen identisch, die der Stanford-Binet-Skala weichen nur geringfügig ab. Somit sind beide, entgegen der gängigen Meinung, weitgehend mit hiesigen Skalen vergleichbar.

Weitere Ursachen dafür, dass Extrembegabte so selten identifiziert werden, können auch in ihren besonderen Persönlichkeitseigenschaften begründet liegen: Zum einen stellt sich die Frage, ob gängige Intelligenztestverfahren für Extrembegabte überhaupt geeignet sind. Ich selbst habe bei Untersuchungen in meiner Praxis oft erlebt, dass extrem hochbegabte Kinder und Jugendliche mit den einfachen Aufgaben am Anfang der Testreihen nicht zurechtkamen. Manche baten mich direkt um schwierigere Aufgaben oder darum, das Verfahren umzukehren und mit den schwierigsten Aufgaben zu beginnen; andere konnten zwar die Aufgaben des Tests für Kinder kaum lösen, liefen aber zu Hochform auf, wenn man ihnen probehalber die Version für Erwachsene vorlegte. Wieder andere konnten nicht glauben, dass in einem Intelligenztest derart leichte Aufgaben gestellt werden, und verkomplizierten spontan die Fragestellungen oder grübelten über einen versteckten, tieferen Sinn. In den meisten psychologischen Praxen sowie beim schulpsychologischen Dienst oder in Kliniken ist es nicht üblich oder nicht möglich, auf solche Besonderheiten einzugehen, ganz zu schweigen von groß angelegten Gruppentests in Schulen, welche oftmals die Grundlage für Auswahlverfahren, Fördermaßnahmen oder wissenschaftliche Studien bilden.

Zum anderen steigt nach meiner eigenen und der Erfahrung vieler Fachleute mit dem Grad der Hochbegabung auch die Neigung zum Zweifeln. Das Nachdenken über zu viele Möglichkeiten und verschiedene Lösungswege, das Aufspüren von Fehlern, Mehrdeutigkeiten und Ungenauigkeiten in Fragestellungen oder das Beachten zu vieler (auch unwesentlicher) Details kann sich, besonders in einer Standard-Testsituation, ungünstig auf die Leistungsfähigkeit auswirken. Höchstbegabte machen sich Gedanken, auf die andere gar nicht kommen. Eine Klientin erklärt nach einer Testung, sie habe nur diejenigen Fragen beantwortet, bei denen sie hundertprozentig sicher gewesen sei, die anderen habe sie ausgelassen, um die Ergebnisse auf keinen Fall durch Raten positiv zu verfälschen. Höchstbegabte denken gründlich, oft übergründlich, nach und brauchen bisweilen länger als andere, um sich nach Abwägen aller Optionen für eine Lösung zu entscheiden. Unter Zeitdruck können manche daher gar nicht arbeiten, was aber von fast allen gängigen Intelligenztests verlangt wird. Gross (2003), Winner (2004) oder Jacobsen (1999) schildern überdies, dass nicht wenige hochbegabte Kinder und Erwachsene ihre Fähigkeiten vor anderen verheimlichen, um nicht unangenehm aufzufallen. Dies deckt sich mit meinen eigenen Beobachtungen. Wenn also bereits normal hochbegabte Kinder und Erwachsene ihre außergewöhnlichen Potenziale verstecken, wie können dann Extrembegabte sie unbefangen zeigen?

Es stellt sich die Frage, ob mehr Forschung auf diesem Gebiet den Aufwand wert wäre, auch wenn das Phänomen der Extrembegabung sehr selten ist, und ob es überhaupt einen nennenswerten Unterschied macht, ob eine Person hoch- oder höchstbegabt ist.

Forscher weisen darauf hin, dass die Gruppe der Hochbegabten weitaus heterogener ist als allgemein angenommen und mit steigendem Grad der Begabung auch die Besonderheiten im Denken, Erleben und Verhalten zunehmen. Bereits Hollingworth (1931) weist darauf hin, dass extrem begabte Kinder mitunter mehr Schwierigkeiten haben als normal Hochbegabte. Greenacre (1956) stellt fest, dass extrem hochbegabte Kinder sich von anderen deutlich unterscheiden, etwa durch eine »enorme Intensität«. Janos und Robinson (1985) fällt auf, dass emotionale und soziale Besonderheiten bei Kindern mit extremer Hochbegabung stärker ausgeprägt sind. Webb (2015) führt aus, dass die bei Hochbegabten häufig anzutreffende »asynchrone Entwicklung« besonders bei außerordentlich Hochbegabten zum Tragen komme. Sie seien etwa intellektuell weit voraus, ihre alltagspraktischen oder sozialen Fähigkeiten hinkten jedoch hinterher.

Hochbegabte unterscheiden sich also offenbar in verschiedenem Ausmaß von der Allgemeinbevölkerung. Diese Differenzierung findet im deutschsprachigen Raum kaum statt. Auch in meinen eigenen Beratungen hatte ich zwar auf vorhandene Höchstbegabung hingewiesen, konnte aber Einzelaspekte dazu nicht ausreichend erörtern, da sie schlicht nicht bekannt waren. Für Betreffende kann das bedeuten, dass sie zwar als hochbegabt identifiziert werden, sich aber unter vielen Hochbegabten dennoch fremd fühlen. Bei einem Aufeinandertreffen kann die Begeisterung darüber, endlich einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, zunächst groß sein; nach kurzer Zeit folgen dann Irritation und Ernüchterung, weil das Interesse und die Energie des moderat hochbegabten Gegenübers nachlassen, während der Höchstbegabte gerade erst zu richtiger Form aufläuft. Das führt in der Regel eher dazu, dass der Höchstbegabte sich selbst infrage stellt oder seine Testergebnisse anzweifelt, als den abenteuerlichen Gedanken in Erwägung zu ziehen, er könnte noch schlauer sein als viele der normal Hochbegabten. Höchstbegabte, vor allem wenn sie nicht als solche erkannt werden, können sich naturgemäß mit nur sehr wenigen ihrer Mitmenschen identifizieren. In Biografien berühmter Genies mögen sie manche überraschende Gemeinsamkeit wiederfinden, aber natürlich möchte sich niemand mit derartigen Geistesgrößen vergleichen, oder wenn, dann höchstens im Geheimen. In den Ausführungen dieses Buches finden Höchstbegabte Gelegenheit, sich eingehend mit möglichen Ähnlichkeiten zu genialen Persönlichkeiten zu befassen.

Webb (2015) geht zudem der interessanten Frage nach, ob das Phänomen extremer Begabung in Wahrheit häufiger vorkommt als gedacht: »Die weitverbreitete Annahme, Personen mit IQ-Werten über 160 seien so selten, dass man sie getrost vernachlässigen könne, ist in den letzten Jahrzehnten durch klinische Daten infrage gestellt worden (Webb und Kleine 2012). Geht man von der Normalverteilungskurve aus, dürfte nur eine von 32 000 Personen einen IQ von 160 Punkten oder höher haben und nur eine von 2 590 000 einen IQ‑Wert von 180 oder höher. Feldberichte von Psychologen, die auf außerordentlich hochbegabte Personen spezialisiert sind, deuten jedoch darauf hin, dass mindestens doppelt so viele Personen IQ-Werte oberhalb 160 erreichen und mindestens dreimal so viele IQ-Werte oberhalb von 180.« (S. 45) Schon Wechsler (1935) und Forscher wie Cronbach (1979) oder Dodrill (1997) hätten darauf hingewiesen, dass das obere Ende des intellektuellen Spektrums mit der symmetrisch verlaufenden Normalkurve möglicherweise gar nicht erfasst werden könne und die Annahme, Intelligenz folge einer gleichmäßigen, glockenförmigen Kurve, vermutlich ein Irrtum sei. Wäre es also denkbar, dass wir durch zu ›flache‹ Testnormierungen nur einen Ausschnitt von dem erfassen, was Intelligenz bedeutet und was Menschen auf geistigem Gebiet zu leisten imstande sind? Was wäre, wenn man die IQ-Skala als nach oben hin offen annimmt und zunächst keine Grenzen festlegt? Die erstaunlichen Leistungen vieler Genies sprechen dafür, diesen Gedanken näher in Augenschein zu nehmen. Dasselbe gilt für sogenannte ›Savants‹, die über zwanzig Fremdsprachen beherrschen, mehrbändige Lexika und sämtliche Musikkompositionen der Welt auswendig kennen oder mit acht Jahren auf dem Niveau eines Erwachsenen Klavier spielen.

Aber selbst wenn, wie die gängige Lehre behauptet, nur ein bis zwei von tausend Personen höchstbegabt wären, befänden sich bereits in einer Kleinstadt mit 50 000 Einwohnern rund 50 Höchstbegabte, in einer Großstadt rund 500 bis 1000 von ihnen und in einem Land wie der Bundesrepublik rund 80 000. Kann eine moderne Gesellschaft, in der ›soft skills‹, also geistige Fähigkeiten, immer mehr an Bedeutung gewinnen und die Lösung globaler Probleme immer drängender wird, es sich leisten, auf die Identifikation und Förderung solcher Spitzenbegabungen zu verzichten? Und haben, unabhängig davon, extrem Begabte nicht wie alle anderen auch ein Recht auf Unterstützung bei der Entfaltung ihrer Fähigkeiten? Oder kann man von diesen ›Superhirnen‹ erwarten, dass sie sich selbst erkennen und sich mit ihren überragenden Fähigkeiten erfolgreich durchsetzen? Die Erfahrung zeigt, dass dies unter bestimmten Bedingungen möglich, im Normalfall jedoch oft unwahrscheinlich ist. Welche Faktoren nötig sind, damit Höchstbegabte und Genies ihre Potenziale entfalten können, ist eine der zentralen Fragestellungen dieses Buches.

3 Hochbegabungsstufen

Wie bereits angesprochen, haben Intelligenztests weltweit unterschiedliche Skalierungen. Dies führt bei Laien wie bei Fachleuten immer wieder zu Verwirrung. Selbst in wissenschaftlichen Publikationen fehlen bei der Übersetzung oft Erläuterungen zu den verwendeten Testskalen. Die Cattell-Skala etwa, die vor allem in Großbritannien verwendet wird, hat Normierungen, durch die man viel höhere IQ-Werte erzielt als in anderen Tests: Ein Wert von 130 Punkten entspräche dort zum Beispiel einem von 149 Punkten. Hierdurch erklären sich auch Ergebnisse von bis zu 220 Punkten, wie sie bisweilen in den britischen Medien von sogenannten Wunderkindern oder Filmstars wie Jodie Foster und Sharon Stone in den USA berichtet werden. Das führt jedoch leider auch dazu, dass solche hohen Werte (jenseits von 145 Punkten) hier generell als überzogen und unrealistisch abgetan werden. In den gängigen Testverfahren wie den Wechsler-Skalen und der Stanford-Binet-Skala, die bis zu 160 Punkten messen und einen Mittelwert von 100 haben, sind die Werte (bis auf geringfügige Abweichungen) jedoch weitgehend vergleichbar und daher auf dieselbe Weise zu interpretieren wie hierzulande.

Petermann und Daseking (2009) raten bei Vermutung einer Höchstbegabung zu einer speziellen Auswertungsformel im HAWIK-IV, welche aber in der Praxis so gut wie nie angewandt wird. In den USA wurden für den Wechsler-Test erweiterte Normen (WISC-IV Extended Norms) entwickelt, um im Bereich ab 130 IQ-Punkten besser differenzieren bzw. Höchstbegabte überhaupt identifizieren zu können. Trotz der sehr hohen Werte (bis IQ 210) liegt auch hier Vergleichbarkeit mit deutschsprachigen Skalen vor.

Schon Jacobsen (1999) weist darauf hin, dass Hochbegabung kein simples Entweder-oder-Konstrukt ist, sie erscheine in unterschiedlichen Formen und Graduierungen. Hochbegabung könne breit gefächert oder auf ein einzelnes Gebiet beschränkt sein, normale IQ-Tests könnten viele dieser Stufen und Formen nicht hinreichend erfassen und würden Begabungen bisweilen unterschätzen. Jacobsen unterscheidet die Hochbegabungsstufen »mild, moderate, extraordinary, profound« (übersetzt etwa: leicht, mittel, außerordentlich und extrem). Andere Autoren sprechen von »moderate, high, exceptional und profound« (z. B. Fietze 2010). Für den deutschen Sprachgebrauch bieten sich vorerst folgende Kategorien an:

Hochbegabung oder moderate Hochbegabung: IQ 130–144

Außerordentliche Hochbegabung oder Höchstbegabung: IQ 145–159

Extreme Hochbegabung: IQ 160–180

Diese Kategorien sind noch nicht wissenschaftlich belegt oder klar voneinander abgegrenzt. Wie einige andere Autoren beschränke ich mich daher zunächst im Wesentlichen auf die Unterscheidung zwischen »moderater Hochbegabung« und »Höchstbegabung«.

Wenn Hochbegabte laut wegweisender Studien von Forschern wie Terman (1959) oder Rost (2000) erfolgreicher, psychisch und gesundheitlich stabiler und sozial besser integriert sind, gilt dies dann gleichermaßen oder gar umso mehr für Höchstbegabte? Oder gibt es, wie manche Forscher vermuten, eine eher asynchrone Entwicklung, bei der die Diskrepanz zwischen Stärken und Schwächen mit steigendem IQ zunimmt?

4 Höchstbegabung: Mögliche Anzeichen

Nach meinen Beobachtungen in der psychologischen Praxis zeigen sich in Interaktion und Verhalten tendenziell folgende Unterschiede: Moderat Hochbegabte wirken im Erstkontakt oft aufgeschlossen, neugierig, interessiert, sozial kompetent und mitteilungsfreudig. Manche reden nach kurzer Aufwärmphase wie ein Wasserfall und teilen gern ihr umfangreiches Wissen. Sie arbeiten bei Testungen und Befragungen motiviert und begeistert mit, zeigen hohes Arbeitstempo, hohe Intensität und sind oft unersättlich, wenn sie sich geistig gefordert fühlen. Höchstbegabte Kinder sind hingegen im Erstkontakt oft eher ruhig und zurückhaltend. Sie sprechen zunächst gar nicht oder nur leise und zögerlich. Sehr aufmerksam tasten sie ihr Gegenüber und die Umgebung ab. Oft meiden sie direkten Blickkontakt, nehmen jedoch viele Details wahr. Es dauert länger, bis sie auftauen, und sie benötigen manchmal mehr Zeit, bis sie eine Aufgabe verstehen und lösen können. Höchstbegabte handeln bedacht, zögern öfter, sind leichter blockiert oder irritiert und brauchen behutsame Ermutigung. Spricht man sie zu laut, unvermittelt oder zu vertraulich an, ziehen sie ihre zarten ›Fühler‹ schnell wieder zurück. Offene Fragen verunsichern sie, am liebsten berichten sie von ihren jeweiligen Interessen. In ihren Äußerungen sind sie direkt und schnörkellos, sie achten weniger auf soziale Konventionen und können stur, hartnäckig und eigensinnig sein. Viele zeigen eine Art ›stille Intensität‹, während moderat Hochbegabte ihre Intensität besser nach außen hin zeigen können. Haben Höchstbegabte sich an die neue Situation gewöhnt und sich mit den Testaufgaben vertraut gemacht, können sie sich (bei adäquat hohen Anforderungen) extrem gut konzentrieren und vollkommen in der Arbeit versinken.

Höchstbegabte Erwachsene sind oft weniger leicht zu erkennen, wenn sie nicht gerade Nobelpreisträgerinnen oder renommierte Professoren sind. Mithilfe ihrer extrem hohen Intelligenz haben sie oft eine Vielzahl an Strategien entwickelt, ›normal‹ zu erscheinen, sich anzupassen und ihr Inneres zu verstecken. Sie können daher auf den ersten Blick sozial hoch kompetent wirken, während sie innerlich völlig unsicher, verwirrt und angespannt sind. Sie haben Mühe, das Verhalten anderer zu verstehen, wenn es ihnen etwa nicht logisch, nicht ehrlich oder nicht gerecht erscheint. Oft ziehen Höchstbegabte auch viel zu viele Optionen möglicher Beweggründe ihres Gegenübers in Betracht und laufen daher bereits bei einer gewöhnlichen Unterhaltung innerlich auf Hochtouren. Es kostet sie enorm viel Kraft, ihre Fassade aufrecht zu halten, diese wird ihnen mitunter zur zweiten Natur. Höchstbegabte verstellen und verbiegen sich häufig mehr als moderat Hochbegabte. Erstere trainieren sich angemessenes Sozialverhalten regelrecht an, indem sie andere beobachten und nachahmen. Höchstbegabte sind oft extrem leistungsfähig, vielseitig und ausdauernd, sodass andere staunen, wie ein einzelner Mensch so viele Aufgaben bewältigen kann. Andererseits leiden die Betreffenden manchmal unter Phasen extremer Erschöpfung. Ihre körperliche und seelische Kraft kann mit der geistigen oftmals nicht mithalten – eine Form der oben angesprochenen Asynchronie, die den Betreffenden jedoch selten bewusst ist. Höchstbegabte können vieles überragend gut, etwa Texte oder wissenschaftliche Probleme analysieren, manches jedoch überhaupt nicht, etwa einfache Additionsaufgaben lösen, sich in fremder Umgebung orientieren oder Gesprächen in größeren Gruppen folgen. Das treibt sie oft regelrecht zur Verzweiflung. Da sie weitaus mehr Fragen haben und vieles nicht auf Anhieb verstehen, halten sie sich oft für dümmer als andere. Der Widerspruch zwischen Verletzlichkeit und Stärke ist bei Höchstbegabten besonders ausgeprägt. Dadurch fühlen manche sich innerlich zerrissen. Auch ihre Intelligenztestergebnisse weisen öfter deutliche Schwankungen auf als bei moderat Hochbegabten. In den folgenden Kapiteln werden die möglichen Ursachen hierfür sowie weitere Merkmale von Höchstbegabten eingehend erörtert.

5 Merkmale Höchstbegabter

Hinsichtlich der genauen Unterscheidung zwischen moderater Hochbegabung und Höchstbegabung gibt es auch international noch wenig Daten. Jacobsen (1999) erklärt sinngemäß: Hochbegabte wissen die Antworten auf alle Fragen – Höchstbegabte stellen die Antworten infrage. Hochbegabte sind aufmerksam und konzentriert, wenn eine Aufgabe sie interessiert – Höchstbegabte sind mental und physisch völlig davon absorbiert. Hochbegabte können sich gut Fakten merken und gehen logisch vor – Höchstbegabte finden Lösungen scheinbar eher intuitiv. Höchstbegabte seien außerordentlich kreativ und individuell. Der Fokus auf ihren Beruf oder bestimmte Projekte sei ausgesprochen stark, einige zeigten auch Multipotenzialität, also hohe Begabungen in mehreren Bereichen. Sie scheinen sämtliche Phänomene noch gründlicher zu durchdenken und zu hinterfragen als moderat Hochbegabte, dies betreffe auch die eigene Person. Webb (2015) führt aus, dass die typischen Hochbegabungsmerkmale bei Höchstbegabten viel ausgeprägter sind, mehr Bereiche umfassen und früher auftreten.

Lovecky (1994) zufolge gibt es sowohl quantitative als auch qualitative Unterschiede in der Art des Denkens und der Informationsverarbeitung. Die Autorin gleicht eigene Untersuchungen mit bereits vorhandenen Studien ab und beschreibt als wesentliche Merkmale von Höchstbegabung:

Außerordentliches Gedächtnis: Viele höchstbegabte Kinder haben früh ein herausragendes Gedächtnis für Reime, Lieder, Geschichten, Zahlen und persönliche Ereignisse. Der zweieinhalbjährige Eddie sucht mittels Inhaltsverzeichnis Lieder in einem Liederbuch heraus, nachdem er nur die erste Zeile gehört hat. Gross (2003) berichtet von einem 18 Monate alten Mädchen, das sich mit Kinderliedern selbst in den Schlaf singt. Ein anderes Kind gibt mit zwölf Monaten die Inhalte von Vorlesebüchern wieder, ein zweieinhalbjähriges lernt ein episches Gedicht auswendig und sagt es aus eigenem Antrieb auf. Der Extrembegabte William Sidis erinnert sich nicht nur an alles, was er je gelesen hat, sondern auch an die jeweiligen Zahlen der Seiten, auf denen es steht. Der neunjährige Eric erinnert sich an jedes Detail und jeden Dialog jeder Starwars-Serie, die er je gesehen hat.

Feldmann (1986) führt aus, dass höchstbegabte Kinder sich offenbar an Ereignisse weit vor ihrem dritten Lebensjahr zurückerinnern können bis hin zu den ersten Lebensmonaten; dies schließt die Entwicklungspsychologie üblicherweise aus. Eine höchstbegabte Jugendliche beschreibt etwa in sämtlichen Details, wie sie mit 15 Monaten einen Splitter verschluckte: Sie schildert, wie sie sich selbst fühlte, die komplette Unterhaltung mit der Mutter, wie die Mutter sich fühlte, was sie anhatte, die Fahrt zum Krankenhaus und was der Arzt im Einzelnen gesagt hat. Das Erinnerungsvermögen moderat Hochbegabter sei ebenfalls gut ausgeprägt, reiche jedoch in der Regel nicht so weit zurück (bis ca. 24 Monate).

Aufgrund der stärkeren und weitreichenden Vernetzung einzelner Hirnstrukturen können Höchstbegabte offenbar leichter auf große Mengen von Information, zahlreiche Details und lange zurückliegende Gedächtnisinhalte zugreifen. Häufig haben sie als Jugendliche und Erwachsene Zugang zu Inhalten, die bei anderen im Unterbewusstsein abgespeichert sind. Andererseits sind ihre Möglichkeiten zu einem gesunden Maß an Verdrängung oft weniger gut ausgeprägt.

EmotionaleReaktionenaufabstrakteKonzepte: Höchstbegabte verbinden etwa Zahlen mit bestimmten Gefühlen, sie empfinden eine Neun als beruhigend oder eine Fünf als unangenehm. Ebenso können sie sich an der Schönheit einer Formel, Idee oder Theorie erfreuen. Was auf den ersten Blick wie eine Marotte wirkt, ist vermutlich ebenfalls Folge einer stärkeren Vernetzung von Hirnstrukturen. Die Kernphysikerin (2)Lise Meitner etwa schläft als Achtjährige mit ihrem Mathematikbuch unter dem Kopfkissen. »Herzlich liebe ich die Physik«, sagt sie später. »Es ist eine Art persönlicher Liebe, wie gegen einen Menschen, dem man sehr viel verdankt.« (Rennert 2018)

KonstruktionvonBedeutung: Höchstbegabte zeigen oft schon früh den Drang, überall schlüssige Muster zu suchen und Bedeutung zu finden, um sich Erfahrungen und Phänomene logisch erklären zu können.

DasEinfacheistkomplex: Höchstbegabte haben bisweilen Mühe, die Fülle der Informationen, die sie aufnehmen, zu ordnen und wiederzugeben. Sie können sehr gut abstrakt-logische Hypothesen bilden, tun sich aber schwer, ihr Material der Reihe nach aufzubereiten und Argumente auszuformulieren. Der Höchstbegabte sieht so viele Möglichkeiten, dass er sich oft nicht für eine einzelne entscheiden kann. Die einfache Frage »Was macht ein Doktor?« können hochbegabte Kinder laut Lovecky wortreich und ohne Probleme beantworten. Der höchstbegabte Zachery (7 Jahre) erklärt, es gebe sehr viele verschiedene Arten von Ärzten, die alle völlig unterschiedliche Dinge täten. Auch nach wiederholter Ermutigung kann er auf die Frage keine Antwort geben – obwohl bzw. weil er so viel darüber weiß. In einem anderen Beispiel kennt ein höchstbegabter Achtjähriger Hunderte von Vogelarten, deren wissenschaftliche Bezeichnungen er wenn nötig selbst präzisiert. Auch unterscheidet er rund 300 Farbschattierungen, denen er teils eigene Namen gibt. Bittet man ihn, einen »roten Stift« zu bringen oder »einen Vogel« zu zeichnen, sieht er sich vor ein größeres Problem gestellt. Er braucht genauere Angaben. Ähnliche Beobachtungen macht bereits Hollingworth (1942) in ihrer Studie an höchstbegabten Kindern: Sie erfassen viel größere Mengen an Informationen einzelner Objekte.

DasVerlangennachPräzision: Eng verknüpft mit der hohen Komplexität des Denkens und der Wahrnehmung ist das Bedürfnis nach präzisen Vorgaben und logisch nachvollziehbaren Abläufen. Anderenfalls entstehen Verwirrung und Unsicherheit. Aus der Notwendigkeit einer »logischen Welt« resultieren zudem endlose Fragen und Auseinandersetzungen, das Korrigieren von Fehlern, wo immer sie auftauchen, sowie das Streben nach Präzision im Denken und Formulieren. Als der neunjährige Eric eine neue mathematische Formel konstruiert und sein Mathematik-Lehrer sie als »Theorie« bezeichnet, korrigiert Eric ihn und erklärt, die Formel sei lediglich eine Hypothese, sie sei ja noch nicht bewiesen.

Moderat Hochbegabte benötigen nicht dieses Ausmaß an Präzision, sie agieren oft eher aufgrund der Annahme von »gut genug«, während Höchstbegabten Myriaden von alternativen Möglichkeiten in den Sinn kommen und sie einfach nicht sicher sein können, welche die exakt richtige ist.

DasKomplexeisteinfach: Höchstbegabte begreifen Dinge oft, indem sie das zugrunde liegende Muster erfassen. Ist dies einmal verstanden, brauchen sie keine (oder kaum) weitere Übung. Häufig verstehen sie Dinge dann so rasch und tief greifend, dass sie die einzelnen Schritte und Komponenten nicht ohne Weiteres darlegen können.

Abstrakt-logischesDenkeninfrühemAlter: Höchstbegabte verfügen gewöhnlich früher und über noch höhere Ebenen logischen Denkvermögens als moderat Hochbegabte. Sie decken logische Fehler in Geschichten auf, die man ihnen als Zweijährige vorliest, sehen übergeordnete Verbindungen zwischen Daten unterschiedlichster Bereiche oder lösen geistige Probleme, während sie gleichzeitig an anderen arbeiten. Sie verstehen früh Metaphern, Analogien, Humor von Erwachsenen und Paradoxien. Ein elfjähriges Mädchen beschreibt sich etwa als »optimistische Pessimistin«.

ErfassenelementarerKonzepte:Feldmann (1986) beschreibt ein höchstbegabtes Kind, das im Alter von zwei bis vier Jahren elf verschiedene Sprachen lernt, um herauszufinden, ob es so etwas wie eine Ursprache gibt und welchen Regeln sie folgt. Die Idee eines grundlegenden Musters von Sprache wäre für jedes hochbegabte Kind bemerkenswert, in solch einem frühen Alter gilt sie als phänomenal. Ein anderer Junge (4 Jahre) setzt sich das Ziel, eine größtmögliche Anzahl von Büchern für einen Lesemarathon zugunsten MS-Kranker zu lesen.

Moderat hochbegabte Kinder begreifen Ursache und Wirkung, sehen Faktoren, die ein Ergebnis beeinflussen können, und stellen Zusammenhänge zwischen einzelnen Ereignissen her. Üblicherweise bilden sie aber vor dem neunten bis zehnten Lebensjahr keine eigenen Hypothesen oder Theorien und formulieren für sich keine langfristig angelegten Forschungsaufgaben.

Das Alter, in dem höchstbegabte Kinder sich mit sozialen, moralischen oder philosophischen Fragen befassen, liegt in der Langzeitstudie von Gross (1993) bei durchschnittlich etwa sieben Jahren. Lovecky zitiert das Beispiel eines Achtjährigen, der sich intensiv mit Astrophysik und religiösen Fragen beschäftigt, weil er herausfinden möchte, ob die Kosmologie verschiedener Religionen ihr Gottesverständnis mit der Existenz schwarzer Löcher in Einklang bringen könnte.

ProjektiveIdentifikation: Höchstbegabte können sich früh in andere Personen, aber auch in Objekte oder Prozesse hineinversetzen. Viele (nicht alle) zeigen starkes Mitgefühl mit anderen. Ein anderthalbjähriges Mädchen fragt etwa einen Erwachsenen im Bekanntenkreis direkt, warum er so traurig ist, obwohl dieser versucht hatte, seinen Kummer zu verbergen. Silverman (1993a) beschreibt einen vierjährigen Jungen, der niemals andere Kinder schlägt, ihnen hilft, beim Spielen zu gewinnen, und sie ermutigt, wenn sie niedergeschlagen sind. Ähnliches findet man auch bei moderat Hochbegabten. Besonders kennzeichnend für Höchstbegabte ist jedoch ihre Fähigkeit, sich auch in Objekte und Prozesse hineinzuversetzen. Bildende Künstler wie Vincent van Gogh beschreiben, sie würden sich selbst in ihre Leinwand ›hineinprojizieren‹. Die Zytogenetikerin und Nobelpreisträgerin (1)Barbara McClintock erklärt, sie versetze sich bei Feldstudien praktisch in die Pflanzen hinein und könne sich auf diese Weise vorstellen, was sie dann vermutlich im Labor unter ihrem Mikroskop sehen werde. Die Fähigkeit, sich selbst als Teil des produktiven Geschehens zu sehen, wird insgesamt von Forschern als wichtiger Aspekt von Kreativität erachtet (Root-Bernstein 1987). Ein neunjähriger Junge, der eine Comicgeschichte verfasst, schildert, er steige im Geiste aufs Papier und als Hauptfigur in die Handlung hinein. Auch im Hinblick auf sein Verständnis für Kernphysik erzählt er, dass er selbst ein subatomares Teilchen werde und versuche, die Beziehungen zwischen Raum, Energie und anderen Teilchen wahrzunehmen. Der Pianist (1)Lorin Hollander berichtet, er sei mit dreieinhalb Jahren gleichsam »in die Musik hineingefallen«, als er zum ersten Mal ein Haydn-Quartett hörte. Der als Wunderkind geltende Junge wollte es sofort reproduzieren und hatte das gesamte Stück nach nur einmaligem Hören verinnerlicht. Eine meiner höchstbegabten Klientinnen beschrieb, dass sie Aufgaben eines Tests zum räumlichen Vorstellungsvermögen löste, indem sie sich »kleingemacht« habe und im Geiste um die abgebildeten Würfel herumgegangen sei, um sie von allen Seiten zu betrachten. Der Philosoph (1)Richard David Precht schildert, er ›zoome‹ sich praktisch in die von ihm dargestellten Philosophen hinein, um deren Gedanken und Theorien möglichst genau nachvollziehen zu können.

Non-linearesLernen: Höchstbegabte lernen oft nicht Schritt für Schritt und der Reihe nach, sondern nehmen rasch große Mengen an Information auf, die sie dann in eigene Ideen und Gedankensysteme einfügen. Zachery (7) beschäftigt sich mit ägyptischen Hieroglyphen und Computersprachen, um andere Formen von Sprache zu untersuchen. Lydia (11) liest von klein auf sämtliche Klassiker der Literatur und entwickelt bereits mit elf Jahren eigene Formen literarischer Analysen. Höchstbegabte haben einen breit gefächerten Zugang zu Wissen, sie erfassen Konzepte oft ganzheitlich und scheinbar intuitiv statt durch schrittweises Üben und Lernen. Die Geigerin (1)Anne-Sophie Mutter, bekannt als Wunderkind und Jahrhundertbegabung, lernt Musikstücke, indem sie deren Struktur zunächst geistig bis ins Detail verinnerlicht; dadurch erspart sie sich intensives Üben. Höchstbegabte überspringen bestimmte Lern- und Entwicklungsschritte und holen sie gegebenenfalls zu einem anderen Zeitpunkt nach. Eltern haben oft den Eindruck, ihr Kind lerne zuerst die Theorie und anschließend dann die Grundfakten und nötigen Fertigkeiten. Das Lernverhalten Höchstbegabter ist daher unkonventionell und passt meist nicht zu regulären Lehrplänen. (Auszüge aus Lovecky 1994, Übers. v. d. Verf.)

Weitere Merkmale Höchstbegabter sind:

Frühe, außergewöhnliche Fähigkeiten in mindestens einer Domäne (ab 2–3 Jahren)

Auffallend gute und tiefe Konzentration bei Interesse an einem Thema oder einer Beschäftigung

Sehr frühes Lesen, Schreiben und Rechnen (ab zwei bis drei Jahren); Faszination für Zahlen, Worte und Buchstaben

Ausuferndes Vokabular; eigene Wortschöpfungen, Wortspiele; »erwachsene« Sprache; meist sehr frühes Sprechen (Beginn: 6 bis 12 Monate), vereinzelt auch verzögerte Sprachentwicklung (im Hinblick auf aktives Sprechen, wobei der passive Wortschatz sehr groß sein kann)

Erfinden von Personen und detaillierten Szenarien sowie von eigenen Sprachen, Städten, Planeten oder ganzen Welten

Großes Interesse an Astronomie und Science-Fiction in frühem Alter

Metakognitionen, d. h. Nachdenken über das eigene Wissen, Bewusstsein und eigene Denkvorgänge; Versuche der Regulation des eigenen Denkens

Zurückhaltung und abwartendes Verhalten im sozialen Kontext, äußerst genaues Beobachten von Menschen und Situationen, oftmals ausgeprägte Introversion

Hohe Reizempfindlichkeit

Idiosynkrasien, d. h. spezielle Vorlieben für bestimmte Objekte, taktile Empfindungen, Geräusche oder auch Worte, Formulierungen und Zahlen; andererseits starke Abneigungen gegen manche Nahrungsmittel, Kleidungsstücke, Geräusche, Gerüche, Materialien oder auch bestimmte Worte, Redewendungen und Gesten

Frühes Bewusstsein für Weltprobleme

Asynchronie

Das nicht lineare Lernen scheint sich bei Höchstbegabten nicht nur auf die geistige, sondern auch auf die emotionale, soziale und motorische Entwicklung zu erstrecken. Schwierigkeiten können entstehen, wenn etwa die kognitive Entwicklung andere Bereiche überholt. Manche sind ihrem Alter in geistiger Hinsicht weit voraus, hinken aber in der motorischen Entwicklung hinterher. Oder sie sind im Verständnis von technischen Geräten und Puzzles unschlagbar, während ihre mathematischen und verbalen Fähigkeiten nur durchschnittlich gut sind. Auch können soziales Urteilsvermögen und Taktgefühl hinter anderen Fähigkeiten zurückliegen. »Je stärker die Hochbegabung ausgeprägt ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind (oder der Erwachsene) innerlich nicht im Gleichklang ist und große Diskrepanzen zwischen Bereichen der Stärke und Bereichen der relativen Schwäche aufweist.« (Webb 2015, S. 73) Diese Diskrepanzen spiegeln sich häufig auch in Profilen von Intelligenztests wider. Die Werte einzelner Testreihen können durchschnittlich ausfallen oder auch so hoch, dass die Skalen sie nicht mehr erfassen. Wenn ein Höchstbegabter im IQ-Test also im ersten Teil 80 Punkte und im zweiten Teil 160 Punkte erreicht, würde er mit einem Gesamt-IQ von 120 möglicherweise nicht einmal als Hochbegabter erkannt.

Höchstbegabte Kinder sind sich ihrer Asynchronie oft durchaus bewusst. Erwachsene verstehen nicht, wie ein Kind sozial so unreif sein kann, während es in anderen Bereichen so intelligent ist. Webb (2015) schildert das Beispiel eines siebenjährigen Höchstbegabten, der im Aufzug das Schild mit dem zulässigen Höchstgewicht gelesen hat. Er fragt die anwesenden Personen nach ihrem Gewicht, diese reagieren pikiert. Seine Eltern erklären ihm, dass es unangebracht ist, fremde Menschen nach ihrem Körpergewicht zu fragen. Wie passt dies mit der Beobachtung zusammen, dass Hochbegabte oft ein verfeinertes soziales Gespür und übermäßig ausgeprägtes moralisches Empfinden haben? Meines Erachtens geht es in diesem und vielen anderen ähnlichen Beispielen gar nicht um Taktgefühl oder soziales Urteilsvermögen, sondern um das Verstehen von (nicht immer logischen) gesellschaftlichen Normen: Man fragt Fremde deshalb nicht nach ihrem Gewicht, weil in westlichen Gesellschaften der Konsens vorherrscht, übergewichtige Personen seien weniger attraktiv – rational und moralisch betrachtet eine äußerst fragwürdige Annahme, die Höchstbegabte schlicht nicht nachvollziehen können. Aus ähnlich unlogischen Gründen ist es etwa sozial unerwünscht, Menschen nach ihrem Alter zu fragen.

Je höher die kognitive Kapazität, umso höher sei der Grad an Asynchronie, vermutet auch Lovecky (1994). Allerdings würden höchstbegabte Kinder diese Rückstände oft aufholen, je älter sie werden. Wenn man diese Kinder also an normalen psychologischen Maßstäben misst und ihnen zu früh Entwicklungsrückstände attestiert, kann dies schwerwiegende Folgen haben.

Die Beobachtung der Asynchronie in der Entwicklung von Höchstbegabten und Genies wird von meinen eigenen Nachforschungen weitgehend gestützt. Bei vielen Genies finden sich in Kindheit und Jugend alltagspraktische und soziale Unbeholfenheit oder Rückstände im motorischen und sprachlichen Bereich. Beachtenswert ist, dass diese sich umso eher auswachsen bzw. umso weniger ins Gewicht fallen, je stärker die Begabungen des Betreffenden gefördert werden und je mehr Kontakt er oder sie zu Gleichbegabten hat. (1)Jean-Paul Sartre etwa holt die Rückstände seiner sozialen Entwicklung vollständig auf, als er mit zehn Jahren auf eine Spezialschule für Hochbegabte gehen kann. (3)Albert Einstein wird von einem isolierten, verlangsamten und wortkargen Jungen zu einem motivierten, ausgeglichenen Schüler, als er in der Schweiz eine weiterführende Schule besucht, deren Pädagogen selbstständiges Lernen fördern und seine ungewöhnlichen Fähigkeiten anerkennen. (1)Stephen Hawkings ausgeprägte Ängstlichkeit und Schüchternheit als Kind und Jugendlicher scheint mit zunehmendem Erfolg als Wissenschaftler in späteren Jahren kaum noch eine Rolle zu spielen. (3)Marie Curie bleibt bis ins Erwachsenenalter schüchtern, umgibt sich jedoch dann gezielt mit einigen wenigen Menschen, die geistig auf ähnlicher Wellenlänge liegen.

Mögliche soziale und emotionale Probleme

Leta Hollingworth (1942), eine der ersten Forscherinnen, die sich bereits in den 1920er- und 30er-Jahren mit extrem begabten Kindern befasst hatte, spricht von einem optimalen Intelligenzbereich, der zwischen 120 und 145 Punkten angesiedelt sei. Das Risiko für soziale oder emotionale Schwierigkeiten sei hier eher gering. Personen mit einem außerordentlichen IQ litten hingegen nicht selten unter Entfremdungsgefühlen. Auch Hollingworth konnte jedoch zeigen, dass sich die sozialen Fähigkeiten unter Gleichbegabten viel besser entwickelten. Höchstbegabte Kinder, die solche Kontakte nicht hatten, waren auf sich selbst zurückgeworfen und zogen einsame intellektuelle Beschäftigungen vor (Hollingworth 1975). Brody & Benbow (1986) verglichen moderat Hochbegabte mit extrem Hochbegabten hinsichtlich Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit, Zufriedenheit und Selbstdisziplin und fanden heraus, dass Letztere in sozialer und emotionaler Hinsicht mehr Schwierigkeiten hatten. Shaywitz et al. (2001) differenzieren zwischen ›low gifted‹ (moderat hochbegabt) und ›high gifted‹ (höchstbegabt) und beobachteten, dass moderat Hochbegabte tatsächlich weniger Probleme haben, während manche Höchstbegabte Verhaltensprobleme zeigten, die teilweise an Formen von Lernbehinderungen erinnern. Wichtig ist jedoch, dass die Ursache hierfür nicht in einem Mangel an Kenntnissen oder Fähigkeiten liegt, sondern ganz im Gegenteil in der oben beschriebenen Fülle an Kenntnissen und Ideen, die bei Höchstbegabten zu Blockaden führen kann, wenn sie z. B. keine absolut präzisen Anweisungen erhalten.

6 Förderansätze

Gross (2003) untersucht in ihrer Längsschnittstudie die Entwicklung außerordentlich hochbegabter Kinder und Jugendlicher, die mittlerweile junge Erwachsene sind. Die Ergebnisse zeigen, dass der entscheidende Faktor für schulischen Erfolg, seelische Stabilität, gute soziale Kontakte und Lebenszufriedenheit bei Höchstbegabten in »radikaler Akzeleration« besteht, also in drastischer Beschleunigung des Lernens und der Schullaufbahn. Höchstbegabte Kinder, welche eine oder mehrere Klassen überspringen, die Schule vorzeitig abschließen und früh eine Universität besuchen dürfen, entwickelten sich in jedem der genannten Bereiche günstiger als solche, die in ihren Klassen verblieben und eine normale Schullaufbahn absolvierten. Als zweiter wichtiger Faktor für eine positive Entwicklung erwies sich der regelmäßige Kontakt zu älteren und gleichbegabten SchülerInnen. Hier sieht Gross einen grundlegenden Fehler in den viel zitierten Terman-Studien: Alle bis auf zwei Kinder von rund 1500 wurden gefördert, hatten Klassen übersprungen, wurden von Lehrern, Eltern und Umfeld unterstützt und hatten Kontakt zu anderen Hochbegabten.

Gross räumt ein, dass Kinder mit Lernbehinderungen, sozial Benachteiligte sowie depressive Kinder und solche, die ihre Begabung erfolgreich verheimlichen, in Studien wie der ihren deutlich unterrepräsentiert sind. Die meisten dieser Kinder entstammen den oberen sozialen Schichten. An dieser Stelle sei angemerkt, dass es in Deutschland in jüngerer Zeit die erfreuliche Entwicklung gibt, dass sogenannte Talentscouts, wie etwa Suat Yilmaz oder Kerstin Franz, gezielt nach hochbegabten Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen und/oder eingewanderten Familien suchen.

Moderat Hochbegabte, so berichtet Gross, kämen tendenziell in regulären Klassen gut zurecht, sofern Fördermaßnahmen wie Enrichment (Anreicherung des Lernstoffes), Pullout (Teilnahme an zusätzlichen Förderangeboten) oder leichte Akzeleration (beschleunigtes Lernen in einzelnen Fächern) angeboten werden. Höchstbegabte kämen hingegen besser in Hochbegabtenklassen oder Hochbegabtenschulen zurecht oder wenn die Betreffenden zu Hause unterrichtet werden (sog. »Homeschooling«).

Je stärker also die Akzeleration und je mehr Kontakte zu Gleichbegabten, umso mehr Lebenszufriedenheit, beruflicher Erfolg, akademische Laufbahnen, bessere soziale Beziehungen und umso stabiler das Selbstwertgefühl bei Höchstbegabten. Umgekehrt brachen diejenigen höchstbegabten Kinder bzw. Jugendlichen umso öfter die Highschool oder das College ab, hatten mit sozialen Schwierigkeiten und Isolation zu kämpfen, verfügten über weniger Selbstbewusstsein und schlugen seltener akademische Laufbahnen ein, je weniger sie gefördert wurden.

Das Überspringen von mehreren Klassen, ein Abitur im Alter von 15 Jahren, der Besuch einer Universität mit 16 Jahren oder Unterricht zu Hause sind im deutschsprachigen Raum extrem selten oder gar nicht vorgesehen. Soziale Anpassung ist heute (aus guten Gründen) oberstes Gebot, scheint aber für sehr außergewöhnliche Kinder und Jugendliche nicht immer die beste Lösung zu sein. Es gibt jedoch bereits erste Ausnahmen, wie z. B. Alissa, die mit 16 Jahren im dritten Semester Lebensmittelchemie studiert. Bei ihr scheint die ›radikale Akzeleration‹ erstaunlich gut geglückt zu sein. Alissa wurde im Einschulungstest als höchstbegabt erkannt, mit fünf in die zweite Klasse eingeschult, übersprang mit zehn die 7. Klasse und machte mit 15 ihr Abitur. Der Altersunterschied würde an der Universität von vielen kaum noch bemerkt (Saring 2018). Der höchstbegabte Schweizer Maximilian Janisch hat drei Klassen übersprungen und mit 14 das beste Abitur seiner Schule gemacht. Von Lehrern, Mitschülern, Behörden und selbst von Psychologen wurden er und seine Eltern stark angefeindet und unter Druck gesetzt, ihm eine »normale Kindheit« zu ermöglichen. Maximilian selbst wollte unbedingt studieren, was jedoch auch in der Schweiz erst ab 16 Jahren erlaubt ist. Er erhielt bereits Einladungen an Universitäten in den USA, unter anderem nach Harvard. Zwischenzeitlich ist Maximilian jüngster Student der Schweiz, absolvierte seinen Bachelor an der Universität Zürich in zwei Semestern und plant seine Promotion in Princeton in den USA.

Die Lebensläufe vieler bekannter Genies zeigen ebenfalls verschiedene Formen stark beschleunigten Lernens, das entweder Eltern, Lehrer oder auch die Betreffenden selbst durchgesetzt haben. (4)Marie Curie macht mit 15 Jahren Abitur, (2)Stephen Hawking meldet sich mit 16 Jahren eigenständig zur Aufnahmeprüfung an der Universität an, (1)Martin Luther King überspringt zwei Klassen und wird im Alter von 15 Jahren ausnahmsweise an der Universität zum Soziologie-Studium zugelassen. Der Nobelpreisträger (1)Pierre Curie gilt als »zu sensibel« für die Schule und wird daher zu Hause unterrichtet; mit 16 macht er sein Abitur, mit 19 ist er bereits wissenschaftlicher Assistent an der Universität. Auch (1)Johann Wolfgang von Goethe beginnt sein Studium bereits mit 16 Jahren (Prause 2006).

Natürlich verlaufen solche Fördermaßnahmen nicht immer ohne Hindernisse und Probleme. Sie tragen aber der beschleunigten geistigen Entwicklung Höchstbegabter am ehesten Rechnung. Zudem sind die Alternativen, wie Gross und andere Autoren es beschreiben, ebenfalls mit nicht geringen Risiken behaftet.

Kapitel II

Formen der Hochbegabung

1 Hochbegabungstypen: Überflieger, Nerds und Rebellen

Die Gruppe der Hochbegabten ist in mehrfacher Weise heterogen, das Konzept umfasst noch weitere Dimensionen. Ebenso wie es verschiedene Stufen von Hochbegabung gibt, werden heute auch unterschiedliche Typen und Formen von Hochbegabung ausgemacht. Obwohl die Kategorien noch relativ vage sind, zeigen sie in zunehmender Deutlichkeit das Ausmaß der Vielfalt unter Hochbegabten. Autorinnen wie Schwiebert (2015) und Fleiss (2003) nennen folgende Typen:

Die strebsamen Experten, z. B. Wissenschaftler, Forscherinnen, Ingenieure oder Computerfachleute, die auf einem einzelnen Gebiet ein hohes Niveau an Fertigkeiten erreichen.

Während die sogenannten Experten meist erfolgreich und gut in ihr Umfeld integriert sind, verhalten sich die kreativen Erneuerer eher unangepasst und gehen über die Grenzen ihrer Domäne hinaus, indem sie neue Entdeckungen machen, die elementare Fortschritte und Umwälzungen bewirken (Winner 2004).

Die Generalisten verfügen als klassische Intellektuelle mit profundem Wissen auf vielen Gebieten über eine breit gefächerte Bildung.

Die sogenannten hochbegabten Dilettanten sind extrem vielseitig interessiert und in vielen Bereichen besonders befähigt, bringen es aber selten auf einem Gebiet zu Perfektion. Erfahrungsgemäß ordnen sich allerdings zu viele Hoch- und Höchstbegabte selbst dieser Kategorie zu.

Oft gibt es natürlich auch Mischtypen. (4)Albert Einstein, (1)Steve Jobs, (5)Marie Curie oder (1)Florence Nightingale waren sowohl hoch spezialisierte Experten als auch schöpferische Erneuerer. Zugleich waren sie äußerst vielseitig gebildet und hatten auch in weiteren Bereichen große Begabungen; dasselbe gilt für (3)Vincent van Gogh oder (1)Wolfgang Amadeus Mozart.

Jacobsen (1999) spricht, etwas salopp und ironisch, von Marvels, Nerds und Rebels, grob übersetzt also von Superhelden, Sonderlingen und Rebellen. Eine ähnliche Unterteilung nimmt Streznewski (1999) vor, nämlich Superstars, Shrivers und Independents – Superstars, Strebsame und unabhängige Freigeister. Mit Superstars sind diejenigen Hochbegabten gemeint, die großen Spaß am Lernen haben, durch hervorragende schulische Leistungen auffallen, bei Lehrern wie Mitschülern beliebt sind, häufig zum Klassensprecher gewählt werden, später im Beruf besonders erfolgreich sind und ein lebhaftes, engagiertes Familien- und Sozialleben führen. Unter ihnen befinden sich häufig Personen des politischen Lebens wie z. B. Martin Luther King. Der Begriff Nerd ist mittlerweile auch hierzulande gebräuchlich und meint zurückhaltende, sozial eher ungeschickte und eigenwillige Hoch- und Höchstbegabte, die äußerst strebsam sind und sich stark auf ein spezielles Fachgebiet konzentrieren. Sie studieren häufig technische und naturwissenschaftliche Fächer, oder man findet sie auf Computermessen und im Silicon Valley, wie z. B. (2)Steve Jobs, Steve Wozniak oder Bill Gates. Auch Asperger-Autisten werden häufig als Nerds bezeichnet. Die Rebellen und Freigeister unter den Hochbegabten stellen häufig Regeln, Normen und Unterrichtsmethoden infrage, regen Diskussionen an, ecken bei ihren Mitmenschen und der Obrigkeit an und sind besonders kreativ. Berühmte Beispiele sind (1)Leo Tolstoi, (1)Frida Kahlo, (1)Mahatma Gandhi, (1)Marguerite Duras oder (1)Joan Miró.

Andere Forscher unterscheiden hauptsächlich zwischen Hochleistenden und Minderleistern (Rost 2000, vom Scheidt 2006). Winner (2004) ergänzt, dass es unter Höchstbegabten und Genies sowohl Wunderkinder (wie z. B. (2)Mozart, (1)