Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel? (Leben Lernen, Bd. 180) - Andrea Brackmann - E-Book

Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel? (Leben Lernen, Bd. 180) E-Book

Andrea Brackmann

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Beschreibung

Die Autorin schildert Chancen und Probleme in sozialen Beziehungen und seelische Schwierigkeiten, die bei hochbegabten Kindern und Erwachsenen auftreten können. Sie zeigt Auswege aus der krisenhaften Erfahrung des »Andersseins« auf. Etwa zwei Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene (!) in Deutschland gelten als hochbegabt. Sie können nicht nur intellektuelle Höchstleistungen in verschiedenen Bereichen erbringen, sondern sind in der Regel auch auf emotionaler und sensorischer Ebene überdurchschnittlich empfindsam. Fallbeispiele und Hintergrundinformationen geben Einblick in die Besonderheiten des emotionalen Erlebens, der Sinneswahrnehmung, der sozialen Beziehungen und der Bewältigung des Alltags. Gefühle des Andersseins, emotionale und sensorische Überempfindlichkeit können bei hochbegabten Kindern und auch bei Erwachsenen Probleme verursachen, die das soziale Miteinander erheblich erschweren. Nicht selten wird das Faktum der Hochbegabung verdeckt durch eine übersensible Persönlichkeitsstruktur, die oft auch als Störung diagnostiziert wird. Diese Aspekte transparent zu machen, typische Persönlichkeitsmerkmale bei Hochbegabten herauszuarbeiten und förderliche Umgangsweisen aufzuzeigen ist das Ziel der Autorin. Sie will Psychologen, Therapeuten, Ärzten und Pädagogen ein differenziertes Verständnis für hochbegabte Menschen vermitteln und auch Betroffenen helfen, sich selbst besser zu verstehen. 

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Seitenzahl: 328

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Andrea Brackmann

Jenseits der Norm –hochbegabt undhoch sensibel?

Die seelischen und sozialen Aspekteder Hochbegabungbei Kindern und Erwachsenen

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2013 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlag Roland Sazinger

Unter Verwendung eines Fotos von © Argonautis / fotolia.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89208-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10381-6

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20014-0

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Vorwort

I. Einleitung

Hochbegabung – ein Mode-Thema?

Definition und Diagnostik von Hochbegabung

II. Typische hochbegabte Kinder und Jugendliche

Der sensible Träumer

Daniel Düsentrieb

Die Künstlerin

Die Rebellin

Der »Besserwisser«

Der Verweigerer

Die Anführerin / Das Multitalent

Der Unbeirrbare

III. Erhöhte Erregbarkeit des Nervensystems?

Geistige Überaktivität

Sozialverhalten und geistige Überaktivität

Emotionale Hypersensibilität

Sensorische Überempfindlichkeit

IV. Die soziale und emotionale Entwicklung Hochbegabter

Allgemeines

1. Die ersten drei Jahre

2. Die Kindergartenzeit

3. Die Grundschule

4. Die weiterführende Schule

5. Die Pubertät

6. Die Studienzeit

V. Das Erwachsenenalter

Allgemeines

1. Typische hochbegabte Erwachsene

Der zerstreute Professor

Die Grenzgängerin

Die späte Künstlerin

Die Asketin

Die Schillernde

Der Zweifler

Der Perfektionist

Die Intellektuelle

Der Nonkonformist

2. Der Alltag hochbegabter Erwachsener

Öffentliches Leben

Beruf

Liebe und Partnerschaft

Freundschaften

Religion und Philosophie

Extreme Erfahrungen

Humor

Ordnung und Strukturen

VI. Seelische Störungen und Hochbegabung

Forschungsstand

Zu meiner Arbeitsweise

1. Psychotherapie mit hochbegabten Kindern und Jugendlichen

Elternberatung

Beziehungsgestaltung

Therapeutisches Vorgehen: Anfangsphase – Aufbauhase – Interventionsphase

Schulische Probleme und Lernschwierigkeiten

Introversion, Selbstunsicherheit und depressive Entwicklungen

Schwierigkeiten in sozialen Kontakten

Andere Störungsbilder

Therapie mit hochbegabten Jugendlichen

Drei besondere Fälle

2. Autistische Störungen

Definition

Falldarstellungen verschiedener Autoren

Eigene Beobachtungen

Intelligenzmessung bei Hochbegabten mit autistischen Zügen

Zur Beziehungsgestaltung mit autistischen Kindern

Autisten mit besonderen Begabungen

Gewagte Hypothesen

Schlussfolgerungen

3. Psychotherapie mit hochbegabten Erwachsenen

Vorkenntnisse des Therapeuten

Beziehungsgestaltung

Die Persönlichkeit des Therapeuten

Intelligenzdiagnostik bei hochbegabten Erwachsenen

Depressionen, Angsterkrankungen und Leistungsstörungen

Fallbeispiel: Depressionsbehandlung

Fallbeispiel: Behandlung von Arbeitsstörungen und Prüfungsangst

Fallbeispiel: Behandlung von Sprechangst und sozialer Phobie

Brauchen Hochbegabte eine besondere Behandlung?

Schwer wiegende seelische Erkrankungen bei Hochbegabten

4. Borderline-Persönlichkeiten

Definition

Forschungsstand und eigene Beobachtungen

Drei Fallbeispiele

Die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen

Trauma, Begabung und Kreativität

Verarbeitung belastender Erfahrungen bei Hochbegabten

Weitere Borderline-Strategien

Beziehungsgestaltung in der Therapie mit Borderlinern

Schlussfolgerungen

Psychotherapie traumatischer Erfahrungen

Die Angst des Therapeuten

VII. Ausblick - einige tröstliche Worte

Literatur

Kontaktadressen

Meinem wagemutigen Sohn Aaron in Liebe gewidmet

Vorwort

Zweifel und Unsicherheit sind unerlässliche Komponenten eines vollständigen Lebens.

C. G. Jung

Ein Grundsatz meines therapeutischen Arbeitens besteht darin, meine Klienten als gleichberechtigte Gegenüber zu betrachten und ihre Wahrnehmungen und Anschauungen, so fremdartig sie auch erscheinen mögen, ebenso zu respektieren wie meine eigenen. Statt einzig aufgrund theoretischen Fachwissens Ratschläge zu erteilen, versuche ich gemeinsam mit dem Klienten Lösungen zu finden, die seinen individuellen Bedürfnissen gerecht werden. Mich mit meinen Klienten zu unterhalten ist mir daher mindestens ebenso wichtig, wie mich mit Fachkollegen über meine Klienten zu unterhalten.

Wenngleich es sich im vorliegenden Buch um eine Fachpublikation für Psychotherapeuten handelt, kann ich nicht umhin, meinem Grundsatz auch hier treu zu bleiben. Der Inhalt meines Buches richtet sich daher gleichermaßen an Fachkollegen, also Psychologen, Ärzte und Pädagogen, wie an die Betroffenen selbst: hochbegabte Erwachsene, Jugendliche und Eltern hochbegabter Kinder.

Ich vertrete die Auffassung, dass auch in wissenschaftlichen Publikationen, insbesondere wenn es um die menschliche Psyche geht, der Mensch im Mittelpunkt stehen und auch die Betroffenen selbst Gelegenheit haben sollten, psychologische Theorien und Forschungsergebnisse nachzuvollziehen und für sich fruchtbar zu machen.

Diesem Gedanken trägt auch die Konzeption und sprachliche Gestaltung meines Buches Rechnung. In der Hoffnung, ein möglichst breites Spektrum von Fachleuten und Betroffenen anzusprechen, versuche ich eine mitunter schwierige Gratwanderung zwischen wissenschaftlicher Erörterung und dem Bemühen um Anschaulichkeit, Farbigkeit und Verständlichkeit.

Ich schulde meinen Klienten schon allein deshalb hohen Respekt, weil sie auch bei mir fortwährend Lernprozesse anregen und meine persönliche Entwicklung bereichern und vorantreiben. Dies betrifft im Übrigen nicht nur meine hochbegabte Klientel.

Dass ein Mensch unter einer seelischen Erkrankung leidet, bedeutet nicht zwangsläufig, dass er weniger bei Verstand wäre als der Therapeut.

Umgekehrt ist ein Therapeut nicht notwendigerweise klüger, lebenserfahrener oder seelisch gesünder als sein Klient. Was geschieht, wenn ein Klient intelligenter ist als sein Therapeut? Wenn ein Klient emotionale, geistige und soziale Erfahrungen gemacht hat, die weit über das hinausreichen, was der Therapeut kennt?

Je unvoreingenommener und neugieriger ich meinem Klienten gegenübertrete, umso mehr kann ich mit ihm lernen und umso mehr Freude macht die Zusammenarbeit. Den Klienten als ebenbürtigen Mitarbeiter bei der Therapie seiner Beschwerden zu respektieren, bewirkt ein Arbeitsklima, das sowohl für den Therapeuten als auch für den Klienten einen großen Gewinn darstellen kann.

Bruno Bettelheim erzielte etwa bei der Behandlung autistischer Kinder beispiellose Erfolge, für welche weniger eine Methode als vielmehr eine Haltung verantwortlich war: »Der Leidende ist nicht anders als wir.« (Bettelheim, 1983)

Auch ich selbst kenne seelische Nöte, Lebenskrisen, Ängste und Zweifel an meinen Fähigkeiten. Beim Schreiben dieses Buches etwa waren meine stetigen Selbstzweifel sowohl hilfreich als auch hemmend. In manchen Phasen meinte ich, über mich selbst hinauszuwachsen, in anderen war ich unsicher und fürchtete, niemals fertig zu werden. Auch machte ich immer neue Beobachtungen und stellte neue Überlegungen an. Während des Schreibens und meiner Beschäftigung mit hochbegabten Menschen mehrten sich zum Beispiel die Anzeichen dafür, dass hohe Intelligenz kennzeichnend sein könnte für die Abwesenheit von etwas, das ich zunächst nicht näher bestimmen konnte. Neuere hirnphysiologische Untersuchungen zeigen, dass der Ausfall spezieller Hirnareale (etwa bei Demenzen oder Hirnverletzungen) Potenziale, wie zum Beispiel herausragende künstlerische oder mathematische Fähigkeiten, freisetzt. Hochbegabung könnte also ebenso durch das Vorhandensein besonderer Fähigkeiten determiniert sein wie durch die Freiheit von Beschränkungen, Denkgewohnheiten, Blockaden, Ängsten und Konventionen. Diese Annahme stellt vieles, was ich in diesem Buch geschrieben habe, in Frage und rückt es in ein neues Licht. Dennoch möchte ich diese Gedanken nicht unerwähnt lassen und den Leser ermuntern, sich bei der Lektüre die Freiheit zu nehmen, seinerseits zu zweifeln, zu hinterfragen und weiterzudenken.

Dank

Mein besonderer Dank gilt der Wiener Pianistin Doritt Hanke, die mir mit ihrem leidenschaftlichen Forscherdrang, ihrer genauen Beobachtungsgabe, ihrem Mut zu ungewöhnlichen Betrachtungsweisen und ihrer unerschütterlichen Menschenliebe viele wertvolle Hinweise, insbesondere zum Verständnis autistischer Menschen, gegeben hat. Ich danke Jens Christoph Ginkel, der mir sowohl als Prachtexemplar eines Hochbegabten viele Einblicke in seine Gefühls- und Gedankenwelt erlaubte als auch bei der Literatur-Recherche mit Rat und Tat zur Seite stand. Und ich danke meinem Freund und Gefährten Olaf für seinen Starrsinn, seine Liebe zum Detail, für seine Ermutigungen bei meinem Bemühen, dies Buch so ehrlich als möglich zu schreiben, und nicht zuletzt für sein Bonmot: »Das Leben ist eine trotzige Irrfahrt, eine vollkommen verrückte Veranstaltung!« Zu danken habe ich auch den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK) und selbstverständlich allen Hochbegabten und Eltern hochbegabter Kinder für ihr Vertrauen und die fruchtbare, erhellende und bereichernde Zusammenarbeit.

Frankfurt, im Dezember 2004

Andrea Brackmann

I. Einleitung

Dieses Buch soll Psychologen, Pädagogen, Ärzten und allen anderen, die beruflich mit dem Phänomen Hochbegabung zu tun haben, ein tieferes und differenzierteres Verständnis für hochbegabte Menschen vermitteln. Es kann als Hilfestellung dienen, Hochbegabte überhaupt als solche zu erkennen und das Bild dessen, was im klinischen Bereich vielfach als ›Störung‹ diagnostiziert wird, im Zusammenhang mit Erscheinungsformen der Hochbegabung zu verstehen. Ein ebenso wichtiges Anliegen ist es mir, mit den Ausführungen dieses Buches Eltern hochbegabter Kinder sowie hochbegabte Jugendliche und Erwachsene anzusprechen.

Während meiner nunmehr zwölfjährigen Tätigkeit mit Hochbegabten konnte ich eine Fülle von Erfahrungen und Beobachtungen sammeln; der Inhalt und die zentralen Thesen des Buches gründen sich daher auf Anamnesedaten, Begutachtungen, Beratungsgesprächen und Behandlungen von rund 800 Hochbegabten in meiner psychologischen Praxis.

Meine Ausführungen und Schlussfolgerungen erheben keinesfalls den Anspruch wissenschaftlich vollständig abgesicherter Thesen, sondern stellen vielmehr den Versuch dar, auf dem noch jungen Forschungsgebiet der Hochbegabung einige Anregungen und Denkanstöße beizutragen.

In der vorliegenden Arbeit gewinnt der Leser anhand zahlreicher Fallbeispiele Einblick in typische Erscheinungsformen des Phänomens Hochbegabung. Dabei geht es nicht nur um intellektuelle Aspekte, sondern auch um Besonderheiten des emotionalen Erlebens, der Sinneswahrnehmung, der sozialen Beziehungen und der Bewältigung des Alltags.

Seit das Thema Hochbegabung in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert wird, ist eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen, die vorwiegend die schulischen Aspekte und Probleme bei hochbegabten Kindern behandeln. Das Phänomen Hochbegabung umfasst jedoch noch eine große Anzahl weiterer besonderer Merkmale: Erfahrungsberichte betroffener Eltern und erwachsener Hochbegabter zeigen, dass die überwiegende Mehrzahl der Hochbegabten nicht nur auf geistiger Ebene ›hoch ansprechbar‹, sondern auch auf emotionaler und sensorischer Ebene hoch empfindsam ist. Diese Aspekte werden in den meisten Forschungarbeiten nur am Rande berührt.

Viele Hochbegabte können sich mit dem Bild des »Überfliegers«, des Musterschülers, des wissenschaftlichen oder künstlerischen Genies nicht identifizieren. Es gibt noch eine Fülle anderer Hochbegabten-Persönlichkeiten, die in diesem Buch mit und vor allem angesprochen werden.

Neben dem Innenleben hochbegabter Kinder soll hier auch das Denken und Erleben hochbegabter Jugendlicher und Erwachsener erörtert werden. Letztere schienen in der Öffentlichkeit bisher kaum zu existieren, es sei denn, sie fielen durch künstlerische oder wissenschaftliche Höchstleistungen auf. Viele Erwachsene wissen von sich selbst gar nicht, dass sie intellektuell hochbegabt sind, und fühlen sich nur »irgendwie anders« als die Mehrheit, also jenseits der Norm. Sie geraten vielleicht häufig durch ihre ungewöhnlichen Anschauungen und ihr hohes Denktempo mit anderen in Konflikt. Oder sie verstehen nicht, warum sie auf manchen Gebieten ganz besondere Fähigkeiten besitzen, an einfachen Alltagsaufgaben jedoch mitunter scheitern.

Einen weiteren Schwerpunkt des Buches bildet das therapeutische Vorgehen bei Hochbegabten mit seelischen Störungen. Zu dieser Thematik finden sich in der gegenwärtigen Forschungsliteratur nur spärliche Hinweise. Auch hier sind die geschilderten Beobachtungen und Vermutungen als mögliche Grundlage für weiterführende empirische Untersuchungen zu verstehen. Und auch hier stehen Therapeut und Klient im Mittelpunkt der Betrachtung: Therapeuten erhalten Anregungen und Hinweise für die Diagnostik, Therapie und Beziehungsgestaltung mit Hochbegabten. Betroffenen selbst, die unter seelischen Problemen leiden und bislang bei der Suche nach therapeutischer Hilfe erfolglos geblieben sind, werden mögliche Gründe hierfür aufgezeigt.

Wie häufig und in welchem Ausmaß Hochbegabte psychische Störungen entwickeln, wird derzeit sehr kontrovers diskutiert. Manche Forscher sprechen von einer erhöhten Gefährdung Hochbegabter, andere zeichnen ein durchweg positives Bild. Tatsache ist, dass Hochbegabte ebenso unter seelischen Erkrankungen leiden können wie jeder andere auch. Ich möchte mich daher mit den Fragen beschäftigen, welche Rolle die Hochbegabung eines Klienten im therapeutischen Prozess spielt, welchen Einfluss das Erkennen der Hochbegabung auf die Heilung einer Störung ausübt und ob es Störungsbilder gibt, die ohne die Kenntnis der mit einer Hochbegabung verbundenen Besonderheiten nicht adäquat behandelt werden können.

Hochbegabung – ein Mode-Thema?

Über die schulische Förderung von hochbegabten Kindern ist in der jüngeren Zeit viel nachgedacht und publiziert worden. Noch bis vor etwa fünf Jahren war der gesamte Themenkomplex bei vielen Pädagogen und Psychologen, aber auch in der gesamten Gesellschaft nahezu vollkommen tabu. Bis heute gibt es bei vielen große Berührungsängste mit diesem Thema. Diese mögen von der Befürchtung herrühren, dass zum Beispiel ehrgeizige Eltern versuchen, ihre Kinder zu Höchstleistungen zu drillen, man so genannte ›Eliten‹ heranzüchten will, oder dass in Schulen die leistungsschwächeren Kinder wieder ins Hintertreffen geraten.

Hierzu möchte ich vorab anmerken, dass mich in meiner knapp zwölfjährigen Arbeit mit Hochbegabten, in denen ich rund siebenhundert Kinder begutachtet habe, praktisch kein Elternpaar aufsuchte, von dem ich den Eindruck hatte, es wolle sein Kind zu Hochleistungen trainieren – im Gegenteil: In den Erstgesprächen waren die Eltern überwiegend verunsichert und zurückhaltend; die meisten wollten auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass sie ihr Kind für etwas Besonderes halten; auch sind mir nur wenige Eltern bekannt, die auf die Diagnose »hochbegabt« ausschließlich mit Freude reagierten – außer manchmal darüber, dass sie endlich wussten, was der Grund für die Schwierigkeiten ihres Kindes ist. Die große Mehrheit der Eltern, die meine Praxis aufsuchen, wünschen sich nichts sehnlicher, als »ein ganz normales Kind« zu haben; ein Wunsch, der mit der Diagnose »hochbegabt« oftmals ein wenig relativiert werden muss.

Die Diskussion um Hochbegabte wurde und wird meist mit emotionalen, ideologischen und politischen Argumenten geführt. Die Probleme, unter denen die Betroffenen häufig zu leiden haben, wurden dabei zunächst völlig außer Acht gelassen. In Klassenkonferenzen, Lehrer- und Schulleiterbesprechungen, auf Elternabenden, in Fortbildungen und Gesprächen mit Kollegen wurde mir das leider immer wieder sehr deutlich. Zu einem Mangel an Information kamen häufig Vorurteile, offene Ablehnung und Spott.

Nun aber, seit etwa vier Jahren, will man endlich etwas für die Förderung hochbegabter Kinder und Jugendlicher tun. Momentan zeichnet sich in den Kultusministerien, Schulen und Universitäten allerdings eine Entwicklung ab, die offenbar tatsächlich darauf abzielt, nur die leistungsstarken, unproblematischen und angepassten Hochbegabten zu fördern. Meine persönliche Befürchtung ist, dass das Verständnis für die schwierigen, sensiblen, kreativen, introvertierten, unangepassten und kritischen hochbegabten Kinder und Jugendlichen weiter auf der Strecke bleibt, sie also sozusagen durch das Netz der schulischen Hochbegabtenförderung fallen.

Was mir am Herzen liegt, ist nicht nur eine Veränderung der Lehrpläne oder die Einrichtung von so genannten D-Zug-Klassen, sondern eine Veränderung des Menschenbildes, das den Umgang mit Hochbegabten häufig prägt. Ich hoffe, dass die Ausführungen in diesem Buch, die eine mehr ›ganzheitliche‹ Betrachtung anregen sollen, hierzu einen Beitrag leisten werden.

Definition und Diagnostik von Hochbegabung

Zur Definition und Diagnostik von intellektueller Hochbegabung gibt es mittlerweile eine Fülle geeigneter Literatur (z. B. Heller, 2001; Preckel, 2003; Holling & Kanning, 1999). Deshalb möchte ich hier nur kurz die wichtigsten theoretischen Aspekte skizzieren.

Eine Person gilt dann als intellektuell hochbegabt, wenn sie in einem oder mehreren Bereichen über geistige Fähigkeiten verfügt, die in ihrer Ausprägung extrem weit über dem Durchschnitt ihrer Altersgenossen liegen. Dies können sprachliche, naturwissenschaftliche, technische, musische, aber auch alltagspraktische und soziale Fähigkeiten sein. Per definitionem sind etwa zwei von hundert Menschen intellektuell hochbegabt und haben einen Intelligenzquotienten (IQ) von 130 oder mehr Punkten. Etwa 68 % der Bevölkerung verfügen über einen IQ zwischen 90 und 110 Punkten, also eine durchschnittliche Intelligenz (s. auch Hagen, 1989; Heller, 1995).

Vom Begriff der Intelligenz gibt es vielfältige Definitionen. Im Allgemeinen versteht man unter Intelligenz die Fähigkeit, Probleme zu lösen (sprachliche, technische, soziale, mathematische etc.) und Lösungsstrategien flexibel auf neuartige Aufgabenstellungen übertragen zu können (z. B. Bingham, 1937).

Es wird mit Recht häufig die Frage gestellt, wie zuverlässig das Ergebnis eines Intelligenztests überhaupt ist und in welchem Maß Testergebnisse die geistigen Fähigkeiten einer Person tatsächlich erfassen.

Die Intelligenzforschung ist seit vielen Jahrzehnten bemüht, mittels umfangreicher Analysen sicherzustellen, dass ein Intelligenztest zum einen das misst, was er zu messen vorgibt (Validität), und zum anderen zuverlässige und wiederholbare Ergebnisse hervorbringt (Reliabilität). Ein Intelligenztest gilt z. B. als valide, wenn seine Ergebnisse hoch mit denen anderer Testverfahren korrelieren, d. h. wenn ein Proband in verschiedenen Intelligenztests ähnliche Resultate erzielt; oder wenn ein Test definierte Leistungen in anderen Bereichen (z. B. Schule, Beruf) zuverlässig vorhersagen kann. Ein Test gilt als reliabel, also zuverlässig, wenn ein Proband über mehrere Lebensphasen und unterschiedliche Untersuchungssituationen hinweg etwa gleiche Testergebnisse erreicht.

Die Zuverlässigkeit von Intelligenztests ist zunehmend gut belegt, während die Vorhersage-Validität vieler Verfahren noch nicht als zufrieden stellend bezeichnet werden kann. Bei Testwiederholungen nach längeren Zeiträumen ergibt sich bei der Mehrzahl der gängigen Testverfahren eine Übereinstimmung von 80 bis 90 % (wobei hier Übungseffekte nicht gänzlich ausgeschlossen werden); Schulleistungen etwa können jedoch durch Intelligenztest-Ergebnisse bislang nur mit einer Trefferquote von 50 bis 60 % vorhergesagt werden (vgl. Süß, 2001; Guthke, 1996).

Es gibt mehrere Fehlerquellen, die im Rahmen einer sorgfältigen Intelligenzdiagnostik stets berücksichtigt werden müssen. Das Testergebnis kann niedriger oder, in sehr seltenen Fällen, höher ausfallen, als es den eigentlichen Fähigkeiten der Testperson entspricht. Allerdings finden sich nur sehr wenige Faktoren, die ein Ergebnis nach ›oben‹ hin verfälschen; denkbar wäre hier lediglich ein intensives vorheriges Üben von Testreihen. Weit häufiger kommt es vor, dass ein Proband seine intellektuelle Leistungsfähigkeit im Test nicht in vollem Umfang zum Ausdruck bringen kann.

Die meisten der heute gängigen Testverfahren (z. B. HAWIK-III, K-ABC, AID, IST) messen unterschiedlichste Aspekte der Intelligenz: sprachliche Fähigkeiten, Wortschatz und sprachlogisches Denken; Sach- und Allgemeinwissen, praktisch-logisches Denken sowie soziale und alltagspraktische Fähigkeiten; rechnerisches Denken, abstrakt-logisches und theoretisches Denken; räumliches Vorstellungsvermögen sowie visuelles Auffassen und Kombinieren; Konzentration, Gedächtnis und Arbeitstempo.

Grundsätzlich gilt: Je ausgewogener das Ergebnisprofil eines Tests, umso zuverlässiger bzw. gültiger ist das Gesamtergebnis; denn es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ein Proband in all den genannten unterschiedlichen Aufgabenreihen zufällig gleich gute Ergebnisse erzielt. Werden hingegen hohe Schwankungen im Testprofil deutlich, ist eingehend zu untersuchen, ob die Leistungsfähigkeit des Probanden zum Testzeitpunkt beeinträchtigt war oder z. B. eine Teilleistungsschwäche in Form einer Konzentrations- oder Wahrnehmungsstörung vorliegt. Die meisten Testverfahren fragen zudem ›bildungsabhängige‹ und ›bildungsunabhängige‹ Fähigkeiten ab. Ein Beispiel: Ein Kind erzielt in Aufgaben, die stark von Bildungsinhalten geprägt sind, deutlich niedrigere Werte als in solchen, die als weitgehend ›bildungsfrei‹ eingestuft werden. Hier müsste überdacht werden, ob das Kind möglicherweise einem eher bildungsarmen und wenig fördernden Umfeld entstammt. Die zusätzliche Anwendung eines gänzlich ›kulturfreien‹ Testverfahrens (z. B. CFT, SPM, APM), in welchem anhand von bildhaftem Material oder Zeichenfolgen logische Gesetzmäßigkeiten erkannt werden müssen, wäre in diesem Fall sinnvoll. Auch kann man ein Ergebnisprofil dahingehend betrachten, ob eine Person in zeitgebundenen Aufgaben durchgehend schlechter abschneidet als in Aufgaben ohne Zeitvorgabe. Wenn dies der Fall ist, empfiehlt sich ebenfalls die Anwendung eines zusätzlichen Verfahrens (z. B. die Non-speed-Variante des APM oder CFT), welches auch Vergleichsnormen für die Testdurchführung ohne Zeitbegrenzung vorgibt.

In einigen Fällen habe ich eine Hochbegabung auch dann vermutet, als die betreffende Person im Gesamttest zunächst ein Ergebnis von ›nur‹ 115 Punkten erreichte. Wenn ein Kind in der Anamnese, bei welcher Informationen von Eltern, LehrerInnen und ErzieherInnen aufgenommen werden, nahezu alle Merkmale eines Hochbegabten aufweist und das Kind bei der Beobachtung des Arbeitsverhaltens übermäßig ängstlich, unsicher, angespannt oder blockiert wirkt, müssen die Ursachen gefunden, bessere Bedingungen geschaffen und eine Testung ggf. wiederholt werden.

Schließlich ist das Gesamtergebnis bzw. das Ergebnisprofil auch daraufhin zu analysieren, ob der Betreffende in spezifischen Teil-bereichen weit überdurchschnittliche Resultate erzielt, so zum Beispiel auf sprachlichem oder mathematischem Gebiet; es kann dann von einer partiellen oder Teil-Hochbegabung gesprochen werden.

Hier stellt sich auch die Frage, wie genau der Grenzwert von 130 Punkten zu nehmen ist. Im Bereich von 111 bis 120 IQ-Punkten spricht man von ›überdurchschnittlicher‹ Intelligenz, ab 121 Punkten von ›deutlich überdurchschnittlicher‹ Intelligenz. Streng genommen gälte also z. B. ein Kind mit einem IQ von 126 Punkten entweder als partiell hochbegabt oder als deutlich überdurchschnittlich intelligent. Es ist jedoch im Einzelfall zu entscheiden, von welcher Bedeutung der exakte Wert im Hinblick auf konkreten Handlungsbedarf erscheint. Wenn ein Kind mit einem IQ von 126 sichtbar unterfordert ist und unter entsprechendem Leidensdruck steht, sollte ihm selbstverständlich dieselbe Förderung zuteil werden wie einem Kind, das vom Test als hochbegabt ausgewiesen wird. Manche Förderprogramme, Hochbegabtenvereine oder Internate haben in ihren Aufnahmebedingungen allerdings das Vorliegen eines IQ-Wertes von mindestens 130 Punkten festgelegt.

Ein Intelligenztest mag nicht das ideale Instrument zur umfassenden Abbildung der geistigen Fähigkeiten einer Person sein; es ist jedoch derzeit die beste Methode, um annähernd objektive und vergleichbare Daten über die Intelligenz einer Person zu erhalten.

Überdies gehören zu einer soliden Hochbegabungsdiagnostik neben der Intelligenzmessung immer auch weitere Erhebungen zur Entwicklung, Motivation und Persönlichkeit des Betreffenden (vgl. Primavesi, 1999).

Die drei Säulen der Diagnostik sollten sein:

eine ausführliche

Anamnese

, bei der Daten zur sprachlichen, geistigen, sozialen und motorischen Entwicklung, Temperamentsmerkmale, Besonderheiten, Auffälligkeiten und Probleme, Freizeitaktivitäten und Interessen sowie schulische Leistungen und besondere Fähigkeiten erhoben werden. An dieser Stelle seien zunächst nur stichwortartig einige Hinweise genannt, die auf eine intellektuelle Hochbegabung bei Kindern hindeuten: deutlich beschleunigte geistige und sprachliche Entwicklung, frühes und eigenständiges Rechnen, Lesen und /oder Schreiben; besondere Interessen und Fähigkeiten, z. B. in Musik, Zeichnen, Technik, Naturwissenschaften, Religion; auffallende Kreativität, Originalität und Produktivität; großer Wissensdurst; Klagen über Langeweile und/oder Rückgang der Leistungsmotivation und Konzentration im Schulunterricht; Mangel an Kontakten zu Gleichaltrigen; ausgeprägte Empfindsamkeit und starkes Gerechtigkeitsgefühl;

die

Verhaltensbeobachtung

: Hierbei wird festgestellt, wie ein Kind (bzw. Jugendlicher) sich im Kontakt verhält, wie gut es sich sprachlich ausdrücken kann, wie konzentriert und motiviert es beim Test mitarbeitet, wie es Misserfolge verarbeitet und welche Arbeitsstrategien es anwendet. Auch hier wird auf Verhaltensweisen geachtet, die für Hochbegabte typisch sind, z. B. Ungeduld bei einfachen und Freude an schwierigen Aufgaben, schnelle Auffassungsgabe, manchmal übergründlicher und exakter Arbeitsstil, ungewöhnliche Lösungsstrategien oder auch das Sich-im-Detail-Verlieren und Zu-kompliziert-Denken. Im Gespräch mit dem Kind wird nach Interessen, Berufswünschen (häufige Antworten: »Erfinder«, »Wissenschaftler«, »Forscher«), schulischen Erfahrungen und ggf. sozialen Problemen gefragt. Manche Kinder bringen zur Untersuchung auch eigene Zeichnungen, Geschichten oder Bastelobjekte mit, die ebenfalls Aufschluss über besondere Fähigkeiten geben können.

die

Ergebnisse der testpsychologischen Diagnostik

: Erreicht ein Kind in einem oder mehreren Bereichen einen Intelligenzquotienten (IQ) von 130 Punkten oder mehr, spricht man von einer partiellen oder einer generellen Hochbegabung.

Erst nach der eingehenden Betrachtung aller drei Erhebungen (Anamnese, Verhaltensbeobachtung und Testergebnisse) kann eine hinreichend gesicherte Diagnose gestellt werden. Ergeben sich zum Beispiel in der Anamnese eindeutige Hinweise auf eine Hochbegabung und fallen die Testergebnisse vergleichsweise niedrig aus, wäre zu prüfen, ob die Leistungsfähigkeit des Betreffenden zum Testzeitpunkt beeinträchtigt war, z. B. durch Ängstlichkeit, Anspannung und Selbstunsicherheit oder auch Schlafmangel, Erschöpfung und gesundheitliche Probleme.

Auch die Frage, ob ein Kind oder Jugendlicher, der seine Hochbegabung außerhalb der Testsituation nicht zeigt oder nutzt, weil es ihm etwa an Motivation mangelt, dennoch als hochbegabt einzustufen ist, wird vielfach diskutiert. Unter Fachleuten ist man sich weitgehend einig, hohe Motivation als ein wesentliches Merkmal von Hochbegabung anzusehen (Mönks, 1996; Heckhausen, 1980). Ich spreche in Fällen, wo sich Hochbegabung nur in der Intelligenz-Untersuchung zeigt, nicht aber in besonderen schulischen, künstlerischen oder sonstigen Leistungen zum Ausdruck kommt, von einer potenziellen Hochbegabung.

II. Typische hochbegabte Kinder und Jugendliche

Jedes Kind ist gewissermaßen ein Genie und

jedes Genie ist gewissermaßen ein Kind.

A. Schopenhauer

Eine Klientin skizzierte einmal, wie sie sich einen »typischen Hochbegabten« vorstellt: »Das sind diese bedauernswerten Kinder mit großen Köpfen und dicken Brillen, die dauernd von ihren stolzen Eltern vorgeführt werden, Preise bei ›Jugend forscht‹ gewinnen, allein in ihrem Kämmerlein über Büchern brüten und sozial vollkommen ungeschickt sind.«

Die Klientin hat Recht und auch wieder nicht: Es gibt tatsächlich einen kleinen Teil Hochbegabter, der zumindest nach außen hin diesem Klischee entspricht. Es sind vermutlich diejenigen, die ihre Lektion, was in der Gesellschaft von ihnen erwartet wird, besonders gut gelernt haben. Beziehungsweise solche, denen es gelungen ist, bisweilen auf Kosten ihrer Kreativität und Eigenwilligkeit, eine Nische zu finden, in der ihre besonderen Begabungen und ihre besondere Persönlichkeit akzeptiert, gefördert und belohnt werden. Zu beurteilen, ob diese Kinder glücklich oder bedauernswert sind, steht am ehesten ihnen selbst zu. Es gibt tatsächlich Kinder und Jugendliche, die in ihrem »Studierkämmerlein« glücklicher und zufriedener sind als auf dem Fußballplatz oder in der Diskothek.

Dennoch: Dieses Klischee bildet nur einen kleinen Ausschnitt der Hochbegabten und hält sich vermutlich deshalb so hartnäckig, weil fast ausschließlich diejenigen Kinder bemerkt werden, die die Öffentlichkeit mit herausragenden Leistungen verblüffen.

Ich möchte daher zunächst, ein wenig pointiert, eine Reihe von anderen typischen Hochbegabten-Charakteren vorstellen, wie sie mir in meiner Praxis begegnen.

Der sensible Träumer

Aljoscha ist zehn Jahre alt, sommersprossig, dünnhäutig, leise, unsicher und nachdenklich. Er liebt die Natur, züchtet mit Hingabe winzige Flusskrebschen und seltene Pflanzenarten, kann sich stundenlang alleine in der Natur aufhalten, kleine Staudämme bauen, Insekten beobachten und den Vögeln lauschen. Er liest gern und viel, am liebsten geheimnisvolle und tiefgründige Geschichten wie »Herr der Ringe«, »Die unendliche Geschichte« oder »Harry Potter«. Er ist sehr musikalisch, singt oft leise und melodisch vor sich hin und hört gerne klassische Musik.

Aljoscha wirkt ernsthaft und kann sich sprachlich sehr gut und gewählt ausdrücken; aber er ist oft unsicher und zögerlich und reflektiert manchmal so lange, bis er sich entschließt, lieber gar nichts zu sagen. Oder er hat Angst, etwas Falsches zu sagen. Wenn er sehr aufgeregt ist, kann er ins Stottern geraten und rot werden. In neuen Situationen findet er sich zu Beginn schwer zurecht. Aljoscha fühlt sich in großen Gruppen und bei rauen Spielen äußerst unwohl. Seine Eltern berichten, dass er besonders lärm- und schmerzempfindlich sei. Bei lauten Veranstaltungen (Faschingsfeste, Kindergeburtstage) verliert er schnell den Überblick, hält sich am Rande und zieht sich in sich zurück. Im Fußballverein macht er eine eher traurige Figur. Wenn er schon Sport treiben soll, spielt er Tischtennis oder Badminton; hier kann er außerordentlich schnell und geschickt sein.

Aljoscha sehnt sich nach Kontakten, braucht jedoch lange, bis er auftaut und Vertrauen fasst. Er ist ein aufmerksamer, genauer Beobachter, aber oft fehlt es ihm an Selbstvertrauen, seine Erkenntnisse zu äußern oder in die Tat umzusetzen.

Spannende Filme oder traurige Erlebnisse können Aljoscha tief erschüttern, Ungerechtigkeiten berühren ihn sehr. Oft hat seine Umgebung dafür kein Verständnis und bezeichnet ihn als Mimose.

In der Schule ist er meist ein Einzelgänger, mit Glück hat er einen guten Freund. Seine oft durchschnittlichen oder sogar schlechten Noten hängen im Wesentlichen mit seiner Verträumtheit, aber auch mit Unterforderung und Selbstunsicherheit zusammen.

Aljoscha denkt schon früh über den Tod, über Gott und die Welt und über soziale Themen nach und stellt hierzu Fragen, die sein Umfeld manchmal irritieren. Am glücklichsten scheint er zu sein, wenn er sich mit einem Freund, der ebenso leise und sensibel ist wie er, stundenlang zurückziehen und irgendetwas puzzeln, tüfteln, bauen oder beobachten kann.

Daniel Düsentrieb

Der Einfachheit halber nennen wir ihn hier auch Daniel. Er ist acht Jahre alt und ein wahres Feuerwerk an Ideen. Daniel steht ständig unter Strom, platzt vor Tatendrang, redet viel und laut und ist ununterbrochen in Bewegung. Beim Reden überschlägt er sich förmlich, auf seine vielen Fragen wartet er die Antwort oft gar nicht erst ab; dauernd entdeckt er etwas, das seine Neugier weckt. Dann kann er eine Sache mit leidenschaftlichem Eifer verfolgen: mit hochrotem Kopf, absolut konzentriert und bisweilen verbissen tüftelt er so lange an einer Konstruktion (etwa einem aufwändigen Bewegungsmelder aus Gummiringen, Glöckchen, Schnüren und Gewichten an seiner Zimmertür), bis sie entweder in sich zusammenfällt und Daniel einen seiner gefürchteten Wutausbrüche bekommt oder er eine neue Idee hat und seine Arbeit einfach unvollendet liegen lässt. Daniels Interessen wechseln häufig. Zu Beginn betreibt er sie mit großer Begeisterung. Entschließt er sich etwa, Tennis zu spielen, braucht er unbedingt eine komplette Ausrüstung auf dem neuesten Stand (hierfür setzt er seine Eltern mit ausgeklügelten, hieb- und stichfesten Argumenten schachmatt), studiert entsprechende Zeitschriften, sieht sich Tennisspiele im Fernsehen an, kennt die Regeln, die Weltranglisten und die Biografien der wichtigsten Spieler auswendig und will selbstverständlich in Kürze zu seinem ersten Grandslam-Turnier antreten. Die Erfahrung, dafür erst üben und Misserfolge erleben zu müssen, ist für Daniel äußerst schmerzlich. Für einen vergeigten Aufschlag wird Daniel lauthals eine Reihe von Erklärungen anführen (die Schlägerbespannung, der Bodenbelag, die falsche Anweisung des Trainers), auf keinen Fall aber einen eigenen Fehler in Betracht ziehen. In der Regel dauert es nicht lange, und Daniel beginnt zu zweifeln, ob Tennis der richtige Sport für ihn ist. Aber er hat da in einer Fahrrad-Fachzeitschrift ein Mountain-Bike gesehen, mit Spezialfederung, 18-Gang-Getriebe und reichhaltigem Sonderzubehör …

Auch in der Schule ist der Düsentrieb-Typ leicht für Neues zu begeistern. In Sachkunde und Mathematik erbringt er gute oder sehr gute Leistungen. Werken ist sein Spezialgebiet, er hat große technische und konstruktive Begabungen. Oft kann er sich schwer im Zaum halten, ruft dazwischen und unterhält sich mit seinem Nachbarn. Sein Arbeitsstil ist eher impulsiv und ganzheitlich, d. h., er kommt oft verblüffend schnell zu richtigen Lösungen, die manchmal jedoch Ungefähr-Lösungen sind und wichtige Details außer Acht lassen, sodass er häufig wegen Flüchtigkeitsfehlern gerügt wird. Daniels größte Schwachpunkte sind seine Ungeduld und sein starker Wille, alles sofort perfekt zu können. Er ist ein sehr guter Sportler; oft fällt es ihm jedoch schwer, sich an Regeln zu halten und abzuwarten, bis er an der Reihe ist. Daniel ist sehr gesellig und aufgeschlossen und hat gute Kontakte zu anderen Kindern, wobei er es am liebsten hat, wenn alles nach seinem Kopf geht und er die Regeln bestimmen kann. Am wohlsten würde sich Daniel (wie sein Kollege in Entenhausen) in einer Erfinderwerkstatt fühlen, in der es stets hoch hergeht und wo man im Eifer des Gefechts nicht alles so genau nimmt.

Die Künstlerin

Anne-Charlotte ist neun Jahre alt und lebhaft, quirlig, bezaubernd und charmant. Sie hat ausgesprochen eigenwillige Vorstellungen davon, wie sie ihren Alltag gestalten will. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist es, viele Stunden in ihrem Zimmer zu sitzen, lautstark Mozart oder Haydn zu hören und ausdrucksvolle Bilder zu malen. Wenn man Anne-Charlotte dabei stört, wird sie schnell ungehalten. Besonders wenn es darum geht, lästigen alltäglichen Pflichten nachzukommen. In ihrem Zimmer herrscht kreatives Chaos, in dem niemand außer ihr selbst eine bestimmte Ordnung erkennen kann. Anforderungen, wie etwa eine halbwegs akzeptable Übersicht im Schulranzen zu schaffen, empfindet Anne-Charlotte als Zumutung. Sie sieht überhaupt keinen Sinn darin, Buntstifte anzuspitzen, da sie stumpf viel besser malen; oder Schulhefte sorgsam zu behandeln, weil sie zerknittert schließlich denselben Zweck erfüllen. Anne-Charlotte hat für alles eine eigene, sehr plausible Erklärung – was die Eltern nicht selten zur Verzweiflung bringt. Beispielsweise geht Anne-Charlotte am liebsten barfuß und hasst es, Strümpfe zu tragen. »Meine Füße dürfen nicht eingeengt werden, sie brauchen Luft zum Atmen«, verkündet sie. Nach zermürbenden Kämpfen an einem Herbstmorgen kapituliert Anne-Charlottes Mutter und lässt sie schließlich barfuß in Gummistiefeln in die Schule gehen. Anne-Charlotte gehört zu den Kindern, welchen mit dem viel gepriesenen konsequenten Erziehungsverhalten kaum beizukommen ist. Sie schert sich nicht um Äußerlichkeiten im konventionellen Sinne; gelingt ihr jedoch die Umsetzung einer präzisen Vorstellung von einem Bild nicht zu hundert Prozent, gerät sie in verzweifelten Zorn. Wenn sie niedergeschlagen ist, kann Anne-Charlotte mit ihrem Hang zum Dramatischen die ganze Familie in Atem halten. In Auseinandersetzungen setzt sie ihren Charme und ihr gewinnendes Wesen gezielt dafür ein, den Kampf für sich zu entscheiden.

Anne-Charlotte trödelt und plaudert gern und träumt bei Alltagsverrichtungen selbstvergessen vor sich hin. Sie hat einige Freundinnen, beschäftigt sich aber oftmals lieber alleine. Anne-Charlotte liebt die Natur, ist künstlerisch sehr begabt und im sozialen Kontakt, wenn sie will, ausgesprochen geschickt und liebenswürdig. In der Schule beteiligt sie sich nur in Fächern, die sie interessieren. Das ist natürlich Kunst, vielleicht auch Religion und gelegentlich Sachkunde. In der Theater-AG verblüfft sie mit eindringlichen Darstellungen. Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen interessiert sie herzlich wenig (»Ich will sowieso Malerin werden«). Sie hatte schon eine Ausstellung ihrer Bilder, die sogar in der Lokalzeitung erwähnt wurde. Am besten wäre es, man schickte Anne-Charlotte gleich auf eine Künstlerakademie.

Die Rebellin

Sarahs Pubertät hat, wie bei vielen Hochbegabten, deutlich verfrüht eingesetzt. Wenn die Eltern sich nicht täuschen, bemerkten sie bei Sarah schon im Alter von acht oder neun Jahren die ersten pubertären Anzeichen. Jetzt ist Sarah vierzehn und interessiert sich für Literatur und Psychologie. Sie liest Hermann Hesse, Sigmund Freud, C. G. Jung und Paul Sartre. Sarah schreibt Gedichte, Essays und Erzählungen.

Bei ihren Mitschülern ist Sarah unbeliebt, und auch die Lehrer haben sie auf dem »Kieker«. Das einzige Fach, das sie liebt, ist Latein. Der Lateinlehrer, ein strenger, altmodischer Pädagoge, ist der Einzige, den Sarah respektiert. In den Pausen zieht Sarah sich fast immer mit einem Buch in die Bibliothek oder eine Ecke des Schulhofs zurück (»dann wirke ich wenigstens so, als sei ich beschäftigt und würde niemanden brauchen«). Von ihren Klassenkameraden wird sie häufig verspottet und provoziert. Im Unterricht fällt Sarah durch unbequeme, kritische Fragen auf. Sie weist die Lehrer auf Widersprüche und Fehler hin, kritisiert deren Unterrichtsmethoden und trifft nicht selten einen schwachen Punkt. Sarah macht, wie sie findet, konstruktive Verbesserungsvorschläge, aber die Lehrer reagieren gereizt und die Mitschüler können ihr nicht folgen. Unter Sarahs Aufsätzen steht häufig: »zu ausufernd« oder »Thema verfehlt«. Sarah verfügt über einen brillanten analytischen Verstand und großes Sprachtalent. Sie stellt alles und jeden in Frage, liebt kontroverse Diskussionen und lehnt jegliche Konventionen ab. Sie pflegt einen ausgefallenen Kleidungsstil, hört ungewöhnliche Musik und vertritt scheinbar abwegige Standpunkte. Autoritäten, die ihr nicht als solche erscheinen, lehnt sie offen ab. In Auseinandersetzungen mit Lehrern oder Eltern beweist sie großes rhetorisches und psychologisches Geschick, und weil man sich dem bisweilen nicht gewachsen fühlt, reagieren Erwachsene manchmal mit hilfloser Wut und rigorosen Maßnahmen. Diese fruchten bei der Rebellin leider nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Sie fühlt sich bestätigt (»Alle Erwachsenen sind autoritär«) und geht noch weiter in Opposition. Oft eskalieren Konflikte auf diese Weise zu dramatischen Szenen mit Eltern und Lehrern. Obwohl Sarah nach außen hin rebelliert (und oft mit Recht), fühlt sie sich innerlich isoliert und verunsichert, weil sie niemanden hat, der sie in ihren Wahrnehmungen bestätigt und so ähnlich ist wie sie. Sarah ist (auch wenn sie dies mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln bestreiten würde) besonders gefährdet, aufgrund ihrer Isolation eine seelische Störung zu entwickeln. Sie läuft Gefahr, sich immer »irgendwie anders«, fremd und außenstehend zu fühlen und an ihren eigenen Wahrnehmungen und Meinungen zu zweifeln. Dies kann eine tief greifende Verunsicherung bewirken, die unter besonders ungünstigen Bedingungen in Depressionen, Drogenmissbrauch und impulsiven Verzweiflungstaten mündet. Wenn Sarah jedoch Glück hat, trifft sie auf Erwachsene, die ihre beschleunigte Entwicklung anerkennen und Sarah als gleichberechtiges Gegenüber akzeptieren; die bereit sind, mit ihr differenziert zu diskutieren, Kritik vertragen, Sarah ernst nehmen und sie am Leben der Erwachsenen teilhaben lassen. Und die Sarah helfen, ihre Potenziale in Theater-AGs oder Literaturkursen mit älteren Schülern umzusetzen, und es ihr zum Beispiel ermöglichen, in einer Schreibwerkstatt oder einer philosophischen Sommerakademie auf Gleichgesinnte zu treffen.

Der »Besserwisser«

Jonathan ist elf Jahre alt und interessiert sich für Politik, Astronomie, Geographie und Geschichte. Er verschlingt Lexika, Atlanten und Nachschlagewerke. Im Fernsehen sieht er sich gerne wissenschaftliche Sendungen, Nachrichten und politische Diskussionen an. Er hat einen leidenschaftlichen Wissensdurst, den seine Eltern schon längst nicht mehr stillen können. Ihnen gegenüber wirkt er manchmal ungeduldig oder sogar etwas überheblich. Jonathan beginnt bereits, eigene Theorien über die Entstehung und Verbreitung des Lichts zu entwickeln. Im Universum kennt er sich besser aus als die meisten Erwachsenen. Er drückt sich sehr gewählt aus, wirkt auf die meisten »altklug« und hat die Angewohnheit, andere auf grammatikalische oder inhaltliche Fehler hinzuweisen. Wenn man ihn nicht ernst nimmt oder auf seine Fragen nicht genug eingeht, kann Jonathan sehr zornig werden. Seine Wutanfälle sind verzweifelt und maßlos und stehen oft in keinem Verhältnis zum Auslöser. Da er dies selbst durchaus erkennt, schämt er sich oft zutiefst und kann, nach dem Gewitter, sehr anhänglich, liebenswürdig und lammfromm sein. Jonathan ist Perfektionist. Wenn er etwas nicht sofort perfekt beherrscht oder während eines Experiments gestört wird, schreckt er nicht davor zurück, ein Werk, auf das er viel Zeit und Mühe verwendet hat, in einem Tobsuchtsanfall zu zerstören. Danach ist er bestürzt und niedergeschlagen. Ein solcher Zustand kann über Stunden anhalten. Für Jonathan gilt in besonderem Maße, was für die meisten Hochbegabten gilt:

Jetzt oder nie: »Entweder ich schaffe es jetzt gleich oder niemals.« Ganz oder gar nicht: »Entweder ich schaffe es perfekt, oder ich lasse es ganz.«

Für Jonathan gibt es kein »Morgen«; wenn er leidet oder begeistert oder in etwas vertieft ist, ist er es ganz und vollkommen. In diesem Moment ist es für ihn unvorstellbar, dass jemals etwas »wieder gut« wird, dass er »auch morgen noch« weitermachen kann oder dass Fehler durch Üben langfristig reduziert werden können.

Auch auf Veränderungen, etwa in der Wohnungseinrichtung, vor Ausflügen oder Urlaubsreisen, kann Jonathan zornig oder ängstlich reagieren. Er will stets genau wissen, was geplant ist, was ihn erwartet und worauf er sich einstellen muss.

Jonathan kann sozial sehr geschickt sein und macht auf Außenstehende einen freundlichen, sonnigen, klugen und redegewandten Eindruck. Er besitzt Sinn für trockenen Humor und Ironie. Dabei wirkt er manchmal verblüffend erwachsen. Dies kann einerseits sehr anregend und interessant, andererseits auch ein wenig befremdlich sein.

Auch Jonathan ist von Gleichaltrigen isoliert, weil diese sich von seiner »Besserwisserei« gestört fühlen und er niemanden findet, der ähnliche Interessen hat wie er. Also beschäftigt er sich vorgeblich am liebsten alleine. Jonathans Eltern wünschen sich, er würde weniger zu Hause hinter seinen Büchern sitzen und sich häufiger mit Freunden treffen. Er selbst scheint sich jedoch am wohlsten zu fühlen, wenn er über seinen Theorien und Sachbüchern brüten kann.

Zu Hause kann Jonathan manchmal ein richtiger kleiner Despot sein, was mit seinen expliziten Vorstellungen und seinem großen Bedürfnis nach überschaubaren Strukturen zusammenhängt, aber auch mit dem tiefer liegenden Unmut, keinen ebenbürtigen Freund zu haben, mit dem er sich austauschen könnte. Trotz seines zuweilen aufbrausenden und ruppigen Verhaltens ist Jonathan in ausgeglichenen Phasen besonders feinfühlig, liebebedürftig und einfühlsam.

Jonathans Begabungsschwerpunkt liegt im abstrakt-logischen Denken und im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich. Deshalb wird er in Astronomie-Kursen, bei physikalischen Experimenten (zum Beispiel im Rahmen eines ›Studientages‹, wie er von einigen Universitäten für Hochbegabte angeboten wird), im Planetarium oder in Mathematik-Seminaren für Jugendliche am ehesten aufblühen und Kontakt zu anderen ›Spezialisten‹ knüpfen können. Es kann für den Besserwisser zugleich verblüffend und wohltuend sein, auf andere zu treffen, die es ebenfalls »besser wissen«. Hier kann Jonathan seine Ideen einbringen und weiterentwickeln, seine geistigen Kräfte messen und an seine Grenzen gelangen, was ihm zumindest zeitweilig zu mehr Ausgeglichenheit verhelfen kann.

Der Verweigerer

Christian ist achtzehn und geht seit einem Jahr nicht mehr zur Schule. Da er sich auf dem Gymnasium weigerte, irgendetwas auswendig zu lernen (»Darin sehe ich keinen Sinn!«), sackten seine Leistungen in der zehnten Klasse so weit ab, dass er sie wiederholen musste. Er klagte schon vorher häufig über Langeweile im Unterricht und hatte zu seinen Mitschülern wenig Kontakte. Beim Wiederholen des Schuljahres wurden sowohl die Langeweile als auch der Abstand zu seinen Mitschülern noch größer. Vor gut einem Jahr kam Christian schließlich von der Schule nach Hause und verkündete, dass nichts und niemand ihn dazu bringen werde, jemals wieder zur Schule zu gehen. Nach den Gründen befragt, beschwerte er sich über die »inkompetenten Lehrer«, den »gähnend langweiligen Unterrichtsstoff« und die »angepassten Mitschüler«, mit denen er nichts anfangen könne. Seine Eltern versuchten alles, um Christian zu irgendeiner Form von Aktivität zu bewegen, von gutem Zureden über langwierige Diskussionen bis hin zu massivem Druck – mit dem Erfolg, dass Christian sich zunehmend verschloss und zurückzog. Mittlerweile verweigert er jegliche Unterhaltung über seine weitere Zukunft. Die Eltern sind machtlos und verzweifelt. Im Gespräch ist Christian misstrauisch, feindselig, provozierend und überkritisch. Jede Frage beantwortet er mit einer Gegenfrage. Gleichzeitig fällt auf, dass Christian oft extrem angespannt wirkt. Seine Eltern berichten, dass er vor jedem Ausgang (Arztbesuche, seltene Treffen mit Freunden) unter Schweißausbrüchen und starker Nervosität leidet. Christian weigert sich, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen oder auf Veranstaltungen zu gehen. Menschenmassen oder Partys sind ihm ein Gräuel. In extremen Phasen nimmt Christian Drogen, verweigert sogar das Essen und verlässt tagelang sein Zimmer nicht.

Christian ist sprachgewandt, formuliert originell und besitzt viel Humor. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen ist es, über Politiker und gesellschaftliche Missstände zu klagen, die er sehr gut analysieren kann. Andere staunen oft, mit wie wenig Hintergrundwissen Christian übergeordnete Zusammenhänge erfasst und sein Gegenüber, das vielleicht viel gebildeter und belesener ist als er, mit stichhaltigen Argumenten und zwingend logischen Schlüssen in Verlegenheit bringt.

Christian hat keine Vorstellung von dem, was er will. Er weiß vor allem, was er nicht will; er weigert sich, zu lesen (»Ich will mir selbst