Fabelhafte Flüssigkeiten - Mark Miodownik - E-Book
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Fabelhafte Flüssigkeiten E-Book

Mark Miodownik

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Beschreibung

Lebensspendend und erfrischend, giftig und explosiv: das geheime Leben der Flüssigkeiten

Was haben Erdnussbutter und der Sprengstoff Nitroglyzerin gemeinsam? Warum sollte man zu Fisch Rotwein trinken statt Weißwein? Wie lässt sich mit Olivenöl Licht erzeugen? Flüssigkeiten sind im Alltag selbstverständlich für uns – vom Zähneputzen am Morgen bis zur Tasse Tee vor dem Schlafengehen. Doch wie viel wissen wir wirklich über diese fließenden Stoffe? Sie haben eine Doppelnatur, sind weder Feststoff noch Gas, sondern irgendetwas dazwischen, sie sind undurchschaubar und geheimnisvoll. Der renommierte Wissenschaftler Mark Miodownik unterhält mit den kuriosesten Fakten über diese faszinierende Materie und nimmt uns mit auf eine unglaubliche Entdeckungsreise.

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Mark Miodownik, geboren 1969, ist Materialwissenschaftler am University College London. Bereits 2010 zählte ihn die Times zu den 100 einflussreichsten Wissenschaftlern. In Großbritannien ist er in Radio und Fernsehen ein gefragter Gesprächspartner und Moderator von Wissenschaftssendungen. Miodownik schreibt außerdem regelmäßig für den Guardian und die Times. Sein Buch »Wunderstoffe« wurde 2014 als bestes Wissenschaftsbuch des Jahres mit dem Royal Society Winton Prize ausgezeichnet.

Fabelhafte Flüssigkeitenin der Presse:

»Dieses Buch liefert genau, was es verspricht … eine vortreffliche Suppe aus flüssiger Wissenschaft. Ein Genuss!« Sunday Times

»Wieder hat Miodownik ein Buch geschrieben, das so ist, wie die Substanzen, die es beschreibt: aufregend, eigenwillig und überraschend. Und es wärmt und erfrischt wie eine perfekte Tasse Tee.« Guardian

»Das Buch belohnt den Leser mit faszinierenden Fakten und Einblicken.« Wall Street Journal

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Mark Miodownik

Fabelhafte Flüssigkeiten

Kuriose Fakten über alles, was durch unser Leben sickert, tröpfelt, rinnt und fließt

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Liquid. The Delightful and Dangerous Substances That Flow Through Our Lives bei Viking, London.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Copyright © der Originalausgabe 2018 by Mark MiodownikCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.ISBN 978-3-641-25583-1V003www.penguin-verlag.de

In liebevollem Andenken an meine Eltern

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1Explosiv

Kapitel 2Berauschend

Kapitel 3Tief

Kapitel 4Klebrig

Kapitel 5Fantastisch

Kapitel 6Körperlich

Kapitel 7Anregend

Kapitel 8Reinigend

Kapitel 9Kühlend

Kapitel 10Dokumentenecht

Kapitel 11Wolkig

Kapitel 12Fest

Kapitel 13Nachhaltig

Nachwort

Zum Weiterlesen

Dank

Bildnachweis

Register

Einleitung

Erdnussbutter, Honig, Pesto, Zahnpasta – was haben mir die Sicherheitskontrolleure am Flughafen nicht schon alles weggenommen. Besonders geschmerzt hat mich der schottische Single Malt Whisky. In solchen Situationen verliere ich immer wieder die Fassung. Dann werde ich laut und sage Dinge wie »Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen!« oder »Erdnussbutter ist doch keine Flüssigkeit!«, obwohl ich es natürlich besser weiß. Erdnussbutter fließt und schmiegt sich an das Glas an, und weil sich nun einmal nur Flüssigkeiten so verhalten, ist die Erdnussbutter eben auch eine Flüssigkeit. Aber es macht mich einfach wütend, dass die Sicherheitskontrollen trotz aller vermeintlich intelligenten Technologie noch immer nicht in der Lage sein sollen, einen harmlosen Brotaufstrich von einem Flüssigsprengstoff zu unterscheiden.

Seit 2006 ist es nun verboten, mehr als 100 Milliliter Flüssigkeit in den Abflugbereich mitzunehmen, doch unsere Durchleuchtungsapparate haben sich seither kaum weiterentwickelt. Mit Röntgengeräten kann man höchstens Koffer durchleuchten und Gegenstände identifizieren. Sie dienen vor allem dazu, das Sicherheitspersonal auf verdächtige Formen aufmerksam zu machen: Ist das eine Pistole oder doch nur ein Haartrockner? Ein Messer oder ein Kugelschreiber? Aber Flüssigkeiten haben keine eigene Form, sondern passen sich dem Behälter an, in dem sie sich gerade befinden. Die Scanner können zwar die Dichte eines Stoffs und verschiedene chemische Elemente erkennen. Doch auch hier ergibt sich eine Schwierigkeit: Erdnussbutter unterscheidet sich in ihrer Zusammensetzung gar nicht so sehr von Nitroglyzerin. Beide bestehen sie vor allem aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff, mit dem Unterschied, dass Ersteres eine wohlschmeckende Paste ist und Letzteres ein hochexplosives Sprengmaterial. Es gibt eine Unmenge gefährlicher Gifte, Bleichmittel und Krankheitserreger, die man nur mit einiger Mühe von harmlosen Flüssigkeiten unterscheiden kann. Dieses Argument musste ich mir auch immer wieder von den Sicherheitskontrolleuren (und ihren Vorgesetzten) anhören. Und dann musste ich jedes Mal zähneknirschend zustimmen, dass die Erdnussbutter oder irgendeine andere Flüssigkeit, die ich aus Schusseligkeit nicht aus meinem Handgepäck genommen habe, tatsächlich ein Risiko darstellen könnte.

Flüssigkeiten sind in vieler Hinsicht das Gegenteil von verlässlichen Feststoffen. Feste Materialien waren schon immer der Freund des Menschen und nehmen in Kleidung, Schuhen, Telefonen, Autos und natürlich auch in Flughafengebäuden zuverlässige Gestalt an. Flüssigkeiten sind dagegen fließend – sie können jede beliebige Form annehmen, aber nur, solange sie von irgendetwas festgehalten werden. Andernfalls sind sie dauernd in Bewegung, sie sickern, zersetzen, tröpfeln und zerrinnen uns zwischen den Fingern. Wenn Sie einen Feststoff irgendwo hinstellen, dann bleibt er da auch stehen (es sei denn, er wird mit Gewalt entfernt); oft macht er sich dort nützlich und trägt ein Gebäude oder erzeugt Strom für die ganze Stadt. Flüssigkeiten sind dagegen die geborenen Anarchisten und haben einen Hang zur Zerstörung. Im Bad ist es zum Beispiel ein konstanter Kampf, das Wasser daran zu hindern, in Ritzen zu laufen und sich in Hohlräumen unter dem Fußboden zu sammeln, wo es Dielen und Balken zernagt. Nicht weniger gefährlich ist es als rutschige Pfütze auf den Fliesen, wo es für zahllose Unfälle verantwortlich ist; und wenn es sich in den Ecken festsetzt, bietet es Nahrung für schwarzen Schimmel und glibberige Bakterien, die uns krank machen können. Doch trotz seiner Heimtücke lieben wir das Wasser – wir räkeln uns unter dem Strahl der Dusche, planschen in der Wanne und tauchen ganz darin ein. Und was wäre ein Bad ohne eine ganze Flut von Seifen, Shampoos, Spülungen, Cremes und Pasten? Wir lieben diese köstlichen Flüssigkeiten, aber sie sind uns auch immer ein wenig unheimlich: Sind sie wirklich gut für uns? Oder könnten sie nicht vielleicht Krebs verursachen? Schaden sie der Umwelt? Bei Flüssigkeiten gehen Genuss und Misstrauen immer Hand in Hand. Sie haben eine Doppelnatur, sie sind weder Feststoff noch Gas, sondern irgendetwas dazwischen, sie sind undurchschaubar und geheimnisvoll.

Zum Beispiel Quecksilber, das die Menschheit seit Jahrtausenden beglückt und vergiftet. Als Kind habe ich mit flüssigem Quecksilber gespielt, ich habe es auf dem Tisch herumgeschnippst und war fasziniert von seinem scheinbar unwirklichen Verhalten, bis mich jemand darauf aufmerksam machte, dass es giftig ist. Aber in vielen antiken Kulturen glaubte man, dass Quecksilber das Leben verlängere, Knochenbrüche heile und gut für die Gesundheit sei. Wie die Menschen darauf kamen, weiß heute niemand mehr – vielleicht galt es als etwas Besonderes, weil es als einziges Metall bei Zimmertemperatur flüssig ist. Der chinesische Kaiser Qin Shihuangdi nahm zur Stärkung Quecksilberpillen und starb im Alter von 39 Jahren; kaum zu glauben, dass es da keinen Zusammenhang gegeben haben sollte. Trotzdem wurde er in einem Sarg mit Flüssen aus Quecksilber beigesetzt. Die alten Griechen rührten das Metall in ihre Cremes. Die Alchemisten glaubten gar, eine Kombination aus Quecksilber und Schwefel sei die Basis aller Metalle, und im Gold befänden sich beide im perfekten Gleichgewicht. Daher waren sie überzeugt, sie könnten aus verschiedenen Metallen Gold herstellen, wenn sie nur das richtige Mischungsverhältnis fänden. Das erwies sich zwar als Irrglaube, doch Gold löst sich tatsächlich in Quecksilber. Wenn man diese Flüssigkeit dann erhitzt, bis das Quecksilber verdampft, bleibt ein Goldklumpen zurück. Vor dem Zeitalter der Wissenschaft war das für die meisten Menschen reine Magie.

Quecksilber ist nicht die einzige Flüssigkeit, die andere Stoffe in sich aufnehmen kann. Wenn man Salz in Wasser rührt, wird es rasch unsichtbar – das Salz ist nicht verschwunden, aber wo ist es? Wenn man Salz dagegen in Öl gibt, setzt es sich einfach am Boden ab. Wieso? Flüssiges Quecksilber nimmt Gold in sich auf, aber Wasser weist es ab. Weshalb? Wasser nimmt Gase auf, zum Beispiel Sauerstoff; andernfalls würden wir in einer ganz anderen Welt leben, denn der in Wasser gelöste Sauerstoff erlaubt Meereslebewesen das Atmen. Wasser nimmt zwar nicht genug Sauerstoff auf, damit der Mensch atmen kann, aber andere Flüssigkeiten tun das sehr wohl. Eine bestimmte Sorte von Ölen, die Fluorchlorkohlenwasserstoffe, sind chemisch und elektrisch so träge, dass Sie Ihr Handy hineinwerfen können, ohne dass seine Funktion beeinträchtigt wäre. Sie können auch Sauerstoff in solchen Mengen aufnehmen, dass wir durch sie atmen können. Diese Art von Flüssigkeitsatmung lässt sich vielseitig einsetzen, zum Beispiel zur Behandlung des Atemnotsyndroms bei Frühgeburten.

Aber nicht dem Fluorchlorkohlenwasserstoff verdanken wir das Leben, sondern dem Wasser und seinen besonderen Eigenschaften. Es kann nämlich nicht nur Sauerstoff lösen, sondern auch zahlreiche andere Chemikalien, darunter auf Kohlenstoff basierende Moleküle. Dieses Umfeld war die Voraussetzung für das Leben und für die spontane Entstehung neuer Organismen auf unserer Erde. So weit zumindest die Theorie. Deshalb fahnden Wissenschaftler auch nach Hinweisen auf flüssiges Wasser, wenn sie nach Leben auf fernen Planeten suchen. Aber im Universum ist Wasser selten. Unter der Eisdecke des Jupitermonds Europa könnten sich Wasserozeane befinden, genau wie auf dem Saturnmond Enceladus. Aber in unserem Sonnensystem ist die Erde der einzige Himmelskörper, auf dem Wasser direkt auf der Oberfläche vorhanden ist.

Die Oberflächentemperatur und der Atmosphärendruck auf der Erde bieten genau die richtigen Bedingungen für flüssiges Wasser. Hätte die Erde beispielsweise keinen flüssigen Kern aus geschmolzenem Metall, dessen Magnetfeld uns vor den Sonnenwinden schützt, dann hätte sich das Wasser vermutlich schon vor Milliarden von Jahren verflüchtigt. Doch auf unserem Planeten ermöglicht die Existenz einer Flüssigkeit im Innern die Existenz einer anderen auf der Oberfläche, und diese wiederum brachte das Leben hervor.

Aber Flüssigkeiten können auch zerstörend wirken. Schaum fühlt sich weich an, weil er sich leicht zusammendrücken lässt – wenn Sie auf eine Schaummatratze springen, dann spüren Sie, wie sie unter Ihnen nachgibt. Flüssigkeiten können das nicht. Sie fließen, das heißt, ein Molekül rückt an die Stelle, die ein anderes freigegeben hat. Das können Sie in einem Fluss beobachten, oder wenn Sie den Wasserhahn aufdrehen, oder wenn Sie mit einem Löffel den Kaffee umrühren. Wenn Sie vom Sprungbrett ins Schwimmbecken springen und auf die Wasseroberfläche auftreffen, dann verdrängt Ihr Körper das Wasser. Das braucht allerdings eine gewisse Zeit, und wenn Sie mit zu hoher Geschwindigkeit aufprallen, dann kann das Wasser nicht schnell genug abfließen und setzt Ihnen einen Widerstand entgegen. Deshalb ist ein Bauchplatscher so schmerzhaft, und deshalb ist das Wasser hart wie Beton, wenn Sie aus großer Höhe hineinspringen. Aus dem gleichen Grund können auch Wellen eine derart tödliche Kraft entwickeln: Deshalb zerstören Tsunamis Gebäude und ganze Städte und reißen Autos mit sich wie Treibholz. Das Erdbeben, das im Dezember 2004 den Indischen Ozean heimsuchte, verursachte gleich mehrere solcher Tsunamis und tötete 230 000 Menschen in vierzehn Ländern. Auf der Liste der schlimmsten jemals registrierten Naturkatastrophen belegt es den achten Platz.

Eine weitere unangenehme Eigenschaft von Flüssigkeiten ist, dass sie explodieren können. Während der Forschungen für meine Doktorarbeit bereitete ich kleine Proben für die Untersuchung unter einem Elektronenmikroskop vor und musste unter anderem eine Elektropoliturlösung auf minus 20 Grad abkühlen. Die Flüssigkeit war eine Mischung aus einem Glycolether, Essigsäure und Perchlorsäure. Mein Kollege Andy Godfrey demonstrierte mir, was ich zu tun hatte, und ich dachte, ich hätte es kapiert. Doch nach einigen Monaten bemerkte Andy, dass sich meine Lösung während der Arbeit mit dem Elektronenmikroskop oft erwärmte. »An deiner Stelle wäre ich vorsichtiger«, sagte er mit gerunzelter Stirn. Als ich ihn nach dem Grund fragte, zeigte er auf das Laborhandbuch der gefährlichen chemischen Substanzen:

Perchlorsäure ist ätzend und zerstört Hautgewebe. Perchlorsäure ist gesundheitsschädlich, wenn sie eingeatmet oder eingenommen wird oder in Kontakt mit Haut oder Augen kommt. Bei Temperaturen über Raumtemperatur oder in Konzentrationen über 72 Prozent (unabhängig von der Temperatur) wirkt Perchlorsäure stark oxidierend. Organisches Material entzündet sich leicht spontan bei Mischung oder Kontakt mit Perchlorsäure. In den Lüftungsrohren können die Dämpfe der Säure erschütterungsempfindliche Perchlorate bilden.

Mit anderen Worten, das Zeug kann mir um die Ohren fliegen.

Bei einem Gang durchs Labor entdeckte ich ähnliche durchsichtige und farblose Flüssigkeiten, die sich äußerlich nicht voneinander unterschieden. Zum Beispiel arbeiteten wir mit Flusssäure, die sich durch Beton, Metall und Fleisch frisst und nebenbei ein Kontaktgift ist, das die Nervenfunktionen stört. Es ist eine besonders hinterhältige Säure, denn Sie spüren nicht, wenn Sie sich damit verätzen. Wenn Sie zufällig damit in Berührung kommen, kann sie Ihnen Löcher in die Haut fressen, und Sie bemerken es zunächst gar nicht.

Auch Alkohol zählt zu den Giften. Obwohl er nur in hoher Dosierung tödlich wirkt, hat er sehr viel mehr Menschen auf dem Gewissen als die Flusssäure. Trotzdem spielt er in allen Gesellschaften und Kulturen der Welt eine wichtige Rolle als Desinfektions-, Husten-, Beruhigungs- und Allheilmittel sowie als Brennstoff. Alkohol ist so attraktiv, weil er das Nervensystem dämpft – er ist eine psychoaktive Droge. Viele Menschen können ohne ihr tägliches Gläschen Wein nicht sein, und für unsere sozialen Zusammenkünfte wählen wir gern Orte, an denen Alkohol ausgeschenkt wird. Sosehr wir diesen Flüssigkeiten misstrauen, so sehr lieben wir sie auch.

Die körperliche Wirkung des Alkohols spüren wir, wenn er in unser Blut gelangt. Das Pochen unseres Herzens erinnert uns fortwährend an die Bedeutung, die das Blut für unseren Körper hat, und an die Tatsache, dass es ständig herumgepumpt werden muss. Von allen Flüssigkeiten in der Welt ist das Blut für unser Leben unmittelbar am wichtigsten. Das Herz kann heute zum Glück schon ersetzt und repariert, und das Blut kann zugeführt, entfernt, aufbewahrt, weitergegeben, eingefroren und wiederbelebt werden. Ohne Blutbänke würden jedes Jahr viele Millionen Unfallopfer, Verletzte und Operationspatienten nicht überleben.

Unser Blut kann allerdings auch mit Erregern wie Bakterien und Viren verunreinigt werden, weshalb es uns nicht nur Heil, sondern auch Schaden bringen kann. Wie alle anderen Flüssigkeiten hat also auch das Blut eine Doppelnatur. Die Frage ist allerdings nicht, ob man einer bestimmten Flüssigkeit vertrauen kann oder nicht und ob sie an sich gut oder schlecht, gesund oder giftig, lecker oder eklig ist. Die Frage ist vielmehr, ob wir sie gut genug verstehen, um sie kontrolliert für uns zu nutzen.

Das Fliegen ist ein großartiges Beispiel dafür, was wir alles leisten können, wenn wir Flüssigkeiten in den Griff bekommen. Und deswegen stehen im Mittelpunkt dieses Buchs ein Transatlantikflug und all die merkwürdigen und wunderbaren Flüssigkeiten, die daran beteiligt sind. Für dieses Thema habe ich mich entschieden, weil ich mich während der Forschung für meine Doktorarbeit nicht selbst in die Luft gesprengt habe und schließlich Direktor des Institute of Making am University College London wurde. Dort beschäftigen wir uns zum Beispiel mit Flüssigkeiten, die sich als Feststoffe tarnen. Der Teer, aus dem unsere Straßen gemacht sind, ist zum Beispiel genau wie die Erdnussbutter eine Flüssigkeit, auch wenn er den Eindruck macht, als sei er fest. Die Ergebnisse unserer Forschung präsentieren wir auf Konferenzen in aller Welt, und in diesem Buch geht es um eine Reise von London zu einer solchen Tagung in San Francisco.

Diesen Flug beschreibe ich in der Sprache der Moleküle, Herzschläge und Meereswellen. Damit möchte ich die geheimnisvollen Eigenschaften von Flüssigkeiten erklären und zeigen, wie wir gelernt haben, sie für uns zu nutzen. Der Flug führt uns über die Vulkane Islands, die eisigen Weiten Grönlands, die Seen rund um die Hudson Bay und schließlich an die Pazifikküste. Unterwegs sehen wir uns Flüssigkeiten in ganz unterschiedlichen Dimensionen an, angefangen von den Tröpfchen in den Wolken bis hin zu den Ozeanen, aber wir lernen auch die merkwürdigen Flüssigkristalle im Videobildschirm kennen, auf dem ich mir an Bord das Unterhaltungsprogramm ansehe, die Flüssigkeiten, die das Bordpersonal serviert, und nicht zu vergessen natürlich das Flugbenzin, das uns überhaupt erst abheben lässt.

In jedem Kapitel geht es um einen anderen Aspekt des Flugs und um die Eigenschaften der Flüssigkeiten, die ihn möglich machen, zum Beispiel ihre Brennbarkeit, Löslichkeit oder Braubarkeit. Ich zeige, wie Sogkraft, Tropfenbildung, Zähigkeit, Löslichkeit, Druck, Oberflächenspannung und viele andere sonderbare Eigenschaften von Flüssigkeiten zu unserem Flug über den Ozean beitragen. Dabei erkläre ich, wie Flüssigkeiten einen Baum hinauf-, aber einen Berg hinunterfließen, warum Öl klebrig ist, warum sich Wellen so weit fortsetzen, warum etwas austrocknet, wie eine Flüssigkeit aus Kristallen bestehen kann, wie wir uns mit Selbstgebranntem nicht selbst vergiften und – für mich als Engländer ganz besonders wichtig – wie man die perfekte Tasse Tee zubereitet. Steigen Sie also ein und fliegen Sie mit – ich verspreche Ihnen, es wird eine Reise in ein Wunderland.

Kapitel 1

Explosiv

Die Türen des Flugzeugs schlossen sich, wir legten vom Gate am Flughafen Heathrow ab, und eine Stimme kündigte ein vertrautes Ritual an.

»Guten Tag, meine Damen und Herren, und willkommen zum British-Airways-Flug nach San Francisco. Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten, während das Bordpersonal Sie mit den Sicherheitseinrichtungen der Maschine vertraut macht.«

Ich muss gestehen, auf mich wirkt das immer eher beunruhigend. Es wäre doch sowieso alles zwecklos. Aber bei dem Ritual geht es auch gar nicht um Sicherheit. Ein wichtiger Sicherheitsfaktor wird zum Beispiel überhaupt nicht erwähnt, und das sind die zigtausend Liter Flugbenzin an Bord. In dieser Flüssigkeit stecken gewaltige Mengen Energie, die 400 Menschen in einem 250 Tonnen schweren Flugzeug in wenigen Minuten aus dem Stand auf eine Reisegeschwindigkeit von 925 Kilometern pro Stunde und vom Boden auf eine Flughöhe von 12 000 Metern katapultieren. Die Energie dieser Flüssigkeit verleiht unseren wildesten Träumen Flügel, mit ihrer Hilfe schweben wir über den Wolken und erreichen jeden Ort auf dem Planeten binnen weniger Stunden. Dieselbe Flüssigkeit hat den ersten Weltraumreisenden Juri Gagarin ins Weltall befördert und befeuert heute die jüngste Generation der SpaceX-Raketen, die Satelliten in die Erdumlaufbahn schießen. Es ist das Kerosin.

Kerosin ist eine durchsichtige und farblose Flüssigkeit, die sich rein äußerlich nicht von Wasser unterscheidet. Aber wo steckt denn dann diese ganze Energie? Warum macht sie mit all ihrer rohen Kraft nicht einen gefährlicheren Eindruck?

1 Die Struktur des Kohlenwasserstoffmoleküls im Kerosin.

Wenn Sie hineinzoomen und die Molekülstruktur des Kerosins unter die Lupe nehmen könnten, dann würden Sie etwas sehen, das an Spaghetti erinnert. Jede Nudel besteht aus einer Kette von Kohlenstoffatomen, an denen wiederum je zwei Wasserstoffatome hängen, nur an den Enden der Kette sind es drei. In diesem Maßstab ist der Unterschied zwischen Kerosin und Wasser nicht zu übersehen. Das Wasser besteht nicht aus Spaghetti, sondern aus einem Gewimmel von V-förmigen Molekülen (ein Sauerstoffatom, an dem zwei Wasserstoffatome hängen, H2O). Auf dieser Ebene erinnert das Kerosin eher an Olivenöl, das sich ebenfalls aus Ketten von Kohlenstoffatomen zusammensetzt, auch wenn diese eher an einen Nudelsalat erinnern als an Spaghetti.

Da die Moleküle des Olivenöls eine komplexere Form haben als die des Kerosins, fällt es ihnen schwerer, aneinander vorüberzugleiten, weshalb die Flüssigkeit weniger bereitwillig fließt. Mit anderen Worten ist das Olivenöl »viskoser« oder zähflüssiger als das Kerosin. Beide sind Öle, und was die atomaren Grundbausteine angeht, sind sie sich relativ ähnlich, doch aufgrund der strukturellen Unterschiede ist das Olivenöl schmierig, während sich das Kerosin eher wie Wasser verhält. Dieser Unterschied hat nicht nur einen Einfluss auf die Zähigkeit der beiden Öle, sondern auch auf ihre Brennbarkeit.

Der persische Physiker und Alchemist Abû Bakr Muhammad ibn Zakaryâ ar-Râzî, besser bekannt unter dem Namen Rhazes, beschrieb seine Entdeckung des Kerosins schon im neunten Jahrhundert in seinem Buch des Geheimnisses der Geheimnisse. Rhazes interessierte sich für Quellen in seiner Gegend, aus denen kein Wasser sprudelte, sondern eine dicke, schwarze, schweflige Flüssigkeit. Damals wurde dieses teerartige Zeug verwendet, um Straßen damit zu asphaltieren. Rhazes entwickelte ein chemisches Verfahren, das wir heute als Destillation bezeichnen, um dieses schwarze Öl in seine Bestandteile zu zerlegen und zu analysieren. Er erhitzte es und sammelte das Gas, das dabei freigesetzt wurde. Dann kühlte er das Gas ab, woraufhin es sich wieder in eine Flüssigkeit verwandelte. Im ersten Stadium war diese Flüssigkeit gelb und ölig, doch durch wiederholte Destillation erhielt er eine klare, durchsichtige und frei fließende Substanz – Rhazes hatte das Kerosin entdeckt.

Der Alchemist hatte natürlich keine Ahnung, was diese Flüssigkeit dereinst alles in Bewegung setzen sollte. Doch er wusste, dass sie brennbar war und dass die Flamme keinen Rauch erzeugte. Das mag uns heute banal erscheinen, doch in früheren Kulturen war die Beleuchtung von Innenräumen ein großes Problem. Die fortschrittlichste Leuchte war damals die Öllampe, doch die erzeugte fast so viel Ruß wie Licht. Eine Lampe, die nicht rußte, wäre eine revolutionäre Erfindung gewesen, weshalb sie in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht verewigt wurde. Hier findet Aladin eine magische Öllampe. Wenn er an ihr reibt, erscheint ein mächtiger Geist, ein Dschinn. In den Märchen der Zeit wimmelt es vor Dschinnen, und es hieß, sie seien übernatürliche Wesen, die aus Feuer ohne Rauch kommen. Dieser spezielle Dschinn muss dem Besitzer der Wunderlampe jeden Wunsch erfüllen und verleiht ihm damit gewaltige Macht. Rhazes muss sich klar gewesen sein, wie bedeutend diese neue Flüssigkeit war, wenn sie mit einer nicht rußenden Flamme brannte. Aber warum machten sich die Perser dann diesen neuen Geist nicht zunutze? Die Antwort hängt mit der Bedeutung der Olivenbäume für die persische Wirtschaft und Kultur zusammen.

Im Persien des neunten Jahrhunderts war Olivenöl der Brennstoff der Wahl für die Öllampen. Die Olivenbäume gediehen prächtig in der Region, sie hielten der Trockenheit stand und trugen reichlich Früchte, die sich zu Öl pressen ließen. Aus zwanzig Oliven ließ sich ein Teelöffel Öl herstellen, und das entsprach einer Stunde Licht aus einer handelsüblichen Öllampe. Wenn ein Haushalt pro Tag durchschnittlich fünf Stunden lang eine Lampe entzündete, dann waren das hundert Oliven am Tag beziehungsweise 36 000 Oliven im Jahr. Um ihr ganzes Reich zu beleuchten, brauchten die Perser viel Land und Geduld, denn für gewöhnlich tragen Olivenbäume während der ersten zwanzig Jahre keine Früchte. Außerdem mussten sie ihre Olivenhaine beschützen, damit ihnen niemand diese wertvolle Ressource stahl, weshalb sie in befestigten Städten lebten. Das bedeutete wiederum, dass sie mehr Oliven anbauen mussten, damit alle Bürger ausreichend Öl zum Kochen und zur Beleuchtung hatten. Um eine Armee zu unterhalten, mussten sie Steuern zahlen, und die wurden oft in Form von Olivenöl abgeführt. In Persien und im übrigen Nahen Osten war das Olivenöl also ein wichtiger Baustein der Gesellschaft und Kultur, bis sich ein anderer Brennstoff fand. Mit seinen Experimenten zeigte Rhazes, dass sie eine neue Energiequelle direkt unter ihren Füßen hatten, doch dort sollte sie noch ein weiteres Jahrtausend lang bleiben.

2 Kopie einer Öllampe aus der Zeit von Rhazes.

In dieser Zeit wurde die Öllampe weiterentwickelt. So schlicht eine Leuchte aus dem neunten Jahrhundert äußerlich wirken mag, so raffiniert ist sie doch. Stellen Sie sich vor, Sie füllen eine Schüssel mit Olivenöl. Wenn Sie versuchen, das Öl zu entzünden, werden Sie feststellen, dass das gar nicht so einfach ist. Das liegt am hohen Flammpunkt des Öls. Der Flammpunkt ist diejenige Temperatur, ab der eine brennbare Flüssigkeit spontan mit dem Sauerstoff der Luft reagiert und sich entzündet, und beim Olivenöl liegt er bei 315 Grad Celsius. Deshalb können Sie das Öl gefahrlos zum Kochen verwenden: Wenn Sie es verschütten, fängt es nicht spontan Feuer. Zum Braten reicht meist schon eine Temperatur von 200 Grad Celsius.

Aber bei 315 Grad Celsius würde Ihre Pfanne in Flammen stehen und eine Menge Licht verbreiten. Das wäre nicht nur gefährlich, die Flamme wäre auch sehr kurzlebig und würde das Öl in kürzester Zeit verbrennen. Der Gedanke liegt nahe, dass es doch eine bessere Möglichkeit geben muss, um mit Olivenöl Licht zu erzeugen. Und die gibt es tatsächlich. Wenn Sie ein kurzes Stück Schnur nehmen, das eine Ende in Öl tauchen und das andere Ende herausragen lassen und entzünden, dann brennt an diesem Ende eine Flamme, ohne dass Sie dazu das ganze Öl erhitzen müssten. Es ist nicht der Docht – denn nichts anderes ist dieses Stück Schnur – , der die Flamme erzeugt, sondern das Öl im Docht. Das ist genial, doch es kommt noch viel besser. Wenn die Flamme nämlich weiterbrennt, dann greift sie nicht etwa auf das Öl über, sondern das Öl steigt vielmehr im Docht auf. Das wirkt wie reine Magie, denn das Öl fließt gegen alle Gesetze der Schwerkraft nach oben; das können alle Flüssigkeiten, weil sie etwas haben, das man als Oberflächenspannung bezeichnet.

Dass Flüssigkeiten fließen, verdanken sie ihrer Struktur – einem Zwischenstadium zwischen dem Chaos des Gases und der Starrheit des Feststoffs. In Gasen verfügen Moleküle über so viel Wärmeenergie, dass sie voneinander wegbrechen und sich unabhängig voneinander bewegen können. Deshalb sind Gase dynamisch, das heißt, sie füllen einen verfügbaren Raum ganz aus; gleichzeitig haben sie jedoch kaum eine Struktur. Bei Feststoffen ist die Anziehungskraft zwischen Atomen und Molekülen viel größer als ihre Wärmeenergie, weshalb sie fest aneinandergebunden sind. Feststoffe haben viel Struktur, und ihre atomaren Bestandteile haben kaum Autonomie: Wenn Sie eine Schüssel in die Hand nehmen, dann hängen sämtliche Atome in ihr zusammen. Flüssigkeiten bewegen sich irgendwo zwischen Gasen und Feststoffen. Die Atome verfügen über genug Wärmeenergie, um einige Bande zu ihren Nachbarn zu lösen, aber nicht genug, um alle zu zerreißen und als Gas zu entschwinden. Deshalb sind sie in der Flüssigkeit gefangen, doch innerhalb dieser Flüssigkeit können sie sich bewegen. Genau das macht eine Flüssigkeit aus: Es handelt sich um einen Zustand der Materie, in dem Moleküle herumschwimmen und untereinander Verbindungen herstellen und lösen.

Die Moleküle an der Oberfläche einer Flüssigkeit befinden sich allerdings in einem anderen Umfeld als die innerhalb der Flüssigkeit. Sie sind nicht ringsum von anderen Molekülen umgeben und sind daher in der Regel weniger stark eingebunden als die übrigen. Dieses Ungleichgewicht der Kräfte zwischen der Oberfläche und dem Innern erzeugt eine Spannung – die sogenannte Oberflächenspannung. Diese Kraft ist winzig, doch immerhin so groß, dass sie bei kleinen Objekten stärker ist als die Schwerkraft. Deshalb können zum Beispiel manche Insekten auf der Oberfläche eines Teichs laufen.

3 Wasserläufer laufen über das Wasser. Foto: Alice Rosen (© Alice Rosen).

Wenn Sie sich einen Wasserläufer ansehen, der über einen Teich läuft, dann sehen Sie, dass seine Beine vom Wasser abgewiesen werden. Die Oberflächenspannung erzeugt eine abstoßende Kraft zwischen dem Wasser und den Beinen des Insekts, die der Schwerkraft entgegenwirkt. Beim Kontakt zwischen anderen Flüssigkeiten und Feststoffen entsteht dagegen eine Anziehungskraft. Zum Beispiel zwischen Wasser und Glas. Wenn Sie ein Trinkglas mit Wasser füllen, dann können Sie sehen, dass sich die Wasseroberfläche dort, wo sie das Glas berührt, nach oben wölbt. Das ist der sogenannte Meniskus, und auch er ist eine Folge der Oberflächenspannung.

Pflanzen beherrschen diesen Trick meisterhaft. Sie ziehen Wasser gegen die Schwerkraft in große Höhen und benutzen dazu ein System von Röhren, die von den Wurzeln über den Stamm bis in die Blätter führen. Je feiner die Röhren und je größer die Oberfläche der Innenseite im Verhältnis zur Menge der transportierten Flüssigkeit, umso stärker die Wirkung. Küchenrollen und Putztücher aus Mikrofasern funktionieren nach demselben Prinzip: Sie bestehen aus feinsten Röhren, die das Wasser aufsaugen und das Tuch wirkungsvoller machen. Das alles sind Beispiele für den sogenannten Kapillareffekt, der auch im Docht wirkt und das Öl zur Flamme hin zieht.

Ohne Kapillareffekt gäbe es keine Kerzen. Wenn Sie den Docht einer Kerze entzünden, dann erwärmt die Flamme das Wachs, und es entsteht eine kleine Menge von geschmolzenem Wachs. Dieses flüssige Wachs steigt durch winzige Kanäle ans Ende des Dochts und nährt dort die Flamme, und gleichzeitig lässt deren Wärme weiteres Wachs schmelzen. Wenn man das richtige Material für den Docht wählt, ist die Flamme heiß genug, um eine ausreichende Menge an Wachs flüssig und den Strom von Brennstoff konstant zu halten. Es ist ein komplexes System, das sich selbst reguliert, und wenn wir es einmal in Gang gesetzt haben, müssen wir uns nicht mehr darum kümmern. Kerzen sind heute so selbstverständlich, dass wir uns nicht mehr bewusst machen, um welche technische Errungenschaft es sich handelt.

Jahrtausendelang brachte der Kapillareffekt, ob in Kerzen oder Öllampen, Licht in die Häuser der Menschen. Ohne den Docht wäre die Welt jede Nacht in Finsternis versunken. Wie man sich denken kann, waren Lampen vor allem da beliebt, wo es Öl gab, und Kerzen da, wo tierisches Fett zur Verfügung stand. Doch so genial Öllampen und Kerzen auch sind, sie haben ihre Nachteile: Da ist natürlich die Feuergefahr, dazu kommen der Ruß, die geringe Helligkeit, der Gestank und der Preis. Deswegen haben Menschen schon immer nach besseren, sichereren und günstigeren Möglichkeiten gesucht, ihre Häuser zu beleuchten. Die Entdeckung des Kerosins im neunten Jahrhundert wäre die Lösung gewesen, wenn denn jemand etwas davon mitbekommen hätte.

Im Flugzeug war die Sicherheitsdemonstration in vollem Gange, doch die Stewardessen erwähnten das Kerosin mit keinem Wort. Und das obwohl dieser revolutionäre Brennstoff gerade in die Düsentriebwerke unter den Flügeln gespritzt wurde, um die Maschine zur Startbahn zu befördern. Stattdessen wurden wir aufgeklärt, was wir im Fall eines »Druckverlusts in der Kabine« zu tun hätten. Als Engländer mit einem Hang zum Understatement weiß ich diese Formulierung sehr zu schätzen. Druckverlust klingt harmlos, aber wenn der Rumpf in 12 000 Metern Höhe plötzlich ein Loch oder einen Riss bekommt, dann würde aller Sauerstoff aus der Kabine gesaugt und mit ihm alle, die nicht angeschnallt auf ihren Plätzen sitzen. Es gäbe nicht genug Sauerstoff, um normal zu atmen, weshalb Sauerstoffmasken aus der Decke fallen. Der Kapitän würde die Maschine so schnell wie möglich auf eine Höhe senken, auf der wieder ausreichend Sauerstoff vorhanden wäre. Wer bis dahin noch am Leben wäre, hätte die erste Hürde genommen.

Auch für die alten Öllampen war der Sauerstoffmangel ein Problem. Aufgrund der Konstruktionsweise der Lampe erhielt das Öl zu wenig Sauerstoff, um es vollständig zu verbrennen, weshalb die Flamme relativ wenig Licht erzeugte. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfand ein Schweizer Wissenschaftler namens Ami Argand eine neue Lampe mit einem hohlen Docht und einem Glaskolben zum Schutz der Flamme. Durch die Form des Dochts gelangte nun Luft in die Mitte der Flamme, sodass sie besser mit Sauerstoff versorgt wurde und heller brannte. Die Öllampe erzeugte damit so viel Licht wie sechs oder sieben Kerzen. Auf diese Verbesserung folgten weitere, und irgendwann wurde klar, dass Olivenöl oder andere pflanzliche Öle nicht der beste Brennstoff waren. Um helleres Licht zu erzeugen, brauchte man eine heißere Flamme, und dazu musste das Öl schneller durch den Docht fließen. Wie schnell eine Flüssigkeit durch einen Docht fließt, hängt von ihrer Oberflächenspannung und Zähigkeit ab. Die Suche nach preisgünstigen und flüssigeren Ölen spornte neue Experimente an und kostete bedauerlicherweise zahllose Wale das Leben.

4 Fang eines Pottwals von John William Hill (1835). Yale University Art Gallery(© Yale University Art Gallery).

Das Öl von Walen gewinnt man, indem man den Speck der Tiere kocht. Ihr Öl ist durchsichtig und honigfarben. Wegen seines tranigen Geschmacks eignet es sich nicht zum Verzehr, aber mit einem Flammpunkt von 230 Grad Celsius und seiner geringen Zähigkeit ist es umso besser für Öllampen.

Ende des 18. Jahrhunderts schnellte der Verbrauch von Walöl in Argand-Lampen in die Höhe, vor allem in Europa und Nordamerika. Zwischen 1770 und 1775 produzierten die Walfänger von Massachusetts 45 000 Barrel Öl pro Jahr, um die Nachfrage zu decken. Der Walfang wurde zum großen Geschäft, befeuert durch die immer größere Nachfrage nach Beleuchtung, und einige Walarten wurden nahezu vollständig ausgerottet. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren schätzungsweise eine Viertelmillion Wale getötet worden.

Die Wale wurden immer weniger, doch der Wunsch nach beleuchteten Innenräumen wurde immer größer. Die Bevölkerung von Industrienationen wuchs und wurde wohlhabender, die Bildung wurde wichtiger und mit ihr die Kultur der Abendlektüre und -unterhaltung. Somit stieg auch die Nachfrage nach Ölen. Um diese Nachfrage zu befriedigen, mussten sich Erfinder und Wissenschaftler etwas einfallen lassen. Einer davon war der schottische Chemiker James Young, der 1848 ein Verfahren entwickelte, mit dem sich aus Kohle eine Flüssigkeit gewinnen ließ; das Produkt, das Young als Paraffinöl bezeichnete, eignete sich hervorragend für die Verwendung in Öllampen. Der kanadische Erfinder Abraham Gesner kam auf denselben Trichter und gab seinem Produkt den Namen Kerosin. Diese Erfindungen wären vielleicht nicht weit gekommen, wäre nicht kurz darauf der Amerikanische Bürgerkrieg ausgebrochen. Mit einem Mal wurden die Walfänger zum Ziel von militärischen Angriffen, und nun ergab sich eine Chance für die neue Kerosinherstellung. Richtig erfolgreich wurde sie allerdings erst, als die Erfinder nicht mehr mit Kohle experimentierten, sondern mit dem schwarzen Öl, das in der Nähe von Kohlevorkommen gefunden wurde. Dieses Erdöl, das aus dem Boden gepumpt werden musste, ist ein schwarzes, stinkendes, klebriges Zeug. Um es verwenden zu können, musste man es erst destillieren, wie es Rhazes zuvor gemacht hatte. Das Geschäft erwies sich als ausgesprochen lukrativ, und der Geist war endgültig aus der Lampe entkommen.

An Bord meines Flugzeugs noch immer kein Wort von Kerosin. Die Sicherheitshinweise befassten sich inzwischen mit den Notausgängen, und die Stewardess vor mir breitete die Arme aus und deutete auf sie. Zwei befanden sich hinter mir, zwei vorn, zwei über den Flügeln. »Und im Treibstofftank unter unseren Füßen befinden sich 50 000 Liter Kerosin und noch mal 50 000 Liter in jeder der beiden Tragflächen«, brummte ich vor mich hin. Meine Sitznachbarin merkte auf, zum ersten Mal, seit sie Platz genommen hatte, nahm sie den Blick von ihrem Buch. Später sollte ich erfahren, dass sie Susan hieß. Über den Rand ihres roten Brillengestells hinweg blickte sie mich kurz an, dann wandte sie sich wieder ihrer Lektüre zu. Obwohl sie mich höchstens eine Sekunde lang angesehen hatte, sprach ihr Blick Bände: »Entspannen Sie sich. Fliegen ist das sicherste Transportmittel. Wissen Sie, dass jeden Tag mehr als eine Million Menschen durch die Stratosphäre fliegen? Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert, ist verschwindend gering. Nein, nicht nur verschwindend – sie geht gegen null. Lehnen Sie sich zurück. Entspannen Sie sich. Lesen Sie ein Buch.« Ich weiß, das ist viel Information für einen Blick, aber glauben Sie mir, ihrer sagte all das.

5 Erdölraffinerie; die Säulen sind der Destillationsapparat (© Kyle Pearce).

Trotzdem ließ mich der Gedanke an das Kerosin nicht los und an den bemerkenswerten Trick, mit dem es die Erfinder des 19. Jahrhunderts aus Rohöl gewannen: der Destillation. Rhazus hatte dazu einen Apparat namens Alembik verwendet, und heute bezeichnet man dies als Destillationsapparat – nichts anderes sind die Türme, die aus einer Raffinerie ragen.

Rohöl ist eine Mischung aus unterschiedlichen Kohlenwasserstoffmolekülen, von denen einige länglich sind wie Spaghetti, andere kürzer und kompakter und wieder andere ringförmig. Das Gerüst jedes dieser Moleküle ist eine Kette von Kohlenstoffatomen, an denen jeweils zwei Wasserstoffatome hängen. In Form und Größe unterscheiden sich diese Moleküle jedoch ganz erheblich: Manche haben nur fünf Kohlenstoffatome, andere Hunderte. Moleküle mit weniger als fünf Kohlenstoffatomen sind selten, da sie in dieser Größe eher in Gasform existieren – Methan, Ethan und Butan. Je länger das Molekül, desto höher sein Siedepunkt und umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass es bei Raumtemperatur flüssig ist. Das trifft auf Moleküle mit bis zu vierzig Kohlenstoffatomen zu. Noch längere Moleküle können kaum noch fließen und werden zu Teer.

6 Eine Mischung aus Kohlenwasserstoffmolekülen, wie sie im Rohöl vorkommen (abgebildet sind nur die Kohlenstoffatome).

Bei der Destillation von Rohöl werden zuerst die kürzeren Moleküle gewonnen. Kohlenwasserstoffmoleküle mit fünf bis acht Kohlenstoffatomen bilden eine helle, klare und extrem leicht entzündliche Flüssigkeit mit einem Flammpunkt von minus 45 Grad Celsius, das heißt, selbst bei Temperaturen unter null entzünden sie sich schnell. Diese Flüssigkeit in einer Öllampe verbrennen zu wollen, wäre extrem leichtsinnig. In den Anfangstagen der Ölindustrie wurde sie daher als Abfall verworfen. Erst später erkannten Techniker ihre Tugenden und verstanden, wie sie sich mit Luft vermischen und entzünden lässt, um mit dem entstehenden heißen Gas einen Kolben in Bewegung zu setzen. Später nannte man diese Flüssigkeit Benzin und benutzte sie zum Antrieb von Fahrzeugmotoren.

Längere Kohlenwasserstoffmoleküle mit neun bis 21 Kohlenstoffatomen ergeben eine klare, farblose Flüssigkeit mit einem höheren Siedepunkt. Sie verdunstet weniger schnell und ist nicht ganz so leicht entflammbar. Wenn die Moleküle dann aber mit Sauerstoff reagieren, setzen sie aufgrund ihrer Länge große Mengen Energie in Form von heißem Gas frei. Diese Flüssigkeit entzündet sich allerdings nur, wenn man sie in die Luft sprüht, und sie lässt sich zu einer großen Dichte komprimieren, ehe sie in Flammen aufgeht. Das entdeckte Rudolf Diesel im Jahr 1897, weshalb sowohl der Motor als auch sein Treibstoff heute seinen Namen tragen. Der Diesel ist der erfolgreichste Motor des 20. Jahrhunderts.

Aber in den Anfangstagen der Ölindustrie Mitte des 19. Jahrhunderts gab es noch keine Dieselmotoren. Stattdessen suchte man händeringend nach brennbaren Substanzen für Öllampen. Auf der Suche nach diesem Öl erzeugten die Hersteller eine Kohlenwasserstoffverbindung mit sechs bis 16 Kohlenstoffatomen. Diese Flüssigkeit ist irgendwo zwischen Benzin und Diesel. Sie hat viele der Tugenden des Diesels, das heißt sie verdunstet nicht so schnell und geht daher keine explosive Mischung mit der Luft ein, und gleichzeitig ist sie ähnlich flüssig wie Wasser. Daher fließt sie gut durch Dochte und gibt eine helle Flamme. Sie war billig und wirkungsvoll und benötigt weder Olivenbäume noch Wale. Das war das Kerosin, das perfekte Lampenöl.

Aber ist dieses Kerosin auch sicher? Meine Gedanken waren abgeschweift – ich hatte den Rat in Susans Blick befolgt und versucht, mich ein wenig zu entspannen – , doch nun drängten sich die Sicherheitshinweise wieder in den Vordergrund. Inzwischen waren sie bei den Schwimmwesten angelangt, die Stewardess hatte sich eine übergezogen und tat so, als würde sie in eine Trillerpfeife blasen. Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlte, einen Absturz zu überleben und im Meer zu treiben, vielleicht nachts, und zu versuchen, in eine Pfeife zu blasen. Außerdem fragte ich mich, was wohl bei so einem Unfall mit dem Kerosin passieren würde. Ob es explodieren würde?

7 Molekülstruktur von Nitroglyzerin.

Ich kenne eine Flüssigkeit, die ganz bestimmt explodieren würde: das Nitroglyzerin. Wie Kerosin ist Nitroglyzerin eine farblose, durchsichtige und ölige Flüssigkeit. Sie wurde erstmals 1847 vom italienischen Chemiker Ascanio Sobrero hergestellt. Die Flüssigkeit brachte ihn nicht um, was ein Wunder ist, denn es handelt sich um eine aberwitzig gefährliche und instabile Chemikalie, die ohne jede Vorwarnung in die Luft fliegen kann. Ascanio machten die möglichen Verwendungen seiner Entdeckung solche Angst, dass er sie ein Jahr lang geheim hielt und verhindern wollte, dass andere sie herstellten. Sein Schüler Alfred Nobel erkannte jedoch ihr Potenzial: Er war der Ansicht, dass Nitroglyzerin das Schießpulver ersetzen würde. Schließlich gelang es ihm, es in eine Form zu bringen, in der es relativ sicher zu handhaben ist. Er verwandelte die Flüssigkeit in einen Feststoff, der nicht zufällig explodierte (der allerdings seinen Bruder Emil das Leben kostete), und hatte damit das Dynamit erfunden. Seine Schöpfung revolutionierte den Bergbau und machte ihn zu einem reichen Mann, mussten doch vor der Erfindung des Dynamits Bergbauunternehmen ihre Schächte und Gruben von Arbeitern ausheben lassen. Mit einem Teil seines Vermögens lobte er den bekanntesten Preis der Welt aus, den Nobelpreis.