Fake News - Armin Himmelrath - E-Book

Fake News E-Book

Armin Himmelrath

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  • Herausgeber: hep verlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Soziale Netzwerke als grundsätzlich seriöse Nachrichtenquellen? Für viele Jugendliche ist das überhaupt keine Frage. Sie blicken eher skeptisch auf traditionelle journalistische Medien. Umso wichtiger, dass die Jugendlichen lernen, Lügen und Fake News von Wahrheit zu unterscheiden. Die Schule kann das Informationsverhalten von Kindern und Jugendlichen prägen mit Präventionsmassnahmen und dem Fördern von Medienkompetenz. Dieses Buch bietet eine Einführung in die Thematik, ergänzt durch zahlreiche Anregungen und Übungsvorschläge für Unterricht und Schulalltag.

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Seitenzahl: 198

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Armin Himmelrath, Julia Egbers

Fake News

Ein Handbuch für Schule und Unterricht

ISBN Print

978-3-0355-1085-0

ISBN E-Book

978-3-0355-1086-7

 

 

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhalt

Einleitung: Fake News Ein Fallbeispiel aus eigener Erfahrung

Kapitel 1: Hate Speech, Fake News, Hass im Netz Zum Umgang mit einem neuen Phänomen

Was sind Fake News?

Historische Beispiele für Fake News

Fakes im Wissenschaftsbetrieb

Kapitel 2: Wie seriös sind Facebook-Nachrichten? Ausgewählte Studien zu Fake News und Hate Speech

Der Reiz von Verschwörungstheorien und Fake News

Jeder ist ein potenzieller Verschwörungstheoretiker

Was tun mit Impfgegnern?

Fake News und die US-Präsidentenwahl 2016

Fake News und die Bundestagswahl 2017

Jeder Vierte fühlt sich von Unternehmen belogen

Welche Erfahrungen haben Menschen mit Fake News gemacht?

Wer vertraut welchen Medien?

Kapitel 3: Digitale Kommunikation im Unterricht nutzen Die Medienkompetenz von Jugendlichen fördern

Soziale Netzwerke im Unterricht einsetzen

Die digitale Schule – mobile only!

Fake News kompetenzorientiert im Unterricht aufnehmen

Kommentierte Linkliste zu Unterrichtsmaterialien

Kapitel 4: Digital immigrants und early adopters Warum digitale Kompetenzen für alle bedeutsam sind

Sind Sie ein digital immigrant?

Medienkompetenz? Digitale Kompetenz? Digital Literacy? Ein Begrifflichkeiten-Tohuwabohu und dessen curriculare Einordnung

Fortbildung statt Stopp: Die digitale Schule macht sich auf den Weg ...

Lernkonzepte zur Aneignung von digital literacy

Checkliste 1: Tipps für Lehrkräfte, sich weiterzubilden

Checkliste 2: Tipps für Lehrkräfte, um Schülerinnen und Schüler zu fördern

Kapitel 5: Ein Like für die digitale Kommunikation?! Was sich in Schulen und Studium, Gesellschaft und Politik ändern muss

Glossar

Anmerkungen

Einleitung: Fake News Ein Fallbeispiel aus eigener Erfahrung

Einleitung: Fake News Ein Fallbeispiel aus eigener Erfahrung

Wir geben es zu: Bei der Vorbereitung dieses Buchs sind wir einer Falschmeldung aufgesessen. Ja, wir selbst sind auf Fake News hereingefallen; wir haben geglaubt und glauben wollen, was so schön in unser Konzept von einem Handbuch zu Fake News gepasst hätte:

«Mehr als zwei Drittel der Jugendlichen halten Nachrichten, die sie bei Facebook lesen, für grundsätzlich seriös und glaubwürdig – Qualitätsmedien wie die Webseite von ‹Spiegel Online› dagegen schneiden schlechter ab: weniger als 30 Prozent der Teenager vertrauen diesen Plattformen bei ihrer Informationsbeschaffung. Das hat eine Studie von Wissenschaftlern aus Dresden ergeben.»

Klingt gut, oder? Das klingt sogar ein bisschen zu gut: Die Studie gibt es tatsächlich, «Mediennutzung und Medienkompetenz jugendlicher Migranten in Sachsen (JuMiS)» heißt sie und wurde unter anderem erstellt von Lutz Hagen, Professor und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Kommunikationswissenschaften (IfK) an der TU Dresden.[1] Am 26. September 2016 stellte er diese damals schon zwei Jahre alte Untersuchung zusammen mit aktuellen Forschungsergebnissen beim Kongress des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger in Berlin vor. Was allerdings nicht stimmt, ist die Berichterstattung, dass Jugendliche in Sachsen Facebook für glaubwürdiger halten als «Spiegel Online». Trotzdem machte diese Nachricht schnell die Runde, wurde in Social-Media-Kanälen genauso verbreitet wie bei seriösen Medien. So berichtete etwa Jan Böhmermann in seinem «Neo Magazin Royal» vom 29. 9. 2016[2], Facebook sei für junge Sachsen das glaubwürdigste Medium.

Das sei eine glatte «Fehlinterpretation einer Präsentationsfolie»[3], stellte Lutz Hagen kurz darauf per Pressemitteilung richtig. Die von ihm verwendeten Informationen seien «in den sozialen Netzwerken mit falscher Interpretation rasch verbreitet worden». Tatsächlich, betont der Medienwissenschaftler, würden die von ihm befragten über 2 100 Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Fall einer widersprüchlichen Berichterstattung – etwa zu einem Unglück, einem Anschlag oder einer Naturkatastrophe – mehrheitlich klassischen Medien Vertrauen schenken. Demgegenüber rangieren Nachrichtenangebote aus Onlinemedien «in puncto Glaubwürdigkeit sogar hinter Rundfunk und Print». Ein Befund also, der genau das Gegenteil aussagt von dem, was zuvor als vermeintliches Forschungsergebnis verbreitet wurde – und worauf auch wir zunächst hereingefallen sind.

Doch wie konnte es zu dieser Falschmeldung, zu dieser Fake News kommen? Der Wissenschaftler war in seinem Vortrag vor den Mitgliedern des BDZV der Frage nachgegangen, inwiefern Jugendliche noch über eine Kultur der Nachrichtenkompetenz verfügen – wie gut sie also in der Lage sind, Nachrichtenangebote im Hinblick auf ihre Qualität und Seriosität einzuschätzen. Diese Leitfrage steht auch über seinen Arbeiten im Rahmen des Forschungsprojekts «Vermittlung von Nachrichtenkompetenz durch die Schule», dessen Ergebnisse Lutz Hagen beim BDZV-Kongress präsentierte. Und dabei griff er unter anderem auch auf Ergebnistabellen der 2014 erschienenen JuMiS-Studie zurück. Eine der benutzten Folien wurde zum Ausgangspunkt der Falschmeldung.

Beim schnellen Blick auf die Tabelle kann möglicherweise tatsächlich der Eindruck entstehen, dass 83,3 Prozent der befragten Jugendlichen dem sozialen Netzwerk Facebook vertrauen, der ARD aber nur 31 Prozent und «Spiegel Online» sogar nur 21 Prozent. Aber: «Diese Interpretation ist falsch», sagt Lutz Hagen. Den Jugendlichen wurde nämlich die folgende Frage gestellt:

«Stell dir einmal vor, auf der Welt ist eine schlimme Naturkatastrophe passiert. Die Berichte in den Medien unterscheiden sich aber, so dass Du nicht weißt, was wirklich passiert ist. Welchem Medium würdest Du dabei am ehesten vertrauen? Du kannst maximal zwei Medien ankreuzen! Bitte notiere auch, an welchen Sender, welche Zeitung oder welche Internetseite Du dabei genau gedacht hast. Du kannst deutsche und fremdsprachige Medien nennen!»

 

Alle Jugendlichen

Ohne Migrationshintergrund

Mit Migrationshintergrund

Fernsehen

 

 

 

ARD (Tagesschau, Tagesthemen, Brisant)

31,0

32,5

22,3

RTL (RTL aktuell, Punkt 12, Punkt 6, RTL Exklusiv)

23,5

23,4

23,6

n-tv

 6,7

5,6

12,2

RTL II (RTL II News)

 5,6

 6,1

 2,7

ZDF (heute, heute journal, hallo deutschland)

 4,9

 4,7

 6,1

BasisTV (n)

963

815

148

Zeitung

 

 

 

Sächsische Zeitung

31,7

32,1

28,4

Leipziger Volkszeitung

25,3

25,6

23,0

Bild Zeitung

 8,6

 8,2

10,8

Dresdner Morgenpost

 8,2

 8,0

 9,5

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)

 5,2

 5,4

 4,1

BasisZeitung (n)

597

523

74

Radio

 

 

 

Energy Sachsen

23,1

22,5

27,9

MDR Jump

19,1

19,5

16,3

Radio PSR

11,4

11,1

14,0

MDR Info

 7,7

 7,2

11,6

Hitradio RTL

 7,7

 8,4

 2,3

BasisRadio (n)

376

333

43

Onlinenachrichtenseiten

 

 

 

Spiegel Online

21,0

23,4

11,9

ARD online/tagesschau.de

 7,7

 9,6

 0,0

Sat1.de

 4,3

 4,2

 4,8

Rtl.de

 4,3

 4,8

 2,4

Rtl2.de

 3,8

 4,8

 0,0

BasisOnlinenachrichten (n)

209

167

42

Soziale Netzwerke

 

 

 

Facebook

83,3

85,4

78,4

BasisSoziale Netzwerke (n)

181

130

51

Abbildung 1: Vertrauen in die Medien konkret: TOP 5 (Offene Nennungen, in Prozent, Basis: Befragte, die die jeweilige Medienkategorie angekreuzt haben; Quelle: Hagen et. al. 2014, S. 217)

Als Antwort standen zur Verfügung:

–Gedruckte Tages- und Wochenzeitungen

–Online-Nachrichtenseiten

–Fernsehen

–Weblogs

–Soziale Netzwerke

–Nachrichtenmeldungen in Deinem Webportal

–Radio

–Den Medien vertraue ich gar nicht

 

Tatsächlich kreuzten nur 8,8 Prozent der sächsischen Schüler «Online-Nachrichtenseiten» als Antwort an und sogar nur 7,1 Prozent benannten «soziale Netzwerke» als vertrauenswürdigstes Medium. Innerhalb derer allerdings, die sich für diese Kategorie entschieden hatten, «war Facebook mit 83,3 Prozent das mit Abstand am häufigsten genannte Medienangebot, in der Kategorie Online-Nachrichtenseiten war dies mit 21 Prozent «Spiegel Online», sagt Lutz Hagen. Dass sich die 83,3-Prozent-Angabe bei Facebook eben nur auf die 181 Jugendlichen bezieht, die zuvor die Kategorie «soziale Netzwerke» angekreuzt hatten, ist zwar unter der Tabelle vermerkt, wurde aber bei der Fehlinterpretation der Ergebnisse – absichtlich oder unabsichtlich – übersehen. Lutz Hagen erklärt: «Die meisten Jugendlichen aus Sachsen, und zwar 36 Prozent, würden im Zweifelsfall am ehesten der Fernsehberichterstattung Glauben schenken. Am häufigsten – nämlich in jedem dritten Fall – werden dabei Angebote der ARD genannt. 20 Prozent der Befragten halten die gedruckte Tages- oder Wochenzeitung für das vertrauenswürdigste Medium.» Abbildung 2 macht diese Gewichtung deutlich.

 

 

Alle Jugendlichen

Ohne Migrationshintergrund

Mit Migrationshintergrund

Fernsehen

35,9

35,8

36,3

Gedruckte Tageszeitung/Wochenzeitung

21,6

22,6

17,0

Radio

15,4

16,5

10,3

Onlinenachrichtenseiten

 8,8

 8,2

11,5

Soziale Netzwerke

 7,1

 6,2

11,3

Nachrichtenmeldungen im Webportal

 2,1

 1,9

 2,9

Webblogs

 1,2

 1,2

 1,5

Medien vertraue ich gar nicht

 7,8

 7,5

 9,1

Basis (n; Anzahl gegebener Antworten)

3.207

2.625

582

Abbildung 2: Vertrauen in die Medien allgemein (Basis: Alle befragten Jugendlichen, in Prozent; Quelle: Hagen et al. 2014, S. 214)

Was also lernen wir aus dieser Geschichte rund um die vermeintliche Facebook-Gläubigkeit von Jugendlichen?

–Wir alle sind anfällig für Fake News – vor allem dann, wenn die vermeintliche Nachricht unsere Vorurteile, Erwartungen und Weltbilder bestätigt.

–Der Verweis auf «Studien» oder einen wissenschaftlichen Hintergrund ist kein Beleg für die Seriosität einer Nachricht.

–Die Überprüfung von Nachrichten ist mit Hilfe eines geeigneten Instrumentariums möglich, diese Recherche kostet aber Zeit – und man muss wissen, lernen und üben, wie man selbst eine solche Überprüfung vornehmen kann.

–Jugendliche haben mehrheitlich ein Bewusstsein dafür, wo seriöse Nachrichten zu finden sind – aber es ist und bleibt Aufgabe der Erziehung und damit auch des Unterrichts, diese Medien- und Nachrichtenkompetenz zu stärken und auszubauen.

 

Wir denken, dass dieses Beispiel gut zeigt, warum es notwendig ist, den Umgang mit Fake News und die Entwicklung von Nachrichtenkompetenz als wichtige und in unserem zunehmend digitalisierten Alltag unverzichtbare Aufgabe von Schule und Unterricht zu begreifen. Dieses Handbuch soll dafür Ideen und Anregungen liefern – auf theoretischer und unterrichtspraktischer Ebene gleichermaßen.

 

Köln und Oldenburg, im April 2018

 

Julia Egbers

Armin Himmelrath

Kapitel 1: Hate Speech, Fake News, Hass im Netz Zum Umgang mit einem neuen Phänomen

Was sind Fake News?

Seit Herbst 2017 hilft bei der Suche nach einer ersten Definition für den Begriff «Fake News» ein Blick in den Duden. Fake News werden dort beschrieben als «in den Medien und im Internet, besonders in den Social Media, in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen»[4]. Das ist richtig – und dennoch eine Verkürzung. Denn so einfach ist es leider nicht, weil der Begriff auf ganz unterschiedliche Art und Weise genutzt wird.

Gezielte Falschmeldungen

Da sind zunächst die in der Duden-Definition schon angesprochenen komplett erfundenen Falschmeldungen, die verbreitet werden, um die Meinung oder das Handeln anderer zu manipulieren oder zu beeinflussen. Dies kann aus politischen, aber auch aus ökonomischen Gründen geschehen: Spätestens, seit viele Klicks im Netz auch zu einer Beteiligung an Werbeeinnahmen führen können, ist der Erzeugen von Fake News, die von anderen geliket und weiter verbreitet werden, auch aus ökonomischer Sicht interessant. Doch es geht nicht nur um Social-Media-Reichweite: Fake News können auch für die Verbreitung in klassischen Medien konzipiert sein – mit dem Ziel, professionell arbeitende Journalisten in die Irre zu führen und zur Publikation der falschen Meldung zu verleiten.

Ein Beispiel für einen solchen Versuch, die Öffentlichkeit aus finanziellen Interessen heraus mit falschen Informationen zu füttern und deren Verbreitung anzukurbeln, ist der Fall der niederländischen Aidsforscher Henk Buck und Jaap Goudsmit. Die beiden hatten Ende der 1980er-Jahre mit ihren Forschungsergebnissen in Sachen Aids zwar solide Arbeit geleistet, der erhoffte Durchbruch in der Medikamentenentwicklung war ihnen aber nicht gelungen. Doch die Wissenschaftler waren darauf angewiesen, öffentlichkeitswirksame Ergebnisse zu präsentieren, weil sonst die Kürzung von Forschungsgeldern drohte. Henk Buck entschloss sich deshalb im April 1990 zu einer Regelverletzung. Er habe, ließ der Chemiker im Rahmen einer Fernsehsendung kurz vor der Veröffentlichung neuer Forschungsergebnisse bei «Science»[5] verlauten, ein Aids-Gegenmittel entdeckt: Aids werde auf absehbare Zeit der Vergangenheit angehören. Das war eine bewusste Lüge, eine solche Topnachricht bewirkte aber natürlich, dass sich die Medien sofort auf die Forscher stürzten und ihre angeblich erfolgreiche Arbeit in den höchsten Tönen lobten. «Von der Fachwelt gedrängt, seine Entdeckung unter Beweis zu stellen, musste er eingestehen, daß er übertrieben hatte», schildert Peter Weingart, Bielefelder Mediensoziologe, den weiteren Verlauf des Falls: «Zur Begründung erklärte er, nur mit Übertreibungen dieser Art könne man die gewünschte Aufmerksamkeit und entsprechende Unterstützung in der Öffentlichkeit erlangen»[6]. Später argumentierte Buck, er sei von Journalisten zu der Aussage provoziert worden. Im Rahmen der Affäre trat Buck von seiner Professur zurück.

Aus einem ganz anderen Kontext stammen die Fake-Aktionen der Polit-Art-Gruppe «The Yes Men»[7]. Sie haben häufig zum Ziel, falsche Nachrichten zu produzieren und in Umlauf zu bringen. Dahinter steht das politische Ziel, Fehlverhalten von Konzernen oder Einzelpersonen dadurch sichtbar zu machen, dass man diesen eine Meinung unterschiebt, die sie gar nicht vertreten – um damit in der Öffentlichkeit Irritationen auszulösen und auf diese Weise die allgemeine Aufmerksamkeit für den zu kritisierenden Sachverhalt zu verstärken. Das Verbreiten der Fake News ist dabei nur der erste Teil einer erfolgreichen Yes-Men-Aktion; die Bekanntgabe des Fakes und die anschließende Debatte über die Inhalte und den Täuschungsprozess gehören ebenso dazu.

Ein Beispiel für diese Vorgehensweise ist die Aktion vom 3. Dezember 2004, die von den Yes Men als «Dow Chemical Hack» bezeichnet wird. Dieser Tag war der 20. Jahrestag der Chemiekatastrophe im indischen Bhopal, bei der aus einer Pestizidfabrik des Chemieunternehmens Union Carbide eine Giftgaswolke austrat. Bei diesem vermutlich größten Chemieunfall der Geschichte kamen mindestens 3 800, möglicherweise aber auch bis zu 25 000 Menschen ums Leben; die Anzahl der Verletzten wird auf bis zu eine halbe Million Menschen geschätzt. Viele von ihnen erblindeten und erlitten Lähmungen, Hirnschäden, Lungenödeme und andere Verletzungen bis hin zu chronischen Leiden und Unfruchtbarkeit, und es gab zahlreiche Fehlbildungen bei Neugeborenen. Die Zahlen über die Betroffenen sind so ungenau, weil niemand weiß, wie viele Personen seinerzeit in den Elendsvierteln rund um die Chemiefabrik lebten und bei dem Unglück vergiftet wurden.

Weil Dow Chemical zwischenzeitlich Eigentümer von Union Carbide geworden war und die Entschädigung der Opfer und Hinterbliebenen mit 500 Dollar pro Person nach Meinung der Aktivisten von The Yes Men überhaupt nicht zufriedenstellend behandelte, trat an diesem Jahrestag des Unglücks der Yes Man Andy Bichlbaum als Dow-Chemical-Sprecher Jude Finisterra auf und gab der britischen BBC in dieser Rolle ein Fernsehinterview. «Ich bin sehr, sehr glücklich, heute mitteilen zu können, dass Dow erstmals die volle Verantwortung für die Katastrophe in Bhopal übernimmt», sagte der angebliche Unternehmenssprecher in dem rund fünfminütigen Gespräch[8]. Ein zwölf Milliarden Dollar schwerer Fonds sei eingerichtet worden, um die Opfer der Katastrophe «vollständig zu entschädigen» – damit werde der Gewinn aus der Firmenübernahme von Union Carbide komplett den Opfern zur Verfügung gestellt. Und der Sprecher fuhr fort: «Wir haben beschlossen, Union Carbide zu liquidieren, diesen Albtraum für die Welt, der Dow Kopfschmerzen bereitet.» Erstmalig wolle man auch die genaue chemische Zusammensetzung der Gaswolke veröffentlichen, kündigte «Jude Finisterra» an, um die Ärzte in Indien endlich bei der Behandlung der Langzeit-Opfer zu unterstützen. Außerdem werde man dafür sorgen, dass das gesamte, immer noch verseuchte Firmengelände in Bhopal saniert und entgiftet werde. In Schlips und Anzug und mit ein paar üblichen PR-Floskeln versehen, erzielte der falsche Sprecher die gewünschte Wirkung: Die BBC meldete sofort die spektakuläre Neuigkeit, dass der Chemiekonzern die volle Verantwortung für das Unglück 20 Jahre zuvor übernommen habe. «Unsere Aktionäre werden das vielleicht als Rückschlag wahrnehmen», orakelte der vermeintliche Sprecher noch. Und er sollte Recht behalten: Die Meldung führte zu einem Kursabsturz der Dow-Chemical-Aktie, der Wert des Unternehmens an der Börse ging um zwei Milliarden Dollar zurück – bevor die BBC die eigene Meldung vom Sinneswandel des Chemiekonzerns dementierte, weil sie den Fake der Yes Men schließlich doch durchschaut hatte.

Trotz der spektakulären Aktion im Jahr 2004 gelang es den Yes Men bereits ein Jahr später erneut, als Dow-Chemical-Repräsentanten aufzutreten und falsche Neuigkeiten zu verbreiten. Bei einer Bankenkonferenz in London am 28. April 2005 präsentierten zwei Aktivisten die angeblich von dem Chemiekonzern entwickelte Software namens «Acceptable Risk Calculator»[9], mit dem sich «vertretbare Risiken» bei profitorientierten Unternehmungen mit Hilfe mathematischer Verfahren ermitteln lassen sollen. Damit könnte man, so die Redner, herausfinden, an welchen Unternehmensstandorten weltweit die Bevölkerung bereit sei, ein hohes Unfallrisiko zu tragen und wie viele Tote für einen angenommenen lukrativen Gewinn X akzeptabel seien. So ließen sich die für die Firmen profitabelsten Standorte für gefährliche und risikobehaftete Produktionsverfahren finden. Die anwesenden Bankvertreter sparten anschließend nicht mit Applaus und positivem Feedback für das «neue» Instrument – und ließen sich sogar mit «Gilda, dem goldenen Skelett» fotografieren, das als angebliches Maskottchen des Programms vorgestellt wurde.

 

Abbildung 3: Gilda, das goldene Skelett (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/The_Yes_Men#/media/File:Yesmen_gilda.jpg)

Die Fake News waren hier, anders als bei der ersten Dow-Chemical-Kritik, nicht an die breite Öffentlichkeit gerichtet, sondern wurden nur innerhalb eines kleinen Kreises von Entscheidern kommuniziert – und die Auflösung später dann natürlich auch wieder über Social-Media-Kanäle und auf der Webseite der Gruppe verbreitet.

Ganz anders wiederum, nämlich mit Blick auf eine größtmögliche öffentliche Wirkung, gingen die Yes Men am 12. September 2008 vor: Sie verteilten in Manhattan einhunderttausend Mal eine komplett gefälschte Ausgabe der New York Times[10], in der der Irakkrieg für beendet erklärt wird, die Anklage gegen den (damals noch amtierenden) US-Präsidenten George W. Bush wegen Hochverrats gemeldet wird und in der sich US-Außenministerin Condoleezza Rice öffentlich für ihre Lügen über den Irakkrieg entschuldigt.

 

Abbildung 4: Cover der falschen NYT-Ausgabe (Quelle: http://www.spiegel.de/media/media-19346.pdf)

Das Motto der Ausgabe: «All the news we hope to print». Die Yes Men wollten nach eigener Aussage zeigen, wie sie sich eine bessere, gerechtere Welt vorstellen – und dass diese guten Nachrichten grundsätzlich möglich sind. Wer die Ausgabe aufmerksam betrachtete, konnte allerdings schnell feststellen, dass es sich nicht um echte Nachrichten handeln konnte: Das Exemplar war auf den 4. Juli 2009 vordatiert. Dennoch berichteten zahlreiche seriöse Medien über die Aktion: zwar nicht über die falschen Nachrichten, aber über das ganze Projekt. Auch so erreichten die Aktivisten damit ihr Ziel: Aufmerksamkeit.

Urban Legends

Die so genannten Urban Legends, die Großstadtmythen, gehören ebenfalls zu den Fake News. Es handelt sich dabei um Geschichten und Erzählungen, die häufig mit vagen Herkunftsangaben verifiziert werden: «Ein Bekannter meines Bruders hat eine Geschichte erzählt, die seine Schwester selbst erlebt hat …» Diese modernen Legenden wurden von Kulturwissenschaftlern seit den 1980er-Jahren zunächst in den USA untersucht; auch auf Deutsch erschienen dazu einige Bücher mit gesammelten Erzählungen[11]. Urban Legends verfolgen kein direktes manipulatives Ziel, sondern setzen vor allem auf die Lust am Weitererzählen und sprechen dafür häufig vorhandene Ängste, Vorurteile oder Stereotype an. So gehört die Angst vor unbekannten Situationen und dem Fremden zu einem der häufig wiederkehrenden Grundmuster bei dieser Art von Fake News. Und immer wieder schaffen es solche Meldungen und Legenden – im Englischen auch als «Hoax» bezeichnet – in die journalistischen Medien und erhalten dadurch eine erhöhte Glaubwürdigkeit und Verbreitung.

Eine dieser Großstadtlegenden ist die Geschichte des New Yorker Angestellten George Turklebaum. Der Korrektor, seit 30 Jahren in Diensten eines New Yorker Verlagshauses, starb angeblich Ende 2000 mit 51 Jahren an einem Herzinfarkt während der Arbeitszeit an seinem Schreibtisch. Erst fünf Tage später wurde er von einer Putzfrau entdeckt – was angesichts der Tatsache, dass der Verstorbene die ganze Woche über zusammen mit 23 anderen Angestellten in einem gemeinsamen Großraumbüro saß, so bemerkenswert war, dass unter anderem der Guardian, die Londoner Times und der Berliner Tagesspiegel darüber berichteten.

«Sadly, George Turklebaum didn’t live to enjoy the drama of the US election. He died of a heart attack on Monday October 23 while sitting at his desk in an open-plan office he shared with 23 others in the New york publishing house where he worked for 30 years as a proofreader. He can’t be accused of going out with a bang: it was not until the next Saturday that anyone noticed. ‹George was always the first guy here in the morning and the last to leave at night›, explains his boss, Elliot Wachiaski. ‹So no one found it unusual he was in the same position all that time.› May he contiue to rest in peace.»

Abbildung 5: Turklebaum-Legende (Quelle: The Guardian vom 15. 12. 2000)[12]

Eine spektakuläre Geschichte, keine Frage. Und eine, die schnell die Runde machte – schließlich sorgte sie für wohliges Gruseln angesichts der Anonymität in den modernen Großraumbüros. Wenn dann auch noch der Chef des armen Toten, Elliot Wachiaski, mit den Worten zitiert wird: «George war immer der Erste am Morgen und der Letzte am Abend. Er redete nie viel und war immer in seine Arbeit versunken. Deshalb wunderte sich niemand, dass er die ganze Zeit einfach so dasaß», dann ist klar: Daraus lässt sich etwas lernen, für jeden von uns. Diesen Bericht müssen wir unbedingt weitererzählen. Nur: Die Geschichte ist frei erfunden, einen George Turklebaum gab es in New York nicht. Das hat der Journalist Uwe Buse nachrecherchiert[13]. Er fand heraus: Turklebaums angeblich so einsamer Tod mitten unter seinen unaufmerksamen Kollegen beruhte ursprünglich auf einer Meldung der Zeitung «Weekly World News» aus den USA – und die berichtete auch schon mal ganz ernsthaft darüber, dass in der Schweiz 960 Mitglieder einer Sekte an Bord eines Ufos gebeamt worden seien. Eine Scherzmeldung also? Eine gut gemachte, allerdings frei erfundene Geschichte mit Klatsch-und-Tratsch-Potenzial? Eine gezielte Desinformation oder gar eine geplante Lügenkampagne? Das bleibt unklar. Sicher ist nur, dass ein freier Journalist in England die Story aufgriff, unter anderem an mehrere englische und südafrikanische Medien weitergab und sie von da an ihren Siegeszug durch die Redaktionen antrat. Eine Geschichte, zu traurig und zu schön, um wahr zu sein. Aber weil sie das unspezifische Unbehagen an der anonymen Welt da draußen auf den Punkt bringt, wollten die Journalistinnen und Journalisten und ihre Leserinnen und Leser sie einfach glauben.

Zum Kosmos der modernen Großstadtlegenden gehört auch die Geschichte des Mannes, der – je nach Erzählung mal in Las Vegas, mal in Amsterdam, mal in Hongkong – auf Geschäftsreise in einem Hotel war und nach mehreren Drinks an der Hotelbar mit einer verführerischen jungen Frau ins Gespräch kam. «Das Nächste, woran sich der Mann erinnerte, war, dass er in seinem Hotelzimmer aufwachte. Er lag in seiner Badewanne, welche mit Eis gefüllt war. Auf dem Spiegel im Badezimmer stand mit Lippenstift geschrieben: ‹Wir haben eine Ihrer Nieren entnommen! Rufen Sie den Notarzt an!› Das Telefon hatte jemand in der Nähe der Wanne platziert»[14]. Angeblich habe der Telefonist in der Notrufzentrale dann gestöhnt: «Nicht schon wieder!» und sofort einen Rettungswagen vorbeigeschickt. Hintergrund sei, «dass es anscheinend einen großen Schwarzmarkt für menschliche Organe gibt». Auch hier spielt wieder die Lust am Gruseln eine entscheidende Rolle dafür, dass die gefälschte Geschichte immer wieder neu erzählt und verbreitet wird.

Ein weiteres Beispiel für eine solche Urban Legend ist die Geschichte von Katzenbabys, die in Gläser gestopft werden, um sie in eine bestimmte Form zu bringen – so genannte Bonsaikitten. Eine ganze Webseite[15] beschäftigt sich mit diesem Thema und propagiert die grausam erscheinende Vorgehensweise: Wenn junge Katzen in Glasbehälter gepresst werden und dort einige Zeit verbringen müssen, nehmen sie die Form dieser Behälter an. So sei beispielsweise die Herstellung quadratischer Tiere möglich. «Natürlich ist das völliger Blödsinn», schreibt «Spiegel Online»[16], «die Fotos von den Misshandlungen sind Fälschungen. Doch das kann den Sturm der Empörung nicht stoppen. In Tausenden Protestmails wird zum Kampf gegen Bonsaikitten aufgerufen – und die Seite auf diese Weise nur noch bekannter. Sogar das FBI ermittelt. Große US-Zeitungen berichten über den Fall.» Wenn es um Tiere geht, erst recht um Tierbabys, ist öffentliche Aufmerksamkeit garantiert. Dabei handelt es sich bei den Bonsaikitten ursprünglich um einen studentischen Scherz von Nachwuchsakademikern am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Die Studentinnen und Studenten erfanden einen angeblichen «Dr. Michael Wong Chang», der die Umformung der Katzen als große Neuerung verkaufte – und damit eine Fake News in die Welt setzte, die sich seit dem Jahr 2000 hartnäckig hält. Zur gleichen Kategorie gehören auch die wiederkehrenden Geschichten von Krokodilen in städtischen Abwassersystemen oder von Piranhas und Schnappschildkröten in beliebten Badeseen.

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