Das Schuljahr nach Corona (E-Book) - Armin Himmelrath - E-Book

Das Schuljahr nach Corona (E-Book) E-Book

Armin Himmelrath

0,0

Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. "Endlich wieder richtig Schule haben", sagen die einen. "Regelbetrieb nach der Stundentafel, soweit es das Infektionsgeschehen zulässt", die anderen. Allen aber ist der Wunsch nach einer Perspektive, nach Alltag und Gewohnheit gemein und danach, Schule wieder als berechenbar und verlässlich zu erleben. Wie weit sind wir davon entfernt? Was haben wir aus der Krise gelernt? Wie weiter in der "neuen Normalität"? Eltern, Expert*innen, Lehrkräfte und Betroffene schildern, was sie während der Krise erlebt haben, und leiten daraus Forderungen für eine gestärkte Schule nach Corona ab.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 204

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Julia Egbers, Armin Himmelrath (Hrsg.)

Das Schuljahr nach Corona

Was sich nun ändern muss

ISBN Print: 978-3-0355-1865-8

ISBN E-Book: 978-3-0355-1866-5

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.com

Inhalt

Julia Egbers/Armin Himmelrath

Normalität geht anders. Eine Einleitung

Gesellschaftlich-psychologische Ebene

1Ullrich Bauer/Klaus Hurrelmann

Sozialisation in Krisenzeiten – der Lockdown offenbart die Defizite des deutschen Schulsystems

2Marcel Helbig

Potenzielle Auswirkungen der Corona-Krise auf soziale Ungleichheiten und Schulorganisation

3Kerstin Stemmer

Trauma und Virus: eine Psychologie der Corona-Krise

4Andreas Schleicher

Schooling disrupted – schooling rethought

Pädagogische Ebene

1Britta Mersch

Homeschooling in Zeiten von Corona: Wenn Schulen digitale Lernangebote ablehnen

2Esther Dörnemann

Schule nach Corona: Es wird anders

3Sandra Witt

Beziehungsgestaltung im Spannungsfeld von Verbindung und Autonomie in und durch Krisenzeiten

4Armin Himmelrath

Corona-Zeiten sind Fake-News-Zeiten: Wie Schule damit umgehen kann

5Sebastian Funk

Digitales Lernen neu gedacht

6Silke Fokken

Zwischen Late-Night-Show und Erklärvideo: Was sich aus dem Corona-Halbjahr lernen lässt

Organisationsebene

1Oliver Hauschke

Wie Schulen sich jetzt ändern können – und müssen

2Stefan Niemann

Corona als digitaler Treiber für die lernende Organisation Schule

3Myrle Dziak-Mahler

Führen nach der Krise

4Linda Göcking

Schule neu denken – Impulse und Anregungen für eine Schule von morgen

5Julia Egbers

Der Corona-Bumerang: aus der Schule und zurück

Normalität geht anders. Eine Einleitung

Julia Egbers und Armin Himmelrath

Wer sich im Sommer 2020 unter Lehrerinnen und Lehrern, Ministerinnen und Ministern, Eltern und Schulpersonal und sogar unter Kindern und Jugendlichen umhört, der stößt nach wochen- und monatelangem Corona-Ausnahmezustand immer wieder auf den Wunsch nach Normalität. «Endlich wieder richtig Schule haben», sagen die einen, «Regelbetrieb nach der Stundentafel, soweit es das Infektionsgeschehen zulässt», die anderen. Allen aber ist der Wunsch nach einer Perspektive, nach Alltag und Gewohnheit gemein und danach, Schule wieder als berechenbar und verlässlich zu erleben. Ein sinnvolles und notwendiges Ziel, keine Frage.

Von der Vorstellung allerdings, dass Unterricht wieder genau so sein wird wie vor der Pandemie, sollten sich alle Beteiligten besser verabschieden. Denn es gibt zahlreiche Gründe, warum das Schuljahr 2020/21 – und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch alle weiteren Schuljahre – in vielen Bereichen ganz anders sein wird als alles, was wir bisher mit Schule verbunden haben.

–Medizinische Gründe: Die Forschung hat bisher – Stand: Sommer 2020 – keine gesicherten Erkenntnisse darüber, welche Rolle Kinder und Jugendliche in der Infektionskette spielen. Dass sie seltener an Covid-19 erkranken, scheint gesichert – aber wie übertragen sie das Corona-Virus? Da außerdem eine Impfung oder ein gut wirkendes Medikament noch nicht in Sicht ist, kann es jederzeit sein, dass Schulen auf neue medizinische Erkenntnisse reagieren und ihren Unterricht um- oder gar einstellen müssen.

–Organisatorische Gründe: Wollen Schulen verschärfte Hygienebedingungen einhalten, brauchen sie – je nach Vorgaben – mehr Räume, mehr Personal und andere bauliche Gegebenheiten. Vier Waschbecken für 200 Kinder reichen eben für regelmäßige und ausführliche Handhygiene nicht aus. Und der ohnehin schon bestehende Fachkräftemangel im Bereich der Lehrerinnen und Lehrer wird noch einmal verschärft, wenn Lehrkräfte, die Risikogruppen angehören, im Präsenzunterricht nicht mehr eingesetzt werden können – oder wenn Lehrpersonal nicht nur den Unterricht in der Klasse, sondern zusätzlich auch noch Fernunterricht für Kinder erteilen soll, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in die Schule kommen können oder dürfen.

–Pädagogische Gründe: Bildungsforscherinnen und -forscher erwarten, dass der wochenlange Schul-Lockdown die Unterschiede beim Leistungs- und Wissensstand innerhalb der einzelnen Klassen und Lerngruppen noch vergrößert hat. Im neuen Schuljahr wird deshalb die Verringerung dieser Leistungsspreizung zu den wichtigsten pädagogisch-didaktischen Aufgaben der Lehrkräfte gehören. Doch wenn man diese Aufgabe ernst nimmt, dann werden Abstriche bei den fachlichen Anforderungen gemacht werden müssen – ein Effekt, der auch noch durch kurzfristige, regionale oder lokale Schulschließungen verstärkt werden könnte, wenn diese vor Ort durch die Corona-Pandemie notwendig werden.

–Psychologische Gründe: Durch den Unterricht zu Hause, stärker aber noch durch die generelle Corona-Ausnahmesituation haben Kinder und Jugendliche jede Menge Erfahrungen gemacht, die verarbeitet werden müssen – und Schule ist auch immer der Raum für den Austausch solcher sozialen Erlebnisse. So zu tun, als könne man nach der Wiedereröffnung oder mit Beginn eines neuen Schuljahrs einfach zur schulischen Tagesordnung übergehen – im schlimmsten Fall mit einem unangekündigten Leistungstest am ersten Schultag –, würde diese breiten psychologischen und gesellschaftlichen Erfahrungen schlicht negieren.

”Eine Rückkehr im Schulalltag zum Stand von Anfang März 2020 wird es also nicht mehr geben, von der bisherigen Normalität wird Schule in Zukunft weit entfernt sein.

Doch was heißt das konkret? 23 Fachleute – von der Schulforscherin bis zum Elternvertreter, von der Lehrkraft bis zur Bildungspolitikerin – hatten im Frühjahr 2020 innerhalb weniger Wochen im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie1 mit Ideen erstellt, wie es im neuen Schuljahr konkret weitergehen könnte. Dabei hatten die Forscherinnen und Forscher drei Szenarien entwickelt, wie guter Unterricht nach der Pandemie aussehen kann: mit Präsenzunterricht als Regelfall, mit einer Mischung aus Präsenz- und Fernunterricht oder allein mit dauerhaftem Lernen zuhause. Die Gestaltung des Fernunterrichts sei dabei «eine originäre Aufgabe» der Schule und der Lehrkräfte, heißt es in dem Papier: «Zurzeit werden wesentliche Bestandteile dieses Auftrags wie selbstverständlich weitgehend auf die Eltern und Erziehungsberechtigten übertragen.» Mit anderen Worten: Schule dürfe sich nicht länger um ordentliche Fernlernkonzepte drücken. Denn: «Die Planungen des neuen Schuljahres sollten nicht von einer Wiederkehr des gewohnten ‹schulischen Regelbetriebs› ausgehen.»

Für die Zukunft empfiehlt die Expertenkommission daher einen umfangreichen Maßnahmenkatalog mit insgesamt 18 Einzelpunkten. Dazu gehören unter anderem:

–Präsenzunterricht, so die Bildungsexpertinnen und Bildungsexperten, sei vor allem für die jüngeren Kinder wichtig. Mit steigendem Alter der Schülerinnen und Schüler sollte der Anteil des Fernunterrichts zunehmen.

–Mindestens ein persönlicher Kontakt pro Woche zwischen einer Lehrkraft und dem Schüler oder der Schülerin sei notwendig – per Telefonat, Videokonferenz oder bei einem persönlichen Treffen.

–Auch für das Lernen zuhause müsse es verbindliche Stunden- und Wochenpläne geben.

–Alle Schülerinnen und Schüler müssen mit digitalen Endgeräten ausgestattet sein. Haben sie kein eigenes Gerät, müsse die Schule ihnen ein Tablet oder einen Laptop leihen.

–«Im Schuljahr 2020/21 sollten Kürzungen in den Lehrplänen bzw. in den erwarteten Leistungszielen aller Fächer vorgenommen werden», schreiben die Expertinnen und Experten. Damit sollten Lehrerinnen und Lehrer «Freiräume für den pädagogisch-konstruktiven Umgang» mit den Folgen der Coronakrise bekommen. Auch die Zahl der Prüfungen und Klassenarbeiten sollte demnach reduziert werden.

–Auch bei der Benotung und ihren Folgen fordern die Expertinnen und Experten einen Sonderweg im kommenden Jahr: «Übergangsentscheidungen und die Vergabe von Abschlüssen sollten soweit möglich von Zensuren entkoppelt und auf das klassische Sitzenbleiben verzichtet werden», heißt es in der Studie.

Die Vorschläge erfordern, wenn sie denn konsequent umgesetzt werden, viel Mut auf Seiten der Bildungspolitik. Bei vielen Fachleuten allerdings stoßen sie auf überwiegend positive Resonanz. Denn die Corona-Krise wird von Schulakteurinnen und -akteuren auch als Chance begriffen: als Chance zum Umbau bisher verkrusteter Strukturen, als Möglichkeit zum Ausprobieren neuer Lernwege, als Anstoß zum Denken bisher ungedachter Möglichkeiten.

Die Autorinnen und Autoren, die innerhalb weniger Tage und Wochen ihre Beiträge zu diesem Sammelband erstellt haben, wollen zu diesem Umdenken ermutigen: Schule kann und darf nicht einfach wieder zurückfallen in den früheren Modus, sondern sollte den Schwung nutzen, der vielerorts gerade zu spüren ist; und sie sollte da, wo in den vergangenen Wochen und Monaten schwierige oder gar schmerzhafte Erfahrungen gemacht wurden, Lernbereitschaft zeigen und Neues wagen. Allerdings: Das eine Rezept, nach dem überall in Deutschland, der Schweiz und Österreich ab sofort der perfekte Unterricht gemacht werden kann, gibt es nicht. Die Anregungen sind so vielfältig wie die Autorinnen und Autoren, und so finden Sie in diesem Band wissenschaftliche Studien ebenso wie Essays, konkrete Handlungshinweise ebenso wie persönliche Erfahrungsberichte. Wir haben versucht, diese Vielfalt der Stile und Vorlieben so weit wie möglich beizubehalten.

Allen, die mit ihren Gedanken und Ideen dieses Buch bereichern, sind wir zu großem Dank verpflichtet – für die unkomplizierte und schnelle Zusammenarbeit, vor allem aber für die zahlreichen pädagogischen, strukturellen und politischen Anregungen, die das Buch für Sie als Leserinnen und Leser hoffentlich genauso interessant und spannend machen wie für uns als Herausgebende. Lassen Sie sich inspirieren – und nutzen Sie den Schwung für Veränderungen in Ihrer Schule und im gesamten Bildungssystem, wo sie nötig sind!

Julia Egbers, Armin Himmelrath

Cuxhaven/Köln, im Juli 2020

Gesellschaftlich-psychologische Ebene

Sozialisation in Krisenzeiten − der Lockdown offenbart die Defizite des deutschen Schulsystems

Ullrich Bauer und Klaus Hurrelmann

Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen verändern sich durch die Corona-Pandemie. Für die Mehrzahl von ihnen verschlechtern sich hierdurch die Bedingungen. Die Sozialisation in der Familie hat an Zeit und an Bedeutung gewonnen, diejenige in der Schule deutlich verloren. Die Kooperation zwischen diesen beiden wichtigen Erziehungsinstanzen erweist sich zugleich als gestört. Sowohl die Eltern als auch die Lehrerinnen und Lehrer sind auf die neuen Herausforderungen schlecht vorbereitet. Kinder und Jugendliche sind die eigentlichen Leidtragenden dieser Entwicklung.

Wie alle vorherigen legt auch die Corona-Krise Konflikte und Defizite frei, die in normalen Zeiten verborgen bleiben. Wir gehen in diesem Beitrag von der These aus, dass das auch im Bereich von Bildung und Sozialisation gilt. Wir greifen drei besonders gravierende Probleme heraus: die unsensible politische Steuerung des Bildungssystems, die mangelnde Entfaltung der digitalen Komponente des Lernens und die unzureichende Förderung von benachteiligten Schülerinnen und Schülern. Zugleich zeigen wir, wie sich aus dem Offenbarwerden dieser Probleme die Chance ergibt, überfällige Reformen anzustoßen.

1Gravierende Defizite des deutschen Schulsystems kommen ans Tageslicht

Noch gibt es sehr wenige Forschungserkenntnisse zu den Auswirkungen der mit der Corona-Pandemie einhergehenden Beeinträchtigungen des traditionellen schulischen Betriebs. Das «Deutsche Schulbarometer Spezial» (Robert Bosch Stiftung 2020), das «Schulbarometer» der Pädagogischen Hochschule Zug (Huber 2020) und die Analysen des «Forschungsverbundes Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit» (2020a und 2020b) erfassen erste Einschätzungen zu Fernunterricht und zur Wahrnehmung durch die Lehrkräfte und analysieren die Auswirkungen auf die Interaktion von Elternhaus und Schule. Alle Studien weisen auf eine große Belastung der Eltern, vor allem der Mütter hin, die durch die Schulschließungen, teilweise Neuöffnungen und die improvisierte Umstellung auf Fernunterricht entstanden sind.

Für eine sozialisationstheoretische Perspektive (Hurrelmann/Bauer 2019) sind diese Erkenntnisse zentral. Sie verweisen auf die direkte Sozialisationsrelevanz der pandemischen Bedingungen der vergangenen Monate. Sie fokussieren auf die Verarbeitungsfähigkeit junger Menschen, ihre Verwundbarkeit und die Rolle verfügbarer Ressourcen. Der sozialisationstheoretische Ansatz betrachtet zudem die Rolle der medialen Krisendarstellung, der Betroffenheit unmittelbarer Nahsysteme wie der Familie und natürlich der Erziehungs- und Bildungseinrichtungen als Sozialisationsagenturen. Die Schule ist in dieser Hinsicht intermediär. Sie stellt einen Nahraum der sozialisatorischen Interaktion dar, ist aber gleichzeitig abhängig von der Einbettung in ein Institutionengefüge der rechtlichen Regelungen, unterschiedlicher Handlungskulturen und politischer Steuerung.

In Deutschland ist das Bildungssystem im Vergleich zu anderen Ländern unterfinanziert. Auf den Spuren eines konservativen wohlfahrtsstaatlichen Modells wird der Familie eine größere Bedeutung für die Erziehung und Bildung der Kinder und Jugendlichen zugeschrieben als den öffentlichen Bildungseinrichtungen. In den zurückliegenden 20 Jahren hatte sich die Politik nur zögernd von diesen Denkgewohnheiten getrennt und unter dem Eindruck des schlechten Abschneidens bei den international vergleichenden Leistungsstudien (Baumert et al. 2002) und dem Druck der Anforderungen vieler Berufs- und Erwerbszweige die Rolle des Bildungssystems gestärkt.

In der Pandemiezeit kommt es nun zu einem Rückfall in alte Zeiten, es wird gewissermaßen ein vertrautes Muster re-aktiviert, denn es kommt zu einer Rückverlagerung von Bildungsverantwortlichkeit in die Familien. Auf diese Weise kommen viele der ungelösten Probleme ans Tageslicht.

”Es offenbart sich, wie wenig nachhaltig die Strukturreformen der Organisation des Schulsystems waren, wie sehr die digitale Modernisierung des Unterrichts verschleppt wurde und wie wenig institutionell verankert die familienunterstützende Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher bis heute ist.

1.1Die politische Steuerung des Schulsystems ist nicht bedarfsorientiert

Es ist ein wesentliches Defizit in der Debatte über Verantwortung und Steuerung, dass Akteure im Bildungsbereich keine Instrumente entwickelt haben, um Basiswissen zu der Krisensituation in den Schulen zu sammeln. Einzelbefunde auf Schulebene werden nirgendwo zusammengeführt, von der Sammlung von Ideen und dem Austausch auf Bezirks-, Schul- oder kollegialer Ebene ist kaum zu sprechen. Leuchttürme und gut funktionierende Infrastrukturen an wenigen Schulen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrheit orientierungslos ist.

Wenn Schulleitungen nicht beherzt zugreifen und nicht schon vor der Corona-Krise darin erprobt waren, solitär und kreativ Lösungen zu finden, direkte Wege zu Bezirks- und Landesregierungen oder nach innen gut organisiert Schulentwicklung zu betreiben, dann erwies sich der Lockdown durch die gesellschaftsweiten Kontaktbeschränkungen als ein Knockout für die Schulen.

Es existieren nicht wenige Berichte über Schulen, die jetzt noch in einem Lähmungszustand sind: Es sind Schulen, die nicht in der Lage sind, ihre Kollegien an den Schulen zu koordinieren, verlässliche Kommunikationsstrukturen aufzubauen, Eltern einzubinden, Unterrichtsformate zu erproben, zu entwickeln und darüber Austausch zu initiieren. Es sind Schulen, die noch immer keine E-Mail-Adressen ihrer Schülerinnen und Schüler haben und nicht einmal über einen Verteiler ihres eigenen Kollegiums verfügen. Die Missstände sind eklatant: Einige Lehrkräfte melden sich nie bei ihren Schülerinnen und Schülern, viele selten; Rückmeldungen zu Aufgaben werden nicht gegeben; Kommunikationsstrukturen sind intransparent; die Eltern wissen nicht, womit sie von Woche zu Wochen rechnen können. Es gibt Schulen, an denen weniger als fünf Prozent der Lehrkräfte digitalen Unterricht durchführen.

Trotz der jahrelangen Bemühungen um eine Erweiterung der Autonomie der Einzelschule, die in allen Bundesländern zu beobachten waren, trotz der Flexibilisierung der Verantwortungs- und Steuerungsstrukturen der Schulaufsicht ist es nicht ausreichend gelungen, eine sensible Orientierung an den Bedarfen und Bedürfnissen der Schüler und Ihrer Eltern einzuleiten. Im Gegenteil fühlt sich die Mehrzahl der Schulen überlastet und tut sich schwer, funktionsfähige Handlungsstrukturen zu etablieren, die auf die neuen Herausforderungen regieren. Es ist zu befürchten, dass die Krisenerfahrungen mit einer unberechenbaren Schulsituation unter noch mehr Eltern als bisher die Attraktivität privater Schulen erhöhen. Diesen attestieren immer mehr Familien mit Schulkindern, sie könnten flexibler auf Herausforderungen reagieren und angemessen und sensibel auf ihre Bedürfnisse eingehen.

1.2Ansätze des digitalen Lernens wurden sträflich vernachlässigt

Deutschland ist in digitaler Hinsicht konservativ. Der Bildungs- und Beschäftigungsbereich ist in hohem Maße von Anwesenheit abhängig. Der seit rund zwei Jahrzehnten erhobenen Forderung nach Digitalisierung und Modernisierung wurde in viel zu kleinen Schritten entsprochen. Für dieses eklatante Defizit werden nun die Kosten erhoben. Der Ad-hoc-Stopp hat die Schulen hart getroffen. Die Regelungen zur Kompensation des ausfallenden Unterrichts sind, wenn überhaupt, gut gemeint. Den Schulen fällt auf die Füße, dass digitale Lernformate allenfalls als Fassaden existieren. Geteilte Standards, gemeinsame Hardwarevoraussetzungen oder die Sicherheit der Erreichbarkeit sind nicht gewährleistet. Ganz zu schweigen davon, dass das Bildungssystem kaum Übung im digitalen Lehren und Lernen hat.

Das Tempo der Digitalisierung im Schulbereich ist noch nicht angezogen worden. Vor Ausbruch der Pandemie ist von den fünf Milliarden Euro des «Digitalpaktes» des Bundes und der Länder nur ein Bruchteil abgerufen worden. Schulen und Schulträger, die sich jetzt noch nicht auf den Weg gemacht haben, sind zumeist immer noch nicht aufgewacht. Das Matthäus-Prinzip könnte die bereits einsetzende Schieflage noch verstärken.

1.3Die Förderung der benachteiligten Schülerinnen und Schüler ist völlig unzureichend

Die Situation von Schülerinnen und Schülern, deren Familien die Ressourcen für den Unterricht zu Hause nicht aufbringen können, ist prekär. Sozial schlechter gestellte Gruppen drohen jetzt noch weiter abgehängt zu werden. Es ist ein Dauerdefizit im deutschen Schulsystem, dass die soziale Herkunft einen derart großen Einfluss auf den Schulerfolg hat. Es blieb auch in den 20 Jahren nach dem PISA-Schock ungelöst und wird jetzt virulent. Auszeiten und Ferien stellen für bildungsferne Gruppen kritische Zeiträume dar, weil sich der Abstand zu den bildungsnahen Gruppen erhöht. Die Sommerferien dürften in diesem Fall zu einer Potenzierung führen, weil die Monate davor bereits sehr unterschiedlich genutzt wurden: Die bildungsnahen Familien haben mehr Zeit im Home-Office verbracht und konnten die Betreuung der Kinder übernehmen. In diesen Familien ist die technische Ausstattung vorhanden, Computer, Drucker, Software und natürlich das Wissen der Eltern. Das ist in vielen Schulen stillschweigend vorausgesetzt worden. Alle Familien, die nicht über diese Voraussetzungen verfügen, sind hingegen weitgehend abgehängt.

Die Bildungsungleichheit ist damit stark angewachsen. Mangelprobleme häufen sich in Familien, die Einkommenseinbußen haben und wenig Zeit für die Betreuung der Kinder aufbringen können oder einfach nicht über das Wissen verfügen, um zu helfen. In den privilegierten Familien hingegen wird der Unterricht oft über Nachhilfestrukturen organisiert. In einigen Familien kommen Nachhilfekräfte täglich.

”Diese Situation verstärkt die ohnehin problematische Situation benachteiligter Schülerinnen und Schüler.

Über Familien mit Kindern, die einen erhöhten Förderbedarf haben, ist bis auf explorative und anekdotische Evidenz viel zu wenig bekannt (ZPI 2020). Das stellt in Verbindung mit der Debatte über Inklusion ein schulpolitisches Defizit dar, das zusätzlich zur schleppenden Inklusionsbewegung belastend wirkt. Die schlechte Förderung im Bereich Heterogenität, Diversität und Inklusion ist ein Dauerproblem im deutschen Bildungssystem, das in den vergangenen Jahren liegengeblieben ist.

Die Fragilität der Situation von Schülergruppen, die schwer erreichbar sind, in familiären Milieus mit geringer schulischer Unterstützung leben oder besondere Bedarfe haben, kumuliert jetzt. Die Ausbildungsstrukturen von Lehrkräften haben sich zwar geändert, aber das genügt noch immer nicht, um trägen Strukturen, auf denen das Schulleben aufbaut, begegnen zu können. Die Schulsteuerung macht keine ausreichenden Vorgaben, die Schulkulturen haben sich noch immer nicht zu der Belohnung von guter Förderung ändern können.

2Die Krise bietet die Chance zur Intensivierung der Reformen

Unsere Analyse zeigt: Fantasielosigkeit, Steuerungsprobleme und das Defizit im Umgang mit modernen Lern- und Kommunikationstechnologien haben schon vor der COVID-19-Pandemie bestanden. Sie sind aber durch die Krise zum einen sichtbarer, zum anderen noch virulenter geworden. Gegenmaßnahmen sind nicht nur an diesen Defiziten gescheitert, sie stellen auch postpandemisch eine wesentliche Herausforderung dar. Diese zu bewältigen, bedarf eines konzertierten Vorgehens, um alte und neue Probleme des deutschen Schulsystems unter Zeitdruck lösen zu können.

2.1Die Steuerung des Schulsystems bedarfssensibel gestalten

Es ist unübersehbar, dass unterschiedliche krisenrelevante Ebenen im Bildungssystem existieren. Hierbei zeichnet sich die oben beschriebene Situation ab, in der die ohnehin undurchsichtigen Steuerungsstrukturen nicht funktioniert haben und eine nahezu vollständige Lähmung des Schulbetriebs eingetreten ist. Noch wird in der Öffentlichkeit keine transparente Diskussion darüber geführt, aber für einen Großteil der Bevölkerung zerplatzt die Illusion einer verantwortungsvollen Schule.

Das Etikett Homeschooling ist in diesem Zusammenhang fatal. Trotz der rhetorischen Abwehr trifft es die Situation. Dagegen zeigen viele Beispiele anderer Länder, dass Fern- und digitaler Unterricht gut funktionieren können. Die sozialisationstheoretische Perspektive, auf die wir uns hier beziehen, weist auf unterschiedlichen Ebenen eines solchen Prozesses hin. Dieser verbindet die genannten Defizite mit der Aussicht auf Reformchancen.

Folgendes Szenario wäre wünschenswert: Es werden regionale und überregionale Gremien eingerichtet, in denen erfahrene Expertinnen und Experten für den gesamten Bildungsbereich zusammenarbeiten. Die Situation, die mit dem ungewollten Bildungsmoratorium der vergangenen Wochen verbunden war, wird genau analysiert und zur Grundlage der weiteren Planung.

Es wird evaluiert, wo Versorgungs- und Lernlücken entstanden sind und welche Gruppen Unterstützung benötigen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Schulstress ohne Schule entstanden ist und in allen Familien besondere Belastungen erfahren werden. Im öffentlichen Schulsystem wird darum die unflexible Delegationsbeziehung zwischen Schulträgern, Bezirksregierungen, Land und Bund unterbrochen. Kooperationen zwischen Schulen werden gestärkt, klare Vorgaben gemacht und Unterstützungsmöglichkeiten geschaffen. Die Schulträger nehmen ihre Verantwortung wahr und bringen in Bildungskonzilen die dringendsten Bedarfe in die Agenda der Kommunal-, Bezirks- und Landesverantwortlichen ein. Zentral ist, dass prozessorientiert gedacht wird und sehr spezifische Lösungen gefunden werden, die bundeslandspezifische Herausforderungen berücksichtigen, vor allem aber an regionale und schulstandortspezifische Bedarfe angepasst sind.

2.2Digitales und analoges Lernen koordinieren

Wir haben dargestellt, warum sich die Abstände zwischen den Leistungsgruppen durch die schulische Latenzphase vergrößert haben. Kurzfristige Lösungen wie die Reduzierung von Unterricht auf die Hauptfächer folgen einer fehlgeleiteten Logik des Aufholens, die die besondere psychosoziale Situation von Schülerinnen und Schülern, aber natürlich auch von Lehrkräften und Eltern zu wenig berücksichtigt. Auch Lösungen wie die der Kleingruppenarbeit sind nicht die einzige Möglichkeit, durch die jetzt neue oder kompensatorische Lernangebote geschaffen werden können.

Vielmehr sollten jetzt alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um digitales und analoges Lernen zu koordinieren und damit einen Qualitätssprung bei den Bildungsergebnissen zu erreichen. Dazu gehören Angebote des Bildungsfernsehens und die Auslagerung von Unterricht an Orte, die ausreichend physische Distanz zulassen. Starke Schulen werden als Vorbild herangezogen, Lehrkräfte nehmen Fortbildungen in Anspruch, die digitale Skills betreffen, Geräte werden zur Verfügung gestellt, für Schülerinnen und Schüler und selbstverständlich auch für Lehrkräfte.

Dass während der Krise einzelne Schulen und Lehrkräfte den digitalen Unterricht boykottierten, hatte viele unterschiedliche Gründe. Was daran schnell zu ändern ist, ist die Unklarheit, ob der Datenschutzbestimmungen und die rasche Adressierung von Lehrkräften, die auf digitale Unterrichtsformate noch nicht vorbereitet sind. Hier werden die Kollegien gemeinsam anpacken, fortbilden, nachschulen und kollegial beraten. Die Sommerpause ist noch nicht zu einer verlorenen Zeit geworden, Fortbildungen werden in dieser Zeit freiwillig, im Extremfall als Dienstaufgabe in Anspruch genommen. Viel Kredit ist verspielt worden, weil Lehrkräfte als Beamte im öffentlichen Dienst zumeist nicht betroffen sind von den Krisenauswirkungen, sich aber sehr zurückhaltend im Einsatz digitaler Medien verhalten. Diese ungünstige Situation wird durch das besondere Engagement nach Prinzipien der gemischten Lernformate jetzt bereinigt.

2.3Neue Formen der Förderung von benachteiligten Schülern erproben

Es gab schon vor der Krise exzellente Schulen, die sich auf den Weg gemacht haben und mit differenzierten Förderkonzepten arbeiten. Von diesen ist zu lernen, was in der Forschung das Prinzip des proportionalen Universalismus genannt wird und was jetzt dringlicher denn je ist: Alle Schülerinnen und Schüler erhalten zusätzliche Unterstützung, aber einige – proportional zu ihrem höheren Bedarf – erhalten sie besonders intensiv. Die Schulen schaffen die behutsame Annäherung an überlastete Familien und Milieus, machen besondere Förderangebote vor allem an solche Gruppen, die jetzt schulentwöhnt sind.

Es geht also um ein zielgruppenspezifisches Vorgehen, das alle Schulen erproben können. Kiez- und Brennpunktschulen wissen darum seit vielen Jahren, sie erhalten jetzt mehr Möglichkeiten dazu, ihre Erfahrungen weiterzugeben. An Gymnasien und Gesamtschulen erhalten Schülerinnen und Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf Möglichkeiten aufzuholen, ohne diesen Aufwand zu privatisieren. Internationale Klassen werden besonders in den Blick genommen und es wird berücksichtigt, dass die Förderung sich an Gruppen wendet, die besonderen Bedarf haben. Aus der Kommstruktur der Schule wird zumindest partiell eine Gehstruktur, um die negativen Auswirkungen gerade für benachteiligte und exkludierte Gruppen abzufedern.

Fazit

Schule in der Pandemiezeit offenbart alte und neue Herausforderungen. Dass so schnell ein Rückfall auf die Familie als Bildungsagentur erfolgt, ist ein Anachronismus und das Nachleben jahrzehntelanger schlechter Praxis. Die deutsche Bildungslandschaft ist bisher fantasielos und starrsinnig an den Herausforderungen der Corona-Krise vorbeigesegelt. Was bereits im März 2020 vorbereitet hätte werden können, liegt noch heute unerledigt in den Schubladen. Die Gefahr, dass diese unerledigten Aufgaben in die Sommerpause getragen werden, wächst immens. Impulsgeber wie die Ad-hoc-Stellungnahmen der Leopoldina sind unspezifisch und fachlich nicht ausreichend begleitet, die Entscheidungen der KMK bieten allenfalls einen rechtlichen Rahmen.

Was also tun? Dringend tätig werden, lautet der Weckruf. Kein Modell kann ein schnelles Ende der Einschränkungen voraussagen. Das Ende des Schuljahres ist erreicht, aber eine Verlängerung der Maßnahmen nicht unmöglich. Wie soll dann Lernen aussehen? Wenn hier Einzelschulen, Bezirks- und Landesbehörden nicht mit voller Geschwindigkeit tätig werden, schichten sich die Probleme weiter auf – und dies auf mehreren Ebenen. Natürlich kann eine Debatte, die gute Praxis unterstützen will, gar nicht ausreichend davor warnen, die vielen pädagogischen Fachkräfte auch noch zu kritisieren, die kreativ und professionell ihrer Tätigkeit in Krisenzeiten nachgehen. So wenig aber ein kollektives Verurteilen erfolgen darf, können Fehleranalyse und Reflexion auf die Situation der vergangenen Monate übergangen werden.

Eine systemisch orientierte Diagnose muss darum ein großflächiges Versagen der vorhandenen Strukturen auf den Punkt bringen. Auch wenn dabei Probleme zur Ausprägung kommen, die vorher schon existierten, wird die jetzige Situation dadurch nicht einfacher. Dies zeigt vielmehr, dass der Handlungsdruck nicht abnehmen wird.

”Vulnerable Gruppen sind besonders hart von den veränderten Lebensbedingungen in der Pandemiezeit betroffen.

Der psychosozialen Gesundheit korrespondieren Belastungen, die vor allem von Eltern mit Kindern empfunden werden. Das «COVID-19 Snapshot Monitoring» (COSMO 2020) zeichnet dies sehr umfangreich auf. Diese Situation muss sich dringend ändern. Von einem Krisenerleidensmodus muss zu einem Krisenbearbeitungsmodus gewechselt werden (als wichtiger Beginn hierzu FES 2020). Der Bildungsbereich ist jeder Hinsicht relevant, vor allem natürlich mit Blick auf die Lebensbedingungen von Familien, Chancenstrukturen und Lernoptionen.

Eine sozialisationstheoretische Perspektive kann diese hohe Bedeutung des Schulsektors nur bestätigen. Hierzu gehören die Lern- und Erfahrungsräume junger Menschen ebenso wie die Folgewirkungen auf andere gesellschaftliche Teilbereiche. Zieht man die Randbereiche der Elementar- und Hochschulbildung hinzu, der pädagogisch qualifizierten Fachkräfte, Erzieherinnen und Erzieher sowie der sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Berufe, sind Einrichtungen des Bildungssystems ein vitaler Mittelpunkt moderner Dienstleistungsökonomien. Dies lässt sich in sowohl quantitativer als auch qualitativer Hinsicht erkennen. Rund zwei Prozent der deutschen Erwerbsbevölkerung sind Lehrkräfte an allgemein- und berufsbildenden Schulen (also dem Schulsystem im engeren Sinne), 15 Prozent der Bevölkerung sind Lernende in diesen Einrichtungen.

Nicht nur die formale Qualifikation, sondern vor allem Wissensstrukturen, Lerntechniken und die Fähigkeiten des sicheren Bewegens in einer wissens- und technologieaffinen Gesellschaft sind heute Gegenstand schulischer Bildung. Die schweren Verwerfungen, die sich aus der Bewältigung der Corona-Pandemie ergeben haben, zeigen den Weg für dringend notwendige Reformen auf.

Literatur