Fakten und Verunsicherung -  - E-Book

Fakten und Verunsicherung E-Book

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Beschreibung

Alternative Facts, Post-Truth, Fake News – kaum etwas erregt und spaltet den öffentlichen Diskurs aktuell derart wie die Auseinandersetzungen über die Bedeutung von Fakten. Die globalen Krisen der jüngsten Zeit wie der Klimawandel, die Covid-19-Pandemie und der russische Angriffskrieg werden von einem diffusen Gefühl der Verunsicherung begleitet, das auf den prekären Status von Wahrheit, Wirklichkeit und Faktizität verweist. In Diskursen der Gegenwart stehen diese wie selten zuvor zur Debatte und verlangen nach einer Neuverhandlung. Ausgehend von diesem Befund zielt das Buch darauf, in Überschreitung der vorherrschenden binären Unterscheidung zwischen Fakten und klar davon abzugrenzenden Fiktionen oder Lügen zu einer solchen Neuordnung beizutragen. Die versammelten Essays widmen sich gesellschaftlichen Phänomenen wie Hatespeech, politischer Lüge, Propaganda, Halbwahrheiten oder Verschwörungstheorien, beschreiben historische, epistemologische und sprachtheoretische Zusammenhänge und analysieren aktuelle politische Fallbeispiele sowie kulturelle Reflexionen in Fernsehserien, Filmen und Literatur. In diesem Band begegnen sich kultur- und literaturwissenschaftliche, soziologische, literarische wie philosophische Stimmen und Perspektiven. Mit Beiträgen von Dirk Baecker, Klaus Benesch, Elisabeth Bronfen, Chiara Cappelletto, Oswald Egger, Nicola Gess und Carolin Amlinger, Jocelyn Holland, Gertrud Koch, Kathrin Röggla, Marc Rölli, Sylvia Sasse und Sandro Zanetti, Thomas Schestag, Marcus Steinweg, Peter Waterhouse und Slavoj Žižek.

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Carina Breidenbach / Ines Ghalleb /

Dominik Pensel / Katharina Simon /

Florian Telsnig / Martin Wittmann (Hg.)

Fakten und Verunsicherung

Ordnungen von Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische

Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-4055-2

eISBN (ePub) 978-3-7873-4289-1

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

INHALT

Carina Breidenbach, Ines Ghalleb, Dominik Pensel, Katharina Simon, Florian Telsnig und Martin Wittmann

Über eine doppelte VerunsicherungPositionen zur Frage nach den Fakten

Slavoj Žižek

Von Fake News zur ›Großen Lüge‹

Klaus Benesch

The Art of the LieEin Plädoyer gegen die Wahrheit

Oswald Egger

WahrmachereiWie Gewahres und Gedachtes Und-los ineinander übergehen

Elisabeth Bronfen

Die erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-DramaEine serielle Kompensation

Carolin Amlinger und Nicola Gess

Die Tücken der WahrscheinlichkeitHalbwahrheiten, Verschwörungstheorien und Ilja Trojanows Doppelte Spur

Gertrud Koch

Zwischen Fakt und Fiktion: »Madagaskar, Nisko, Theresienstadt, Auschwitz«Zu den ›Über‹lebensbedingungen in der Vernichtung in Claude Lanzmanns Film Le dernier des injustes

Kathrin Röggla

Bauernkriege

Chiara Cappelletto

Wer spricht?Wie öffentliches Sprechen zur Privatsache wird

Sylvia Sasse und Sandro Zanetti

Was man sagt, ist man selberHatespeech, Autoperformanz, performative Fakten

Peter Waterhouse

Nine-oils, Merrylegs, missing tips, garters, banners, and Ponging, eh!

Thomas Schestag

Geräuschkulissen

Jocelyn Holland

Fakten sind das, was man daraus machtZur Konstruktion von ›Faktum‹ und ›Tatsache‹ in Aufklärung und Frühromantik

Marc Rölli

Tatsachen und ihre KonstruktionÜberlegungen zu einer erkenntnistheoretischen Fragestellung

Dirk Baecker

Was ist noch mal Wirklichkeit?

Marcus Steinweg

Kunst und PhilosophieZwischen Immanenz und Transzendenz

Über die Autor*innen

Anmerkungen

Carina Breidenbach, Ines Ghalleb, Dominik Pensel, Katharina Simon, Florian Telsnig und Martin Wittmann

Über eine doppelte Verunsicherung

Positionen zur Frage nach den Fakten

Don’t be so overly dramatic about it, Chuck. What – You’re saying it’s a falsehood. And they’re giving, Sean Spicer, our press secretary, gave alternative facts to that. But the point remains –

Kellyanne Conway

Fakten stehen dieser Tage auf unsicherem Boden. Daran hat sich auch nach der Präsidentschaft Donald Trumps wenig geändert. Die Bestimmung der Beziehungen zwischen Tatsachen, Fiktion und Wahrheit in politischen, sozialen und kulturellen Kontexten erscheint mehr denn je als Herausforderung. Das Misstrauen und die Verunsicherung gegenüber medial vermittelten Inhalten, etwa in Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel bzw. zur Wirkung von Impfstoffen oder auf die Hintergründe demokratischer Entscheidungsprozesse, scheinen ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht zu haben. Mit Blick darauf wäre sowohl nach den historischen und systematischen Konstruktionsbedingungen von Faktizität als auch nach politischen und sozialen Phänomenen der Destabilisierung dieser Konstruktionen zu fragen: Welches Konzept von Faktizität steht etwa im Hintergrund von juristischen ›matters of fact‹, propositionalen Wahrheiten, Technologien des Faktencheckens oder journalistischen Reportagen? Und wie werden Vorstellungen von Faktizität durch Verschwörungstheorien, Hatespeech oder Deepfakes verunsichert? Der Band liefert hierzu die Fakten.

»It’s all part of a plot« – ›Paranoide‹ Epistemologien in Zeiten der Verunsicherung

Dass das 21. Jahrhundert spätestens mit der COVID-19-Pandemie in eine neue Blütezeit von Verschwörungstheorien und kollektiver Paranoia eingetreten ist, bestätigt einen locus communis der Forschung zum Thema Verschwörungstheorien: »Krisenzeiten sind Verschwörungszeiten«1. Um die Ursprünge und Verbreitungsmechanismen des Corona-Virus und die angemessenen Strategien zu seiner Bekämpfung rankt sich ein derartiges Maß an Halb- und Unwissen, dass die WHO gar eine COVID-19-»Mythbusters«-Website einrichtete, auf welcher unter dem Motto »Let’s flatten the infodemic curve« wissenschaftliche Fakten ins Feld geführt werden, um beispielsweise die Vorstellung zu widerlegen, das Virus könne sich über das 5G-Mobilfunknetz ausbreiten.2

Verschwörungstheorien, die aktuell wie Pilze aus dem Boden zu schießen scheinen und sich insbesondere über die sozialen Medien rasant oder gar viral verbreiten – Bill Gates als Strippenzieher hinter der Pandemie, Hillary Clinton im Zentrum eines kinderbluttrinkenden satanischen Kultes, Magnetfelder, die nach der COVID-19 Impfung an der Einstichstelle am Oberarm entstehen etc. –, tragen in ihrem Kern eine Epistemologie des Verdachts. Sie stellen die von politischen oder sozialen Autoritäten und ›Mainstream‹-Medien präsentierte ›offizielle‹ Version eines Ereigniszusammenhangs und die zur Belegung dieser autorisierten Version herangezogenen Fakten in Frage und bieten alternative Erklärungsnarrative an. Ihre beispiellose aktuelle Konjunktur reflektiert die Ausbreitung immer radikalerer Zweifel an der Möglichkeit der Objektivität von Fakten und eine Vertiefung des kollektiven Misstrauens in diejenigen etablierten politischen, sozialen und medialen Institutionen, welche Fakten ›machen‹ und verbreiten – eine Entwicklung, welche sich auch in dem Aufkommen solcher Buzzwords wie ›Alternative Facts‹, ›Post-Truth‹ und ›Fake News‹ niederschlägt. Zur Charakterisierung dieser zunehmenden kollektiven Verunsicherung wird immer wieder der aus der Psychopathologie stammende Begriff der Paranoia herangezogen. So erklärten beispielsweise Daniel und Jason Freeman 2008 die Paranoia zur spezifischen »21st-century fear« und Markus Schulte von Drach fragte 2010 in der Süddeutschen Zeitung: »Werden wir alle paranoid?«3

Der in die Kulturwissenschaften importierte Paranoia-Begriff bezeichnet in seinem ursprünglichen psychopathologischen Kontext Krankheitsbilder, die sich u. a. durch Verfolgungswahn, krankhaftes Misstrauen und exzessive Ich-Bezogenheit auszeichnen.4 Er eignet sich zur Beschreibung der Verunsicherung des Faktischen, welche die aktuelle soziopolitische Situation kennzeichnet, deshalb so gut, weil es in der Paranoia – von gr. para (gegen, neben) + nous (Verstand), also wörtlich einer entgleisenden, fehlgehenden Vernunft – zu jener Verschränkung von Epistemologie und Affektivität kommt, die für politische und gesellschaftliche Diskurse der Gegenwart so kennzeichnend ist. Politische Akteur*innen wie Trump machen sich die kollektive Verunsicherung zunutze, indem sie gezielt an die negativen Emotionen ihrer Wähler*innen – meist Angst und Wut – appellieren und zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen vermeintliche ›alternative Fakten‹ verbreiten, die oft weder mit der vorhandenen wissenschaftlichen Evidenz noch mit so etwas wie dem ›gesunden Menschenverstand‹ vereinbar sind, jedoch bestimmte affektive Bedürfnisse befriedigen. Zwar scheint es evident, dass diejenigen, die trotz steigender Todeszahlen die Realität des Corona-Virus immer noch anzweifeln, sich in ihren Urteilen und Glaubensinhalten von den eigenen Affekten leiten lassen (vgl. dazu z. B. den Beitrag von Slavoj Žižek in diesem Band). Wie Eve Kosofsky Sedgwick in einem Aufsatz mit dem Untertitel »You are so paranoid, you probably think this essay is about you« bemerkte, neigen paranoide Epistemologien jedoch oft dazu, ihre negative affektive Grundierung in Gefühlen wie Angst und Demütigung zu verschleiern und sich als emotional unvoreingenommene, rein intellektuell motivierte Suche nach der Wahrheit, als »the stuff of truth«5 auszugeben.

Einen der frühesten und einflussreichsten Importe des Paranoia-Begriffs in den kulturwissenschaftlichen Diskurs nahm Richard Hofstadter 1964 in seinem Essay »The Paranoid Style in American Politics« vor, in dem er – »borrowing a clinical term for other purposes«6 – als jenen titelgebenden »paranoid style« eine Art von manipulativer politischer Rhetorik beschrieb, die von »heated exaggeration, suspiciousness, and conspiratorial fantasy«7 geprägt sei. Dass Hofstadters Charakterisierung des paranoiden Stils unlängst herangezogen wurde, um die fragwürdige Rhetorik Trumps zu beschreiben, ist wenig überraschend.8 Die Tatsache, dass Hofstadter ausgerechnet den aus der Psychopathologie stammenden Paranoia-Begriff unverkennbar abwertend als Kampfbegriff gegen bestimmte politische und ideologische Gruppierungen ins Feld führte (insbesondere gegen das zeitgenössische rechtsgerichtete Lager innerhalb der Republican Party), ist ein Beispiel für eine Art von Exklusionsdynamik, die eine Attribuierung von Verschwörungsdenken und Paranoia – ein Krankheitsbild, das in der Psychopathologie ja nicht zuletzt mit der Vorstellung einer Errichtung von ganzen »Wahnsystemen« aus falschen Glaubensinhalten verbunden ist9 – einsetzt, um (z. B. politische) Positionen, die mit der eigenen nicht konform sind, zu pathologisieren und den eigenen Standpunkt gleichsam als ›normal‹ zu legitimieren.

Aus einer kritischen wissenssoziologischen Perspektive heraus beschreibt Oliver Kuhn die »Einschätzung von Thesen über Geheimhandlungen als ›Verschwörungstheorien‹ als einen Akt […] einer Stigmatisierung von Wissen als Para-Wissen«10, an dem sich zeigt, dass »jede Wissensproduktion zugleich die Repression und Marginalisierung unlauterer Behauptungen beziehungsweise eine Markierung von Grenzfällen erfordert«11. Wer andere als paranoid ›diagnostiziert‹ – sei es auch im übertragenen, Hofstadter’schen Sinn – oder als Verschwörungstheoretiker*innen ›entlarvt‹, spricht sich selbst die Deutungshoheit über sie zu, positioniert sich ihnen gegenüber in einer vermeintlich nicht-paranoiden Beobachtungsposition und markiert damit vor der Kontrastfolie des verzerrten, paranoiden Blicks auf die Dinge die eigenen Überzeugungen als konform mit der Wahrheit und der Wirklichkeit. Eine Stigmatisierung abweichender Perspektiven als paranoid trägt jedoch oft auch selbst wiederum paranoide Züge – Paranoia, so arbeitet Sedgwick es heraus, ist »reflexiv und mimetisch«12: Um paranoides Denken zu verstehen, muss man dieses nachahmen und anfangen, selbst paranoid zu denken. Paranoia ist für Sedgwick in diesem Sinne »ansteckend« (contagious)13 und breitet sich lawinenartig aus – oder, um Sedgwicks eigenes eindrückliches Bild zu verwenden: sie wächst »like a crystal in a hypersaturated solution, blotting out any sense of the possibility of alternative ways to understand«14.

Einer pejorativen, exkludierenden Verwendung gegenüber setzen neuere kulturwissenschaftliche Arbeiten wie Patrick O’Donnells Latent Destinies (2000) den Paranoia-Begriff in einem breiteren, analytischeren Sinn zur Diagnose eines spezifisch postmodernen epistemologischen Modus ein: Laut O’Donnell bildet sich als ›Symptom‹ der Postmoderne – im Lyotard’schen Sinne verstanden als Zeitalter, in dem eine beruhigende und absichernde Sinnstiftung durch jegliche Formen von grand récits unmöglich geworden ist – ein kollektiver paranoider Welterschließungsmechanismus aus, der identitätsstiftend wirkt und Unsicherheiten und Ängste kompensiert, indem er die als unüberschaubar und unerträglich empfundene Kontingenz der postmodernen Realität in schicksalhafte Bestimmtheit, Chaos in Ordnung umdeutet.15 »[T]he paranoid mind«, so bemerkte auch Hofstadter, »is far more coherent than the real world.«16 Im Moment dieser kontingenzverleugnenden17, im Kern narrativierenden Form der Wirklichkeitsbewältigung, die hinter der manifesten Oberfläche der Dinge eine latente Sinndimension aufzudecken versucht, überlappen sich Paranoia und Verschwörungsdenken. Erscheinen Verschwörungstheorien auf den ersten Blick als Momente der Verunsicherung, die die Vorstellung einer als stabil angenommenen gemeinsamen Realität ins Wanken bringen, erfüllen sie paradoxerweise ein Bedürfnis nach sinnstiftender Versicherung in unsicheren Zeiten: Die Attraktivität von Verschwörungstheorien liegt laut Dieter Groh gerade darin, dass sie eine Möglichkeit bieten, »dissonante Wahrnehmungen« und »Komplexität drastisch zu reduzieren« und damit »Gruppen oder Einzelne, die unter ›Stress‹ geraten, vom Druck der Realität […] zu entlasten«.18 Den Glauben an Verschwörungstheorien als harmloses Mittel zur Reduktion von kognitivem Stress einzuschätzen griffe jedoch zu kurz, denn im Hintergrund vieler scheinbar fantastischer Verschwörungsnarrative stehen allzu reale sozio-ökonomische Krisenzustände von Machtlosigkeit, Entfremdung, Ausweglosigkeit und Angst vor Deklassierung. Schon Hofstadter bemerkte, dass das paranoide Verschwörungsdenken gerade in denjenigen Bevölkerungsgruppen besonders verbreitet sei, die sich enteignet (»dispossessed«), benachteiligt und von den Machteliten ausgegrenzt fühlen.19 Dass Verschwörungstheorien das Potenzial haben, zu einer Gefährdung für die Demokratie zu werden20, liegt daran, dass sie oft an einige der wirkmächtigsten menschlichen Affekte appellieren: Angst, Wut und Demütigung.

Karl Popper, der den Begriff der »Verschwörungstheorie« (conspiracy theory) 1945 in The Open Society and Its Enemies prägte, beschrieb als Grundannahme einer sogenannten »Verschwörungstheorie der Gesellschaft«, dass die Erklärung für ein bedeutsames politisches oder kulturelles Ereignis in »dem Aufweis der Menschen oder Gruppen besteht, die am Eintreten dieses Phänomens ein Interesse haben […] und die zum Zwecke seiner Herbeiführung Pläne gemacht und konspiriert haben«21. Der Denkfehler im Zentrum dieses dem Verschwörungsdenken verhafteten Erklärungsmodells besteht laut Popper in einer Überbewertung menschlicher Handlungsmacht: Wer glaubt, dass der Gang der Geschichte verstehbar ist als Resultat der Intentionen und Handlungen der Mächtigen, der nimmt implizit an, dass menschliches Wollen und Handeln die Welt auf logische, gut kalkulierbare Weise zu formen vermag, und verkennt damit die Komplexität und Unberechenbarkeit des sozialen Lebens, das laut Popper »Handeln in einem mehr oder weniger elastischen Rahmen von Institutionen und Traditionen ist und […] zu vielen unvorhergesehenen Rückwirkungen innerhalb dieses Rahmens führt«22. Dass im digitalen Zeitalter, in welchem Informationen oder vermeintliche Nachrichten, deren Autor*innenschaft und Ursprung oft nicht rekonstruierbar sind, viral verbreitet werden und oft schwerwiegende soziale und politische Folgen nach sich ziehen, das Maß der ›Unvorhersehbarkeit‹ von Wirkungen und ›Rückwirkungen‹ eigener und fremder Handlungen exponentiell zunimmt, liegt auf der Hand. Die wachsende Beliebtheit von Verschwörungstheorien, welche einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte liefern, lässt sich als Reaktion auf eine von der steigenden Komplexität der sozialen Realität gestiftete Verunsicherung deuten. Tat Popper Verschwörungstheorien noch als säkularisierte Form religiösen Aberglaubens23 ab, die dem Erkenntnisziel der Sozialwissenschaften diametral gegenüberstehe24, nahmen spätere philosophische Diskussionen des Themas, wie diejenige Brian Keeleys – der mit seinem Aufsatz »Of Conspiracy Theories« eine umfassende Debatte über diesen bis dahin von der Philosophie eher stiefmütterlich behandelten Gegenstand auslöste25 –, diese als Reaktionen auf bestimmte affektive und soziale Bedürfnisse ernst und stellten sich die Frage, welche Erkenntnisse die philosophische Analyse von Verschwörungstheorien darüber liefern kann, wie Menschen sich in ihrer soziokulturellen, politischen und historischen Umwelt orientieren. Keeley zufolge steht dem ›tröstlichen‹ Verschwörungsdenken am anderen Ende des Spektrums von Weltzugangsmodi eine Sicht der Welt als so irrational, unkontrollierbar und absurd gegenüber, wie sie in den Dramen von Beckett oder Ionesco erscheint26. Timothy Melley stellt ins Zentrum seiner Analyse der »Culture of Paranoia in Postwar America« den Begriff der »agency panic«27: Die kollektive Paranoia im Amerika der Nachkriegszeit entsteht laut Melley aus dem in technisierten, kapitalistischen ›postmodernen‹ Gesellschaften um sich greifenden Verlust des Vertrauens in ein humanistisches Menschenbild, das den Menschen als selbstbestimmtes, handlungsfähiges Individuum konzipiert hatte. Statt als solches erscheint der Mensch nun als handlungsunfähiger Spielball ungreifbarer politischer, sozialer und ökonomischer Mächte:

By agency panic, I mean intense anxiety about an apparent loss of autonomy or self-control – the conviction that one’s actions are being controlled by someone else, that one has been ›constructed‹ by powerful external agents.28

Die paranoide »agency panic«, deren Manifestationen Melley in literarischen Texten wie Joseph Hellers Catch 22 oder Don DeLillos Libra untersucht, versteht er als »an attempt to conserve the integrity of the liberal, rational self«29 in Reaktion auf den wahrgenommenen Verlust individueller menschlicher Handlungsfähigkeit (agency). Verschwörungsnarrative verwandeln undurchsichtige, entmenschlicht wirkende, kontingente Ereigniszusammenhänge in Geschichten mit menschlichen Akteur*innen zurück. Der ›Deutungswahn‹ der Paranoia ist also im Hinblick auf die menschliche Selbstversicherung als handlungsfähiges Subjekt auch ein ›Bedeutungswahn‹.

Ist die Angst vor destabilisierend wirkender Kontingenz eine der treibenden affektiven Kräfte im Ursprung von Verschwörungsdenken und paranoiden Weltzugangsmodi, so ist einer der zentralen Mechanismen zu ihrer Bewältigung der Versuch der Kontingenzverweigerung durch das Ersinnen von oft intrikaten, teils absurd weit hergeholt wirkenden Erklärungsnarrativen, die das Chaos einer kontingenten Umwelt in eine sinnhafte, kohärente Struktur überführen, indem sie auch zufällig wirkende Details als Teil eines großangelegten Plans, als Element einer Geschichte offenlegen. »It’s all part of a plot« lautet die zentrale Erkenntnis in Thomas Pynchons The Crying of Lot 49 (1965)30, einem der paradigmatischen Paranoia-Romane der Postmoderne, der nicht nur auf selbstreflexive Weise die Gemachtheit literarischer Texte ausstellt, sondern auch die Frage nach der Erkennbarkeit der Realität bzw. der Wissbarkeit von Wahrheit problematisiert und das obsessiv-paranoide Lesen von Zeichen, eine Art hyperaktiv werdende hermeneutische Aktivität – nicht zuletzt wurde die Paranoia auch als délire d’interpretation,31 also als ›Interpretationsdelirium‹ beschrieben – als Form einer postmodernen Epistemologie vorführt. An der Doppelbedeutung des plot-Begriffs als narrative Struktur eines literarischen Textes einerseits und als Verschwörung andererseits lässt sich diskutieren, wie narrative literarische Texte sich als – teils affirmative, teils kritische, teils gebrochene – Reflexionen eines anthropologischen Grundbedürfnisses nach einer ordnenden, orientierungsstiftenden Strukturierung von Welt- und Selbsterfahrung lesen lassen und wie sich umgekehrt in politisch-epistemischen Haltungen und politischer Rhetorik Strukturen erkennen lassen, die den Verfahren literarischer Textproduktion ähnlich sind.

Peter Brooks, einer der einschlägigsten Theoretiker*innen des plots unter den Narratolog*innen, beschrieb den plot als etwas, das nicht nur in der sprachlichen Struktur des Textes zu verorten ist, sondern auch auf der Seite der Leser*innen, als »an activity, a structuring operation elicited in the reader trying to make sense of those meanings that develop only through textual and temporal succession«32. In Don DeLillos White Noise (1985), einem weiteren Paranoia-Roman der Postmoderne, der das Thema Todesangst anhand eines Verseuchungsszenarios durch ein »toxic airborne event« durchspielt und damit in Zeiten der Pandemie an neuer Aktualität gewonnen hat, wird die Orientierungs- und Sinnstiftungsfunktion der plotting-Aktivität folgendermaßen beschrieben:

We start our lives in chaos, in babble. As we surge up into the world, we try to devise a shape, a plan. There is dignity in this. Your whole life is a plot, a scheme, a diagram. It is a failed scheme, but that is not the point. To plot is to affirm life, to seek shape and control.33

Der plot, der einen »sensemaking process« in uns animiert, ist für Brooks also im Kern eine Form des Begehrens (a form of desire)34 nach Bedeutung, und auch die plots im Zentrum aktueller Verschwörungstheorien, welche teils ›stranger than fiction‹ zu sein scheinen, lassen sich lesen als Ausdruck eines Begehrens nach Bedeutung in einer Atmosphäre, in der eine kollektive epistemologische Verunsicherung zum Faktum geworden ist und Fakten zunehmend zum Gegenstand von Verunsicherungen werden.

Zu diesem Band

Verunsicherung tritt in der vorangegangenen Diskussion von Verschwörungstheorien in zwei Gestalten auf: einerseits als Affekt, verstanden im Sinne Brian Massumis als eine präindividuelle, kollektive ›Stimmung‹35, die sich gegenwärtig in Spielarten der Eskalation wie Wut, Verdrängung oder Paranoia ausdrücken kann, andererseits aber auch als eine Unsicherheit und Uneindeutigkeit, die Fakten und Faktizität immer schon immanent ist.

Mit einer Problematisierung dieser Verunsicherung und ihrer Relation zu den Fakten stehen immer auch Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit auf dem Spiel, Begriffe, die einander überlappen, bisweilen ineinsfallen, sich sowohl opponieren als auch ergänzen können. Diese Beziehungen werden in so unterschiedlichen Feldern wie öffentlicher Rede, politischen Ausdrucksformen, medialen Repräsentationen oder künstlerischen sowie philosophischen Reflektionen bzw. Refraktionen von Realität verhandelt. Auf diese Heterogenität der Felder und Komplexität der Beziehungen reagiert der Band damit, dass er einem breiten Spektrum an Perspektiven und Zugriffen Raum gibt, wobei die Pluralität der Sachbezüge eine Pluralität der Verfahren einfordert. Während die Beiträge zum einen aktuelle politische und gesellschaftliche Diskurse und Ereignisse mit literarischen, kulturellen und philosophischen Problemstellungen verflechten und kurzschließen, variieren bzw. changieren sie zum anderen zwischen essayistischen, akademischen und literarischen Schreibweisen. Literatur als Form und Denkmodus wird als Produktion von Theorie verstanden, die gleichwertig neben philosophischer Reflexion und kulturwissenschaftlicher Analyse steht.

Um die Frage stellen zu können, worum es in der allgegenwärtigen Rede von ›Alternative Facts‹, ›Post-Truth‹ oder dem ›postfaktischen Zeitalter‹ eigentlich geht, ist es grundlegend, die Frage nach den Fakten neu und differenziert aufzuwerfen. Bei aller Aktualität bleibt zudem zu fragen, inwiefern es sich hierbei um ein neues gesellschaftliches Phänomen handelt, das u. a. durch die wachsende Bedeutung digitaler Technologien hervorgebracht wurde, bzw. inwiefern dieses als Fortsetzung einer sehr alten Diskussion in einem neuen medialen Kontext beschrieben werden kann. Anspruch und Aufgabe des Bandes ist es, zum Verständnis und zur Reflexion gegenwärtiger historischer Entwicklungen und gesellschaftlicher Debatten und ihrer Gegenstände insoweit beizutragen, als die dort angesprochenen Fragen auch in grundlegendere Fragestellungen übersetzt werden.

Am Anfang stehen Beiträge, die sich mit Diskursen der Lüge und der Produktion neuer Wahrheiten auseinandersetzen und expliziter als in den darauffolgenden Teilen des Bandes verhandeln, was mit aktuellen politischen und sozialen Fragen auf dem Spiel steht. Im Anschluss daran setzt eine Diskussion narrativer und fiktionaler Reflexionen von Wahrheit und Illusion ein, die den Kern der folgenden Beiträge bildet. Dies wird insbesondere mit einer medien- und metareflexiven Auseinandersetzung mit Bildlichkeit bzw. Darstellbarkeit zwischen Visuellem und Sprache verbunden. Die daran anschließenden Beiträge fokussieren auf Funktionsweisen von Sprache und Rede sowie die Formen der Störung, die innerhalb dieser auftreten können. Allgemeiner geht es zudem um die Abwege, auf die Sprache und Rede immer auch geraten. Während manche dieser Beiträge sich stärker auf das Diskutieren und Streiten im Kontext rhetorisch verfasster Diskurse konzentrieren, wird in anderen das Rauschen der Sprache selbst hörbar gemacht. Abschließend reflektiert der Band aus ontologischer und erkenntnistheoretischer Perspektive Konstruktionen der Wirklichkeit.

Die den Beiträgen vorangestellten Reflexionen geben den Blick auf dieses Feld frei, indem sie sich konstellativ dem Thema nähern und dabei disparate Schlaglichter auf Fakten und ihre Verunsicherung im Problemkomplex von Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit werfen. In Anbetracht der Debatten, die auch zum jetzigen Zeitpunkt noch unabgeschlossen sind, kann es nicht darum gehen, Begriffe systematisch zu klären und Probleme abschließend aufzuarbeiten, vielmehr sollen heterogene Positionen in den jeweiligen Unterkapiteln in einer je eigenen Stimme vorgestellt werden und als Impuls für weitere Diskussionen wirken.

Die Unterkapitel zu Beginn nehmen sich jene Verunsicherung zum Ausgangspunkt, die sich in den letzten Jahren in zahlreichen Affekte hervorrufenden, irritierenden oder destabilisierenden Ereignissen (wie der ›Explosion‹ an Verschwörungstheorien, dem Sturm auf das US-Kapitol oder dem Medienskandal um Claas Relotius) manifestiert. Sie betrachten diese im Kontext größerer sozialer und politischer sowie technologischer und medialer Entwicklungen und skizzieren mit den Überlegungen zur Rolle der Fiktion Ansätze zur Diskussion einer epistemologischen Verunsicherung. Die folgenden Abschnitte reflektieren das epistemologische Problem der Faktizität aus historischer und philosophischer Perspektive: die konzeptuelle Widersprüchlichkeit von Faktizität, ihre notwendige, aber notwendig prekäre Abgrenzung vom Nichtfaktischen, die Unklarheit darüber, auf welche Bezugselemente diese Konzeption überhaupt anwendbar ist. Diese Abschnitte problematisieren Modelle und Entwürfe, die versuchen, Tatsachen bzw. Fakten zu bestimmen, um in Orientierung an einem Objektivitätsanspruch ein juristisches Urteil bilden oder in sprachanalytischen Urteilen Wissenschaft betreiben zu können. Sie beleuchten die Schwierigkeiten, Kriterien zur Herstellung von Fakten zu finden, und verhandeln anhand von Theorien, die sich mit den symbolischen Dimensionen von Faktizität beschäftigen, die Differenz zwischen einer empirisch wahren und einer kulturell bedeutsamen Welt. In diesem Problemzusammenhang wird zudem der Effekt theoretischer Bewegungen der Umstellung von Begriffsordnungen im Umkreis von Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit, insbesondere der Neubewertung negativ konnotierter Begriffe wie Ideologie, Irrtum und Illusion auf Vorstellungen von Wahrnehmung untersucht. Im letzten Abschnitt kehrt die Reflexion zur Frage der Medialität zurück und arbeitet anhand der Beziehung von Bildlichkeit und Literatur an der Entkoppelung der Zuordnungen eines Gefüges, das die Oppositionen von Wahrheit und Lüge sowie Fakt und Fiktion miteinander und mit unterschiedlichen Funktionsweisen der Referenzialität zur Deckung bringt.

Wie postfaktische Diskurse und Deepfakes die Wirklichkeit verändern – Gefahren für Gesellschaft und Demokratie

Noch lange nach ihrem Aufkommen mit der Amtseinführung Donald Trumps als 45. US-Präsident im Jahr 2017 nimmt die Debatte über Fakten und Fake News in den Vereinigten Statten zunehmend beunruhigendere Ausmaße an. Der Begriff der alternative facts wurde zunächst vornehmlich als ein Angriff auf Faktizität und den Journalismus betrachtet, entwickelte sich jedoch im Laufe der Zeit zum Schlagwort für einen umfassenderen Angriff auf drei wichtige Säulen der amerikanischen Gesellschaft: Wissenschaft, Diversität und Demokratie. Die spezifische Form von Performativität, die die postfaktischen Diskurse in der Politik der Gegenwart auszeichnet, ist eng an bestimmte technologische Plattformen, soziale Medien und technische Werkzeuge wie die künstliche Intelligenz gebunden. So ermöglichen Fakes sowohl komplexe als auch antagonistische Reaktionen im virtuellen und realen Raum. Der Performativitätsbegriff wird hier nicht im engeren sprechakttheoretischen Sinn, sondern in einer breiteren, kulturwissenschaftlichen Bedeutung verwendet, um die Wirksamkeit von Sprache in den außersprachlichen Raum hinein zu beschreiben, welche sich in den hier diskutierten Kontexten dahingehend manifestiert, dass sprachliche Äußerungen, die im Internet zirkulieren, handfeste Reaktionen in der ›wirklichen Welt‹ außerhalb des Cyberspace nach sich ziehen. Die Gegenwartspolitik und das gesellschaftliche Leben in den Vereinigten Staaten von Amerika sind geprägt von einer wechselseitigen Abhängigkeit und Dynamik zwischen politischen Aussagen (zum Beispiel als Teil von Wahlkampfreden) und den Reaktionen auf diese im virtuellen Raum (soziale Medien, Onlineplattformen, private Internetseiten etc.). Im Einzelfall kann diese Dynamik zu politischen und sozialen Bewegungen führen oder gar Wut auslösen und zu Gewalt anstiften. In der Post-Truth-Ära, in der wir uns angeblich befinden, sind wir dazu angehalten, kritisch zu beobachten, wie ›alternative Fakten‹ und Deepfakes im virtuellen Raum technologiebasiert funktionieren und wie sie aus dem virtuellen Raum hinaus auch in die analoge Außenwelt übertragen werden. In diesem Kontext ist es wichtig, die sozialen Bewegungen, die Fakes und Hass fördern, im Blick zu behalten und die bisherigen Strategien im Kampf gegen den Abbau von Faktizität und Offenheit zu überdenken. Die Rhetorik der Fakes fordert uns dazu auf, der Performativität politischer Aussagen und ihrem demokratiefeindlichen Potenzial wachsamer gegenüberzutreten. Die Erstürmung des US-Kapitols im Januar 2021 als Kulmination der Konsequenzen von Fakes hat deutlich gemacht, dass wirksame Maßnahmen nötig sind, um die Errungenschaften der Demokratie zu schützen.

Während der Präsidentschaft Donald Trumps wurde die öffentliche Meinung polarisiert zwischen kompletter Ablehnung und uneingeschränkter Unterstützung. Wahrheit und Lügen sind nicht nur das, was die Politiker*innen ›daraus machen‹, sondern auch das, was die Wähler*innen ›daraus machen‹. Genau das verkompliziert die politische Debatte und erschwert die Bestimmung der Kriterien für ein erfolgreiches Staatsoberhaupt. In ihrem Aufsatz »Politicians Lie, so do I« untersuchen Jérémy Celse und Kirk Chang die Möglichkeit eines »prime-triggered lying«.36 Sie erklären, »dass Prime ein unbewusster und impliziter Gedächtniseffekt ist, wobei die Präsenz eines bestimmten Stimulus die Reaktion auf einen anderen beeinflusst« (CC 1312). Während frühere Studien sich darauf konzentrierten, dass Lügen ein bewusstes Verhalten sei, das auf persönlichen Interessen basiert und intentional ist, wenden Celse und Chang im Gegensatz dazu in ihrer Studie die Prime-Theorie an, um zu untersuchen, »ob Menschen, die Politiker*innen als Lügner wahrnehmen, wahrscheinlich selbst lügen«, was eine Verbindung zwischen ›Politician-Priming‹ (Prime verursacht durch Politiker*innen) und dem Lügen durch eine Reiz-Reaktions-Wirkung belegt (CC 1312). Celse und Chang argumentieren, dass Politiker*innen-Priming derzeit Anlass zur Sorge gebe, da mehrere Staatsoberhäupter unter Korruptionsverdacht stehen und des Lügens bezichtigt werden, weshalb sie auch mit einem zunehmenden Misstrauen seitens der Bevölkerung konfrontiert sind (CC 1313). Nach Celse und Chang rationalisieren lügende Politiker*innen ihr Verhalten auf Grundlage des Allgemeinwohls (z. B. mit Verweis auf die nationale Sicherheit). Dieser Rationalisierungsakt gebe einen Spielraum für die Lüge. »Politicians lie so can I« (Politiker*innen lügen, also darf ich es auch), wie die Autoren es ausdrücken (CC 1314). In ihrer Analyse stellt dieser Sachverhalt eine Verbindung her, durch die Politiker*innen die Menschen aufgrund des Priming-Effekts zum Lügen bringen (CC 1314). Daher ist eine bewusste Politik notwendig, um den Auswirkungen des Politiker*innen-Primings entgegenzuwirken. Obwohl eine solche Theorie nützlich ist, hat sie auch ihre Grenzen, da sie ein nicht ausreichend komplexes Verständnis menschlichen Verhaltens und kognitiver Prozesse sowie der Sprechakttheorie reproduzieren könnte (vgl. Sasse und Zanetti in diesem Band).

Es ist schwierig, einen (bewussten oder unbewussten) Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Fake News und Hatespeech und dem Aufstieg der Alt-Right- und White-Supremacy-Gruppen eindeutig zu bestätigen, auch wenn diese Entwicklungen am 6. Januar 2021 in der Erstürmung des US-Kapitols durch Trumps Unterstützer*innen kulminierten. Dennoch setzte dieser Angriff ein längst überfälliges Warnsignal, zumal das US-Kapitol ein Wahrzeichen der demokratischen Machtübergabe sowie der Demokratie selbst ist. Mit anderen Worten: Die Anfechtung der Wahlergebnisse und die Bezeichnung dieser als Fake durch den damaligen Präsidenten stiftete laut einiger politischer Analyst*innen extreme Rechte und Verschwörungstheoretiker*innen zu Aggressionen an.37 Politiker*innen weltweit, darunter Joe R. Biden Jr., verurteilten den Angriff auf das US-Kapitol als terroristischen Akt und als eine Bedrohung der Demokratie.38 Solche öffentlichen Aussagen, die ebenfalls über Medienkanäle verbreitet und in akademischen Kreisen diskutiert werden, könnten insofern bedeutungsvoll sein, als die bewusste Offenlegung und Verurteilung von Aggression, Lügen- und Hassdiskursen als eine bewusste Intervention wirken und damit den Priming-Effekt möglicherweise begrenzen könnte.

Für Kayla Keener diente die Rhetorik der ›alternativen Fakten‹ der Alt-Right-Bewegung und Verschwörungstheoretiker*innen zur Verbreitung von Hass und Populismus im Netz via Twitter und Fake-News-Plattformen und in Folge auch als Zündstoff für Taten in der analogen Welt.39 Sie hält die »Legitimierung« von Fakes anstelle faktenbasierter Nachrichten, gemeinsam mit der »Mobilisierung von Affekten« durch populistische Diskurse, für verantwortlich für Eskalationen wie Pizzagate.40 Keener folgert, dass »Angst, Hass und Paranoia« extremistische Handlungen und Vorurteile auf der Grundlage einer »futurity of facticity« (einer Zukünftigkeit der Faktizität) rechtfertigen, in der die Quelle der Angst wahr geworden sein könnte.41 Die Performativität postfaktischer Politik vermischt sich daher mit diskriminierenden Diskursen, die aus nationalistischen Gefühlen hervorgehen. Diese Vermischung rechtfertigt für viele Rechtspopulist*innen eine Politik sowie entsprechende konkrete politische Maßnahmen, die demokratischen Idealen abträglich sind.

Laut Paolo Gerbaudo kündigte der Aufstieg des Rechtspopulismus einen Wendepunkt oder wenigstens einen Übergang in der Gegenwartspolitik an.42 Der Logik von Antonio Gramsci folgend, »the old is dying, and the new cannot be born«, betont Gerbaudo, dass die populistische Ära – die neue Ordnung – den Zusammenbruch der neoliberalen Epoche markiert (G 46). Populismus kennzeichnet für Gerbaudo eine im Entstehen begriffene Epoche der zeitgenössischen Politik, in der der Ruf nach »popular sovereignty« (›Volkssouveränität‹) nicht nur bei rechtsextremen Gruppen in den USA, Großbritannien und Italien laut wird, sondern auch bei linken Gruppen während Occupy Wall Street, dem Arabischen Frühling und den spanischen Indignados (G 49). Er betont, dass der Neoliberalismus, der das System des staatlich regulierten Marktes und das der staatlich regulierten Wirtschaft ablehnte und stattdessen ein Modell von Freihandel, Unternehmertum und Wettbewerb anbot, als eine Reaktion auf den Sozialismus entstand (G 52). Außerdem geht Gerbaudo davon aus, dass der Populismus sich der neoliberalen Modalität widersetzt, in welcher der populistischen Sicht zufolge der »Nationalstaat jeglicher substanzieller sozialer Ziele beraubt ist und sich alles nur noch um die effektive Teilnahme aller Nationen an einem wettbewerbsorientierten globalen Markt dreht« (G 52). Eine Rhetorik, die sich der Souveränität verschreibt, dient daher als populistischer Aufruf zugunsten des Nationalen und Autonomen anstatt der globalen und vernetzten Welt (G 52). Gerbaudo bemerkt:

Where neoliberalism proposes the image of a globalized world, with no borders and no barriers, populism revolves around the assertion of territory and nation, and strong political communities founded within these discrete and bordered spaces. In short, populism attempts to recuperate the very principle by means of which neoliberalism initially launched its attack on socialism: popular sovereignty. (G 54)

Wie Gerbaudo beobachtet, streben tatsächlich sowohl die Linken als auch die Rechten nach mehr Selbstbestimmung, sie weichen dabei aber hinsichtlich ihrer jeweiligen Lösungsstrategien diametral voneinander ab. So hätte sich laut ihm die Linke in den neoliberalen Prinzipien verloren und müsse sich wieder stärker um die Beseitigung sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten bemühen (G 54). Gleichzeitig kommen in der Erstürmung des Kapitols durch Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker*innen eine extremistische Vorstellung der »Volkssouveränität« sowie ein suprematistischer »Territorialanspruch« zum Ausdruck – Tendenzen, die weit davon entfernt sind, die soziale, nationale und wirtschaftliche Stabilität zu schützen, und stattdessen Demokratie, Diversität und die nationale Sicherheit gefährden. Gerbaudo bemerkt, dass der Exzess an offenen Systemen (Neoliberale Ökonomie, Politik und Handel) es den Rechten leichtgemacht habe, agoraphobische und fremdenfeindliche Gefühle zu fördern, die eine Vorstufe eines isolationistischen Nationalismus bilden, der »die Anderen« ablehnt (G 55 f.). Ein solcher verknüpft wirtschaftlichen und nationalen Protektionismus mit der Einziehung starrer Grenzen und dem Erlass von Verboten zum Nachteil gesellschaftlicher Minderheiten. Gerbaudo fordert die linke Souveränität als Lösung, da er diese für fortschrittlich hält, sie sich der Demokratie verschrieben habe und eher auf kapitalistische Institutionen und Korruption als auf »Ausländer*innen und Geflüchtete« reagiere (G 56). Er hält die Souveränität jedoch für eine Waffe, die vorerst in den Händen der Rechten liegt, die die zeitgenössische Politik dominieren (G 57). Gerbaudos Analyse weist auf eine Krise innerhalb der politischen Systeme selber hin. Und obwohl seiner Ansicht nach die eine Form des Populismus (die der Linken) der anderen (der der Rechten) vorzuziehen ist, kann man auch argumentieren, dass es doch von entscheidender Bedeutung ist, alle Formen von Souveränität und Populismus zu revidieren und zu verstehen, worin ihre jeweiligen Gefahren liegen. Das gilt insbesondere dann, wenn sie darauf abzielen, die persönliche Freiheit, demokratische Werte, Menschenrechte und globale Beziehungen zu beeinträchtigen.

Im virtuellen Spektrum können insbesondere die sozialen Medien genutzt werden, um etwa in diktatorischen Ländern (u. a. während des Arabischen Frühlings) unter Zensur stehende Informationen zu teilen und zu verbreiten. Andererseits nutzen aber beispielsweise auch US-Politiker*innen soziale Medien für sich, um persönliche Daten zu sammeln und auszuwerten und so die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Aufgrund von Onlineplattformen haben sich zeitgenössische Medien, Berichterstattung und Userinteraktion in dieser Hinsicht wechselseitig weiterentwickelt, so dass sich die eminent politische Frage stellt, ob soziale Medien wie etwa Facebook die Beiträge von Politiker*innen durch Faktenchecks überprüfen sollten, um die Verbreitung viraler Lügen zu verhindern. Doch die Überprüfung von Fakten ist ein komplexer und komplizierter Prozess, denn laut Global News nutzt Facebook dazu Drittunternehmen. So hat David Klepper betont, dass eines dieser Unternehmen, Check Your Facts, selbst nicht etwa unabhängig ist, sondern zu der konservativen Nachrichtenagentur The Daily Caller gehört.43 Schon dieser Fall deutet an, dass die Kontrolle von Social-Media-Inhalten höchst prekär ist, denn es stellt sich unweigerlich die Frage, wer kontrolliert, wer das Recht dazu hat und welche politischen oder geschäftlichen Interessen diesen Beteiligungen zugrunde liegen. Obwohl fact-checking zunächst einmal darauf abzielt, Lügen zu entdecken und zu entlarven, besteht also zugleich auch die Gefahr, dass es selbst zur Verbreitung voreingenommener Meinungen bzw. Urteile, zu Manipulationen oder gar zu einer Form von Zensur führt und dadurch den ersten Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika gefährdet. Im Oktober 201944 verteidigte Mark Zuckerberg die Vorgehensweise seines Unternehmens, Beiträge von Politiker*innen nicht zu löschen, indem er argumentierte, es sei dringender, Inhalte zu entfernen, die zu Gewalt aufrufen oder demokratische Prozesse untergraben, als politische Werbeanzeigen zu löschen, die Falschbehauptungen oder Lügen verbreiten, um so das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht zu beschränken.45 Seiner Ansicht nach sei es das Beste, Wähler*innen selbst zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden zu lassen.46 Vertreter*innen der Demokratischen Partei hingegen werteten diese Zurückhaltung Zuckerbergs als eine Form der Unterstützung für Trump,47 da sie befürchteten, der Verzicht auf Faktenchecks könnte Trump eine Plattform bieten, Millionen von Bürger*innen mit falschen, andere Politiker*innen angreifenden Behauptungen zu beeinflussen.48 Zwar ist diese Praxis der politischen Auseinandersetzung keinesfalls neu und war in Fernsehen und Rundfunk bereits seit Jahrzehnten üblich, wie etwa Craig Timberg in der Washington Post erinnert,49 sie gewinnt allerdings durch die neuen bzw. die sozialen Medien eine neue Dimension, welche die Debatte verändert.

Während Fake News im politischen Diskurs instrumentalisiert werden und auf das Verhalten der Anhänger*innen populistischer Politiker*innen Einfluss nehmen, werden sogenannte Deepfakes zu den »Superwaffen der postfaktischen Ära«, wie es Nauel Semaan ausdrückt.50 Deepfakes, also »hyper-realistische KI-generierte Videos mit Reaktionen oder Äußerungen von Personen, die diese selber niemals tätigten«, können die Demokratie und die innere Sicherheit unterminieren, indem sie es Bürger*innen und Behörden erschweren, zwischen authentischen und nicht authentischen Inhalten zu unterscheiden.51 Die Erstellung von Deepfakes beruht auf hochentwickelter Technologie, wie z. B. dem Austausch von Gesichtern (Face Swap), der Lippensynchronisation (Lip Sync) oder dem »Puppenspiel« realer Personen (Puppet Master).52 Im Fall der Puppenspieler*innen wird, wie Hany Farid und Hans-Jakob Schindler erklären, die »Zielperson […] von einem/-r Darsteller/-in, der/die vor einer Kamera sitzt, animiert (Kopf- und Augenbewegungen, Mimik)«.53 Die Bedrohung der Deepfakes liegt laut Farid in ihrer »Einführung […] in ein Ökosystem, das bereits Fake News, Sensationsnachrichten und Verschwörungstheorien fördert«54. Farid, Shruti Agarwal und Schindler betonen ebenfalls die Gefährdung der Demokratie durch Deepfakes und leiten daraus die Notwendigkeit einer Modernisierung digitaler Werkzeuge ab, die zu ihrer Entlarvung dienen. Agarwal und Farid entwickeln solche Werkzeuge mit der Software OpenFace2, die es erlaubt, Fake-Videos zu ermitteln.55 Sie legten dazu eine Datenbank von mimischen Ausdrucksweisen und Kopfbewegungen von Politiker*innen an, aus denen anschließend korrelierende »soft-biometric«-Modelle ihrer idiosynkratischen Bewegungsmuster entwickelt werden.56 Beispielsweise wurden Videoaufnahmen von Hillary Clinton, Barack Obama, Bernie Sanders, Donald Trump und Elizabeth Warren durch OpenFace2 verarbeitet und bestimmte mimische Merkmale, »wie hochgezogene Augenbrauen, gerunzelte Nasen, Kieferbewegungen und zusammengepresste Lippen«, durch die Software identifiziert.57 Weitere Herausforderungen sind die ›Demokratisierung‹ von Deepfakes durch ihre freie Zugänglichkeit und durch die hohe Geschwindigkeit ihrer technologischen Verbesserung und Verfeinerung, denen gegenüber die Werkzeuge zu ihrer Aufdeckung immer im Hintertreffen sind. Ein weiterer Problemfaktor besteht laut Farid und Schindler in dem Umstand, dass der überwältigende tägliche und stündliche Strom von Uploads ins Internet unmöglich zu kontrollieren sei: »Facebook beispielsweise verzeichnet täglich etwa eine Milliarde Uploads und jede Minute werden auf YouTube etwa 500 Stunden Video hochgeladen.«58 Selbst die am höchsten entwickelten Werkzeuge (»High-Level-Ansätze«), die maschinelles Lernen einsetzen, um ausgeklügelte Deepfakes zu ermitteln, entpuppen sich einem solchen Übermaß an Daten gegenüber als unzureichend effizient. Deshalb empfehlen Farid und Schindler, diesem Feld der digitalen Forensik mehr Aufmerksamkeit zu widmen, und weisen auf die Notwendigkeit technologischer Weiterentwicklungen in diesem Bereich hin. Dabei betonen sie jedoch, dass Beeinträchtigungen persönlicher Freiheiten verhindert werden sollten.59

Im Bereich der Kunst stellen Fakes, die von klassischen Kunstfälschungen unterschieden werden können, eine ästhetische Methode dar (vgl. Klaus Benesch in diesem Band). Deepfakes wurden zuerst in Filmen als ein Spezialeffekt für realistisch wirkende Szenen eingesetzt, so etwa in Forrest Gump aus dem Jahr 1994, wo der Protagonist in kunstvoll manipulierten Fernsehaufnahmen dem Präsidenten John F. Kennedy die Hand schüttelt.60 Die Blüte des Genres der Dokufiktion ist eine weitere Reaktion auf die Politik der ›alternativen Fakten‹ seit 2016. Der britische Film Death to 2020 ist dabei ein prominentes Beispiel; eine geistreiche Satire darüber, wie das titelgebende Jahr zu einem Symbol miteinander verstrickter Ereignisse in aller Welt, aber vor allem in den USA wurde, vom Klimawandel bis zur Pandemie, von den US-Wahlkampagnen bis zur Black-Lives-Matter-Bewegung.61 Der Film kombiniert dokumentarische Elemente (wie Augenzeug*innenberichte, Interviews, spezifische Daten und Orte, tatsächliche Ereignisse, Medienberichte, Filmmaterial und ein reportageähnliches Voice-Over) mit fiktiven Elementen und Charakteren. Er durchdringt reale Geschehnisse mit Fakes und formuliert so eine harsche Kritik der politischen und sozialen Verhältnisse im Lichte einer ›Fake-News-Kultur‹. Durch eine hyperbolische Darstellung von Desinformation und der affektgesteuerten Meinungsbildung nimmt Death to 2020 eine sarkastische Haltung zu den Ereignissen des Jahres ein. Die Auswirkungen von Fake News auf Gesellschaft, Demokratie und Diversität werden so in satirischer Zuspitzung erfasst.

Diese Satire des gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Lebens lenkt die Aufmerksamkeit erneut auf die Sorge um die Performativität postfaktischer Diskurse, das Lügen politischer Akteur*innen, den Abbau von Fakten und den extremistischen Populismus, die allesamt zu einer Unterdrückung ›der Anderen‹ führen und die Demokratie untergraben. Fake News und Deepfakes können dabei einerseits politische Waffen oder andererseits ästhetische Kunstgriffe sein. Die ausgeklügelten Technologien, durch die sie entstehen, machen die postfaktischen Diskurse dabei nur noch komplizierter.

Fake News, ›Lügenpresse‹ und die ›Kunst‹ der Reportage – Claas Relotius und die Krise des Journalismus

Eskalationen politischer Polarisierung stellen in Begleitung von Transformationen der Medienlandschaft durch neue Technologien aber nicht nur die politischen Institutionen vor neue Herausforderungen, sie bringen zudem den klassischen Journalismus – insbesondere in seiner klassischsten medialen Erscheinungsform, der Presse – als Instanz der Wahrheitsproduktion in eine prekäre Position. Diese Prekarität äußert sich einerseits in Form externer Bedrohungen, etwa durch die ökonomische Konkurrenz zu Onlinemedien oder durch aus politischen Bewegungen und Parteien kommende Vorwürfe ideologischer Voreingenommenheit bis hin zu Zensurbestrebungen. Sie affiziert andererseits aber auch den Journalismus in seinen internen Mechanismen der Ermittlung und Verifikation von Tatsachen. Beleg für diese innere epistemologische Krise des Journalismus ist nicht zuletzt der Grad von Erschütterung, den Fälschungsskandale, die es in der Geschichte des Journalismus eigentlich immer wieder gegeben hat, in jüngster Zeit im journalistischen Betrieb auslösen.

Bereits zu Beginn des Jahrtausends sorgte die Entlarvung der gefälschten Prominenteninterviews, die Tom Kummer u. a. im SZ - Magazin veröffentlichte, für einiges Aufsehen und für Diskussionen über die Bedeutung postmoderner Vorstellungen von Erfindung und Konstruktion für das journalistische Schreiben. Im Dezember 2018 schließlich wurde im deutschen Journalismus ein Fälschungsskandal aufgedeckt, der das Selbstverständnis des klassischen Journalismus als Instanz der Wahrheitsproduktion und demokratische Kontrollinstanz ebenso erschütterte, wie er seine Abgrenzung von populistischer Meinungsmache sowie übers Internet verbreiteter Scheininformation infrage stellte. Der Journalist Claas Relotius hatte zahlreiche Texte, die meisten davon im Auftrag des Spiegel geschriebene Reportagen, auf der Grundlage falscher – verzerrter, übertriebener, häufig frei erfundener – Informationen publiziert. Im Juli 2021 äußerte sich Relotius in einem langen Interview mit dem Schweizer Magazin Reportagen erstmals öffentlich über den von ihm verursachten Skandal. Relotius zeichnet in diesem Gespräch das Selbstporträt eines an Realitätsverlust leidenden jungen Mannes, der mit exzessivem Schreiben psychotische Krisen abzuwehren oder zu bewältigen sucht.62 Er trat damit auch der Darstellung seines ehemaligen Spiegel-Kollegen Juan Moreno, dem entscheidenden Akteur bei der Aufdeckung des Skandals und daher einer Art Gegenfigur von Relotius, entgegen. Moreno hatte Relotius in seinem Bestseller Tausend Zeilen Lüge als primär karriereorientierten Hochstapler beschrieben, der strukturelle Schwachstellen im journalistischen Betrieb strategisch ausgenutzt habe.63 Interessanter und aufschlussreicher als die Figur Relotius und die Frage nach seinen Intentionen und Motivationen ist jedoch die Diskussion darüber, wie seine Fälschungen nicht nur jahrelang unentdeckt bleiben konnten, sondern zudem geradezu sensationell erfolgreich waren.64 Diese Diskussion wurde insbesondere von politischen, medienpolitischen sowie genrestilistischen und fiktionstheoretischen Fragestellungen geprägt.

Moreno verortet eine der Ursachen für die Popularität der gefälschten Reportagen in ihrer Fähigkeit, sich stereotypen Wirklichkeitsbildern der Leser*innenschaft anzuschmiegen:

Relotius hat Sehnsüchte bedient, hat das Menschliche, das Verunsicherte in uns angesprochen. Viele wollten glauben, was er schrieb, denn es war, was seine Leser glaubten. Er beschützte sie vor der Wahrheit. […] Ein Relotius-Text machte einen nicht schlauer, er gab einem aber das Gefühl, bereits schlau zu sein. Hatte da doch jemand in mühevoller Arbeit genau das zusammengetragen, was man schon immer ahnte.65

Die Leser*innen, die sich derart täuschen ließen, waren dabei nicht nur Käufer*innen und Abonnent*innen eines Magazins, sondern auch die Mitglieder von Redaktionen und Preisjurys. Journalistische Professionalität und Erfahrung immunisierte diese offenbar nicht dagegen, die Bestätigung eigener (womöglich uneingestandener) Vorurteile mit Erkenntnisgewinn zu verwechseln. Morenos Beschreibung des Wirkmechanismus von Relotius’ Texten erscheint dabei fast wie ein Echo von Hannah Arendts Überlegungen zur Rolle von Lügen in der Politik, die sie 1971 anlässlich der Veröffentlichung der sog. ›Pentagon Papers‹ anstellte: »Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wirklichkeit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht.«66 Während jedoch die in den ›Pentagon-Papers‹ öffentlich gemachte systematische Täuschung der Öffentlichkeit ›nur‹ einen weiteren Beleg lieferte für einen den Bevölkerungen westlicher Demokratien vollkommen bewussten Widerspruch zwischen der öffentlichen Image-Politik ihrer Regierungen und deren militärischer und geheimdienstlicher ›Realpolitik‹, liegt die Brisanz der Relotius-Affäre auch darin, dass sich mit dem Journalismus eine vermeintliche Korrekturinstanz dem Vorwurf aussetzt, selbst als Produktionsstätte politischer Lügen zu fungieren. Den Vertreter*innen politisch rechter Organisationen wurde Relotius nach Aufdeckung der Affäre zum Paradigma der ›Lügenpresse‹, die Informationen systematisch zugunsten einer vermeintlich links-liberalen Medienagenda verfälsche. Allerdings gleichen die Texte Relotius’, anstatt eine konstante politische Ausrichtung erkennen zu lassen, ihre ideologischen Akzente offenbar ihrem jeweiligen Publikationskontext an, warten sie im konservativen Cicero mit ebenso wenig Skrupeln mit fantastischen Zahlen über Blutfehden in Albanien67 auf, wie sie im Spiegel Berichte über Trump-Anhänger*innen mit den etablierten Klischeebildern schießwütiger Hinterwäldler dekorieren.

Der Relotiusskandal lässt sich ebenso als ironischer Kommentar auf alle Versuche des klassischen Journalismus lesen, sein Selbstverständnis als Quelle seriöser Information von einer Abgrenzung zur vor Fake News strotzenden digitalen Sphäre abzuleiten. Denn gerade die Differenz und Distanz zwischen gedruckten und digitalen Medien nutzte Relotius aus, indem er seine Artikel aus im Internet gefundenen Versatzstücken zusammenfügte, gleichzeitig aber auf einer ausschließlichen Veröffentlichung im Print-Bereich beharrte und so eine Überprüfung mit digitalen Kontrollwerkzeugen erschwerte. Das ›Phänomen Relotius‹ lässt sich also mit gleicher Berechtigung als Symptom unzureichender Anpassung des klassischen Journalismus an das digitale Zeitalter beschreiben, wie als Symptom dieses Zeitalters selbst.68

Der 2019 veröffentlichte Abschlussbericht der vom Spiegel eingesetzten Aufklärungskommission weist schließlich darauf hin, dass die »Erzählweise« der »Reportage« sich »aus dem Werkzeugkasten des Films, der Comics und der Literatur, also der Fiktion« bediene, was das »Problem und die Grenzen dieser Methodik für Journalismus sehr deutlich« mache, denn »[s]prachliche Ausschmückung von Szenen oder die Illumination von Orten, Verhältnissen, Gedanken und Beziehungen verwischen die Grenze zur Literatur«.69 In dieser Beschreibung klingen Argumentationsmuster aus früheren Grenzkonflikten zwischen Literatur und Journalismus nach, wie etwa die inzwischen sogar als Broadway-Theaterstück inszenierte Auseinandersetzung zwischen dem Faktenchecker Jim Fingal und dem Autor John D’Agota über dessen Essay »What Happens There«, in dem der Verfasser niemals nur »Journalismus produzieren« wollte und die »ausgebreiteten Fakten […] nicht einfach nur als bloße ›Fakten‹ fungieren«, sondern vielmehr literarisch eine tiefere »Bedeutung« vermitteln sollten.70 Insofern bildete der ›Fall Relotius‹ auch Anlass zu einer spezifischeren Debatte über den epistemischen Status der journalistischen Gattung der Reportage und deren gefährliche Affinität zu den Erzählstrategien literarischer Fiktion. Dabei reichte das Meinungsspektrum der Debattenbeiträge von dezidierter Ablehnung eines Storytelling im Journalismus71 über die Verteidigung der guten Reportage gegen den Vorwurf der Literarizität72 bis zu dem Argument, dass Relotius’ Reportagen gerade Qualitäten guter literarischer Texte, wie das Zulassen von Ambiguität und das Sichtbarmachen von Erzählperspektiven, auffällig fehlten,73 sie also eher nicht literarisch genug seien. Die plausibelste Auflösung dieser Kontroverse scheint aus einer Kombination der zweiten und der dritten Position zu bestehen: (Gute) Reportagen erreichen durch ihren Wirklichkeitsbezug und ihre Orientierung an ethischen Maßstäben zu gewissenhafter journalistischer Darstellung, was (gute) literarische Texte mit genuin literarischen Strategien auslösen. Beide geben einer Faszination an Komplexität und Uneindeutigkeit Raum, die gerade dadurch besonders fesselnd ist, dass sie sich nicht trennscharf von emotional unbefriedigenden Zuständen der Beunruhigung und Orientierungslosigkeit unterscheiden lässt.

Zur Geschichte der Tatsachen und ihrer Feststellbarkeit

Stellt man all diese berechtigte Kritik einmal beiseite, so scheint die Kontroverse um Claas Relotius sowie die Problematik des Faktencheckens von Fake News oder ›Alternative Facts‹ – sei es bei Facebook, der Tagesschau oder der Washington Post – mit einem Faktenverständnis einherzugehen, das zwischen den Polen der binären Opposition von ›wahr‹ und ›falsch‹ nur wenig Spielraum lässt. Dem scheint v. a. die sich im 19. Jahrhundert gemeinsam mit der – sich zunehmend als Welt- und Wirklichkeitserklärungsinstanz definierenden – (objektiven) Naturwissenschaft durchsetzende Annahme zugrunde zu liegen, dass »rohe Facta der Sinnenwelt«74 sich unmittelbar und unbeeinflusst beobachten ließen, also mit den erfahrungsmäßig gegebenen Phänomenen in eins gesetzt werden könnten und als solche »per definitionem wahr« seien75. So konnten bspw. die englischsprachigen Herausgeber der Werke Francis Bacons im 19. Jahrhundert die ›res‹, also die Dinge (der Außenwelt), ohne Umstände als ›facts‹ übersetzen,76 und so entwickelte sich ein vulgärer – der philosophischen Strömung des Positivismus keinesfalls gerecht werdender – ›positivistischer‹ Tatsachenbegriff, der – in den kritischen Worten Friedrich Nietzsches – durch ein »Stehenbleiben- Wollen vor dem Tatsächlichen, dem factum brutum« charakterisiert sei77 und der das heutige Verständnis der ›hard facts‹ oder des ›Bodens der Tatsachen‹ vorbereitete. Wo genau dieser ›Boden‹ – wenn es denn nur einen gibt – verlassen wird und wo die Lüge, die Fake News oder die ›Alternative Facts‹ beginnen, lässt sich aber keinesfalls so sicher markieren, wie es in diesem vulgärpositivistischen Verständnis bisweilen den Anschein macht. Genaugenommen war dies zu keinem Zeitpunkt der Fall: Die nun schon mehrfach ausgemachte doppelte Verunsicherung steht nicht nur ganz zu Beginn des Diskurses der Faktizität, sondern begleitet ihn seither auch bis heute. Es lohnt sich also, spätestens an dieser Stelle einen Schritt zurückzutreten und sich der Geschichte der Tatsachen und ihrer Feststellbarkeit zu widmen.

Dabei ist zunächst festzuhalten, dass wir im Deutschen nicht nur von ›Fakten‹, sondern auch von ›Tatsachen‹ sprechen. Ein Blick ins Wörterbuch lehrt, dass beide weitgehend synonym verwendet wurden und werden. Während sich ›Fakt‹ aber etymologisch bis ins Lateinische – auf ›factum‹ (›Tat‹, ›Ereignis‹) – zurückführen lässt, hat »das Wörtlein Tatsache« eine deutlich jüngere Geschichte78: Gotthold Ephraim Lessing bspw. wusste sich Ende des 18. Jahrhunderts »der Zeit noch ganz wohl zu erinnern, da es noch in Niemands Munde war«, und doch hat es »in kurzer Zeit ein so gewaltiges Glück gemacht […], daß man in gewissen Schriften kein Blatt umschlagen kann, ohne auf eine Tatsache zu stoßen«.79 Dieses junge ›Wörtlein‹ kapert also gewissermaßen den Faktendiskurs und bestimmt dessen Stoßrichtung und fortan das, was man als ›Fakt‹ oder ›Tatsache‹ versteht. Erstmals 1756 als Übersetzung der englischen ›matters of fact‹ durch Johann Jacob Spalding ins Deutsche gelangt, meint die »Thatsache (Res facti)« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwas, das »wir in der Erfahrung«, »wirklich« und »gegenwärtig[]« – und wie es im Original heißt: »independent on this or that speculation« – »wahrnehmen«.80 Sie bezeichnet so um 1800 eine »Handlung oder That«, die »als Sache für sich, als eine bestehende, fortdauernde Sache […] von allen Seiten betrachtet und beurtheilt werden kann«.81 Es geht also um eine epistemologische Kategorie der ›Wahrnehmung‹ oder ›Betrachtung‹ einer ›Handlung oder Tat‹ als ›Sache für sich‹, die aus ›Spekulationen‹, aus Kontexten, Meinungen oder Interpretationen herausgelöst ist und so einen möglichst sicheren Boden bereiten soll für eine unverfälschte und unbeeinflusste ›Beurteilung‹ dessen, was der Fall ist.

Wie die Rede von der ›Beurteilung‹ andeutet, war sich auch das 18. Jahrhundert bereits darüber im Klaren, dass die ›Tatsache‹ aus dem englischsprachigen juristischen Diskurs ins Deutsche gelangt war. Genaugenommen lässt sich die Genese der ›matters of fact‹ im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert verorten und damit in einer Zeit, die einerseits geprägt war durch geographische, wissenschaftliche und philosophische Umbrüche und andererseits durch Reformation und Gegenreformation, gesellschaftliche Polarisierung und kriegerische Auseinandersetzungen. Das Konzept der Tatsache entsteht so in einer Welt der tiefen sozialen, politischen, religiösen und epistemologischen Verunsicherung, in der sich – befeuert durch die medientechnologische Revolution des Buchdrucks – eine zunehmende Auflösung traditioneller Gewissheiten zu vollziehen scheint. Je weniger aber gewiss war, was als ›wahr‹ und ›wirklich‹ anerkannt werden konnte, desto größer wurde die Notwendigkeit einer Methode, mit der sich auch jenseits absoluter Gewissheiten feststellen lassen könnte, was der Fall ist. Descartes philosophischer Zweifel aus dem Discours de la méthode (1637) lässt sich vor diesem Hintergrund verstehen, zum Modellraum wird um 1600 aber vor allem der Gerichtshof, der sich von Haus aus mit dem Problem konfrontiert sieht, über ungewisse, noch nicht gesicherte Sachverhalte möglichst unbeeinflusst urteilen zu müssen82 (vgl. auch Jocelyn Holland in diesem Band). In erneuerndem Rückgriff auf die römische Rechtsregel Da mihi factum, dabo tibi ius (Gib’ mir die Fakten, ich gebe dir das Recht) entwickelte das britische Common Law dazu ein Verfahren, das in einer Strategie der strukturellen Herauslösung und personellen Trennung der Tatsachen (matters of fact) von den Rechtssachen (matters of law) bestand: Erst wenn eine mit unparteiischen Laien besetzte Geschworenen-Jury die strittigen ›Tat-Sachen‹ durch spezifische Prozeduren und unabhängig von der Urteilsbildung festgestellt hatte, wurde ein Fall der Rechtssprechung und also der juristischen Interpretation durch (professionelle) Richter übergeben. Auf diese Weise sollte die Feststellung der Tatsachen, und nichts als der Tatsachen, möglichst ›neutral‹, jenseits individueller Meinungen, Schlussfolgerungen oder Interpretationen erfolgen, um Wahrheit und Wirklichkeit am ehesten entsprechen zu können.

Dieses juristische Verfahren machte in der Folge bald Schule. Die epistemologische Kategorie der Tatsache wurde nach und nach u. a. in die Historiographie und Theologie, ins Nachrichtenwesen und die Kameralistik sowie – infolge Francis Bacons – insbesondere in die zunehmend empirisch, auf ›natürliche Tatsachen‹ ausgerichtete Naturphilosophie bzw. -geschichte übertragen. Diese Disziplinen griffen nicht nur Verfahrenstechniken wie Detailbeobachtung oder (experimentelle) Überprüfung von Zeugnissen auf, sondern übernahmen in Gelehrtengesellschaften wie der Leopoldina, den Pariser Académies oder der Royal Society of London auch die kollektive Entscheidungsfindung. Sie bildeten im – engeren – Sinne Ludwik Flecks ein »Denkkollektiv« als »Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen«83, und nahmen so im Feld der Wissenschaft die Systemstelle der Geschworenenjury ein (zur Konstruktion wissenschaftlicher Fakten in Kollektiven siehe auch Marc Rölli in diesem Band).

Dass aber selbst derart gewonnene Tatsachenwahrheiten keine Gewissheiten sind und es die Geschworenen oder Gelehrten als »Richter der Tatsache« also nur mit »Glaubwürdigkeit« und »Wahrscheinlichkeit« zu tun haben konnten, war auch den Gelehrten des 17. Jahrhunderts von Matthew Hale über Francis Bacon oder Gottfried Wilhelm Leibniz bis zu Émilie du Châtelet bewusst.84 Besonders deutlich macht dies John Locke, der das »Konzept der Tatsache« (Shapiro) verallgemeinerte und damit entscheidend dazu beitrug, dass es im 18. Jahrhundert zu allgemeiner Bekanntheit und alltagskultureller Relevanz gelangte. Eine »Tatsache« (matter of fact), so schreibt er in seinem epistemologischen Klassiker An Essay Concerning Humane Understanding (1689), sei »der Wahrnehmung zugänglich« und könne »darum auch von Menschen bezeugt werden« (L 353).85 Da »[u]nser Wissen« aber »ein sehr beschränktes« ist, sei es nur selten möglich, »sichere Wahrheiten aufzufinden«, so dass auch in Bezug auf Tatsachen »keine Gewißheit« bestünde, »sondern nur einige Anlässe, diese […] für wahr zu halten« (L 344f.). Daher habe man es nicht mit »Wirklichkeit« oder »Wahrheit«, sondern nur mit einem »Schein der Wahrheit« zu tun, an die man sich aber annähern könne, indem möglichst viele »Gründe der Wahrscheinlichkeit« zusammenkommen (L 345). Beeinflusst von dem zeitgenössischen juridischen Diskurs bringt Locke damit die Rationalitätsform eines modernen, noch vormathematischen Wahrscheinlichkeitskonzepts ins Spiel,86 das die undifferenzierte Unterscheidung zwischen (absoluter) Gewissheit und Nicht-Wissen durch »Grade und Ursachen der Wahrscheinlichkeit« ersetzt, von denen »manche […] so nahe an Gewissheit [grenzen], daß gar kein Zweifel an ihnen in uns erregt wird« (L 344). Penibel listet er daher in den Kapiteln »Über die Wahrscheinlichkeit« (Of Probability) und »Über die Grade der Zustimmung« (Of the Degrees of Assent) die für Tatsachenfeststellungen allgemein relevanten Kriterien der »Wahrscheinlichkeit« auf: Eine »Einzelheit, die mit der ständigen Beobachtung, die wir und andere in ähnlichen Fällen machen, im Einklang steht« (L 353), könne »je nach der Zahl und Glaubwürdigkeit der Erzähler, je nach ihrem geringeren Interesse an wahrheitswidrigen Aussagen auf mehr oder weniger Glauben rechnen« und so »in sich selbst mehr oder weniger wahrscheinlich« sein (L 346f.). Eine Tatsache (matter of fact) lässt sich demnach anhand von mindestens vier Kriterien fest- und also herstellen: 1) Abgleich mit der eigenen empirischen Erfahrung, 2) intersubjektive Überprüfung durch das Kollektiv der ›Richter der Tatsache‹ sowie durch die Pluralität der Zeugnisse, 3) extrinsische »Glaubwürdigkeit« der Zeug*innen sowie 4) intrinsische »Wahrscheinlichkeit der Sache« (L 343).87

Über Fakten als Tatsachen lässt sich mithin festhalten: Fakt ist nicht, was alternativlos der Wirklichkeit und Wahrheit entspricht. Fakt ist, was eine möglichst große Zahl bestimmter als urteilsfähig oder glaubwürdig angesehener Menschen aufgrund einer möglichst großen Zahl an bestimmten Zeugnissen für möglichst wahrscheinlich und also für wahr und wirklich hält. Die Frage nach der Wahrheit wandelt sich so in der Moderne zu einer Frage nach der Wahrscheinlichkeit, in deren Namen der Bezug auf Wirklichkeit immer neu verhandelt wird (zu Wirklichkeitskonstruktionen in diesem Zusammenhang vgl. auch Dirk Baecker in diesem Band). Unter Rückgriff auf die von Hans Blumenberg entwickelten Wirklichkeitsbegriffe ließe sich daher sagen, dass die ›Wirklichkeit‹ der Tatsachen weder ›evident‹ noch ›garantiert‹ ist, sondern »Resultat« der »Realisierung eines in sich stimmigen Kontextes« und damit »Bestätigungswert der in der Intersubjektivität sich vollziehenden Erfahrung«88. Sie ist wahrscheinliches Ergebnis eines empirischen und kollektiven – potenziell unabschließbaren – Beglaubigungsprozesses.

Zu den festgestellten Fakten und der faktischen Realität kann es also durchaus Alternativen geben, wenn sich die kollektiven Spielregeln der Wahrscheinlichkeit ändern: Im Hinblick auf Lockes vier Kriterien könnte man etwa an eine unterschiedliche Gewichtung der extrinsischen (3) gegenüber der intrinsischen Wahrscheinlichkeit (4) denken, so dass bspw. das ›Image‹ oder das ›Wahr-Sprechen‹ bzw. der ›Wahr-Schein‹ von ›authentisch‹ Sprechenden wichtiger wird als der Wahrheits- und Wirklichkeitsbezug der strittigen Sache (vgl. hierzu Elisabeth Bronfen sowie Chiara Cappelletto in diesem Band). Dafür ließen sich unzählige Beispiele von Niccolò Machiavelli als frühem Strategen der politischen Lüge und des Images bis zu den »Lügen Trumps« nennen, die man bisweilen als »›ehrlicher‹ als die ›hochgestochenen Pseudowahrheiten‹ seiner Konkurrentin Clinton« bezeichnet hat.89 Darüber hinaus hat Locke selbst darauf hingewiesen, dass bspw. der »König von Siam« etwas als unwahr(scheinlich) und also als Lüge entlarven könnte, was einem ihn besuchenden europäischen Gesandten als unverrückbare (wissenschaftliche) Wahrheit gilt (L 346 f.), da unterschiedliche regionale oder kulturelle Erfahrungshorizonte die Faktizität der Fakten maßgeblich beeinflussen, insofern diese an der eigenen empirischen Erfahrung ausgerichtet ist (1). Dass auch diese Erfahrung selbst zum Problem werden kann, wird im Folgenden noch eine größere Rolle spielen. Zunächst einmal ist aber wichtig, dass nicht nur die Quantität der Erfahrung, der Urteilenden, der Zeugnisse oder Zeug*innen (2), sondern auch und gerade ihre Qualität entscheidend ist. In diesem Sinne greifen u. a. soziale Inklusions- und Exklusionsverfahren bzw. politische Sichtbarkeitsregime deutlich ins Spiel der Fakten ein: Wer oder was für glaubwürdig bzw. wahrscheinlich erklärt wird – so lässt sich mit Blick auf den historischen Tatsachen-Diskurs des 17. Jahrhunderts sagen –, hängt wesentlich von sozialen Kategorien wie Geschlecht, gesellschaftlichem oder ökonomischem Status, Religion oder Bildungsgrad ab, so dass etwa Frauen ebenso wie niedere Angestellte vor Gericht als besonders unglaubwürdig galten, als Geschworene überhaupt nicht und nur selten als Akademiemitglied infrage kamen und so aus dem Prozess der Konstituierung der Tatsachen weitestgehend ausgeschlossen wurden.90 Auch dem wird im Kontext der ideologischen Dimensionen der Fakten-Produktion noch nachzugehen sein.

Schließlich ist auch die intrinsische »Wahrscheinlichkeit der Sache selbst« (4) nicht unabhängig von konstruktiven – wenn man so will: poietischen – Prozessen (vgl. auch Carolin Amlinger und Nicola Gess in diesem Band). Um eine Tatsache über einen ›in sich stimmigen‹, kausalen Erklärungszusammenhang der beobachteten und bezeugten Geschehnisse als wahr(scheinlich) feststellen zu können, muss dieser erst einmal durch (Begründungs-)Narrative hergestellt werden: Das zeigt sich bspw. in historischen Gerichtsprozessen anhand der species facti, der verkürzten, pointierten und oftmals verzerrten »Erzählung, Geschichte, Historie eines vorvergangenen Handels«91; das wird als Problem der aphoristisch kurzen Faktographie der in einem naturwissenschaftlichen Experiment freigelegten natürlichen Tatsachen und ihrer Ordnung deutlich92; und das tritt auch in der Geschichtsschreibung als »emplotment« (White) bzw. »Fiktion des Faktischen« (Koselleck) zutage, wenn dort historische Tatsachen in kausallogische und plausible ›wahrscheinliche‹ Handlungszusammenhänge, Plots, Gattungs- und Erzählmuster eingeschrieben werden.93 Zwar bedeuten diese Vorgänge narrativer Form(ulier)ung – je nach Grad der Selektion, Motivierung, (Re-)Strukturierung und damit einhergehender Reduktion von Referenzialität – nicht notwendig eine Fiktionalisierung des erzählten Geschehens. Die derart über Stimmigkeit, Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit bestimmte faktische Realität der Tatsachen gerät aber zumindest in die Nähe der fiktionalen Realität der Dichtung, die ja seit der aristotelischen Poetik immer wieder ganz ähnlich bestimmt worden ist. Die »Aufgabe des Dichters«, so heißt es dort, bestehe – im Gegensatz zur (Natur-)Geschichtsschreibung – gerade nicht (zwingend) darin, »mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche« (1451a).94 Wie problematisch diese Unterscheidung aber in der Moderne geworden ist, hat bereits Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie bemerkt: Wenn geschichtliche, juristische oder wissenschaftliche Tatsachen als Feststellung dessen, was wirklich geschehen ist, ebenfalls durch »innere Wahrscheinlichkeit« und »Glaubwürdigkeit« und also nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmt werden, so würden »eine gänzlich erdichtete Fabel« und »eine wirklich geschehene Historie« fortan ununterscheidbar.95 Es sei »eins«, so heißt es noch pointierter in seinem Drama Nathan der Weise, ob man sich etwas »Nur bloß so dichtet, oder ob’s geschehn«, also »[e]in Faktum« ist.96 Ob auf dem Parkett des Gerichtssaals, im Labor der Naturwissenschaft, im Archiv der Geschichtsschreibung oder auf der Bühne des Theaters – es geht stets um Fragen der Wahrscheinlichkeit und nur durch diese lässt sich Wirklichkeit feststellen.97

Das führt gut vierzig Jahre später auch Heinrich von Kleist vor dem Hintergrund dieser diskursiven (Problem-)Geschichte der Tatsachen in begrifflich hochdifferenzierter Weise vor.98 In Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten (1811) »erzählt[]« ein »alter Offizier«, »der sich der Lüge niemals schuldig machte«, in einer »Gesellschaft« drei »abenteuerliche[] Geschichte[n], die er für wahr ausgab«, weil sie auf bezeugten ›wahren‹ Begebenheiten beruhten (K 277 f., 280). Verweist schon der Titel auf jene aristotelische Unterscheidung von Dichtung, Historie und Philosophie bzw. Wissenschaft, so macht ›die Gesellschaft‹ diesen Bezug explizit, indem ganz am Ende eines ihrer Mitglieder erkannt haben will, dass »[d]ie dritte Geschichte« im »Anhang zu Schillers Geschichte vom Abfall der vereinigten Niederlande« stehe (K 280 f.). Darin habe »der Verfasser« sogleich »ausdrücklich« bemerkt, »daß ein Dichter von diesem Faktum keinen Gebrauch machen könne, der Geschichtsschreiber aber, wegen der Unverwerflichkeit der Quellen und der Übereinstimmung der Zeugnisse, genötigt sei, dasselbe aufzunehmen« (K 281). Unübersehbar finden sich hier also alle vier Kriterien zur Beurteilung der Wahrscheinlichkeit und Feststellung eines ›Faktums‹ versammelt, wenn auch nicht erfüllt: Die Geschichte lasse sich durch mehrere ›übereinstimmende‹ Quellen bezeugen, welche selbst ›unverwerflich‹, also glaubwürdig, seien und so ihre Wahrheit und Wirklichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit intersubjektiv als (historische) Tatsache beglaubigen – und das, obwohl diese Geschichte intrinsisch unwahrscheinlich bzw. der empirischen Erfahrung gerade nicht glaubwürdig, also wahr erscheint und daher als Dichtung völlig unbrauchbar sei. Genau dort setzt aber Kleists Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten als literarischer Text an und stellt die klassische Konstitution der Dichtung genauso wie der Tatsache vor erhebliche Probleme: Er laufe »Gefahr«, so bekennt nämlich der niemals lügende »Erzähler« vorab, »für einen Windbeutel gehalten zu werden« (K 277), seien doch seine Geschichten »von der Art, daß man sie nicht glaubt« (K 278). Zwar forderten »die Leute« zumeist, »als erste Bedingung der Wahrheit, daß sie wahrscheinlich« sei, »doch ist die Wahrscheinlichkeit, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer auf Seiten der Wahrheit« (K 279). Das Kriterium der empirischen Erfahrung, das der Tatsachenfeststellung zunächst entgegenstand, verlangt nun, mit anderen Worten, gerade die Unwahrscheinlichkeit zum Prinzip des Wahr(scheinlich)en zu ernennen. Genau dort habe die Dichtung ihren Ort. Denn wenn »die Geschichten« in der Folge diesen »Satz belegen« (K 280), so entwirft Kleist gewissermaßen eine poetische Gerichtssituation, in der die drei Erzählungen eine beglaubigende Funktion einnehmen und ›der Gesellschaft‹ als Geschworenen- oder Gelehrtenjury zur Beurteilung übergeben werden: Die Wahrscheinlichkeit der Geschichten selbst spielt also nur insofern eine Rolle, als sie Unwahrscheinlichkeit demonstrieren. Gerade die unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit der drei darin ebenfalls ›übereinstimmenden‹ Geschichten bezeugt damit die Wahrscheinlichkeit der »unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeit«, die nur im Modus der Dichtung formuliert, dennoch am Ende durch ›die Gesellschaft‹ kollektiv als »Faktum« festgestellt werden kann (K 281).

Propositionale Wahrheit, kulturelle Faktizität