Falke - Helen Macdonald - E-Book

Falke E-Book

Helen Macdonald

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Beschreibung

Falken sind die schnellsten Tiere der Erde. Sie sind von einer erregenden Schönheit und strahlen eine natürliche, gefährliche Erhabenheit aus. Helen Macdonald, Autorin des preisgekrönten Bestsellers H wie Habicht, erkundet in ihrem brillant geschriebenen Buch die ganze Welt dieser Räuber, die die Menschheit seit Tausenden von Jahren magisch angezogen haben. In einer virtuosen Verbindung von Natur- und Kulturgeschichte schildert Helen Macdonald das Eigenleben der Falken ebenso wie unser Leben mit ihnen. Wie die Welt für einen Falken aussieht, wie der Vogel seine ehrfurchtgebietende Geschwindigkeit erreicht und seine Beute schlägt, stellt Macdonald so lebhaft und plastisch dar wie die Fantasien, welche die Menschen mit den Falken verknüpft, und den Nutzen, den sie aus ihnen gezogen haben. Falken wurden als Götter verehrt und zur Jagd abgerichtet, von Dichtern besungen und zur Spionage eingesetzt, sie dienten als erotische Symbole und für militärische Zwecke. Helen Macdonald führt einfühlsam und eindrucksvoll vor Augen, wie Falken dem Menschen seit Urzeiten als Gefährten gedient haben und trotzdem immer undurchdringlich fremde Wesen geblieben sind.

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HELEN MACDONALD

FALKE

BIOGRAPHIE EINES RÄUBERS

Aus dem Englischen von Frank Sievers

C.H.BECK

ZUM BUCH

Falken sind die schnellsten Tiere der Erde. Sie sind von einer erregenden Schönheit und strahlen eine natürliche, gefährliche Erhabenheit aus. Helen Macdonald, Autorin des preisgekrönten Bestsellers H wie Habicht, erkundet in ihrem mitreißend geschriebenen Buch die ganze Welt dieser Räuber, die die Menschheit seit Tausenden von Jahren magisch angezogen haben.

In einer brillanten Verbindung von Natur- und Kulturgeschichte schildert Helen Macdonald das Eigenleben der Falken ebenso wie das Zusammenleben der Menschen mit ihnen. Wie die Welt für einen Falken aussieht, wie der Vogel seine ehrfurchtgebietende Geschwindigkeit erreicht und seine Beute schlägt, stellt Macdonald so lebhaft und plastisch dar wie die Fantasien, welche die Menschen mit den Falken verknüpft, und den Nutzen, den sie aus ihnen gezogen haben: Falken wurden als Götter verehrt und zur Jagd abgerichtet, von Dichtern besungen und zur Spionage eingesetzt, sie dienten als erotische Symbole und für militärische Zwecke. Helen Macdonald führt einfühlsam und eindrucksvoll vor Augen, wie die Falken dem Menschen seit Urzeiten als Gefährten gedient haben und trotzdem immer undurchdringlich fremde Wesen geblieben sind.

«Ein fantastisches Buch.» The Spectator

«Elegant und fesselnd.» Evening Standard

«Dieses wundervolle Buch zeigt, wie die schnellsten Tiere der Welt auf ihren Flügeln die Träume der Menschheit getragen haben.» The Guardian

ÜBER DIE AUTORIN

Helen Macdonald ist Schriftstellerin, Naturforscherin, Historikerin und Illustratorin. Sie forscht am Institut für Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaften an der University of Cambridge. Zuvor hat sie u.a. als professionelle Falknerin gearbeitet und Jagdfalken gezüchtet. Für ihren internationalen Bestseller H wie Habicht erhielt sie den Samuel Johnson Prize, den angesehensten Preis für Sachbücher in Großbritannien, sowie den Costa Award für das beste Buch des Jahres.

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

ERSTES KAPITEL: NATURGESCHICHTE

WANDERFALKEN

WÜSTENFALKEN

WIE IST ES, EIN FALKE ZU SEIN?

FLUG

MIGRATION

BRUT

ZWEITES KAPITEL: MYTHISCHE FALKEN

DER FALKE UND DER HAHN

TOTEMS UND ANDERE ÜBERTRAGUNGEN

GÖTTLICHE FALKEN

FALKENKULTE

SEELEN UND SEELENVEREINIGUNG

FALKENVERWANDLUNGEN

DRITTES KAPITEL: ABGERICHTETE FALKEN

ANFÄNGE UND GRÜNDE

FALKEN IN DER FALKNEREI

LUFTSCHLACHTEN

DAS FALKNERGESCHIRR

DAS ABTRAGEN DER FALKEN

«ALLGEGENWÄRTIG»

DIE VIER ENDEN DER WELT

IMPERIALE FALKNEREI

DER FALKEN ZÄHMUNG

EIN VERGESSENER JAGDSPORT?

VIERTES KAPITEL: BEDROHTE FALKEN

DAS VERLORENE PARADIES

DER NIEDERGANG

EINE ERSTE KEHRTWENDE

DAS AUSSTERBEN DER FALKEN

PANIKARTIGE ERKENNTNIS

KLINISCHE ORNITHOLOGIE

DER «PEREGRINE FUND»

WOHLTÄTIGE WISSENSCHAFT

AUSGESETZTE FALKEN

WIE WILD IST EIN IN GEFANGENSCHAFT AUFGEWACHSENER FALKE?

SIEG AUF GANZER LINIE?

FÜNFTES KAPITEL: MILITÄRISCHE FALKEN

DIE MOBILISIERUNG DER FALKEN

HUNGRY UND GALILEO

FALKEN 2020

«AUF GOTT VERTRAUEN WIR: ALLE ANDEREN ÜBERWACHEN WIR»

SECHSTES KAPITEL: URBANE FALKEN

WOLKENKRATZERFALKEN

VOM WINDE VERWEHT

DER SCHOCK DES REALEN

FALKENSÜCHTIGE UND BADEMANTELBRIGADIERE

TELEPRÄSENZ UND EINMISCHUNG

DIE EVOLUTION GESCHIEHT NICHT ÜBER NACHT

ANHANG

ZEITTAFEL

ANMERKUNGEN

EINLEITUNG

ERSTES KAPITEL: NATURGESCHICHTE

ZWEITES KAPITEL: MYTHISCHE FALKEN

DRITTES KAPITEL: ABGERICHTETE FALKEN

VIERTES KAPITEL: BEDROHTE FALKEN

FÜNFTES KAPITEL: MILITÄRISCHE FALKEN

SECHSTES KAPITEL: URBANE FALKEN

LITERATUR

DANK

BILDNACHWEIS

VORWORT

Sie müssen H wie Habicht nicht kennen, um dieses Buch zu lesen: Falke ist ein eigenständiges Werk. Aber wenn Sie es kennen, werden Sie auf diesen Seiten einige Dinge daraus wiederfinden. Der Mann mit dem weißen Gerfalken auf dem Foto in der Einleitung ist mein guter Freund Erin, der mit mir im Winter nach dem Tod meines Vaters auf einem verschneiten Rasen in Maine einen Weihnachtsbaum verbrannt hat. Auch an andere Personen und Phänomene werden Sie sich erinnern, mit denen ich mich hier allerdings zum Teil ausführlicher befasse, wie zum Beispiel J.A. Baker, T.H. White, die Raubvögel der Nazis oder die Anfangsszene des Films A Canterbury Tale. Falke steigt sehr viel tiefer in die jahrtausendelange Kulturgeschichte der Falknerei und der Greifvögel ein und beschäftigt sich daneben mit der Anatomie dieser Tiere, ihrer Physiologie, den Jagdstrategien, der Flugmechanik sowie der Philosophie und Praxis der Arterhaltung. Im Grunde aber handelt dieses Buch genau wie H wie Habicht davon, dass wir Menschen die Natur als Spiegel benutzen. Dass jede Begegnung mit einem Tier immer auch eine Begegnung mit uns selbst ist und mit der Art, wie wir uns wahrnehmen. Das ist die Falle, in die ich unbewusst beim Abrichten meines Habichts getappt bin, obwohl ich dieses Buch damals bereits geschrieben hatte. Daran sieht man, wie schwer es ist, ihr zu entgehen.

Pisanello, Falke von hinten mit blauem Hut, auf der Faust des Falkners, ca. 1435, Stift und Wasserfarbe auf weißem Papier

Wie kam es zu diesem Buch? Es begann Anfang der 2000er Jahre, als ich gerade an der Universität Cambridge an meiner Doktorarbeit schrieb. Ich habe sie bis heute nicht abgeschlossen, sondern stattdessen dieses Buch geschrieben – was mich selbst überraschte, da ich mich für die Akademikerin schlechthin gehalten hatte. Ich fühlte mich sehr wohl an meinem Institut und in meiner Stadt; freute mich jeden Morgen darauf, durch von Bäumen gesäumte Straßen zu einer der tollsten Bibliotheken der Welt zu spazieren, wo ich den Tag im staubigen Duft alten Papiers verbrachte, das nach Mandeln und Vanille roch, und wo ich umgeben von Zeitschriften- und Bücherstapeln fröhlich Literaturhinweise prüfte oder Notizen zu Artikeln und Büchern machte, während auf den Dachziegeln über meinem Arbeitstisch im Nordflügel die Tauben scharrten.

In meiner Doktorarbeit ging es um die Geschichte der Wissenschaft. Genauer gesagt: um die Geschichte der Naturgeschichte und unseres Verhältnisses zur Natur. Es ging auch um die Frage, wie wir die Grenze ziehen zwischen dem, was wir für Wissenschaft halten, und dem, was wir nicht mehr dafür halten. Diese Grenze ist durchlässiger, als man meinen könnte. Die Art und Weise, wie sie gezogen und verteidigt wird, sagt viel aus über das Wesen der Wissenschaft, unseren Begriff von Wissen und über uns selbst. Da ich seit Kindesbeinen von Greifvögeln besessen bin, wollte ich diesen Fragen im Kontext jener kulturellen Aktivitäten nachgehen, die sich im 20. Jahrhundert mit diesen Vögeln befasst haben: Falknerei, Arterhaltung, Naturkunde von Laien und Vogelbeobachtung. Ich hielt das für ein ideales Thema einer Doktorarbeit. Was es auch war. Nur war ich, wie sich herausstellte, nicht die ideale Doktorandin.

Im Rahmen meiner Promotion verbrachte ich auch einige Monate zu Recherchezwecken in den Archives of Falconry im World Center for Birds of Prey in Idaho. In diesem Archiv gibt es alles vom mittelalterlichen handgeschriebenen Brief bis hin zu modernen Erstausgaben; vom Anorak aus Seehundsfell bis hin zu einem ausgestopften Habicht, der einmal Hermann Göring gehörte. Während ich mich durch diese Sammlung pflügte – mit bereitwilliger Unterstützung des Archivdirektors, Colonel Kent Carnie –, begannen mich meine Funde mehr und mehr zu fesseln. All diese Mythen und Manien, Bruchstücke ferner Kulturen und Boten längst vergangener Lebensweisen; Werke von Menschen, die ihr Leben im Bann von Tieren verbracht hatten, die sie nahezu religiös verehrten. In mir begann sich eine Stimme zu regen, die nicht der akademischen Historikerin gehörte und die mir sagte, hier lägen außergewöhnliche Geschichten verborgen, die ich in meiner Doktorarbeit nicht unterbringen konnte, und das betrübte mich. Und noch etwas anderes kam hinzu: Ich bedauerte zunehmend, dass viele der fantastischen, inspirierenden Theorien und Konzepte, denen ich in der akademischen Welt begegnete und die mir zu verstehen halfen, weshalb wir die Natur so sehen, wie wir sie sehen, nicht weiter verbreitet waren. Es nicht sein konnten, weil den meisten von uns der Zugang zu den Orten und Foren verwehrt bleibt, an denen diese Dinge verfasst und diskutiert werden. Das empfand ich als ungerecht und empfinde es nach wie vor so.

Während ich nach meiner Rückkehr weiter über diese Frage sinnierte, traf ich in der Teestube der Universitätsbibliothek zufällig Jonathan Burt, den Herausgeber der Reihe Animal bei Reaktion Books. Er schlug mir vor, dieses Buch zu schreiben. Und bei einem Kaffee und einem Sandwich wurde die Sache besiegelt: Ich schrieb dieses Buch. Es sollte nicht nur für Historiker oder Kulturwissenschaftler sein, sondern für jedermann. Geschrieben habe ich es bei mir zu Hause, in Bibliotheken, Cafés und Zügen. Ja, sogar während eines Familienurlaubs in Italien, wo ich an einem wackligen, von Tomatensauce verkrusteten Tisch in einem Hotel am See vor mich hin tippte. All die Anekdoten und Geschichten, die ich freudigen Herzens in dieses Buch aufnahm – wie die Mafia einem Falkner drohte, ihn aus New York zu vertreiben, weil sein Falke ihre Renntauben störte, Storys von Fächertänzerinnen, Flugzeugpiloten, Astronauten und den diplomatischen Winkelzügen frühneuzeitlicher Könige –, sie hätten in meiner Doktorarbeit keinen Platz gehabt. In dieses Buch aber passten sie wunderbar. Und mich faszinierte die Idee, Fakten und Anekdoten und Bilder auf eine Weise zu verweben, dass sich, durch die Brille unserer Beziehung zu den Falken betrachtet, auch unsere Stellung in der Welt ein Stück weit erschließt.

Ich wollte über Falken und nicht über Habichte schreiben, weil sie meine Lieblingsvögel waren, die ich am besten kannte, wie ich auch in H wie Habicht schreibe. Diese gelassenen, betörend schönen Räuber der Lüfte haben wenig gemein mit den kraftstrotzenden, nervösen Habichten, obwohl sich ihre Kulturgeschichte in weiten Teilen überschneidet. Seltsamerweise aber führte mich ausgerechnet ein Habicht, dem ich nach dem Erscheinen dieses Buches begegnete, über einige komplizierte Verwicklungen zu Mabel, meinem eigenen Habicht-Weibchen.

Es war im Herbst 2006, in Usbekistan, nur wenige Monate bevor mein Vater starb. Ich war mit einer Gruppe von Feldforschern in einem russischen Jeep an den Fluss Syrdarja gefahren, der in der Provinz Andijon eine gemächliche Schleife durch Pappelwälder und fedrige graue Tamarisken zieht. Nachdem wir unsere Zelte aufgestellt hatten, unternahm ich einen Streifzug im hellen warmen Sonnenlicht, das in den Wald einfiel. Alles war still; nur das beständig herabrieselnde trockene Laub war zu hören. Meine Schuhe knirschten auf dem salzverkrusteten Schlamm und dem Laubstreu, in dem Heuschrecken und flinke silberne Eidechsen funkelten. Nach einem guten Kilometer stand ich plötzlich auf einer Lichtung und schaute in die Höhe. Und meinte, in einem Baum einen Mann stehen zu sehen. Zumindest war dies das Bild, das mir mein Gehirn für einen Moment eingab: ein leicht zur Seite geneigter Mann in einem langen Mantel. Dann erst sah ich, dass es kein Mensch war, sondern ein Habicht. Ein solcher Moment kann wie eine Erleuchtung sein. Ich hatte mir bis dahin im Grunde nie Gedanken über die phänomenologische Ähnlichkeit von Mensch und Habicht gemacht, aus der heraus das komplexe mythologische Beziehungsgeflecht zwischen Mensch und Greif entstanden sein muss, mit dem ich mich so lange beschäftigt habe und um das es auch in diesem Buch geht. Plötzlich erschien mir alles, was ich über diese seltsame symbolische Verbindung zwischen Greifvögeln und menschlichen Seelen geschrieben hatte, in einem anderen Licht, im Licht einer Wahrheit, die nicht aus Büchern stammt. Ich sah einen Habicht in einem Baum sitzen, und sah einen Menschen. Merkwürdig. Der Vogel war etwa fünfundzwanzig Meter von mir entfernt und im hellen Gegenlicht so dunkel, dass ich nicht erkennen konnte, ob er zu mir oder in Richtung Fluss schaute. Da reckte er seinen schlangenhaften Hals: Sein kleiner Kopf war mir zugewandt. Ganz langsam hob ich mein Fernglas und schloss halb die Augen, damit die Wimpern sie vor der Sonne abschirmten. Da. Da war er. So grell war das Licht gar nicht. Ich konnte seine Konturen deutlich erkennen. Und trotz der Helligkeit sah ich, schwach, die horizontale Bänderung auf seinen Brustfedern. Es war ein ausgewachsenes Habicht-Männchen, das ganz anders aussah als die Exemplare bei uns zu Hause. Er hatte einen tiefdunklen Kopf mit auffallend hellen Augenbrauen, und die dichten Streifen auf seiner Brust unterschieden sich merklich von den breiten, gebrochenen Linien europäischer Vögel. Stellen Sie sich vor, Sie würden die eng gesetzten Linien eines Notizhefts mit einem Lineal und dickem, dunkelgrauem Filzstift nachziehen: So sah seine Vorderseite im Gegenlicht aus. Er saß auf einem kahlen Ast und überlegte, was genau ich wohl darstellen mochte und was er nun tun sollte. Da breitete er langsam seine Flügel aus, als würde er sich einen Mantel überziehen, und hob ganz ruhig und gemächlich ab, wobei er im Flug das eine lange Bein mit leicht verkralltem Fuß nachzog. Ich war erstaunt, wie lange Flügel er hatte und wie sehr er einem großen Falken glich – wenngleich mit viel längerem Schwanz. Er hatte eine völlig andere Gestalt als die Tiere bei uns. Es war ein Zughabicht, der über weite Berge und Ebenen in diese Gegend gekommen war, wo er eine neue Heimat gefunden hatte.

Ich musste erst das dunkle Jahr mit meinem eigenen Habicht Mabel erleben, damit ich die tiefe Wahrheit, dass wir die Natur als Spiegel unserer eigenen Bedürfnisse benutzen, tatsächlich verstand, anstatt sie nur abstrakt zu kennen. Trotzdem begann mit der Sichtung jenes usbekischen Habichts meine Lehrzeit, in der ich den Unterschied erfahren sollte zwischen dem, was man intellektuell weiß, und dem, was man tief im eigenen Mark gespürt hat. Heute frage ich mich, ob nicht dieser Habicht und mein kurzzeitiger Verseher, durch den ich ihn zum Menschen machte, vielleicht einer der Gründe dafür war, dass ich mich nach dem Tod meines Vaters ausgerechnet für einen Habicht entschied. Vielleicht hätte es aber Mabel auch nie gegeben, wenn ich nicht während der Arbeit an diesem Buch so lange und intensiv über die Bedeutung von Greifvögeln nachgedacht hätte.

Durch die Falken, die durch diese Seiten schwirren, erfahren wir nicht nur viel über Biologie und Verhalten dieser Tiere, sondern auch über die menschliche Zivilisation. Ich bin der leidenschaftlichen Überzeugung, dass wir versuchen müssen zu begreifen, was hinter unseren Bedeutungszuschreibungen an wilde Tiere wie Habichte oder Falken steht. Dadurch lernen wir so manches über das menschliche Denken, die verschiedenen Kulturen und den komplexen Zusammenhang von Sozialgeschichte, Naturgeschichte, Kunst und Wissenschaft. Aber noch aus ganz anderen Gründen ist es heute wichtiger denn je, dass wir unser Verständnis und Verhältnis zur Natur genau unter die Lupe nehmen. Denn wir erleben gerade das sechste große Artensterben der Erde, das wir ganz allein zu verantworten haben, durch die Vernichtung von Lebensräumen, den Klimawandel, die chemische Verschmutzung von Ökosystemen durch Pestizide und Herbizide und die Ausdehnung der Städte und der Landwirtschaft. Wie und warum wir Tiere und Landschaften so sehen, wie wir sie sehen, was wir an ihnen wertschätzen und warum wir sie für schützenswert halten – diese Fragen gehen über das rein akademische Interesse weit hinaus. Sie führen uns letztlich zu der einen, entscheidenden Frage: wie wir die Welt noch retten können.

Gouache eines Gerfalken aus einem persischen Album mit Malereien und Kalligraphie, Mitte 15. Jahrhundert

EINLEITUNG

Im Jahr 1998 trainierte Ken Franklin ein junges Wanderfalken-Weibchen namens Frightful darauf, sich aus einer Höhe von 16.000 Fuß mit einem in Speedsuit gekleideten Fallschirmspringer aus dem Flugzeug zu stürzen und in freiem Fall zu Boden zu gehen. Eine Reihe von Videoaufnahmen auf hochempfindlichem Film zeigen das Tier in seinem Element: den Kopf tief zwischen den Schlüsselbeinen vergraben, die Füße flach an den Körper angelegt, mit der aerodynamisch perfekten Kontur eines Regentropfens. Bei einer Geschwindigkeit von über 160 Stundenkilometern hat die kleinste Veränderung von Körperform oder Flügelprofil brutale Auswirkungen; Franklin sagte später dazu, das Tier habe ausgesehen wie eingeschweißt, wie mumifiziert. Und just in dem Moment, da der Falke schon sein höchstes Tempo erreicht zu haben schien, änderte er erneut seine Gestalt. Scharf zog er eine Schulter nach vorn und messerte durch die widerständigen Luftmoleküle, dass der Kameramann ihm, der nun mit über 320 Stundenkilometern die Luft spaltete, nur noch erstaunt hinterhersehen konnte.

«Beringt mit der azurnen Welt»: Wanderfalke und Fallschirmspringer

Falken sind die schnellsten Tiere, die es je auf der Welt gegeben hat. Sie erregen uns, sie scheinen allen anderen Vögeln überlegen und strahlen eine gefährliche, natürliche Erhabenheit aus. Dem Falken selbst ist all das freilich gleichgültig – es sind Zuschreibungen des Menschen. Mögen Falken auch echte, lebendige Tiere sein, so können wir Menschen sie immer nur durch unsere jeweilige Kulturbrille betrachten, wie der Anthropologe Franz Boas es nennt. Jede Begegnung mit einem Falken ist eine Begegnung mit uns selbst – sei er nun real oder erfunden, durch das Fernglas betrachtet oder in der Galerie gerahmt, von Dichtern besungen oder zur Beiz eingesetzt, aus einem Manhattaner Fenster erspäht oder auf eine Flagge genäht, auf Anstecker gepresst oder über einsamen arktischen Radarstationen gesichtet.

Tiere sind derart formbare Gefäße für menschliche Zuschreibungen, dass manche Kritiker heute der Ansicht sind, sie existierten fast ausschließlich in der menschlichen Vorstellung. Doch sind Falken nicht bloße Träger symbolischer Bedeutung. Sie leben, brüten, fliegen, jagen und atmen. Keine Taube erläge jemals der Illusion, dass ein Falke nur ein leerer Signifikant sein könnte, der erst vom Menschen mit Bedeutung gefüllt wird. Zudem können sich Falken, da sie lebendige Wesen sind, den ihnen vom Menschen zugeschriebenen Bedeutungen auch widersetzen, sie konterkarieren oder unterwandern.

Der weiße Gerfalke, der jahrtausendelang meistverehrte und begehrteste aller Falken. Dieses Weibchen, das an der grönländischen Küste für eine Studie zur Falkenmigration eingefangen wurde, wird gerade von dem Feldbiologen Erin Gott wieder in die Freiheit entlassen

Die unverkennbare Gestalt des breitschultrigen Falken, der still auf einem toten Baum oder einer Felsnase sitzt, zieht unseren Blick magnetisch an; im Flug wiederum hat der Falke eine Kraft und Leichtigkeit, die mit dem sensiblen Betrachter seltsame Dinge anstellt. In der Gegenwart von Falken, bekannte der Naturschriftsteller W. Kenneth Richmond in den 1950er Jahren, «können wir uns einfach eingestehen, dass wir zweitklassige Wesen sind … Schrecken und Schönheit, kaltes Silber und heißes Blut sind in ihnen vereint und machen sie zu natürlichen Aristokraten», ehe er einschränkend ergänzte: «zumindest habe ich es seit jeher so empfunden.»[1] Falkenbeobachtung kann eine Sogkraft entfalten, die süchtig macht und zur Berufung werden kann. Der Autor Stephen Bodio erzählt von einem Freund, bei dem einmal «ein Pärchen seelenfangender Zeugen Jehovas» vor der Tür stand. Er zeigte ihnen seinen abgerichteten Falken und sagte stolz: «Das ist es, was ich anbete».[2] Solch unerwartete Religiosität findet ihre Vollendung in dem Buch Der Wanderfalke von J.A. Baker. Dieser Klassiker der naturkundlichen Literatur ist das Tagebuch eines Mannes, der sich in der winterlichen Landschaft Ostenglands mit größter Besessenheit auf die Suche nach wilden Wanderfalken macht. Als ökologische Variante der Bekenntnisse des heiligen Augustinus, als moderne Gralssuche handeln diese Aufzeichnungen vom Weg einer Seele zur Gnade und der Suche eines Mannes nach Gott. Erzählt wird in kunstvoll gestalteten Episoden: Tag für Tag macht sich Baker auf den Weg, um die Falken zu suchen, und jede Sichtung ist für ihn von tiefer Bedeutsamkeit. Er findet Spuren an Orten, wo ein Falke gewesen sein muss – Reste von Beutetieren oder auch nur vereinzelte Federn. Er versucht, die richtige Kleidung zu finden, die richtigen Rituale und Handlungen, um den Falken immer näher zu kommen, und nimmt dafür mannigfaltige Mühen und Entbehrungen in Kauf. In seinen Augen wird die Landschaft allein durch die Macht des Falken zum Leben erweckt, der vom reglosen Boden unvermittelt Vogelschwärme in die Luft zaubert. Baker zeigt große Demut – und im Laufe seiner Aufzeichnungen begreift der Leser allmählich, dass er sich unsichtbar machen möchte, um den Falken so vertraut zu werden, dass sie ihn als Teil der Landschaft sehen, über die er und sie sich bewegen. Schließlich, ganz am Ende des Buches, in der Abenddämmerung: eine Epiphanie. Plötzlich packt Baker die Gewissheit, dass er den Wanderfalken an der Küste finden wird – der unwiderstehliche Ruf einer inneren Stimme, der ihn ins düstere Zwielicht einer kargen Landschaft schickt. Und dort findet er den Falken. Langsam nähert er sich ihm, bis er direkt vor ihm steht. Der Falke hat sich zur Rast in einem Dornbusch niedergelassen. Er akzeptiert Bakers Anwesenheit, schließt die Augen und schläft wieder ein. Es ist Bakers Erfüllung.

Was ist das für ein Tier, das so große Gefühle in uns auslöst? Im ersten Kapitel möchte ich einige biologische und ökologische Eigenschaften der Falken beschreiben, um anschließend zu versuchen, diese wildbewegten Reaktionen auf eine Erscheinung zu erklären, die letzten Endes doch nur ein Vogel ist.

ERSTES KAPITEL

NATURGESCHICHTE

Die circa sechzig verschiedenen Arten der Familie Falconidae, der Falkenartigen, mögen den anderen tagaktiven Greifvögeln wie Habichten, Adlern oder Geiern zwar äußerlich ähneln, sie sind jedoch vermutlich nur entfernt mit ihnen verwandt. Einige Forscher meinen sogar, es bestehe eine engere Verwandtschaft zu Eulen. Während ihr Habitus eine große Bandbreite aufweist, sind bestimmte Merkmale allen Arten gemein, von den reibeisenstimmigen, über Mülltonnen herfallenden Geierfalken bis hin zu den scheuen Waldfalken der Tropenwälder; dazu gehören etwa der knöcherne Tuberkel im Nasenloch oder das charakteristische Federkleid während der Mauser, die sie als Mitglieder dieser Familie ausweisen. Eine taxonomische Untergruppe in der Familie der Falkenartigen sind die «Echten Falken» der Gattung Falco. Deren Arten haben sich vermutlich relativ spät herausgebildet, vor circa sieben bis acht Millionen Jahren, als durch klimatische Veränderungen riesige Flächen mit Savannen und Grassteppen entstanden. Explosionsartig entwickelten sich daraufhin die verschiedensten Arten, die diese neuen offenen Landschaften besiedelten.

Ein junger Wanderfalke im Flug, mit den für die Gattung Falco typischen langen, zugespitzten Flügeln und dem dunklen Bartstreif

Die Gattung Falco wird meist in vier Untergruppen gegliedert: die hauptsächlich Insekten fressenden Baumfalken, die kleinen Zwergfalken, die sich von anderen Vögeln ernähren, die Turmfalken sowie jene Gruppe von Großfalken, mit der ich mich hier hauptsächlich beschäftigen werde. Sie lässt sich wiederum in zwei Gruppen unterteilen: Wanderfalken und Wüstenfalken. Beide sind schnelle, aktive Jäger der Lüfte mit dunklen Augen. Wanderfalken erbeuten fast ausschließlich Vögel, während Wüstenfalken auch Säugetiere, Reptilien und Insekten kröpfen. Mit vielen vogelfressenden Greifvögeln teilen beide den «reversen Geschlechtsdimorphismus» in der Körpergröße, das heißt: die Weibchen sind deutlich größer als die Männchen. Seit Jahren versuchen sich Evolutionsökologen einen Reim auf dieses Phänomen zu machen. Möglicherweise bevorzugen die Weibchen kleinere Männchen, da sie diese als geringere Bedrohung für sich und ihre Jungen wahrnehmen. Oder größere Weibchen haben in einem harten Wettbewerb um die Männchen mit den besten Brutrevieren einen selektiven Vorteil erlangt. Eine dritte Theorie besagt, dass Falken dank des reversen Geschlechtsdimorphismus vielfältigere Beute schlagen können, wobei die Männchen auf kleinere, wendigere Vögel spezialisiert sind und die Weibchen auf die größeren, schwerfälligeren Tiere – damit ist allerdings noch nicht erklärt, weshalb die Weibchen größer sind als die Männchen und nicht umgekehrt. Der in der Falknerei verwendete Begriff «Terzel» für den männlichen Falken kommt vom altfranzösischen Wort terçuel, das vom lateinischen tertius abgeleitet ist, was «Drittel» bedeutet – Falkenmännchen sind im Allgemeinen um ein Drittel kleiner als die Weibchen.

Die westliche Wissenschaft zählt zur Gruppe der Großfalken etwa zehn Arten; inwieweit diese untereinander verwandt sind und ob bestimmte Falken als eigenständige Art, Unterart oder lediglich als Rasse einer anderen Spezies einzuordnen sind, ist wissenschaftlich außerordentlich schwierig zu bestimmen. Hinzu kommt noch, dass in Gefangenschaft vermehrungsfähige Kreuzungen etwa zwischen Gerfalken und Sakerfalken gezüchtet worden sind. Natürlich könnte man sich fragen, warum die verschiedenen Arten so genau definiert werden müssen. Falken hat es schon vor Millionen von Jahren gegeben, ohne dass sich der Mensch Gedanken darüber machte, wie sie taxonomisch einzuordnen seien. Nur haben derartige Entscheidungen reale Auswirkungen. Im Naturschutz braucht man präzise Definitionen der schützenswerten Arten; diese und andere Einheiten erfordern eine rechtlich bindende Bestimmung. Viele Falkenpopulationen sind aufgrund des Verlusts ihres Lebensraums oder der Verfolgung durch den Menschen bedroht, fallen aber «durch das Netz» der westlichen Taxonomie, so im Falle des Sakerfalken, bei dem die Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher und volkstümlicher Klassifizierung besonders problematisch ist. Die westliche Wissenschaft kennt zwei bis fünf Unterarten. Arabische Falkner dagegen verwenden eine komplexe Taxonomie, die nach Größe, Farbe und Gestalt differenziert: aschqar (weiß), achdar (grün), jerudi (gebändert), hurr schami (rot) usw. Im postsowjetischen Russland ist durch den Schmuggel von Falken mit besonders beliebter Färbung, die illegal auf den arabischen Markt gebracht wurden, ein unverhältnismäßig großer Druck auf bestimmte Populationen entstanden, denen kein besonderer gesetzlicher Schutz gewährt werden kann, da sie sich nicht in die Kategorien des westlichen Naturschutzes einordnen lassen.

WANDERFALKEN

Für W. Kenneth Richmond ist der Wanderfalke ein Vogel mit «perfekten Proportionen und feinen Zügen, Wagemut und Intelligenz, spektakulärer Flugleistung und unerreichter Raffinesse bei der Jagd – ein Alleskönner, ein natürlicher Aristokrat».[1] Das klingt nach einem Helden à la John Buchan oder einem Flieger-Ass aus dem Zweiten Weltkrieg, dabei folgt die überschwängliche Inszenierung dieses Falken mit seiner symbolischen Adelung einer langen Tradition. In Iran und Arabien wird der Wanderfalke Schahin genannt, das ist das farsische Wort für «Herrscher». Pero López de Ayala, Kanzler von Kastilien und eine Autorität der Falknerei im mittelalterlichen Spanien, hielt ihn für «den besten und nobelsten aller Greifvögel, den Herrn und Fürsten unter den Jagdvögeln».[2] Und 700 Jahre später nannte der US-amerikanische Ornithologe Dean Amadon den Wanderfalken in einer eigentümlichen Mischung aus persönlicher Huldigung und objektiver Bewertung seiner Anpassungsfähigkeit den schönsten aller Falken, der folglich auch der höchstentwickelte Vogel der Gattung Falco sein müsse.