Fallensteller - Saša Stanišić - E-Book

Fallensteller E-Book

Saša Stanišić

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Beschreibung

Der Spiegel-Bestseller von Saša Stanišić: Acht Erzählungen, reich an „verspielter Komik, Traurigkeit und brillanten Sätzen“ (Zeit Online).

Ein vom Leben nicht sehr verwöhnter alter Mann hat eine Leidenschaft für die Magie. Er bittet um Ruhe für die Große Illusion. Aber die Gemeinde trinkt Kaffee und hält nicht still.

Ein geheimnisvoller schwarzgekleideter Mann taucht in unserem Dorf auf, er behauptet, Fallen herstellen zu können für jeden Zweck, nicht nur für das Tier. Mit dem Fallensteller kehrt Stanišić nach Fürstenfelde zurück, jenes uckermärkische Dorf, das den Lesern aus „Vor dem Fest“ bekannt ist, und in dem alles immer möglich ist, auch Magie.

„Ich finde Bäume nur als Schrank super“, ruft der naturabgeneigte Erzähler der Geschichte „Im Ferienlager im Wald“. Immerhin freundet er sich mit Hirschen an und spielt eine Runde Fifa auf der X-Box mit ihnen.

Ständig auf der Reise sind "der unterhaltsame Gesetzesbrechers Mo und seine wohlstandstrübsinnige Begleiterin“ (Hamburger Abendblatt). Zwei Freunde, die mit Karacho und Geschick ihren Sehnsüchten hinterher jagen, quer durch Europa: einer christlichen Menschenrechtsaktivistin, einer syrischen Surrealistin, einem bedrohten Vogel. Um nur ein paar zu nennen.

Dies sind Geschichten über Menschen, die Fallen stellen, Menschen, die sich locken lassen, Menschen die sich befreien - im Krieg und im Spiel, mit Trug und Tricks und Mut und Witz.

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Seitenzahl: 342

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Zum Buch

Zaubern im Gemeindesaal, Kommoden zersägen in leiser Wut, in merkwürdigen Wettkämpfen glorios gewinnen, irrlichtern durch die Welt: Erzählungen von Saša Stanišić

Ein vom Leben nicht sehr verwöhnter alter Mann hat eine Leidenschaft für die Magie. Er bittet um Ruhe für die Große Illusion. Aber die Gemeinde trinkt Kaffee und hält nicht still.

Anders der Fremde, er ist geduldig. Er will helfen, sagt er und bietet Lösungen an: manche sind keine, manche tun weh, und manche haben Gitter aus gebogenem Draht.

Zwei Freunde ziehen durch Europa, sie reden und meiden das Zuhören, sie lügen und stehlen, jagen mit Karacho und Geschick ihren Sehnsüchten hinterher: einer syrischen Surrealistin, einem bedrohten Vogel und Rebekka. Um nur ein paar zu nennen.

Dies sind Geschichten über Menschen, die Fallen stellen, Menschen, die sich locken lassen, Menschen die sich befreien – im Krieg und im Spiel, mit Trug und Tricks und Mut und Witz.

»Stanišić ist ein listiger Autor.« Süddeutsche Zeitung

»Von einer fast unverschämten Meisterschaft.« Le Monde

»Wehmütig, wenn er Witze macht, halsbrecherisch lustig, wenn er ernst sein soll … Ein Poet als Prosaautor verkleidet.« Dagens Nyheter

»Er bedenkt jede seiner Figuren mit unbedingter Sympathie. Er nimmt sie ernst, aber er beschreibt sie mit Humor. Das findet man selten.« taz

Zum Autor

Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad in Bosnien-Herzegowina geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Sein Debütroman »Wie der Soldat das Grammofon repariert« begeisterte Leser und Kritik gleichermaßen und wurde in 31 Sprachen übersetzt. »Vor dem Fest«, sein zweiter Roman, war ein SPIEGEL-Bestseller und ist mir zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, darunter dem renommierten Alfred-Döblin-Preis sowie dem Preis der Leipziger Buchmesse 2014. Saša Stanišić lebt und arbeitet in Hamburg.

Weitere Informationen zum Buch finden Sie online hier

SAŠA STANIŠIĆ

FALLENSTELLER

Erzählungen

Luchterhand

DIE GROSSE ILLUSION AM SÄGE-, HOLZ- UND HOBELWERK KLINGENREITER IMPORT EXPORT

Als Ferdinand Klingenreiter das Publikum, liebe Freunde, Familie, liebe Kinder, um Ruhe für seine Große Illusion bat, lachten einige, die meisten redeten weiter. Die Mädels vom Stadelmann unterbrachen ihre jauchzende Jagd und wandten sich zur Bühne. Die jüngere – Michaela oder Martina oder sonst ein Name, der für einen Jungen reserviert gewesen war und ein a angehängt bekam – rief schrill und munter durch den Saal: »Mami, wer ist der Opa?«

Klingenreiter winkte ihr zu, so süß wie die aussah, die Zöpfe, das Dirndl, worauf sie erschrocken zur Stadelmännin rannte und deren Arm umarmte. »Das ist doch Freddie, mein Schatz«, erklärte die Mutter, »Freddie … der Famose. Er zaubert uns gleich was.«

Freddie, der Fantastische, wäre korrekt gewesen, aber Klingenreiter machte sich nichts daraus, es war ja sein erster Auftritt überhaupt, wie sollte sich da jemand seinen Bühnennamen schon gemerkt haben?

Insgesamt war es doch etwas leiser geworden im Gemeindesaal, man hörte die Kaffeemaschine glucksen.

Klingenreiter sah zu dem Tisch, an dem Felix saß. Oder vielmehr lag, so tief war der Junge in den Stuhl gesunken, die Hände in den Taschen, der Kopf in der Kapuze, ein Auge unter der Frisur. Was Felix von seinem Körper unsichtbar machen konnte, machte er unsichtbar. Das andere Auge starrte auf die Cola oder auf die Salzstangen im Plastikbecher auf der Plastiktischdecke. Dem Blick des Großonkels begegnete es nicht.

Im Kopf woanders, der Junge. Oder einfach lieber nicht hier.

Ferdinand Klingenreiter machte das nichts aus. Auch in seinem Kopf hatten die Gedanken zeitlebens selten dort Vergnügen gehabt, wo er sie gebraucht hätte, na und? Sind Kirschen und Träume pflücken gegangen, statt Schulaufgaben zu lösen. Merkten sich weder Formeln noch Verse, und sehr schwer nur, wie man die Maschinen richtig bediente. Oder doch, einige Verse schon, welche, die seine Käthe schrieb.

Zaubertricks lernte er dafür mit jener Leichtigkeit, die so groß nur im Nutzlosen stecken konnte.

Im Kopf woanders, im Körper irgendwie auch. Klingenreiter konnte sich immer schon in einer Weise unauffällig verhalten, dass man seine Gegenwart vergaß. Felix hätte ihm dieses Talent neiden können. Diesen Zauber. Brachte aber nicht nur Vorteile. Klingenreiters Eltern hatten in seiner Anwesenheit so heftig gestritten, als wäre er gar nicht da. Das Geschrei ging oft noch weiter, nachdem er sich zu Wort gemeldet hatte. Das waren die einzigen Momente, in denen Klingenreiter sich seinen Bruder nah gewünscht hatte. Wenn Franz da war, ruckelte niemand am Haussegen.

Erst spät, vielleicht überhaupt erst nach Franzens Tod im letzten Jahr, kam es Klingenreiter in den Sinn, dass sein Talent keines zur Unauffälligkeit gewesen war. Es war seinen Eltern, Franz, überhaupt den Leuten schlicht egal, ob er anwesend war oder nicht. Womöglich ist aber auch das ein Talent, Leuten egal sein.

Vielleicht Käthe nicht. Nein, Käthe gewiss nicht, Käthe war er nicht egal gewesen, sie hatte in seiner Anwesenheit immer fröhlich gezwitschert, und man könnte natürlich jetzt sagen, ob mit oder ohne ihn, die Käthe habe so oder so viel gezwitschert, aber das stimmt nicht, Käthe stellte ihrem Mann gelegentlich auch eine Frage, und obwohl sie das vielleicht nur getan hat, um sicherzugehen, dass er zuhörte – indem sie Klingenreiter eine Frage stellte, nahm sie Klingenreiter wahr.

Die Tür sprang auf und in den Saal marschierten Thomas und die Familie, also alle außer Felix. Lisa, die Zwillinge, der kleine Max, ein Fässchen mit Fäustchen im Mund neben dem großen Fass, das sein Vater war.

Einige drehten die Köpfe, ein paar standen auf, um Thomas zu begrüßen, so soll es sein, der Chef trifft ein. Klingenreiter nickte seinem Neffen zu, der eine entschuldigende Geste Richtung Bühne machte und sich zu Felix an den Tisch setzte, was der mit einem Schluck Cola ignorierte.

Der Thomas machte das gut mit dem Sägewerk, das heißt, er war informiert und unnachgiebig. Holte jetzt sogar, am Sonntagnachmittag, einen Stapel Papiere aus seiner Tasche, gewiss für die Arbeit. Klingenreiter wollte fortfahren, da machte sein Neffe eine fragende, kreisende Geste über dem Stapel und zeigte in den Saal, er schien Klingenreiter etwas mitteilen zu wollen, und Klingenreiter zuckte wie zur Erlaubnis mit den Schultern.

Daraufhin ließ Thomas den Stapel herumgehen, »jeder nur eins«, und fast jeder nahm sich ein Blatt oder eine Broschüre, oder was das war, waren ja fast nur Werksarbeiter mit den Familien da. Es raschelte jetzt an jedem Tisch, alle lasen sich das durch. Ganz hinten beim Ausgang saß ein einzelner Mann, der alte Stangl war das, er lehnte den Stapel ab.

Klingenreiter wartete, was sollte er auch tun? Neben ihm seine Kiste. Zwei gelbe Blitze, ein rotes Fragezeichen. Eiche.

Der Stangl, der war ja auch ein Streitgrund gewesen für die Eltern. Dieser Name, in großer Lautstärke ausgesprochen, gehörte zu Klingenreiters frühesten Erinnerungen. Zog sich über Jahre hin, bis Vater ihn irgendwann verjagt hat.

Mutter hatte Stangl gemocht, das war Fakt. Sie duzten sich sogar, aber für mehr war doch das Sägewerk zu klein! Wäre etwas vorgefallen zwischen den beiden, ein Absauggebläse hätte es erfahren und ein Spaltkeil verraten.

Der Stangl müsste näher an hundert als an neunzig sein. Ist aus dem Tal extra heraufgekommen. Mit dem Bus. Hat Klingenreiter sofort gesucht, um ihn zu begrüßen. Das reicht doch, damit alles gut ist, zwischenmenschlich, jemanden suchen, um ihn zu begrüßen. Sonst einen Freund hatte der Stangl hier aber nicht.

Thomas holte sich jetzt einen Kaffee. Klingenreiter wollte darüber fast den Kopf schütteln, aber wie sähe das aus, ein kopfschüttelnder Magier?

Der Gang, der Nacken und immer der Ehrgeiz. Thomas war wie Franz. Wegen zu viel Ehrgeiz hatten Vater und Franz überhaupt ihren einzigen großen Streit gehabt.

Das war, als Franz vom Studium zurückgekommen war mit Ideen. Franz wollte erneuern, wollte investieren, den Laden ›entwurmen‹. Gabelstapler, Blockzüge, mechanische Sortieranlagen.

Davon hat Vater nichts wissen wollen. Nicht, weil er nicht einverstanden gewesen wäre. Ihm gefiel nicht, dass Franz Sätze mit »An deiner Stelle würde ich« anfing. Ihm gefiel der Druck nicht. Schöne und gute Ideen sind schön und gut, aber Vater wollte Franz eine Lektion in Ideenwirtschaft erteilen, und Lektion eins hieß: Ideen gut verpacken.

Am Ende hat man modernisiert, ein wenig rationalisiert auch, aber eben erst als Vater selbst sich die Zeit angeschaut und gesagt hat, reif ist die jetzt.

Die einzigen Ideen, die Klingenreiter hatte, betrafen die Kantine und das Programm bei der Weihnachtsfeier. Ferdinand Klingenreiter liebte das Sägewerk, und er liebte die Unterhaltung, und es hat ihm nichts ausgemacht, ein Leben lang beim eigenen Bruder angestellt zu sein, mochten die Leute doch reden.

Zu einer Sache nur hat er sich geäußert, zu der Sache mit den Holzfässern. Klingenreiter war dagegen, die Herstellung von Fässern aufzugeben, wie Franz es vorgeschlagen hatte, vor allem aus nostalgischen Gründen. All das Bier, das in Klingenreiter-Fässern gelagert wurde! Und in Zukunft weiter gelagert werden könnte! Er wurde laut gegen Franz und Vater, als ginge es um wer weiß was Wichtiges.

Nostalgische Gründe waren in der Familie nie gewichtige Gründe gewesen. Die Nostalgie ist eine Komplizin von Spinnern, keine von Gewinnern. Die Fassproduktion wurde eingestellt, keine Minute zu früh. Der Rückgang des Produktionswerts in den folgenden Jahren fiel gigantisch aus, überall gab es nur noch Aluminium und Kunststoff und anderes herzloses Zeug, und immer mehr Leute tranken Bier aus Flaschen und Dosen, furchtbar.

Käthe, und was Käthe zu ihm sagte:

›Du Kindskopf, du.‹

›Wo bist du wieder, Freddie, du, bleib doch mal bei mir.‹

›Mein Freddie, du.‹

Das hatte er sich gut gemerkt. Viel von dem, was seine Käthe gesagt hat. Seine Gedanken mahnten ihn manchmal mit Käthes Stimme, gängelten ihn, nahmen ihm Entscheidungen ab, denn im Entscheiden war er erbärmlich. Es gab auch mal Tacheles von den Gedanken, leider viel zu selten.

Seine Hände zitterten. Er ballte sie zu Fäusten. Ferdinand Klingenreiter hatte nie viel zu sagen gehabt, und jetzt zitterte er auf der Bühne, während die Leute darauf warteten, dass er etwas sagte. Dabei wusste er und spürte er, dass immer noch allen egal war, was das war, was er sagen würde, Hauptsache, er nahm seine Medizin und ging in der Nacht nicht noch mal auf der Landstraße spazieren.

Vielleicht Felix, vielleicht war es Felix nicht egal.

Seine Kiste lauerte unerschütterlich an seiner Seite. Die beiden Blitze wie Augen. Vielleicht war den Leuten Magie nicht egal.

Klingenreiter räusperte sich, um die sogar jetzt, während er auf einer Bühne stand, davonjagenden Gedanken zurückzurufen, die Boxen räusperten sich schrill mit. Jetzt hatte er ihre Aufmerksamkeit.

»Meine Damen und Herren, liebe Freunde, liebe Kinder.« Klingenreiters Lächeln wurde breiter. Gleich würde er aussprechen, was er ein Leben lang vor einem Publikum hatte aussprechen wollen, und alles, was über vierzig Seelen war, konnte freilich Publikum genannt werden, plus der Kirchenchor hinter der Bühne. Zwei Stunden vor Beginn des offiziellen Programms, für eine Zaubereinlage, nicht schlecht, Herr Specht, dachte Klingenreiter.

Wieder suchte er den Blick seines Großneffen, und diesmal erwischte er einen Zipfel blauer Pupille, doch Felix senkte den Kopf. Klingenreiter nahm es ihm nicht übel, er wusste nun, der Junge war dabei, der Junge passte auf, wollte bloß beim Aufpassen nicht erwischt werden.

»Was Sie sogleich zu sehen bekommen, wird Ihre Meinung über die Magie für immer verändern. Damit Sie es aber sehen, brauche ich einen Freiwilligen.« Klingenreiter öffnete einladend die Arme, sein Hemd glitzerte, die Kaffeemaschine piepte. Niemand rührte sich.

Die große Illusionistin Halima hatte am Höhepunkt ihrer Show etwas ganz anderes, etwas Freches gesagt, das traute sich Klingenreiter nicht: »Magie ist nicht das, was ich mache. Magie ist, was ihr nicht seht, dass ich mache.« Halima, mit schwarzer Mähne und langen Armen, die auf und ab schlugen, während sie über die Bühne sprang, tanzte, flog.

Auch hatte Halima dramatische Musik zur Untermalung ihrer Tricks und Illusionen, Klingenreiter hatte bloß die Kaffeemaschine. Der Kirchenchor hätte eigentlich zur Verfügung gestanden, die hatten vor seiner Nummer für den Abend geprobt, hat Klingenreiter ausnehmend gut gefallen, zuerst What if God was One of Us, dann das sehr traurige Wir sind nur Gast auf Erden, und der sehr fröhliche Abgang Always Look on the Bright Side of Life, alles sehr passabel, Fichtner hatte kaum eingreifen müssen.

Mit Fichtner hatte Klingenreiter sich aber auf kein Lied zur Begleitung der Illusion einigen können. Klingenreiter hätte gern gehabt, dass der Chor bloß summte, und zwar TheFinal Countdown, erste Wahl,oder dieses eine, das jeder kennt, aus Carmina Burana, zweite Wahl. Summen kam für den Chorleiter aber nicht in Frage.

»Natürlich nicht, Mann, Freddie.« Auch Felix hatte dazu eine Meinung gehabt.

Die offizielle Ausrede von Fichtner lautete, die Bühne sei zu klein für den Chor und Klingenreiter und Klingenreiters Kiste, die mit Klingenreiters ausgebreiteten Armen noch immer auf ihren Einsatz wartete.

Für Halimas Zaubershow hatte Klingenreiter zwei VIP-Plätze reserviert, für sich und für Felix in der zweiten Reihe. Vor genau einem Monat war das, kurz nach Felix’ vierzehntem Geburtstag, das Ticket Klingenreiters Geschenk an den Jungen, aber auch Klingenreiters Geschenk an Klingenreiter, seine erste große Zauber-Show. Für jemanden, der von Kindesbeinen an für die Magie schwärmte, der Harry Potter mit 65 gelesen hatte und das Haus nie ohne ein Kartenspiel in der Tasche verließ, war es wirklich an der Zeit gewesen.

Auch auf den Besuch der Landeshauptstadt mit Felix hatte Klingenreiter sich gefreut. Er hatte ein türkisches Restaurant für das Abendessen ausgesucht, die Idee dahinter war, dass es zu Hause keinen Türken gab. Dem Jungen schien es egal zu sein, er fragte, ob er Cola bestellen dürfe.

»Du musst doch nicht nach Erlaubnis fragen.« Klingenreiter lachte.

Felix sagte »okay« und bestellte ein Bier.

Klingenreiter riss die Augen übertrieben auf, Felix grinste gelangweilt.

Vierzehn Jahre, das war doch schon einiges, dachte Klingenreiter und bestellte ein Helles und ein extra Glas und goss etwas für Felix ab, und der rührte es nicht an, trank seine Cola, und Klingenreiter trank auch nur die Hälfte wegen der Medizin.

»Was machst du eigentlich sonst gern?« Er konnte sich nichts außer irgendwas am Computer vorstellen.

»Warum ich?«, fragte Felix.

Klingenreiter verstand nicht.

»Warum hast du nicht die Zwillinge mitgenommen? Die hatten auch Geburtstag. Oder Max? Der ist vier, der steht sicher auf so was.«

Klingenreiter lächelte und hasste es, dass er lächelte. Dass er immer aus den Ecken lächeln musste, in die er gedrängt wurde. An der gefliesten Wand hing ein Wandteppich, der Tresen war aus Glas und Metall. Klingenreiter suchte Holz und fand keines. Der Junge wirkte entspannt, wie es Sieger sind. Als wäre er froh, dass ihnen die einfachste Unterhaltung nicht gelang.

Mit Thomas und der Familie waren es achtundvierzig Leute im Gemeindesaal. Inzwischen waren sie alle still, ein Freiwilliger für Klingenreiter war aber immer noch nicht gefunden.

Klingenreiters Arme wogen schwer in der angedeuteten Umarmung. Vielleicht schwiegen die Leute, weil sein eigenes Schweigen zu groß geworden war. Weil es unangenehm ist, wenn einer auf der Bühne steht und nichts sagt. Vielleicht hatte er sich aber auch wieder eingenässt, und das Schweigen war ein betretenes.

Felix leckte das Salz von einer Salzstange.

An der Wand gegenüber hing das ewige Spruchband: »Das Wort ward Fleisch.«

Neben ihm seine Kiste. Die Blitze wie Vorwürfe, das Fragezeichen ein hämisches Grinsen.

Er hatte die Kiste selber entworfen. Fast fünfzig Jahre in einem Sägewerk angestellt, und mit siebenundsiebzig die erste eigene Anfertigung, vom Entwurf bis zur Herstellung.

Gut, Holger Schwarzmann hatte ihm für den Feinschnitt seine nicht zitternden Hände geliehen und Theo Schwarzmann für das Stecksystem die Muskelkraft. Den Zuschnitt hat er aber selbst hinbekommen. Als es um die Maschen und Finessen ging, um das Wesentliche jedes Zauberutensils, musste er den Schwarzmann Junior mehrmals überstimmen, das hat den ganz aus dem Konzept gebracht, dass der alte Klingenreiter ihm widersprach, dabei hatte Klingenreiter sich noch zurückgehalten, weil ihm klar war, dass man von jemandem, der sein Leben lang Kisten für den Transport von Kartoffeln hergestellt hat, nicht erwarten konnte, dass ihm auf Anhieb eine Kiste für eine Große Illusion gelang, eine Kiste für die Kunst.

Die Schnittflächen mussten sauber sein, makellos, und der Schwarzmann ging mit einer Stichsäge ran, direkt aus der Hand in den Freischnitt rein! Es zählte doch jeder Millimeter! Also hat Klingenreiter ihm die kleine Japansäge gegeben, die er Franz vor Jahren geschenkt hatte. Dort, wo der war, ob Himmel oder Hölle, brauchte es keine Sägen mehr.

Hon Dozuki Deluxe hieß die Säge. Rattangriff. Tolles, auch schönes Gerät, das kann man von unseren Sägen nicht behaupten, dass die je schön waren.

Ja, und dann kam Felix vorbei, das war eigentlich das Beste, dass der Junge gefragt hat, was es mit der Kiste auf sich hatte.

»Ist für eine magische Illusion«, antwortete Klingenreiter.

»Wie?«

»Ich übe Verschwinden.«

»Ist es ein Trick?«

»Kommt drauf an, ob man der ist, der verschwindet, oder der, der zusieht.«

Felix spuckte seitlich aus.

»Ich würde die Kiste anmalen.«

»Das hatte ich vor.«

»Nein, ich meine, ich würde sie anmalen. Wenn ich darf.«

Natürlich durfte er. Klingenreiter konnte seine Freude kaum verbergen, und Käthe fragte sich in seinen Gedanken, warum man Freude überhaupt je verbarg.

Noch am selben Abend trafen sie sich in der Fertigungshalle. Klingenreiter hatte Farben besorgt, Pinsel, Licht. Auch Musik und Vesper, das wollte der Junge gar nicht, er wollte seine Ruhe und seine Cola.

Vier Stunden blieben sie in der sonst menschenleeren Halle. Nach vier Stunden riecht man das Holz nicht mehr, nicht das Anti-Schimmel-Mittel.

Dieser Abend wäre Klingenreiters Antwort gewesen auf Felix’ Frage, warum er ausgerechnet ihn mitgenommen hatte. Großonkel und Großneffe bemalen eine Kiste für ein Zauberstück, in der 900 m2 großen Fertigungshalle des Familiensägewerks, umgeben von Holztafeln, Holzrahmen, Holzbalken, Holzmaschinen, umgeben von den zu Spänegeistern und Holzstaub gewordenen toten Klingenreitern, die ehrgeizig, nach Art der Familie, um sie herumspuken.

»Freddie? Darf ich mal kurz …?« Das war Thomas. Er winkte mit den Papieren und machte sich auf den Weg zur Bühne, ohne die Antwort abzuwarten. Klingenreiter fühlte sich inzwischen ganz wohl dort oben. Auch seine Arme wurden leichter, je näher Thomas kam. Mit den Papieren in der Hand und so forsch wie er sich in Richtung Bühne drückte, wollte er bestimmt eine Ansage machen.

Jetzt? Klingenreiter stieg eine Hitze ins Gesicht, aber die Worte kamen freundlich heraus: »Meine Damen und Herren, wir haben unseren Freiwilligen! Bitte um Applaus für Thomas Klingenreiter!«

Thomas verstand nicht, der Applaus übersetzte es ihm. Sofort streckte er die Arme vor, als schöbe er etwas Schweres von sich, und wich zurück.

»Bist ein Feigling?« Klingenreiter wusste nicht, hatte er das gedacht oder auch gesagt? Es war ihm ganz und gar egal. Er sah zu Felix. Der hatte sich aufgesetzt und sich das Haar aus der Stirn gestrichen.

Anderthalb Stunden lang hatte Halima, die First Lady der Magie, auf der Bühne alles gegeben. Fünfundvierzig Minuten lang gab Felix nicht zu erkennen, wie er das fand. Er war in seinem Sitz versunken, die Hände in den Taschen. Erst vor der Pause wurde der Junge sozusagen sichtbar und setzte sich wie jemand mit einer Wirbelsäule hin.

Halimas Gäste, ein Paar aus der Ukraine, tanzten eine irrwitzige Kleiderwechsel-Nummer, eine Telefonzelle als einzige Requisite. Der Mann betrat gleich zu Beginn die Telefonzelle in einer Unterhose mit Mickymäusen drauf, einen Atemzug später verließ er sie im Anzug. So ging es weiter, minutenlang, tanzen und umziehen.

»Quickchange«, flüsterte Klingenreiter. »Brauchst vor allem einen guten Schneider.«

Felix schien nicht zuzuhören, Felix beugte sich vor.

Die Nummer ging unter großem Applaus zu Ende, der Junge applaudierte mit, Klingenreiter applaudierte dem Jungen.

In der Pause standen sie bei Brezel und Cola im Foyer, und Klingenreiter beobachtete, wie Felix zwei Mädchen in seinem Alter beobachtete.

»Ich zeichne Klamotten«, sagte Felix, den Blick noch immer auf den Mädchen.

»Wie bitte?«

»Das wolltest du doch wissen. Was ich gern mache.«

»Ja! Ja, wollte ich. Das ist gut. Ich finde das gut«, sagte Klingenreiter und kam sich dämlich vor.

»Mir egal, wie du das findest. Muss niemandem gefallen. Mir gefällt es.«

Zum zweiten Akt wurde das Licht gedimmt, die warmen Töne verschwanden, Glockengeläut erklang. Halima betrat die Bühne ganz in Schwarz. Der Saal war stockfinster. Der Geruch von Kirche am Sonntag lag in der Luft.

Halima tanzte auf schwarzen Seilen, ließ die Seile verschwinden, tanzte in der Luft, langsam, wie trauernd. Sie stieg in einen Käfig und verließ den Käfig als Mann und Maus, Mann und Maus kletterten auf ein Bett, das in Flammen aufging, und als die Flammen gelöscht wurden, stieg Halima aus dem Rauch. Sie steckte sich ein Schwert in die Speiseröhre, bettete sich auf Speerspitzen und sagte ein Gedicht von Edgar Allan Poe in Gänze auf.

Wie jeder Mensch, dem etwas ernst ist, verausgabte sie sich, ihre Schminke zeigte Risse. Das Publikum klatschte selten Beifall und war doch in ihrem Bann. Sie wollte nicht überraschen, sie wollte die perfekte Illusion, ihre Miene war kalt, fast verkrampft.

Klingenreiter begriff alles. Warum diese Drehung, warum jene Position. Jeden Aufbau und jedes Finale konnte er sich mechanisch oder visuell oder handwerklich erklären. Er genoss aber nicht die Erklärung, sondern das Unerklärliche – Halima machte keine Fehler, gab sich keine Blöße, so dass jede von seinen Erklärungen letztlich eine Vermutung blieb.

Sie zitierte die großen Magier, deren Illusionen und Legenden Klingenreiter ein Leben lang begleitet hatten. Zu ihnen konnte er sich flüchten, wenn ihm das Büro, das Holz, die Familie zu viel wurden.

Halima zitierte Houdini und ging durch eine Wand, sang dazu zweistimmig in einer fremden Sprache.

Sie zitierte Hofzinser und verwandelte die Bühne in einen Salon, in dem Tee für die Zuschauer serviert wurde und Rabenvögel zwischen ihnen liefen wie livrierte Diener. Die Magierin als Gastgeberin; sie flüsterte ein Wort hier, strich dort über eine Schläfe, jetzt ein Kartenspiel in der Hand, jetzt ein Tuch, dann eine schwarze Taube. Als die Bühne wieder ihr allein gehörte, lagen auf dem Teewagen, auf dem Teppich: Uhren, Schmuck, Geldbeutel, Telefone. Das Publikum johlte.

Vor ihrer letzten, der größten Illusion, einem Befreiungsakt, suchte Halima nach einem Assistenten. Sie sah über Klingenreiter hinweg, deutete hinter ihn, schüttelte den Kopf, und jetzt begegneten sich ihre Blicke, er zeigte auf Felix und fühlte sich doch erkannt, sie hatte ihn ausgesucht aus hunderten.

Schon war er oben, verneigte sich vor der Magierin. Applaus brandete auf, ebbte ab, Halimas Helferinnen umschwirrten ihn wie schwarze Schmetterlinge, eine Klarinette träumte wach.

Schön wäre, dachte der alte Mann, so ein Tod.

Halima erklärte Klingenreiter, was man von ihm erwartete, er hörte nicht zu, er wusste doch, was er zu tun hatte, ihn interessierten ihre Finger, immer in Bewegung, welche Zeichen gab sie wem? Ihm?

Mittig auf der Bühne bleckte eine komplizierte Apparatur die Zähne aus Klingen und Flammen, ein Seil hing darüber. Die Schmetterlinge überreichten Klingenreiter eine Zwangsjacke, er sollte sie auf Funktionstüchtigkeit hin überprüfen, Halima beim Anziehen helfen, die Gurte festzurren, so fest er konnte.

Er griff in den Ärmel und entdeckte sofort die Schnur, mit der sich das Innenfutter lösen ließ, um mehr Platz zu haben. Auch wusste er: Das brennende Seil, an dem Halima in der Jacke gleich hängen würde, hatte ein Inneres aus Stahl, war also durch Feuer gar nicht zu zerstören, ein Techniker würde es per Fernsteuerung durchtrennen, kurz nachdem Halima sich befreit hätte, sie schwebte in keiner Gefahr.

Was, wenn Klingenreiter sich umsähe und Felix den Trick erklärte? Und Klingenreiter sah sich um, die Zwangsjacke in den Händen, er stand mit dem Gesicht zum Parkett, und Thomas sagte: »Ich müsste mal eine Durchsage für die Jungs von der Frühschicht machen.«

Das mit dem Feigling hatte Klingenreiter sich leider nur vorgestellt gehabt. Und da sah er Felix auf sich zukommen. Er nimmt mir jetzt das Mikro weg, dachte er, er sagt jetzt, dass ich der Feigling bin, weil ich mich nicht wehre, nicht gegen die Unverfrorenheit seines Vaters, nicht gegen dieses Leben, ein Leben lang bestenfalls Clown gewesen.

Ferdinand Klingenreiter hatte mit der Zwangsjacke in den Händen das Sagen. Der Saal war dunkel und wartete auf ihn. »Die ist echt, das können Sie mir glauben«, ein Schmunzeln, »ich weiß es aus eigener Erfahrung.« Dort und dort lachte jemand. Er übergab die Jacke an die Schmetterlinge, Halima warf ihm eine Kusshand zu, ihre Finger sagten Dank, Klingenreiter trat ab. Am Bühnenaufgang wartete Felix, um ihm hinunterzuhelfen.

»Ich mach’s.« Felix stellte sich neben seinen Großonkel.

Klingenreiter schluckte. »Meine Damen und Herren, noch ein Klingenreiter!« Er zwinkerte in den Gemeindesaal. »Der hier ist aber ein mutiger.«

Die Leute klatschten, Thomas zog sich an seinen Platz zurück, und Felix hauchte einen Mädchennamen ins Mikro, und ein paar Sekunden später quirlten vier Chorsängerinnen hinter dem Vorhang hervor, etwa so alt wie Felix, sie stellten sich auf den Bühnenrand und begannen auf sein Zeichen hin, das eine Stück aus Carmina Burana zu summen.

Freddie, der Fantastische, öffnete seine Kiste und zeigte dem Publikum, dass sie leer war. Er bat seinen Großneffen hinein. Er warf ein schwarzes Tuch über die Kiste und hob die Arme über den Kopf wie ein Dirigent, wie ein großer Illusionist.

BILLARD KASATSCHOK

Der Russe hat sich seiner Westen entledigt, das Hemd bis zum haarigen Bauch aufgeknöpft und macht sich auf den Weg durch den Salon. Er kommt auf mich zu, ein schwerer Mann, die Arme ausgebreitet, die Spitze seines Queues gefährlich knapp an den Deckenlampen, er will mich umhauen oder umarmen, ich bin gespannt.

Was für ein Russe, der sich die Zähne bleichen lässt! Was für ein Russe, der zu später Stunde russische Lyrik am Tresen deklamiert mit geschlossenen Augen! Und wie glänzen die Augen jetzt, wenn er zärtlich zwischen den Billardtischen marschiert! Was für ein Spieler! Was für ein Freak!

»Schreiber!«, ruft er mit verschwitzter Stimme, ein Zar, vom Salonvolk wieder und wieder bejubelt, weil er seine Schwächen nicht versteckt, wie miese Herrscher es tun. Sein Zepter ist das Queue aus Rosenholz. Könnte der Russe vor Scham erröten, wären seine Wangen rosenholzrot, aber der Russe lässt sich nicht beschämen, nicht wenn wir zusehen, und das ist seine größte Stärke.

Vor mir angekommen, schlägt er die Stiefel geräuschvoll zusammen und schleudert das Queue zu Boden, aber dorthin, wo Teppich liegt.

»Schreiber! Hast du das gesehen? Eine Tragödie!«

Ein Despot, der jemanden braucht, der ihm seine Lieder dichtet. Die Musik und die Stimme ist er sich selber, im Zweivierteltakt und im Moll der übertriebenen Emotionen eines übertreibenden Volkes, das er vielleicht vermisst, vielleicht verachtet.

Wie er vor mir tropft und keucht und jetzt auch noch die Ärmel über die Ellenbogen schlägt!

Er erinnert mich an die einzige Oper, die ich gesehen habe, ich weiß nicht mehr, wie sie hieß, das war lange bevor ich hierher kam, am Schluss stirbt einer an seiner Schusswunde, jedoch nicht sofort, er stirbt lange, so ein nicht sterben wollendes Sterben ist das, in dem noch vom Leben gesungen wird, fürch-ter-lich und schön, Abschied von der Geliebten, Abschied vom Bruder, von einer Blumenverkäuferin, von einem Pferd usw. Und gerade als man den Sterbenden ein wenig zu ignorieren beginnt, sich der fortgeschrittenen Uhrzeit gewahr werdend überlegt, was man am nächsten Tag alles zu erledigen hat, kommt der Tod! Aber nicht das Ende. Ein anderer beugt sich jetzt über ihn, sein Mörder, vermute ich, genau weiß ich es nicht, denn im Augenblick des Schusses gab es ein großes, leider auch tänzerisches Durcheinander, und der seilt noch eine Arie auf die blutige Brust, erst dann ist es vorbei. Denkste! Der Tote schlägt die Augen auf, er hat entweder nur tot gespielt, um sich den Gesang seines Kontrahenten in aller Ruhe anzuhören, oder er fährt ihm gleich als Zombie an den Hals und reißt ihm den Adamsapfel heraus. Aber nein. Der Noch-nicht-Tote legt wieder los, lalaaaa, verzeiht seinem Mörder, vielleicht aber auch nicht, wäre auch mal schön, nicht verzeihen. Schieß noch mal!, will ich dem anderen zurufen, aber ich bin in Begleitung einer Dame, welche die Oper liebt, dabei ist sie sicher nicht älter als vierzig. Ich schweige also, und der angehende Mörder bietet dem Untoten eine reuige Umarmung an, und dann setzen die beiden, Gott im Himmel, zu einem Duett an, einem Loblied auf ihre einst groß gewesene Freundschaft, und als das vorbei ist, fällt der Vorhang, und alle klatschen begeistert, ich auch, und dann sagt meine Begleitung, wow, das war intensiv, wie wollen die das nach der Pause toppen?

Daran erinnert mich der umständliche, melodramatische, große Russe, Monarch, Tänzer, Troubadour, jemand, der auch dann noch Trost braucht, wenn er siegt.

»Schreiber!«, dröhnt der Russe auf mich nieder, dass ich zucke und nach vorne kippe, dem großen Mann in die Umarmung, mein Kinn an seiner Brusttasche, in der etwas Scharfes steckt: sein Herz.

»Schreiber«, klagt der Russe in mein Haar, er wird doch nicht nach all dem, was wir bei hunderten von Billardspielen erlebt haben, jetzt persönlich werden? Der Brustkorb, an dem ich hänge wie ein Orden, hebt und senkt sich. Warm riecht mein Zar. Nach Beichte.

»Schreiber, hör zu mir«, flüstert der Russe. Vielleicht sagt er auch: »Gehör zu mir«. So oder so habe ich keine Wahl. »Bereit?«

Er hebt mich an der Taille über Kopf wie eine Ballerina und tanzt mich durch den Salon, durch die Pointen der Queues, das Klickern der Kugeln, das Schnauben der Verlierer, und durch den eigenen Sieg nochmal.

»Ist das er vielleicht?« Fanny deutete mit dem Glas auf den jungen Mann, der mit Schwung die Tür aufriss und bestimmten Schrittes in das Foyer hereinkam, dort stehen blieb und seine Queuetasche absetzte. Blick gerade heraus, Kinn etwas gehoben, wie in Erwartung, dass der Master of Ceremony seinen Namen und seine Titulatur ansagte, bevor er den Salon betrat.

Fragmente und frühe Fassungen einzelner Erzählungen sind in der Zeitschrift Chiméra (»Billard Kasatschok«), dem Fotoband Grey Skies Black Birds (»Die Fabrik«) in der Süddeutschen Zeitung (als »Die glückseligen deutschen Flüsse«), in der Anthologie Acht Betrachtungen sowie auf Zeit Online (als »Die Falle muss mit einem Köder aus Hartwurst versehen sein«) und in der Anthologie Dänen lügen nicht (»Mo und ich für die Dauer der Reise«) erschienen.Die zitierten Sätze A und B stammen aus Franz Kafkas Parabel »Der Aufbruch«.

1. Auflage

Copyright © 2016

Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

Umschlaggestaltung: bux design/München

unter Verwendung einer Illustration von © Ruth Botzenhardt

Autorenfoto: © Katja Sämann

ISBN 978-3-641-15710-4V001www.luchterhand-literaturverlag.de

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